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Christian Kiening

Letzte Züge

Eine Geschichte

© Weissbooks GmbH Frankfurt am Main 2018

Alle Rechte vorbehalten

Konzept Design

Gottschalk+Ash Int’l

Satz

Publikations Atelier, Dreieich

Umschlaggestaltung

Julia Borgwardt, borgwardt design

Foto Christian Kiening

© Venla Kevic

Erste Auflage 2018

imageISBN 978-3-86337-142-5

weissbooks.com

Christian Kiening
Letzte Züge
Eine Geschichte

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Letzte Züge

Ein Zeichen sind wir, deutungslos

Schmerzlos sind wir und haben fast

Die Sprache in der Fremde verloren

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

1

Es war Ende August und hatte wochenlang nicht geregnet. Die Barometer schienen ihren Geist aufgegeben zu haben. Die Luftbewegungen waren minimal. Man sprach von der Erderwärmung und von Wassermangel und reduzierte die Duschzeiten. Die Fensterläden blieben tagsüber geschlossen.

Nachts kroch eine klebrige Wärme aus den Mauern in die Betten. Im Halbschlaf schleppte ich mich durch langgezogene Wüstenkrater. Feuerbälle gingen nieder. Erde, Sand und Geröll verdampften. Buchstaben tänzelten dazwischen. Bruchstücke eines Artikels über Asteroiden. Aufgeschmolzene Masse. Zersplitternde Energiequanten. Zerstäubende Materie. Alles Leben in hundert Kilometern Umkreis ausgelöscht. Nur die flinken Paramys, die grauen Schattenschwänzer, die zwischen Himmel und Erde hin- und hereilen, überleben mit versengtem Fell und verkürztem Schwanzbusch. Glühwürmchen blitzen in ihren Augen, ihre Flüche erreichen Spitzenwerte. Über Ländern, die vielleicht einmal Böhmen, Mähren oder Polen heißen werden, gehen kleine Schmelztropfen nieder, flaschengrün, olivgrün, durchsichtig.

Als mich die Todesnachricht erreichte, war es Nachmittag. Das kannte ich nicht. In der Kindheit waren solche Botschaften immer spätabends eingetroffen, wenn ich schon im Bett war. Das Telefon im Flur, bei dem man stehen musste, hatte geläutet. Eine gedämpfte Unruhe und Betriebsamkeit hatte sich ausgebreitet, deren Grund sich erst am Morgen danach enthüllte. Jetzt traf mich die Nachricht mitten in der Arbeit. Ich brütete über Sterbebüchlein und Totentänzen. Kadaver und Skelette in ihrem grotesken Reigen. Formeln, der Gemeinde eingehämmert vom Prediger, Bedenke, Mensch, dass du Staub bist, Spiegelsätze der Toten, Was wir sind, das werdet ihr, Worte wie abgestandenes Bier, auf das ein schräger Lichtstrahl trifft. Die metaphysischen Schimmelzitronen auf dem Stillleben, in einer schmalen Lücke zwischen den Bücherregalen, schienen sich unmerklich vergrößert zu haben.

Bei der Fahrt von Zürich ins Schwäbische flimmerte die Hitze über dem Asphalt und den halb abgemähten Feldern. Die Kühe drängten sich unter den wenigen Bäumen. Die Traktoren wirbelten kilometerweit sichtbar trockene Erde auf. Im Rieskrater stieg die Temperatur nochmals an. Das Flimmern gaukelte mir Urzeitgewässer vor, entstanden durch den Asteroideneinschlag. Die Flussläufe von Ur-Main und Ur-Altmühl waren blockiert worden und hatten einen See gebildet bis zum heutigen Nürnberg hin.

In Nördlingen stanken die Gullis. Die Passanten schlichen an den Hausmauern entlang. Das Freibad am Stadtrand, das sich jetzt Solarbad nannte, barst vor Besuchern. Bei den Bestattungsinstituten war kaum ein Termin zu bekommen. Michaela, das Jahrhunderthoch, rettete ihnen die Bilanzen. Blond und sehr groß gewachsen, mit schweren Gliedern, warf sie sich über die Alten und nahm ihnen die Luft zum Atmen.

Beim Aussteigen vor der Friedhofskirche verbrannte ich mir die Hand am Autodach. Der Hemdkragen scheuerte. Der schwarze Anzug staute die Wärme. Die Schuhe drückten. Mein Mund war trocken. Ich schüttelte die Hände von Menschen, die mich von früher kannten. Im Innern der Kirche nicht das erwartete Halbdunkel, sondern gleichmäßiges Licht, getönt durch moderne monochrome Glasfenster. Der Weihrauchgeruch nicht so stark wie in meiner Kindheit, als die Ministranten die Fässchen heftig geschwenkt hatten und der harzige Rauch stoßweise in die Bankreihen geschwappt war, wo ich halb ohnmächtig wurde – ein willkommener Grund, der Messe fernzubleiben. Jetzt eine eher dezente Note, untermischt mit dem Duft von Lilien und Sommerblumen. An den Längsseiten die Stationen des Kreuzwegs als Holzreliefs, vorne auf der weißen Schiebetafel die Stellen aus dem Gesangbuch. Standardmäßige Kränze mit Schriftbändern fehlten. Von den Bänken waren nur die ersten Reihen besetzt, hinten ein oder zwei Stammgäste.

Die Würdigung der Verstorbenen war genau und floskellos. In wenigen Strichen entstand das Bild eines langen Lebens, in dem immer die Pflicht vor der Neigung, die Selbstdisziplin vor dem Genießen gegangen war. Neidlos, aber sorgenerfüllt, korrekt und genügsam. Was sie sich gönnte: hie und da einen Piccolo am Nachmittag, verführerisch dunkle Elly Seidl Pralinen, Fußballübertragungen in Radio und Fernsehen. Eine späte und überraschende, durch nichts vorbereitete Leidenschaft. Am Grundtenor änderte dies nichts. Ich erinnerte mich, wie sie mir in einem Brief, als ich von zuhause auszog, geschrieben hatte, es sei ihr vom Schicksal nicht bestimmt gewesen, ein leichtes Leben zu führen.

Die Bibelworte entgingen mir. Ich hörte nur den Namen Paulus, das war auch ihr Familienname, und musste an die Figur denken, die im Kirchlein von St. Prokulus in Naturns an die Wand gemalt ist. Der Apostel zwischen zwei Seilen, vielleicht bei der Flucht aus Damaskus. Es sieht aus, als schaukle er. Sie mochte das Bild, weil es sie an die wenigen gemeinsamen Urlaube mit ihrem Mann, meinem kunstliebenden Großvater, erinnerte. Lange hing eine Reproduktion in meiner ersten Wohnung.

Der Großvater schreibt:

Das Haar des Heiligen legt sich, vom Scheitel spitz anlaufend und seitlich breiter werdend, an den Kopf. Die Bartdarstellung, die einzig erhaltene aus dem ganzen Freskenzyklus, erfolgt durch drei spitze, teilweise gedrehte Zipfel. Die angewinkelten Arme laufen in den geschlossenen Händen aus, den Fäusten, die die Gestalt auf dem Seile halten sollen, in Wirklichkeit aber am Seil vorbei ins Leere greifen. Die Kleidung des schwebenden Heiligen besteht aus parallelen schwarzen, grauen, roten und gelben Farbstreifen, die sich an den Knien zu konzentrischen Kreisen schließen und an den Unterarmen durch zwei gegeneinander gestellte Kreissegmente abrunden. Dadurch verliert die Gestalt jede Körperlichkeit und erscheint wie an die Wand gepresst.

Die Orgelmusik wurde mir zum Choral, ein Intro auf der Hammondorgel, an Bach orientiert, mit geheimnisvollen Worten, die ich immer missverstanden hatte.

We skipped the light fandango.

Nach der Trauerfeier umrundete ich auf der mittelalterlichen Stadtmauer noch einmal den Ort. Das war leichter als früher, als ganze Teile wegen schadhafter Stellen gesperrt gewesen waren. Jetzt konnte man sich ungehindert dem Dämmer des Umgangs hingeben, dem Rhythmus der Schießscharten, den schmalen Lichtbahnen, in denen der Staub tanzte. Durch die Spinnweben hindurch die Anlagen und Häuser jenseits der Mauer wie auf rissigen Fotos.

Ich stieg auf den Daniel, den Turm der Georgskirche. Von hier aus ist die ganze Region zu überblicken, der Krater, die grün-gelbe Ebene, in der flirrenden Luft wie eine Wasseroberfläche, der die Seejungfrau entstiegen sein könnte, die die Volksüberlieferung hier gesehen hat. In der Ferne die Orte Pflaumloch, Kleinerdlingen und Großelfingen, die mir einmal wie Überreste einer versunkenen Welt erschienen waren. Davor die Felder, an denen entlang ich die ersten kleinen Wanderungen unternommen hatte, in kurzer Lederhose, die Hand über die weichen Blätter des jungen Mais streifend, in der Nase der scharfe Geruch des Düngers, der aus den Silos der Bauernhöfe strömte. Irgendwo von dort war der Bauer hergekommen, bei dem wir die Kartoffeln kauften. Weithin schallte sein rätselhaftes Errdriöööööh. Manchmal nahm er den Vierjährigen auf seinem Traktor mit, zu den Waldrändern und Lichtungen, wo die Hochsitze der Förster und Jäger waren.

Ich fuhr zum Stadtrand, stellte das Auto neben den Spielplatz und nahm den Weg nach oben zum Wald. Den Hohlweg. Er war einmal beidseitig dicht von Sträuchern gesäumt gewesen, auch Bäume hatten hier gestanden, ein kleiner darunter, von dem ich mir eingebildet hatte, er sei aus einer eingegrabenen Kastanie gewachsen. Jetzt lag der Weg fast frei, die Steigung schien geringer geworden zu sein. Wie sollten wir hier auf dem kleinen Holzschlitten, ich vorne thronend, die Großmutter hinten halb vom Sitz hängend, hinuntergesaust sein.

Der Wald, die Marienhöhe, wirkte luftiger als früher. Die inneren Teile, kleine Täler, denen ich verschiedene Namen gegeben hatte, waren weniger dunkel und bargen nicht mehr die Schätze, die ich auf einer geheimen Karte verzeichnet hatte. Silberseen, Bären und Schlangen, pilzsammelnde Squaws und kriegsbemalte Mohikaner. Statt imitierter Tierschreie nun das ferne Ploppen von Tennisbällen. Zettel an den Bäumen von einer Schnitzeljagd, die archaischen Sinnzeichen, die wir in die Rinde geritzt hatten, waren verschwunden. Nur die Feuerwanzen wuselten noch so zahlreich und unappetitlich wie einst.

Turned cartwheels ’cross the floor.

Dann stieß ich doch noch auf ein massives Relikt der Vergangenheit: den Hexenfelsen auf dem Galgenberg, der in der frühen Neuzeit als städtische Hinrichtungsstätte gedient hatte. Lange hatte er mich beschäftigt. Zunächst wegen der merkwürdigen Feuerspuren auf dem Felsendach. Dann wegen der Geschichte der Maria Holl, der angeblichen Hexe, die 62 Folterungen überstanden haben soll. Bei der Freilassung scheint man sie gezwungen zu haben, schriftlich zu versichern, gnädig behandelt worden zu sein. Ich hatte mir ausgemalt, wie sie sich dann an den Nachbarn rächte, die ihr den Erfolg als Wirtin und bei den Männern neideten. Sie stellt sie in ihrer Autobiographie bloß. Ihre niederen Motive, der eine hat es auf ihren Körper abgesehen, der andere auf ihr Geld, einer ist in einen Mordhandel verwickelt, ein anderer möchte ein Grundstück erschleichen. Sie scharwenzeln um die Kronenwirtin herum, um die Frühwaise, die bei den Großeltern aufwuchs, getrennt von den beiden Schwestern. Nur auf den gelehrten Grafen, einen Doktor beider Rechte, kann sie sich verlassen.

Die Tafel mit verblassten Schriftzeichen in Fraktur, irgendwo auf dem Hexenstein den alten Vorfall festhaltend, war in meiner Erinnerung ähnlich schief angenagelt wie die auf dem Kruzifix. Ich fand sie nicht mehr, aber Drudenfüße, mit Kohle gemalt, neben Hakenkreuzen. Plötzlich schien eine Kälte vom Hexenfelsen auszugehen, ein Frösteln, wie früher manchmal. Es trieb mich an den Rand der Marienhöhe, den Schneckenweg hinab. Hier hatte ich endlos lang, während die Großmutter sich abwandte, mit Hölzchen die Fühler der schleimigen Kriecher gekitzelt, um ihren Rückzug und ihr neuerliches Vorstrecken zu beobachten. Ich gelangte in Richtung Adlersberg, wo ich mir Winnetous Schwester Nscho-tschi begraben gedacht hatte. Manchen Brocken hatte ich von hier nach Hause gebracht, Magmagestein, emporgeschleudert aus tieferen Erdschichten durch den Aufprall des Asteroiden. Jetzt kam ich nicht weit. Die sengende Sonne ließ mich zurückkehren. Ich streifte das Haus der rothaarigen Monika, mit der ich, wenn ich die Ferien hier bei den Großeltern verbrachte, gespielt hatte. Sie ließ mich ahnen, dass der Wald noch andere Geheimnisse als schwirrende Pfeile und schreiende Käuzchen zu bieten hatte.

I was feeling kinda seasick.

Beim Auto wieder angekommen, steckte ein handgeschriebener und vervielfältigter Flyer unter dem Scheibenwischer. Eine Einladung zum Hexenfest in Meyers Keller. Das war einer unserer letzten Ausflugsorte gewesen. Spät, sie war schon in hohem Alter, hatten wir den Reiz entdeckt, die Gegend zu erkunden. Mit dem klapprigen Golf, von einem Studienfreund geerbt, suchten wir kleine Orte auf, die keine Bahn und kein Bus mehr anfuhren. Wir stapften über die Felder. Stellten uns das Leben in der von Archäologen rekonstruierten spätrömischen Villa vor. Entdeckten spätgotische Kirchlein, besorgten die Schlüssel, betraten verschwörerisch die halbdunklen Räume. Einmal lösten wir den Alarm aus, als wir dem Altar zu nahe kamen.

Schließlich wurden die Wege immer kürzer. Der zu Meyers Keller, nur zweihundert Meter von der Wohnung entfernt, dauerte eine halbe Stunde. Unendlich langsam bewegten wir uns fort. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Stillstand. Wieder ein Schritt. Jede Bewegung hatte sich ein Terrain zu erobern, auf dem Käfer, Schnecken und Ameisen wieder so auffällig wurden, wie sie es für das Kind gewesen waren.

But the crowd called out for more.

2

Wenn ich in einer Schlange vorrücke, den schweren Koffer auf den Schalter zuschiebe, sind sie wieder da, die gemeinsamen Schritte, auf Kies und Asphalt, dann dem Linoleum des Altersheims. Sie tönen mit wie ein eigensinniges Echo, in dem wieder anderes nachhallt. Tastschritte beim Schiebertanz in der abgedunkelten Turnhalle. The room was humming harder. Die Hammondorgel begleitet verschwitzte Schülerkörper, die sich wie Gestirne, langsamer oder schneller, um sich selber und auf einer Umlaufbahn drehen. Am nächsten Tag wandern gefaltete Zettel zwischen den Bankreihen hin und her.

Es war ein Abschied auf Raten gewesen. Zuerst hatte sie aufgehört zu schreiben, die kleinen Briefe in akkurater, altertümlicher, zunehmend schräggeneigter Handschrift, die mit Mein lieber … begannen und immer eine wohldosierte Mischung aus Sorgen, Hoffnungen und guten Wünschen boten, aus großem Herzweh, bitteren Stunden und eigenen Wegen. Dann hörte sie auf anzurufen, dann den Hörer abzuheben, dann, wenn ich sie besuchte, zu fragen, wie es mir ginge, jedes Mal, wenn Schweigen eintrat. Schließlich hörte sie auf zu essen, zu atmen, zu leben.

Schon einmal, ein Jahr zuvor, hatte ich gedacht, sie sei tot. Ich war am frühen Nachmittag in ihr Zimmer getreten, sie lag auf dem Rücken im Bett, den Mund geöffnet, ihr Gesicht eine Maske, kein Atem zu hören. Als ich sanft ihre Hand berührte, die Pergamenthaut, auf der die Spuren von Blutergüssen sichtbar waren, öffnete sie die Augen. Sie erkannte mich sofort und wollte mich auf den Mund küssen, wie immer in der letzten Zeit, wusste aber nicht, wo sie sich befand. Ihre Stimme war brüchig und gewann erst nach einigen Schlucken aus dem Schnabelbecher an Sicherheit. Wir gingen noch einmal ein Stück in unsere Welt zurück. Unsere Welt. Meine Welt. In der ich jetzt auch ihren Part übernehmen muss. Erinnerungen verteidigen gegen Chimären, die mit schiefem, festgefrorenem Grinsen auf das blicken, was ich hier treibe. Auf die spinnwebdünnen Fäden, an denen stumme Sätze, lautlose Töne, ein paar Überbleibsel hängen.

Die Menge der Dinge ist überschaubar. Es gibt keine Speicher, auf denen in alten Truhen noch der Plunder der Generationen ruhte, handgravierte Serviettenringe und spitze Obstgäbelchen, große Jakobsmuschelunterschalen für feine Essen, gestärkte Tischtücher mit Rosenmustern, braun an den Falträndern. Auch keine Hängeböden, auf denen, vergessen unter dem Staub, die Spielsachen der Urgroßeltern auf spätere Schatzsucher warteten, das Steckenpferd, der Hampelmann mit einem Bein, die Figuren aus dem Kasperletheater, die Miniaturküche, der Letternkasten. Oder geheime fensterlose Kammern, in denen noch das Wispern des Kindes, das meine Großmutter war, zu hören wäre, überlagert von den Stimmen der Kindermädchen und Hausangestellten, die mir zuflüstern, ich solle sie suchen, die Schatulle mit dem Geld, die letzte Lohnauszahlung, die womöglich doch nicht die deutschen Soldaten erreicht hat. Wie oft habe ich sie danach gefragt.

Was sich erhalten hat. Neben den wenigen Briefen einige Ausweise, Sparbücher und Arbeitsbücher, der Wehrpass des Großvaters, die Kriegseinsätze mit Bleistift vorgeschrieben, dann sorgfältig mit Tinte ausgefüllt und durch eingeklebte Schreibmaschinenzettel ergänzt. Postkarten und Fotografien, Impfzettel des Urgroßvaters aus den 1880er Jahren, Urkunden in stockfleckigen Abschriften, Versicherungsbescheinigungen, Auszüge aus Kirchenregistern in Zusammenhang mit dem Ariernachweis, Entlassungspapiere aus verschiedenen Lagern mit Fingerabdrücken. Kontaktreliquien. Zwei Taschentücher mit handgestickten Initialen. Bücher und Aufzeichnungen des Großvaters, geschrieben teils auf der Schreibmaschine, teils in einer miniaturhaften Fragmentschrift, die oft nur die Anfangs- und Endbuchstaben über die Zeile reckt und ein beständiges Entziffern, Raten und Ergänzen erfordert. Ähnlich wie seine durch einen leichten Sprachfehler geprägte Artikulation. Auf der Rückseite einiger Formulare handschriftliche Notizen, deren genauer Sinn sich mir entzieht. Personennamen, Ortsnamen, ein Itinerar vielleicht, Zahlen, die Entfernungen oder Geldbeträge sein können, eine Liste von Dingen wie Besch., Schmuck, br. Schuhe, Adresse M., Stoffhund. Das Kaffeeservice, das ich lange von Wohnung zu Wohnung schleppte, stammt schon aus einer späteren Zeit.

Anfang 1945 hatten sie aus dem Wartheland fliehen müssen. Dabei war die transportable Frühgeschichte ihres Lebens auf den Inhalt eines Koffers geschrumpft. Als die Großmutter ihre letzte Mietwohnung verlässt und ins Altersheim zieht, ist auch das alte Kochbuch in Sütterlin verschwunden, das unansehnliche, angeschwollen durch eingelegte Zettel und Ausrisse, dessen Rezepte, mühsam von mir entziffert, sich in wunderbare Gerichte verwandelten. Lange war das weihnachtliche Familienleben geprägt durch Vanillekipferl, Marillenringe und Aprikosenbrezeln, sorgsam nach den individuellen Vorlieben in getrennten Blechkisten verpackt.

Beim Umzug innerhalb des Heims gehen die letzten verbliebenen Bücher verloren, die zugleich ihre und meine waren, Bände, die ich ihr spät geschenkt hatte, um jene früh liebgewonnenen zu ersetzen, die im Krieg zurückgeblieben waren. Goethes Märchen, Werfels Blaßblaue Frauenschrift, Rilkes Cornett im Inselbändchen. Den kannte sie auswendig. Auf einem der Formularzettel hat sie sich einige Wörter notiert.

Reiten, reiten, reiten

so müde

keine Berge mehr

immer das gleiche Bild

Das rote [tote?] Licht

Er hat eine kleine Rose geküßt

Am Ende ist auch das Wandposter ihrer Kindheitsstadt aus dem Zimmer im Heim verschwunden. Immer wenn ihr Blick darauf fiel, war sie ins Schwärmen geraten. Das fränkische Miltenberg. Weltfern, an den Main gekuschelt, an manchen Stellen kaum fünfzig Meter breit. Erst kurz vor ihrer Geburt, 1908, hatte es einen Brückenübergang erhalten. Lebendig waren ihr noch die Kinderhorden, die hier mit den Hühnern über das Kopfsteinpflaster wirbelten, auf einem Foto inmitten der Schar meine kleine Großmutter mit langem Zopf, durch ein weißes Kreuz markiert. Sie nahm mich auf den Weg zur Burg mit, zwischen ummauerten alten Gärten hindurch, dahinter mir nichts dir nichts der Wald. Wir spielten am Schnaaderloch, das bei starkem Regen das Wasser zum Main ableitete. Umkreisten die vornehm verträumten Villen an der Wehranlage. Schlichen am Judenfriedhof vorbei. Die barocke Pfarrkirche, in der stehend und kniend stundenlange Litaneien zu beten waren, mieden wir und suchten stattdessen den Fluss. Bei Gewitter baden. Der Zorn und die Strafe der Eltern.

Momente, rituell im Gespräch wiederholt. Ich spüre die unregelmäßigen Kopfsteine unter den Füßen, Grasbüschel zwischen den Zehen, der riesige Hirschkäfer in der Mitte des Wegs, Sonnenstrahlen durch die Ritzen der Scheune. Jetzt werden die Momente dünn, entziehen sich, widersetzen sich. Auf überdimensionalen Atlastafeln will ich Ausschnitte, Briefe und Bilder anbringen. Ich zeichne Ellipsen, Kreise, Pfeile, Linien, einfache und doppelte, gepunktete und gestrichelte, verbinde die Stücke mit anderen, schaffe den Bilderbogen eines Jahrhunderts, eine Gefühlskarte der kleinen Geschichte, in der die Elemente der großen enthalten sein sollen.

Doch die Verbindungen sind zu vielfältig, die Lücken zu ausgedehnt. Eindringlich sollen die Bilder sein und luftig, panoramatisch und detailliert. Aber ich treibe ab auf den Wellen der großväterlichen Schrift, verhake mich in den Zacken seiner Kleinbildfotos, klebe an der abgegriffenen Pappe des alten Studienbuches, das meines sein könnte. Die Fingerkuppen fühlen sich an, als würde ein Eindruck abgesaugt, ein Vakuum entstehen, Termiten mir das Leben aus allem fressen, nur die Hülle stehenlassen. Die Zeichen rutschen weg wie Geröll auf der Halde.

Was lässt sich sammeln. Für wen. Welche Augen. Welche Nasen. Während ich an den alten Dokumenten schnüffle, sinken meine Bemühungen zusammen wie ein zu lang erhitztes Soufflee. Ich starre auf den Fluss, in dem andere Flüsse aufgehoben sind. Die Isar, endlose Wege nach Süden, gegen die Strömung, unter den Eisenbahnbrücken hindurch, an den Kiesbänken vorbei, über wurzlige Waldpfade, bis die Stadt im Flirren versunken ist. Der Rhein, glücklich müde Zeitlosigkeit vor dem Hintergrund der wandernden Technobässe, die überwältigende Gischt des Falls. Der Hudson, von der Höhe der Cloisters aus, wenn man das Mittelalter hinter sich gelassen hat, die Eichhörnchen huschen neckisch über die Mauern, als wüssten sie, die Zeit kann ihnen nichts anhaben.

Der Fluss ist der Ort der Liebenden, nicht der Schreibenden. Er schwemmt die Worte weg, treibt sie wie luftige Gespenster vor sich her, der eigenen Auflösung zu. Hie und da ein Stau, ein Zusammenprall, eine Fusion, eine Materialisierung, Küsse, frei und salzig, durchweht von dem Meer, in das der Fluss münden wird. Fassaden verwandeln sich in Abstraktionen, erleuchtete Fenster in bewegliche Lichtfelder, unregelmäßig, ausgefranst. Ein Schwindel erfasst mich, wenn ich der Bewegung des großen glatten Tieres folge, das immer wieder seinen Rücken an die Oberfläche streckt. Es scheint in der Strömung verharren zu können, was meinem Erinnern nicht gelingt. Es geht auf den Grund, kommt prustend wieder hoch, will sich festhalten und findet keinen Griff. Der Blick sucht feste Punkte gegen das Kreiseln im Kopf, das Flirren auf der Mattscheibe des massiven Telefunkengeräts, das ich aus dem Zimmer im Heim mitgenommen habe. Kaum auf der Rückbank im Auto zu verstauen und dann drei Stockwerke hochzuwuchten, steht der Klotz in der Mitte des Raums, zwischen den Aufzeichnungen, den Stapeln und Haufen, durch die der Fluss hindurchgeht, als sei es sein Bett.

3

Eine Fotografie in Sepia aus dem Fotostudio, vorne ein Fell, hinten Wanddekor. Ein Familienbild. Die Mutter, aus einer Metzgerfamilie stammend, umgeben von ihren drei Töchtern, ohne den Vater, der zur gleichen Zeit auf einer Postkarte aus dem Krieg bestätigt, dass es ihm bis jetzt ganz gut gehe, was ich auch von Dir hoffe. Rosa, meine Großmutter, die den Vornamen der Mutter bekommen hat, bei dem allerdings das a schnell in ein i verwandelt wird, ist die mittlere. Sie trägt ein handgenähtes Kleid, dunkelkariert, an den Ärmeln zu kurz, durch ein knittriges Band tailliert. Die große Seidenschleife auf Spitzkragen sitzt schief. Die Haare sind zum Seitenscheitel gebürstet und hinten zum Zopf geflochten. Die linke Hand der Siebenjährigen liegt auf der Schulter der Mutter, leicht, vorsichtig, wie um die nicht zu beschweren, auf deren Schoß die Jüngstgeborene sitzt und in deren Gesicht sich spätere Leiden schon abzeichnen.

Ein anderes Foto, einige Jahre später bei der Erstkommunion, im gleichen Studio, diesmal mit einer Blumenvase als Dekor. Sie trägt halbhohe Schnürschuhe, ein weißes hochgeschlossenes Kleid, ein Kreuz an einer Kette um den Hals, Blumen im Haar. Die Rechte verschwindet unter dem Spitzentuch, das den Griff der Kerze, die oben in eine Kunstflamme mündet, verdeckt. Auch hier blickt Rosi, sorgfältig instruiert, starr geradeaus, in den Apparat hinein, durch mich, der ich sie anschaue, hindurch. Ernst ist sie nun, die Mundwinkel sind leicht nach unten gezogen, vorschriftsmäßig gefasst blickt sie dem Ereignis, das lebenslang unvergesslich sein soll, ins Auge. Fast eine heilige Jungfrau, bereit, dem himmlischen Bräutigam zu begegnen. Aus dem Gesangbuch lugt ein Einlagezettel hervor. Vielleicht eine Zusatzstrophe. Vielleicht ein Bildchen mit einem Kommunionsspruch von Friedrich Morgenroth oder Friedrich Wilhelm Weber.

Die Welt ist voll von Gottes Segen;

Willst du ihn haben, ist er dein.

Du brauchst nur Hand und Fuß zu regen.

Du brauchst nur fromm und klug zu sein.

Oder doch der Brief der besten Freundin, die beim Ereignis fehlte, weil sie Jüdin war.

Elsi, das Judenmädel. Ein schmales Gesicht mit dunklen Augen, eine Besondere, eine Ernste, die aber ein kaum zu bremsender, fast unheimlicher Kobold sein konnte. Ins Poesiealbum schrieb sie Rosi einige Schillerverse.

Dreifach ist der Schritt der Zeit:

Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,

pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,

ewig still steht die Vergangenheit.