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R O L A N D Z I N G E R L E

Der Bauer und der Tod

K Ä R N T E N K R I M I

 

 

 

 

 

 

Ich widme dieses Buch dem paradiesischen kleinen Tal Boden, in dem ich Teile meiner Kindheit verbringen durfte, sowie all seinen Bewohnern.

* * *

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

EINS

 

Als das kleine Tal Boden im Kärntner Krappfeld an diesem Junimorgen erwachte, war es, als beleuchtete Gott zum ersten Mal sein neu erschaffenes Paradies. Der nächtliche Regen hatte den Himmel reingewaschen, vor dessen kristallenem Blau nun die Sonne aufstieg. Ihre Strahlen brachten die Regentropfen auf dem saftigen Grün zum Funkeln, als wären es lauter Edelsteine. Das Krähen der Hähne hallte als einziges Geräusch über die sanft geschwungenen Hügel des kleinen Tals, welches in seiner unschuldigen, reinen Natürlichkeit gleichermaßen selbstverständlich wie zaubervoll anmutete.

Nackt und hager, wie Gott ihn geschaffen hatte – aber mit seinen einundvierzig Jahren doch schon etwas verbraucht –, stieg Robert die steile Außentreppe seiner Hütte herab und leerte den Kübel mit seiner nächtlichen Notdurft an die Wurzeln jenes Baumes, den er vor Jahren zum Pinkelbaum erklärt hatte; ein Apfelbaum mit seither sauren Früchten. Dabei gähnte er mit weit aufgerissenem Mund. Schlaftrüben Auges wusch er den Kübel am einzigen Wasserhahn aus, der an der Außenseite der Hütte über einem rostigen Blechfass hing. Das nasskalte Gras unter seinen Sohlen half ihm beim Wachwerden.

Die gestrige Sonnwendfeier auf der Wiese vor dem Wiesenwirt war schön gewesen, wie ein harmonischer Abschluss all der Aufregungen, denen Robert in den vergangenen Tagen ausgesetzt gewesen war. Feri, der Bürgermeister von Kappel am Krappfeld und gleichzeitig Direktor der dortigen Raiffeisenbank, hatte ihm mit Pfändung gedroht, doch das war nun vom Tisch. Robert musste nur noch übermorgen Montag nach Kappel fahren und mit Feri und der Raiffeisenbank den Papierkram erledigen, dann waren seine Hube und sein Land gerettet. Das alles – und bei dem Gedanken kratzte er sich respektvoll am Hintern – verdankte er nur Johanna, der Jungbäuerin vom Waldbauerhof.

Robert stellte den Kübel an die Treppe und schmatzte. Jetzt würde er in den Garten gehen und ein paar Radieschen für sein Frühstück ausgraben.

***

Der Waldbauer Matthias, Johannas Ehemann, stöhnte. Es vergingen ein paar Minuten, dann stöhnte er wieder, diesmal laut genug, um sich seines Brummkopfs bewusst zu werden. Er wälzte sich zur Seite und erkannte, dass er sich auf der Couch befand, im Wohnzimmer seines Bauernhauses. Die Helligkeit um ihn herum verriet ihm, dass Johanna ihn heute wohl etwas länger schlafen ließ, was sehr rücksichtsvoll von ihr war, wenn er an die vergangene Nacht dachte.

Er lächelte. Bist du gelähmt, er und seine Freunde hatten wieder einmal nichts ausgelassen! Nach der Sonnwendfeier war er mit seinen Kumpels nach Sankt Veit gefahren, in die Disco. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann sie ihn nach Hause gebracht hatten, aber wenn er die Dauer seines Schlafes anhand des gefühlten Umfangs seines Schädels schätzte, konnte das höchstens vier Stunden her sein.

Apropos, wie spät war es überhaupt? Matthias tastete nach seiner Armbanduhr, fand sie auf dem Wohnzimmertisch, warf einen Blick darauf und fuhr hoch: acht Uhr sechsundfünfzig!

Auch wenn er die Kühe wochenends etwas später versorgte, länger als bis acht Uhr hätte Johanna ihn niemals schlafen lassen dürfen.

Er torkelte aus dem Wohnzimmer und rief nach ihr, bekam aber keine Antwort. Ein Blick ins gemeinsame Schlafzimmer zeigte ein gemachtes Ehebett, was aber nichts zu bedeuten hatte, denn Johanna richtete das Bett immer gleich nach dem Aufstehen. Doch auch in der Wohnküche war sie nicht, und es deutete nichts darauf hin, dass sie hier heute schon am Werk gewesen wäre. Zumindest Kaffee hätte sie aufgestellt, doch auch das war nicht der Fall. Das Haus war menschenleer und still, unheimlich still.

Matthias zog sich an, um im Stall Nachschau zu halten. Zwar gehörten das Ausmisten und Kühemelken zu seinen Aufgaben, doch er hatte die bange Hoffnung, Johanna könnte ihm diese Pflicht heute abgenommen haben, auch wenn er das nicht wirklich glaubte. Als er die Haustür verschlossen und seinen eigenen Schlüssel innen steckend vorfand, spürte Matthias, wie sich ein Knödel in seinem Hals bildete. Er sperrte auf und trat vor die Tür, kehrte jedoch sofort wieder um, als er Johannas schwarzen VW Golf an seinem gewohnten Platz im Hof stehen sah, und suchte das Vorhaus ab. Weder die Handtasche noch die Schuhe, die sie gestern Abend bei der Sonnwendfeier getragen hatte, befanden sich dort, wo sie sie sonst immer abstellte. Johanna musste das Haus noch einmal verlassen haben, bevor er nach Hause gekommen war. Anders war sein von innen in der verschlossenen Tür steckender Schlüssel nicht zu erklären. Und es musste sie jemand abgeholt haben, denn ihr Auto war da. Allerdings hätte Johanna ihm in dem Fall eine Nachricht auf den Esstisch gelegt, was sie jedoch nicht getan hatte. Das bedeutete, Johanna war nach der Sonnwendfeier gar nicht zu Hause angekommen.

Matthias suchte sein Mobiltelefon und wählte ihre Nummer, doch anstelle seiner Frau meldete sich die sterile Stimme der Mobilbox-Ansage. Während er höchst beunruhigt alle Räume des Hauses und der Nebengebäude absuchte, rief er Johannas Eltern an, ihre Freundinnen und schließlich die Nachbarn, doch keiner hatte sie seit gestern Abend gesehen.

***

Die alte Pendeluhr schlug den zweiundfünfzigjährigen Teichbauer Hansi aus seinen kindischen, für ihn aber originellen Träumen. Er warf den Kopf hin und her, als könnte dies bewirken, dass die Schallwellen seine Ohren verfehlten, doch da der volltönende Gong weiterhin auf seine Trommelfelle einschlug, drückte er das Gesicht in die Polster und zwei von deren Zipfeln in seine Ohren.

»Scheißuhr«, stöhnte er in die Federn.

Als die Tortur endlich ihr Ende fand, hallte der Gong in Form eines pochenden Schmerzes in Hansis Kopf nach. Er sah auf und erkannte, a) dass er allein in seinem Ehebett lag und b) dass die Uhr zehnmal geschlagen hatte.

Unverständliches Gemurmel von sich gebend, rappelte er sich auf und sammelte ächzend die am Boden verstreut liegenden Teile der Bekleidung auf, die er gestern Abend getragen hatte. Die Unterwäsche zog er an, denn zum Stallgehen taugte sie immer noch, während er die Hose, die Jacke und das Gilet seines Kärntneranzugs auf jenen Sessel warf, auf dem er sein Gewand vor dem Schlafengehen ablegte, wann immer er nüchtern genug dazu war. Dabei polterte etwas zu Boden, das sich bei näherer Betrachtung als Damenschuh entpuppte – ein Pumps aus anthrazitfarbenem Rauleder.

Hansi drehte das Teil in seiner Hand hin und her und wunderte sich. Zum einen, weil er sich nicht daran erinnern konnte, dass seine Frau solche Schuhe besaß, was aber nichts heißen musste, immerhin belegte das Inventarverzeichnis von Sieglindes Schuhkasten nicht einmal ein müdes Bit Speicherplatz in seinem Gehirn. Zum anderen wunderte er sich, weil er nicht wusste, wie der Pumps in seinen Kärntneranzug gekommen war. Die sinnvollste Erklärung schien ihm zu sein, dass der Schuh bereits am Boden gelegen hatte, als Hansi sich vor dem Schlafengehen auszog, und er ihn nun mitsamt dem Kärntneranzug hochgehoben hatte. Als er diesen noch einmal genauer ansah, bemerkte er erst dessen erbarmungswürdigen Zustand: Zwei Giletknöpfe fehlten, außerdem wiesen Hose und Janker an den Knien und Ellbogen große Gras- und Erdflecken auf sowie kleinere an den Schultern.

Hansis Fingernägel raspelten durch die Bartstoppeln an seinem Kinn. Dass er beim Nachhausetorkeln von der Sonnwendfeier einen spektakulären Sturz hingelegt hatte, hätte nach einer plausiblen Erklärung geklungen, wäre da nicht das Blut auf dem Rücken des Jankers und auf der Brust des ansonsten weißen Hemdes gewesen, ziemlich viel Blut sogar. War er in eine Schlägerei geraten? Das sähe ihm gar nicht ähnlich, aber die fehlenden Knöpfe am Gilet und, wie er jetzt sah, auch an seinem Hemd ließen darauf schließen. Dagegen sprach jedoch, dass er beim flüchtigen Abtasten seines Körpers keinerlei Schmerzen verspürte – mit Ausnahme jener inwendig seines Schädels, die jedoch tastunabhängig waren.

Da seine Überlegungen zu keinem Ergebnis führten, seufzte Hansi und warf die Kleidungsstücke wieder auf den Sessel. Er würde Sieglinde sagen, dass sie sie reinigen sollte. Dabei konnte er sie auch gleich fragen, wie ihr Schuh in den Anzug gekommen war. Jetzt aber musste er erst einmal in den Stall gehen.

 

Zehn Minuten später kratzte Hansi zwischen den Beinen seiner Kühe hindurch mit einer Schaufel das Stroh-Kuhfladen-Gemisch vom Stallboden. Sein Vieh war ruhig, die Tiere waren daran gewöhnt, erst später am Morgen gemolken und versorgt zu werden.

Das Schaben des Schaufelblatts am Betonboden erzeugte Vibrationen, die auch Hansi zum Rütteln brachten, was in seinem Gehirn die Frage löste, wo denn eigentlich seine Frau war. Er erinnerte sich vage, dass sie ihm erzählt hatte, der Gesangsverein Passering, bei dem sie Mitglied war, sei zu einer Liedertafel in Friesach eingeladen worden, doch er wusste nicht mehr, ob das heute war. Der Informationsaustausch zwischen ihm und Sieglinde fand meist zwischen Tür und Angel statt, so wie eigentlich ihr ganzes Eheleben. Aber es war gut, dass sie heute weg war, Hansi hatte eh Kopfweh.

Sein ramponierter Kärntneranzug kam ihm wieder in den Sinn, erstmals begleitet von einem Gefühl der Beunruhigung. Er musste herausfinden, was letzte Nacht geschehen war, nachdem sein Gehirn die Erinnerungsaufzeichnung eingestellt hatte. Also nahm er sich vor, gleich nach dem Stallgehen wieder zum Wiesenwirt zu fahren und vorsichtig sämtliche Details in Erfahrung zu bringen.

Hansi spürte seine Zunge halb trocken an seinem Gaumen kleben. Bei der Gelegenheit konnte er dann auch gleich ein Reparierbier trinken.

***

»Abgehaut wird sie dir sein.«

Rudi stand breitbeinig in der Wohnküche des Waldbauerhofes, die Fäuste in die Hüften gestemmt, mit über den Gürtel der Uniformhose quellendem Bauch.

Matthias hob das Gesicht aus seinen Händen und fuhr ihn an: »Red keinen Blödsinn.«

Rudi zuckte mit den Schultern und machte sich nicht die Mühe, sein mitleidiges Lächeln zu verbergen. »Das ist schon ganz anderen passiert«, meinte er.

»Du kennst die Johanna seit ihrer Geburt. Wie kannst du so was sagen?«

»Weiber sind eben Weiber«, gab sich der Polizist philosophisch, »oder welche Erklärung hast du? Ihr Auto ist da, die Handtasche weg, keiner hat sie seit gestern Abend gesehen, und nichts deutet darauf hin, dass sie nach der Feier noch einmal da gewesen wäre. Außerdem hätte sie dann heute kaum das Gewand von gestern angezogen, oder?«

Matthias starrte auf den Küchentisch, an dem er saß, und schüttelte widerwillig den Kopf.

»Na also«, fuhr Rudi fort, »ihr gestriges Gewand müsste da sein – ist es aber nicht. Die ist gestern Abend nicht nach Hause gegangen, die ist mit einem anderen abgehaut, das sag ich dir. Wahrscheinlich mit dem Wiener, der sich seit ein paar Tagen in Boden herumtreibt.«

»Red keinen Blödsinn«, fuhr Matthias erneut auf, »die Wiener, die stehen der Johanna bis hierher.« Er hielt verärgert seine Hand unters Kinn.

»Anscheinend nicht alle.«

Anstelle einer Erwiderung warf Matthias Rudi einen Blick zu, der diesem zu verstehen geben sollte, dass er drauf und dran war, eine Grenze zu überschreiten.

Doch der Polizist ließ sich davon nicht beeindrucken, er bellte: »Ja, stimmt’s vielleicht nicht? Was soll denn sonst passiert sein?«

»Womöglich ist sie entführt worden?«

»Entführt! Wo lebst denn du herum? Hast du schon jemals von irgendwem gehört, der in Boden entführt worden ist? Oder in Kappel? Oder in Althofen?«

»Vielleicht war’s der Wiener.«

»Du willst nur nicht wahrhaben, dass dir die Johanna abgehaut ist.«

Matthias sprang auf und verließ wütend stampfend den Raum.

»Wo rennst du denn hin?«, rief Rudi ihm nach, ohne mehr zu bewegen als seinen Kopf.

»Ich hör mir deinen Blödsinn nicht mehr länger an«, schrie Matthias von draußen und warf so heftig die Haustür hinter sich zu, dass die Teller im Küchenkasten schepperten.

Rudi seufzte. Sein Blick fiel auf die Kredenz, auf der das Hochzeitsfoto des Waldbauern stand. Johanna und Matthias, das Glück in ihre Gesichter geschrieben. Kein Wunder, dachte Rudi. Matthias war in Frauenaugen ein fescher Kerl und mit seinem fast schuldenfreien Hof außerdem eine gute Partie. Und Johanna mit ihrer herzlich lieben Art, ihren langen dunklen Haaren, ihrer schlanken, an den richtigen Stellen in ansprechender Weise gerundeten Figur und ihrem entwaffnend hübschen Gesicht, das immer zu lächeln schien – jeder Mann im nördlichen Krappfeld, der nicht schwul oder pervers war, hätte den Waldbauer damals am liebsten erwürgt.

Rudi folgte Matthias vors Haus, wo er diesen in Richtung Stall stapfen sah. »Matthias, komm her«, rief er, wobei seine Stimme eher befehlend als einlenkend klang. »Fahren wir zum Wiesenwirt und fragen wir die Leute, wer Johanna gestern zuletzt gesehen hat.«

***

Als Walter die Wirtsstube des Wiesenwirts betrat, blickten die beiden alten Schwestern von ihren Töpfen auf.

»Servus, Kreuzerbauer«, sagte die mit achtundsiebzig Jahren jüngere der beiden, die Chefin.

»Servus, Wiesenwirtin«, erwiderte Walter. Die ältere Schwester sprach selten und grüßte nie, was aber niemand als unhöflich empfand. Man beachtete sie einfach nicht. »Hat der Eichenhofbauer schon wieder einen Freund von der Maria eingesperrt?«

Die Wiesenwirtin lachte schrill und antwortete: »Weiß ich nicht, wieso meinst denn?«

Ihre extrem hohe, knarrende Stimme passte zu ihrer kleinen, knochenhageren Gestalt – welche allerdings keineswegs auf ihre Kochkünste zurückzuführen war, denn an diesen gemessen hätte sie ebenso rund wie hoch sein müssen. Was sie auf die Teller zauberte, konnte so manchem Sternekoch vor Neid das Gesicht bleichen.

»Weil der Rudi vor einer Stunde an meinem Hof vorbeigefahren ist, im Dienstwagen und in Uniform.«

»Und du glaubst, dass er zum Eichenhof wollte? Vielleicht ist er zum Hansi gefahren.«

Walter wiegte mit skeptisch gerunzelter Stirn den Kopf hin und her. Er wusste, dass Rudi seinem älteren Bruder Hansi in regelmäßigen Abständen die Leviten las, weil dieser sein ganzes Geld ins Gasthaus trug, während der Teichbauerhof verwahrloste. Doch er glaubte nicht, dass Rudi extra deswegen zu ihm fahren würde, noch dazu im Dienst.

»Gib mir ein Achtele Weißen, bald ist Mittag, da wird schon wer kommen, der Bescheid weiß«, sagte Walter, während er sich an einen der Tische setzte.

Die Wirtsstube war eine große Wohnküche mit zwei Sparherden und zwei großen, rechteckigen Tischen, an denen die Wochentagsgäste Platz hatten – wandseitig auf Bänken, raumseitig auf Sesseln. Die Wiesenwirtin betrieb die Gastwirtschaft gemeinsam mit ihrer Schwester, während sich der Wiesenwirt, ihr lediger Sohn, um die dazugehörige Landwirtschaft kümmerte. Der Großteil der Lebensmittel, die die Schwestern verkochten, stammte aus eigener Zucht und eigenem Anbau, den überwiegenden Rest kauften sie von anderen Bauern zu.

Dankend nahm Walter das Weinglas von der Wiesenwirtin entgegen, nippte daran und meinte: »Die Maria hat bei der Sonnwendfeier gestern mit dem Wiener herumgeturtelt, der seit ein paar Tagen da ist. Kann doch sein, dass der Eichenhofbauer den auch in seiner Melkkammer festgebunden hat.«

Die Wiesenwirtin kicherte nach Hexenart.

Vor ein paar Tagen hatte Maria, die achtzehnjährige, mannstolle Tochter des Eichenhofbauern hysterisch die Polizei gerufen und behauptet, ihr Vater würde ihren Freund ermorden. Rudi war zum Eichenhof gefahren und hatte dort Marias Freund in der Melkkammer angebunden vorgefunden. Er hatte den jungen Mann befreit und dem Eichenhofbauer das Versprechen abgenommen, so etwas nie wieder zu tun.

»Servus, Teichbauer«, sagte die Wiesenwirtin, als Hansi die Wirtsstube betrat. Der grüßte zurück und setzte sich zu Walter, der ihn mit großen Augen musterte.

»Wie schaust denn du aus?«

»Was meinst du denn?« In Hansis Stimme schwang Beunruhigung mit.

Walter suchte nach Worten. »Irgendwie … aufgequollen …«

»Ich weiß auch nicht, was gestern los war. Wiesenwirtin, weißt du, was gestern los war?«

»Nichts war los, warum?«

»Weißt du, wann ich heimgegangen bin?«

»Als Letzter. Um halb eins in der Früh.«

»Hat’s irgendwas gegeben?«

Die Wiesenwirtin stellte unaufgefordert eine Flasche Bier und ein Glas vor Hansi ab, hielt inne und fixierte ihn mit ihren graublauen Augen. »Was meinst du denn?«

»Ich meine, hat’s eine Rauferei gegeben oder einen Unfall?«

Sie lachte ihr schrilles Lachen und ging wieder an den Herd, während sie erwiderte: »Nein, Hansi, keine Ausschreitungen, alles wie immer.«

»Wie lange hast du es gestern ausgehalten?«, fragte Hansi an Walter gewandt.

»Wir sind gleich nach dem Festakt gegangen, um kurz vor elf.« Mit »wir« meinte Walter sich, seine Frau und seine beiden Kinder.

»War eh wieder gut besucht«, sagte Hansi zwischen dem Vollschenken seines Glases und dem Leeren desselben bis zur Hälfte mit nur einem Schluck.

»Ja, eh. Sogar der Wiener war da, ich glaube, der gehört schön langsam zu uns.«

»Wer ist dieser Wiener eigentlich?«, fragte die Wiesenwirtin neugierig. »Seit Anfang der Woche fahrt er immer wieder bei uns vorbei, in einem dicken BMW.«

»Das ist ein junger, fescher Kerl«, erzählte Hansi, »immer schön angezogen, mit Anzug und Krawatte und schwarzen Schuhen. Und er fahrt immer zum Hiasi hinein, zum Bachmühlbauern.«

»Apropos Bachmühlbauer«, griff Walter das Stichwort auf. »Wiesenwirtin, weißt du, wie es der alten Bachmühlbäuerin geht?«

»Da gibt’s nichts Neues.« Die Wirtin sprach, ohne sich vom Sparherd wegzudrehen, wo sie gerade Sauerkraut in einem großen Topf umrührte, sodass es laut zischte. »Seit ihrem Schlaganfall vor neun Tagen ist sie nicht mehr aus dem Koma aufgewacht.«

»Vor neun Tagen.« Hansi klang empört. »Und vor fünf Tagen ist der Hiasi wieder aufgetaucht, nach fünfunddreißig Jahren, oder wie lange war er fort?«

»Übertreib nicht so, er ist eh immer wieder einmal aufgetaucht, wenn er Geld von seiner Mutter gebraucht hat«, erwiderte die Wiesenwirtin.

»Hiasi war schon als Kind faul und hinterfotzig. Und ein Plirz noch dazu«, meinte Hansi mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Der ist von daheim weggelaufen, wie er noch in der Lehre war. Eine Zeit lang war er in Amerika, dort hat er sich irgendwelchen Gangstern angeschlossen. Dann haben sie ihn festgenommen wegen Körperverletzung oder wegen Drogenhandel oder so was, und er ist ausgewiesen worden. Angeblich ist er dann nach Berlin gegangen oder … nach Thailand, oder wohin?«

»Das sind die Geschichten, die sich die Leute erzählen«, meinte Walter sachlich. »Aus Amerika hätten sie ihn wohl kaum ausgewiesen, wenn sie ihn bei einer Straftat erwischt hätten. Die hätten ihn eingesperrt.«

»Aber in krumme Geschäfte war Hiasi drüben mit Sicherheit verwickelt«, beharrte Hansi, »so faul und hinterfotzig, wie der schon immer war. Und jetzt, wo seine Mama im Koma liegt, taucht er auf und will den Bachmühlbauer spielen.«

»Es ist sogar noch schlimmer.« Walters Stimme klang zögerlich. »Die Talbäuerin hat gestern bei der Sonnwendfeier erzählt, was dahintersteckt.«

Hansi rückte näher an Walter heran, und die Wirtin drehte ein Ohr in seine Richtung, das, so schien es, auf mehrfache Größe anwuchs.

»Die Schwester von der Talbäuerin arbeitet ja als Bürokraft beim Rechtsanwalt Leitgeb in Althofen. Von da weiß sie – und das hat sie der Talbäuerin im strengsten Vertrauen erzählt –, dass der Hiasi über den Leitgeb ein Gerichtsverfahren anstrengen will, damit er die Vormundschaft über seine Mutter kriegt.«

»Aber geh«, rief Hansi erschüttert. Sein Gesichtsausdruck zeigte, dass er keine Ahnung hatte, was das bedeutete.

»Das bedeutet«, sagte Walter daher, »dass er der rechtmäßige Besitzer vom Bachmühlbauerhof wird, wenn er das Verfahren gewinnt.«

Hansi blinzelte irritiert. »Aber warum … warum sollte er das wollen? Wenn ihn der Hof interessiert hätte, wäre er doch nicht als Junger abgehaut und hätte sich nur alle heiligen Zeiten daheim blicken lassen.« Seine schlaffen Lider zeigten an, dass sich sein gestriger Rausch aufzuwärmen begann.

»Geld wird er brauchen«, rief die Wiesenwirtin vom Herd her, »sowie dem der Hof gehört, wird er ihn verscherbeln.«

»Die Bachmühlbäuerin tät sich im Grab umdrehen«, polterte Hansi und fügte, als er Walters befremdeten Blick bemerkte, schnell hinzu: »Wenn sie schon tot wäre.«

»Ich glaube nicht, dass das so leicht gehen wird mit der Entmündigung«, meinte die Wirtin.

»Nein, Gott sei Dank nicht«, pflichtete Walter ihr bei, »das Verfahren kommt vor Gericht, die schicken dann einen Gutachter und so weiter. Die sind ja auch nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen, die sehen sofort, dass da einer vorzeitig sein Erbe antreten will. Und wenn der Hiasi wirklich Vorstrafen hat …«

»Siehst du, Kreuzerbauer, jetzt kommt deine Antwort«, unterbrach ihn die Wiesenwirtin und nickte in Richtung Fenster. Walters Augen folgten ihrem Blick. Draußen sah er einen Polizeiwagen einparken, dem Rudi und Matthias entstiegen.

»Der Matthias? Was ist denn mit dem Matthias?«, fragte er überrascht. Die Reaktion war gespanntes Schweigen, das so lange andauerte, bis die beiden Neuankömmlinge die Wirtsstube betraten.

»Servus, Rudi, servus, Waldbauer«, grüßte die Wirtin. Rudi und Matthias setzten sich zu Walter und Hansi an den Tisch, und die Männer begrüßten einander mit Handschlag.

»Warum sitzt du schon wieder im Gasthaus?«, schnauzte Rudi seinen Bruder an.

Hansi zuckte zusammen und murmelte: »Zum Mittagessen.«

»Hat die Sieglinde dich endlich verlassen?«

»Was? Nein, wieso?«

»Warum gibt’s dann daheim kein Mittagessen?«

»Weil sie heute bei einer Liedertafel in Friesach ist, glaube ich.«

»Glaubst du.« Rudi bedachte seinen Bruder mit einem langen, warnenden Blick. Dann fasste er ähnlich streng Walter ins Auge. Die angespannte Stimmung, die dadurch in der Wirtsstube entstand, war schier unerträglich. Schließlich klärte Rudi die beiden auf: »Die Johanna ist verschwunden.«

»Was?«, rief Hansi. »Wann denn? Heute?«

»Was meinst du mit verschwunden?«, fragte Walter irritiert.

»Was heißt, ›was meinst du mit verschwunden‹?«, fuhr Rudi ihn an. »Was gibt’s denn daran nicht zu verstehen?«

Walter wich seinem Blick aus und meinte kleinlaut: »Ich … ich frage ja nur.«

»Irgendwann letzte Nacht«, antwortete Matthias auf Hansis Frage, »sie ist am Abend wahrscheinlich gar nicht nach Hause gekommen.«

»Wieso wahrscheinlich?«, fragte Hansi.

Matthias senkte beschämt den Blick, als er antwortete: »Ich weiß es nicht genau. Ich habe meine Freunde angerufen, mit denen ich gestern nach der Sonnwendfeier noch unterwegs war, und die sagen, wir haben in der Disco in Sankt Veit Sperrstunde gemacht. Das ist um vier in der Früh, und dann haben sie mich heimgebracht. Wenn ich besoffen heimkomme, schlafe ich auf der Wohnzimmercouch, damit ich Johanna nicht störe. Deshalb habe ich auch nicht mitgekriegt, ob sie da war, als ich heimgekommen bin.«

Matthias erzählte, wie er seinen Hof heute Morgen vorgefunden hatte, und Rudi erläuterte, welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen seien. Seine Vermutung, Johanna sei mit einem anderen durchgebrannt, behielt er für sich.

»Wann habt ihr Johanna zuletzt gesehen?«, fragte er abschließend.

»Irgendwann gestern Abend, bei der Feier«, antwortete Hansi, »ich kann aber nicht genau sagen, wann.«

»Geht mir genauso«, pflichtete Walter ihm bei.

»Eine große Hilfe seid ihr nicht gerade«, meinte Rudi ruppig.

»Bei mir war sie nur kurz herinnen, bevor die Sonnwendfeier losgegangen ist«, erklärte die Wiesenwirtin.

»Ich weiß nicht, aber … Johanna war nicht lange auf der Sonnwendfeier, oder?«

Walter hatte seine Frage an Matthias gerichtet. Der seufzte und erwiderte: »Nein, sie ist um kurz vor neun gegangen. Sie hat gesagt, sie hat Kopfweh.«

»Kann ich mir vorstellen, so wie die sich mit Hiasi befetzt hat.«

Matthias stierte Walter an und fragte perplex: »Was meinst du?«

»Na, gestritten haben sie, aber nicht wenig.«

»Warum?«, fragte Rudi.

»Weiß ich nicht, ich hab’s nicht gehört, ich war zu weit weg. Aber sie war ziemlich zornig, hat mit den Händen herumgefuchtelt und so weiter.«

»Und Hiasi?«

»Der wollte sie beruhigen. Zumindest hat es so ausgesehen.«

»Und dann?«

»Weiß ich nicht, ich hab das nur nebenbei mitbekommen. Ein bisserle später hab ich gesehen, wie sie den Kogel hinaufgegangen ist, also offenbar nach Hause, und dabei hat sie mit irgendjemandem telefoniert. Wahrscheinlich war sie immer noch zornig, weil sie beim Telefonieren auch so herumgefuchtelt hat.«

»Und das war um kurz vor neun?«

»Muss wohl so sein, wenn sie sich um die Zeit von Matthias verabschiedet hat. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut.«

Rudi dachte kurz nach, dann wandte er sich an die Wiesenwirtin. »Frag bitte alle Gäste, die heute und morgen zu dir kommen, ob einer von ihnen Johanna gestern Abend nach neun Uhr noch gesehen hat und wenn ja, wann und wo genau.«

»Ist gut«, erwiderte die Wirtin, und Rudi erhob sich.

»Dann bin ich wieder dahin. Ruf mich sofort an, wenn sich Johanna bei dir meldet«, befahl er Matthias und wandte sich zum Gehen. Als sein Blick aus dem Fenster fiel, setzte er sich jedoch wieder und meinte: »Den warte ich noch ab, das wird interessant.«

Während die anderen noch fragende Blicke tauschten, ging die Tür zur Wirtsstube auf, und Hiasi trat ein.

»Grüß euch Gott«, sagte er fröhlich und mit einem unüberhörbaren Wiener Einschlag in seinem Dialekt.

»Servus, Hiasi«, grüßte die Wirtin. Dass sie ihn nicht mit »Bachmühlbauer« betitelte, schien niemandem aufzufallen.

Hiasi wirkte für seine fünfzig Jahre einerseits erstaunlich jugendlich, andererseits erschreckend abgewrackt. Seine schlaksige Figur und seine ebenso schlaksigen Bewegungen sahen lässig aus. Seine Kleidung, deren Zustand hart an der Grenze zur Verwahrlosung angesiedelt war, unterstützte diesen Eindruck ebenso wie seine Stiefel, deren Stollen übertrieben groß schienen. Dem entgegen wirkte sein aschfahles, faltiges und anscheinend nikotingegerbtes Gesicht, auf dem sich die Fünftagebartstoppeln ebenso spärlich ansiedelten wie die undefinierbar farbigen Haare auf seinem Kopf. Dass er sie dennoch lang wachsen ließ und nach hinten kämmte, obwohl sie sich wegen ihrer Drahtigkeit nur ungern beugen zu lassen schienen, verlieh ihm irgendwie das Aussehen einer Hyäne.

»Jetzt muss ich euch erzählen, was ich letzte Nacht für ein Glück gehabt habe. Das geht auf keine Kuhhaut«, begann er, wurde aber von Rudi schroff unterbrochen.

»Erzähl zuerst, warum du gestern mit Johanna gestritten hast.«

Hiasis fröhlicher Gesichtsausdruck wich einem verdutzten. »Was … was meinst du?«

Er setzte sich zu den anderen an den Tisch.

»Was gibt’s da nicht zu verstehen?«, fuhr Rudi auf.

»Ich … ich weiß nicht … wieso?«

»Du wirst wohl noch wissen, warum du mit ihr gestritten hast.«

»Ja, schon, aber das ist privat, ich meine …«

»Johanna ist seit gestern abgängig«, sagte Matthias.

»Ach.« Es klang, als hätte Hiasi gerade erfahren, dass sein Fahrrad umgestoßen worden sei.

»Also, was ist?« Rudi gab sich sichtlich Mühe, einschüchternd zu wirken, was ihm wunderbar gelang.

»Es ist um eine Sache gegangen, wegen der wir eigentlich schon streiten, seit sie ein Kind war.«

»Wie kann das sein? Du bist locker zwanzig Jahre älter als sie.«

»Vierundzwanzig.«

»Na also. Wie du von daheim abgehaut bist, war Johanna noch gar nicht auf der Welt.«

»Ich bin zwischendurch für längere Zeit daheim gewesen, ein oder zwei Jahre, weißt du nicht mehr?«

»Wie alt warst du da? Anfang dreißig? Da war sie sechs Jahre alt. Worüber hat ein Dreißigjähriger mit einer Sechsjährigen einen solchen Streit, dass er bis heute andauert?«

Da in diesem Moment die Wiesenwirtin an den Tisch kam, bestellte Hiasi zunächst einen Obstler und ein Bier, dann begann er zu erzählen.

»Na gut, hört zu. Wie ihr wisst, sind Johanna und ich Cousine und Cousin. So wie alle im Krappfeld.« Sein Witz ging ins Leere, doch er selbst lachte trotzdem. »Unsere Väter waren Brüder, wobei meiner als der Ältere den Bachmühlbauerhof geerbt hat. Bei der Übernahme hat er dem Vater von Johanna das Erbteil ausgezahlt, wie es sich gehört. Später, wie Johanna auf die Welt gekommen und größer geworden ist, hat sie immer gesagt, dass sie den Hof haben will. Die Johanna ist eine Naturfreundin, sie ist ja in Treibach aufgewachsen, ihr Vater hat im Stahlwerk gearbeitet. Wahrscheinlich hat sie deshalb immer so eine verträumte Vorstellung vom Landleben gehabt.«

»Red keinen Blödsinn«, schaltete Matthias sich lautstark ein, »seit wann ist die Johanna verträumt?«

»Ich meine als Kind.« Während Hiasi sprach, zog er eine Packung Tabak hervor, in der sich auch Zigarettenpapier befand, und begann, sich eine Zigarette zu drehen. »Sie wollte zum Beispiel nie, dass die Bauern Kunstdünger auf die Felder führen. Mir war das wurscht, solange die Arbeit dadurch leichter wird.«

»Und du meinst, weil du so lange weg warst, hat sie gehofft, den Hof statt dir zu erben?«, fragte Rudi.

Hiasi hielt in seiner Bewegung inne und blickte ihn misstrauisch an. »Möglich wäre es«, erwiderte er langsam.

Rudi durchbohrte ihn fast mit seinem Blick, als er nachhakte: »Und jetzt, wo du der neue Bachmühlbauer wirst, ist sie eifersüchtig, oder was?«

Hiasis Adamsapfel hüpfte einmal rauf und wieder runter. Die Bewegung, mit der er sich die Zigarette in den Mund steckte und anzündete, war zu lässig, um echt zu wirken.

»Das spricht sich aber schnell herum.«

»Was willst du? Wir sind am Land. Also?«

»Nein, jetzt hat sie ja ihren eigenen Hof. Aber sie hat wohl Angst, dass ich … dass meine Bewirtschaftung nicht so ökologisch sein wird, wie sie es gern hätte.«

»Und deswegen habt ihr gestritten?« Rudi senkte die Stimme am Ende des Satzes, als wäre es eine Feststellung, keine Frage. Es klang, als glaubte er Hiasi kein Wort.

»Ja.«

»Was hast du denn Unökologisches vor?«

»Gar nichts. Was soll dieses Verhör überhaupt?«

»Johanna ist verschwunden«, erinnerte Matthias ihn nachdrücklich.

»Ihr glaubt, das hat mit unserem Streit zu tun? Das ist lächerlich. Es wird ihr schon nichts passiert sein, die taucht bestimmt wieder auf.«

»Du nimmst das ganz schön locker.« Matthias klang zornig.

»Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst«, lenkte Hiasi ein, »aber nach dem, was mir letzte Nacht passiert ist, bin ich froh, dass ich noch am Leben bin. Da erscheint alles andere nicht mehr so wichtig.«

»Was ist dir denn passiert?«, fragte Hansi und schenkte der Wiesenwirtin, die mit den Getränken für Hiasi auch noch ein Bier für ihn mitgebracht hatte, einen dankbaren Blick.

»Ich war gestern nach der Sonnwendfeier in der Erni-Bar am Längsee«, begann Hiasi. »Beim Zurückfahren bin ich hinter Sankt Klementen, wo die Straße steil nach Boden hinuntergeht, von der Fahrbahn abgekommen. Ich bin kerzengerade über den Abhang geschossen und frontal in einen von den Bäumen dort hineingeknallt.« Hiasis dramaturgische Pause wurde von Hansi mit einem Laut der Betroffenheit gefüllt. »Dass mir da nichts passiert ist, ist ein Wunder, das sage ich euch. Deshalb bin ich heute vielleicht ein bisserle sorgloser als sonst.«

Rudis Blick war unverändert hart. »Angesoffen warst«, fuhr er Hiasi an.

»Nein, war ich nicht.«

»Welcher von meinen Kollegen ist gekommen, als du den Unfall gemeldet hast?«

»Da war nichts zu melden. Es ist ja niemandem was passiert, Wildschaden hat es auch keinen gegeben, und dass der Wald dort dem Eichenhofbauer gehört, das habe ich gewusst. Ich war gerade vorhin bei ihm und habe das geregelt.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»Der Unfall? Das muss so gegen ein Uhr gewesen sein.«

»Geht’s nicht genauer?«

»Nein, ich war unter Schock, kannst du dir ja vorstellen. Aber wie ich daheim angekommen bin, war es halb zwei, und ich glaube nicht, dass ich vom Unfallort bis zu meinem Hof länger als eine halbe Stunde gehe.«

Rudi nickte zwar, doch er sah nicht so aus, als stellte ihn diese Antwort zufrieden.

»Also gut, ich muss weiter«, meinte er und stand auf. »Ihr sagt mir Bescheid, wenn ihr etwas Neues hört, klar?«

Die anderen bejahten das. Auch Matthias erhob sich und meinte, er werde nach Hause gehen; die beiden verabschiedeten sich von den anderen.

Als sie gegangen waren, wandte Hiasi sich an Walter: »Du musst mir einen Gefallen tun.«

ZWEI

 

Mit Ausnahme des zerschlissenen Handtuchs, das über seiner Schulter hing, war Robert wieder splitternackt, als er zu Mittag aus seiner Hütte trat. Ein fröhliches Lied pfeifend, folgte er dem Verlauf des Gartenschlauchs vom Wasserhahn bis in den Obstgarten. Es war zwar erst ein Uhr, aber Robert konnte einfach nicht mehr länger warten. Schon die vergangene Woche hatte hochsommerliche Temperaturen mit sich gebracht. Trotzdem hatte Robert sein Vorhaben immer wieder aufgeschoben, weil ihm die dafür nötige innere Ruhe fehlte. Nun jedoch waren die Aufregungen der vergangenen Tage vorbei. Nun war es so weit.

Er trat an die alte Blech-Badewanne, die er zwischen den Apfel-, Zwetschgen- und Birnbäumen platziert hatte, hängte sein Handtuch an einen Zweig und steckte vorsichtig den große Zeh seines rechten Fußes in das Wasser. Er kniff die Augen zusammen, schürzte die Lippen und bewegte abwägend den Kopf hin und her. Dann nahm er den Schlauch, öffnete den Verschluss, und als er mit der Hand die Temperatur des herausströmenden Wassers überprüfte, entspannte sich sein Gesichtsausdruck. Seit er den Schlauch das letzte Mal zugedreht hatte, hatte die Sonne das Wasser darin erhitzt. Robert ließ es in die Wanne rinnen.

Wenn er in den kalten Jahreszeiten ein Bad nehmen wollte, musste er die Wanne in die Küche seiner Hütte ziehen und das Badewasser auf seinem Sparherd erhitzen; ein umständlicher Vorgang. Deshalb freute er sich den ganzen Spätherbst, Winter und Frühling über auf das erste sommerliche Bad im Freien, das er nun nehmen würde. Der richtige Ort dafür war ein waagrechtes Stück Boden in seinem Obstgarten, das sich nahe genug bei seiner Hütte befand, damit der Gartenschlauch vom Wasserhahn bis hierher reichte, und die längste Zeit des Tages schattenfrei blieb. So konnte die Sonne das Wasser in der Wanne tundenlang erwärmen, und Robert beschleunigte diesen Prozess, indem er es in Etappen einließ.

Im Frühsommer dauerte es meist bis zum späten Nachmittag, ehe das Wannenwasser eine angenehme Badetemperatur hatte, aber Robert wollte nicht mehr länger warten. Er drehte den Schlauch zu und stieg in die Blechwanne. Sein Gesichtsausdruck dokumentierte eindrucksvoll seine Empfindungen, während sich sein Körper nach und nach an das recht frische Wasser gewöhnte, doch als er schließlich vollends in dem blechernen Badetrog lag und die Hände hinter seinem Kopf verschränkte, grinste er breit und begann, Löcher in den wolkenlosen Himmel über sich zu starren – bis durch das Bienensummen und das Grillenzirpen hindurch das anschwellende Brummen eines Motors an seine Ohren drang.

Robert hatte nichts gegen Besuch, ganz im Gegenteil, aber gerade jetzt wollte er keinen. Gleich darauf sah er den zerbeulten orangefarbenen VW Käfer seines Bruders Pepi langsam über den Weg auf seine Hütte zuwackeln. Sowohl die Geschwindigkeit als auch die eigentümliche Bewegung des Fahrzeugs waren dem Zustand des Weges geschuldet, der von der Straße zu Roberts Hube führte und für dessen Beschreibung das Wort »erbarmungswürdig« kaum ausreichte. Was Robert nicht scherte – wozu auch? Seine einzigen Gefährten waren ein steinalter Steyr-Traktor und ein erheblich jüngeres, aber immer noch uraltes Puch Moped, und für beide stellte der Weg kein Problem dar, weil er für beide einen solchen im Grunde gar nicht brauchte.