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Umschlagbild: Der österreichische Kaiser Franz Joseph I. mit Kronprinz Rudolf auf der Jagd. Atelieraufnahme, 1865.

Majestätische
Berge

Die Monarchie
auf dem Weg in die
Alpen 1760–1910

Jon Mathieu
Eva Bachmann
Ursula Butz

HIER UND JETZT

Inhalt

Einleitung

Monarchie, Ideologie und Tourismus

Autorschaft und Dank

Die Alpen der Aufklärung: Freiheit, Republik

«Ein freyes und glückseliges Volk»

Landsgemeindedemokratie

Denkmäler der Freiheit

Zwei Alpenhelden

Wilhelm Tell, Ehrenbürger der Französischen Revolution

Andreas Hofer, Märtyrer des antinapoleonischen Aufstands

Politische Mythologie als Interaktionssystem

Britische und italienische Hoheit im Gebirge

Die Monarchie auf Reise

Königin Victoria in der Zentralschweiz

Albert Edwards Alpentour

Der Jägerkönig Vittorio Emanuele II.

Margherita, die «Regina Alpinista»

Königliche Reisende und reisende Könige

Habsburg als alpiner Touristenmagnet

Das Haus Österreich zieht ins Gebirge

Kurorte: Ischl, Meran, Reichenau

Touristen im Spiegel der Kur- und Gästelisten

Abseits der höfischen Etikette?

Publikumsecho

Majestätische Berge in der Belle Époque?

Mont Aiguille, Grossvenediger, Matterhorn

Von der Republik zur Nation

Hotelpalast, Märchenschloss

Die Tugend der Einfachheit

«La majesté de nos cimes»

Schluss: Natur, menschengemacht

Von der Aufklärung in die Belle Époque

Und heute?

Anmerkungen

Ausgewählte Literatur

Bildnachweis

Register

Autor und Autorinnen

Einleitung

Am 1. Mai 1830 fand in London die englische Premiere der neuen Oper Guillaume Tell von Gioachino Rossini statt. Die Oper über den legendären Freiheitshelden aus den Schweizer Bergen war ein halbes Jahr vorher in Paris uraufgeführt worden. Die Bühne in London betrat jedoch nicht der Mann mit der Armbrust, den man von früheren Darstellungen her kannte. Statt das Libretto zu übersetzen, hatten es die Intendanten für England auf einen anderen Alpenhelden umschreiben lassen – auf Andreas Hofer, der 1809 den Aufstand der Tiroler gegen Bayern und Napoleon angeführt hatte. Die Oper hiess jetzt Hofer, the Tell of the Tyrol. Dieser englische Hofer-Tell beginnt mit den Vorbereitungen zu einer Hochzeit in alpiner Szenerie: «Schön wie eine Braut wacht der Morgen auf, von Gold bedeckt glühet der Gletscher» (Fair as a bride the morning is waking, Sheeted with gold the glacier glows). Ganz ähnlich fängt auch Rossinis Tell an, bloss nicht in einem Tiroler Bergtal, sondern am schweizerischen Vierwaldstättersee. Nach diesen romantischen Hochzeitsvorbereitungen gehen die beiden Operngeschichten aber ganz auseinander. Bei Rossini tötet Tell zum Schluss den habsburgischen Vogt und Unterdrücker Gessler, was vom Volk begeistert gefeiert wird: «Freiheit, steig wieder vom Himmel herunter, Dein Reich möge neu beginnen!» In der englischen Hofer-Version singt der Chor gerade umgekehrt: «Heil dem Hause Habsburg! Freude dem Hause Habsburg! Tirol ist der Krone zurückgegeben!»

Wilhelm Tell war in Kreisen der helvetischen Reformer des späten 18. Jahrhunderts, in der Französischen Revolution von 1789 und in Friedrich Schillers berühmtem Drama von 1804 ein Held, welcher republikanische Ideen und Forderungen der Aufklärung verkörperte. Dass er in den Alpen lebte, zeigte seine Naturnähe. Nur wenn man sich mit der Natur versöhnte, konnte man der korrupten Monarchie mit ihrer gekünstelten Hofkultur die Stirn bieten. Andreas Hofer war dagegen ein Held, der sich gegen die Ideen und Waffen der Revolution in ihrer napoleonischen Phase aufgelehnt hatte. Republikanismus und Monarchiefeindlichkeit konnte man ihm nicht nachsagen. Seine Hinrichtung erfolgte auf französischen Befehl. Als er posthum immer berühmter wurde, huldigte ihm die gefürstete Grafschaft Tirol unter der Devise «Für Gott, Kaiser und Vaterland».

Um 1830 konnte Rossinis Opernmusik also mit einem republikanischen Bergler wie auch mit einem monarchistischen Bergler aufgeführt werden. Diese Austauschbarkeit und ideologische Verlagerung wollen wir im vorliegenden Buch als Zeichen einer grösseren Veränderung betrachten. Das Buch befasst sich mit dem Wandel von der republikanischen Alpenbegeisterung in den Jahrzehnten um 1800 zu einem neuen «majestätischen» Alpenbild im Europa der Belle Époque um 1900. Um diese Entwicklung zu verstehen, kann man sich nicht auf das kleine Gebiet der Schweizer Berge beschränken, wo Wilhelm Tell seine Gämsen jagte. Man muss dazu nach Möglichkeit den ganzen Alpenraum ins Auge fassen. Dieser reicht von Nizza bis Wien und umfasst heute (in alphabetischer Folge) deutsche, französische, italienische, österreichische, schweizerische und slowenische Teile. Es handelt sich um einen Ort in der Mitte Europas, wo viele ideelle, regionale und nationale Traditionen auf engem Raum zusammenkamen. Seit dem 18. Jahrhundert zogen die Alpen zudem mehr und mehr das Interesse von auswärtigen Reisenden auf sich, die das allgemeine Bild, das man sich über dieses Gebirge machte, aufnahmen, weitergaben und veränderten. Von einem Teil dieser Reisenden und Touristen soll hier die Rede sein.

Monarchie, Ideologie und Tourismus

Ein Jahr vor seinem Tell dichtete Friedrich Schiller in einem Drama folgende Verse: «Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte. Die Welt ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.» Diese Losung sollte ein Trost sein für bürgerliche Untertanen, die nach politischer Partizipation in den Fürstenstaaten des 18. Jahrhunderts strebten und einen utopischen Ort im Gebirge brauchen konnten.1 Wenig später wurde die aufklärerische Gegenwelt des Gebirges aber zunehmend von anderen Kräften in Anspruch genommen, welche die Bergbevölkerung nicht wegen ihrer vermuteten Freiheitsliebe schätzten, sondern weil man sie für besonders treu und ergeben hielt. Erzherzog Johann von Österreich, ein jüngerer Bruder von Kaiser Franz I., fand 1822 in den Bergen «Kraft, Treue, Einfalt, ein noch unverdorbenes Geschlecht». Sein Ziel war es, im Bund mit den Bergbewohnern dem Schwindel der Zeit entgegenzutreten und «während alles sich krampfhaft bewegt, ruhig als Muster dessen zu stehen, wie es überall sein sollte». Mit dem Leben auf einem steirischen Gebirgshof, seiner Heirat mit einer Postmeisterstochter und seinen alpinistischen Initiativen wurde der Erzherzog zur perfekten Verkörperung der romantischen Alpensehnsucht. Er führte auch nicht wenige seiner kaiserlichen Verwandten persönlich in die Bergwelt – ein Indiz für die zunehmende Aufmerksamkeit der Monarchie für die Alpen.2

Dies ist nur eine der zahlreichen Geschichten aus den Anfängen des monarchischen Alpeninteresses. Man könnte etwa auf die frühen Reisen anderer gekrönter Häupter hinweisen. Sie führten in den 1810er-Jahren zwei Kaiserinnen der Franzosen, eine englische Königin und einen preussischen König nach Chamonix (das man oft zur Schweiz zählte) und ins Berner Oberland. An den Höfen in Paris, London und Berlin wusste man natürlich seit Langem Bescheid über die Besonderheiten dieser Gebirgsregionen, doch erst jetzt machten sich nicht nur Adlige, sondern auch Regenten auf, um sie zu besichtigen.3 In jedem Fall spielten besondere Umstände und – wie man annehmen darf – allgemeine kulturelle Einflüsse eine Rolle. Beide sind nicht leicht zu ergründen. Wenn wir den Stellenwert der Monarchie im Alpenraum systematisch erfassen wollen, sollten wir auf jeweils zeitspezifische Weise die Präsenz der Dynasten, die politische Verfassung und Verfassungsdiskussion sowie die Raumwahrnehmung betrachten. In diesem Buch thematisieren wir vor allem den ersten und den dritten Punkt.

Präsenz der Dynasten: Im Alpenraum gab es keine grossen königlichen Residenzstädte. Grenoble, die bevölkerungsreichste Stadt, war bis zur Revolution Sitz eines königlichen Gerichts, aber nicht eines Herrschers. Innsbruck hatte eine Zeit lang als Hauptort einer habsburgischen Linie gedient, doch in unserer Untersuchungsperiode war das Vergangenheit. Die Dynasten, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert in die Alpen reisten, kamen von aussen. Unsere Studie konzentriert sich vor allem auf das britische und das italienische Königshaus sowie auf die habsburgische Kaiserfamilie. Dabei interessieren nicht zuletzt die Beziehungen zwischen Monarchie und Gesellschaft, und zwar in beide Richtungen: Wie weit folgten die Monarchen mit ihren neuen Alpenreisen allgemeinen Entwicklungen der europäischen Kultur? Und wie weit wirkten sich ihr Verhalten und ihr Vorbild umgekehrt auf die allgemeine Entwicklung des Tourismus aus?

Raumwahrnehmung: Hier geht es um den Wandel von republikanischen zu royalistischen Alpenbildern, um dessen räumliche Schwerpunkte und Ausmasse. Zur Klärung dieser Fragen muss man nicht nur die touristische und technische Erschliessung von Berggebieten und die dabei entstehende materielle Kultur (Hotelpaläste, Schlossbauten und anderes) berücksichtigen. Die politisch-ideologische Frage ist auch vor dem Hintergrund der Nationalstaatenbildung zu sehen, die den Alpenraum zu einer grossen, militärisch bewachten und befestigten Grenzregion machte. Viele Gipfel erhielten durch das aufkommende vereinsmässig organisierte Bergsteigen und durch diese nationalen und nationalistischen Bestrebungen eine neue Bedeutung. Trotz ihrer Erschliessung verkörperten die Alpen aber weiterhin die Natur und eigneten sich damit als Projektionsfläche für allgemeine Vorstellungen über Tugend und Untugend in den unsicheren, schnelllebigen Zeiten des industriellen Fortschritts und der europäischen Expansion.

Das erste Kapitel dieses Buchs führt in die Welt und die Gedanken der Aufklärer, die im 18. Jahrhundert zunächst in die Schweizer Alpen reisten und dort ein «freyes und glückseliges Volk» antreffen wollten. An den Landsgemeinden besuchten sie politische Versammlungen, die einige von ihnen an antike republikanische Ideale erinnerten. Der Kult um den helvetischen Helden Wilhelm Tell nahm ganz neue Formen an, wurde aber im Alpenraum zwei, drei Generationen später vom beginnenden Kult um den Tiroler Helden Andreas Hofer konkurrenziert. Das zweite Kapitel wechselt die Perspektive und blickt den Monarchen bei ihrer Reisetätigkeit, insbesondere ihren Alpenreisen über die Schultern. Queen Victoria begab sich zum Beispiel 1868 für mehrere Wochen in die Zentralschweiz und absolvierte ein dichtes Programm an touristischen Besichtigungen. In Italien herrschte Vittorio Emanuele II., König von Sardinien-Piemont, über eigene Berglandschaften, zum Beispiel das Aostatal. Dort schoss er 1850 seinen ersten Steinbock und wurde später zum alpinen «Jägerkönig». Im dritten Kapitel begeben wir uns in das weitläufige Alpengebiet des Habsburgerreichs, das nicht nur das heutige Österreich umfasste, sondern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die ganze Alpensüdseite von der Lombardei bis und mit Slowenien. 1857 verlegte Kaiser Franz Joseph seine Sommerresidenz nach Ischl im Salzkammergut. Er und weitere Mitglieder der kaiserlichen Familie kannten den Ort von vielen früheren Aufenthalten. Ihre Anwesenheit prägte die lokale Entwicklung: Auch die Adligen, und wer sonst in der Monarchie etwas auf sich hielt, wollten bald da sein. Das vierte Kapitel kehrt schliesslich zum allgemeinen Alpenbild zurück und befasst sich mit der titelgebenden Frage nach den politischen und kulturellen Vorstellungen in der Belle Époque. In welcher Weise waren die Berge in jener Zeit vor dem Ersten Weltkrieg «majestätisch», und woran kann man das erkennen?

Das Buch beruht auf Quellen aus britischen, italienischen, österreichischen und schweizerischen Archiven und stützt sich auf die einschlägige Fachliteratur. So wie wir das Thema behandeln, ist es allerdings in der historischen Literatur bisher noch nicht dargestellt worden. Neu ist nicht das Aufgreifen einzelner Episoden, sondern deren Verbindung zu einer übergreifenden Fragestellung und ihre Behandlung in transnationaler Perspektive. In allen drei historiografischen Traditionen, die im Buch angesprochen werden (Monarchie-, Alpen- und Tourismusforschung), dominierten bis in die Gegenwart nationale und regionale Untersuchungen. Erst in jüngster Zeit richten Forschende den Blick vermehrt auf die multinationale und europäische Bühne.4 Dies kann die Ergebnisse nicht unwesentlich verändern. So ist man in der Schweiz gewohnt, den philhelvetischen Stimmungsumschwung, der das Image des Landes in der Aufklärungszeit in unerwarteter Weise erneuerte und aufhellte, hervorzuheben und den späteren Wandel zu vernachlässigen. Es ist, als ob man den sensationellen Moment des ersten Kontakts auskosten wollte und nicht wirklich danach fragen möchte, inwiefern dieser in eine stabile Beziehung mündete. Wissenschaftlich gesehen sollten wir uns nicht von solchen Momenten hinreissen lassen. Es kann sich herausstellen, dass die späteren nicht weniger interessant waren – nur anders.

Autorschaft und Dank

Das Buch wurde von zwei Autorinnen und einem Autor geschrieben. Die Idee dazu stammt von früheren Erfahrungen mit der Geschichte des Alpenraums. Ausgeführt wurde sie in einem Projekt, das der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in den Jahren 2014 bis 2017 unterstützte. Eva Bachmann verfasste das zweite Kapitel zu den britischen und italienischen Hoheiten im Gebirge. Von Ursula Butz stammt das dritte Kapitel über Habsburg als alpiner Tourismusmagnet. Beide Texte basieren auf Dissertationen, die an der Universität Luzern eingereicht wurden und auch als selbstständige, wesentlich weiter ausgreifende Publikationen zugänglich sind.5 Jon Mathieu, der Leiter des Projekts, schrieb das erste und das vierte Kapitel über die Alpenbilder in der Aufklärungszeit und der Belle Époque.

Fremdsprachige Zitate von literarischer Qualität werden im Haupttext zusammen mit einer deutschen Übersetzung wiedergegeben. Um die Lesbarkeit des Buchs zu erhöhen, haben wir diese Originalzitate sonst in den Endnoten vermerkt und den Haupttext ganz in Deutsch gehalten.

Unser Dank geht an die zahlreichen Personen in den verschiedenen Archiven und Bibliotheken und auf den Tagungen, welche zum Gelingen beigetragen haben – thank you, merci beaucoup, grazie mille.6 Gedankt sei auch dem Schweizerischen Nationalfonds, der Universität Luzern, der Albert Koechlin Stiftung und dem Verlag Hier und Jetzt, der das Werk in vorbildlicher Weise betreut hat.

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Karte des Alpenraums. Markiert sind Orte, die im Buch besonders erwähnt werden.

Die Alpen der Aufklärung: Freiheit, Republik

Im Jahr 1724 wurde die Prinzessin Polyxena von Hessen-Rotenburg mit dem Kronprinzen von Sardinien, Carlo Emanuele III., vermählt, dessen erste Frau kurz vorher verschieden war. Im Sommer sollte die 18-jährige, für ihre Schönheit berühmte Prinzessin durch die Schweiz reisen, um ihren Mann auf der savoyischen Seite des Genfersees zu ehelichen. Am 5. August traf sie mit ihrem Gefolge in Basel ein. Von überall strömten Menschen herbei, neugierig auf die Pracht des adligen Einzugs. Die Prinzessin erhielt hier einen neuen, vom Königreich Sardinien bestellten Hofstaat (Hofdamen und Bedienstete) und schickte ihre hessische Entourage nach Deutschland zurück. Zwei Wochen später traf die neue Reisegesellschaft in Lausanne ein und wollte über den Genfersee setzen. Am anderen Ufer warteten der König Vittorio Amadeo II. und der heiratslustige Kronprinz. Mit ihren Fernrohren sahen sie das Segelboot der schönen Polyxena abfahren. Doch ein jäh aufkommender Sturm versetzte alle in Aufregung und zwang das Boot zur Umkehr. Am nächsten Tag gelang die Überfahrt. Der König zeigte sich erleichtert und vergnügt über den «holdseligen Anblick seiner schönen Sohnsfrauen». Der Prinz, der sie wohl ebenfalls zum ersten Mal sah, führte seine Braut zur Kirche, wo die priesterliche Einsegnung erfolgte.7

Im Gefolge der Prinzessin befand sich Johann Michael von Loën, 30-jährig, aber schon weit gereist, Sohn einer reichen Kaufmannsfamilie aus Frankfurt und sehr gut ausgebildet, unter anderem vom berühmten Aufklärer Christian Thomasius. Loën verdanken wir den Bericht über die «Heimführung der vermählten Prinzessin». Als er damals die Hügelzüge oberhalb Lausanne erreichte, geriet er in Begeisterung:

«Ich übersahe hier in einem unbeschreiblichen Entzücken den grossen Genfer See, der als ein lichter Cörper mit einem mit Blau schattirten Grund hervor schimmerte: Gegen über erhoben sich nach und nach die Savoyische, denen Wolken gleichende Alpen.» Seine Stimmung wurde fast religiös, denn «alle Schauspiele der Welt haben nichts gegen diese Pracht der Natur. Ich wurde hier durch die Schönheit so unzehliger Vorwürffe [Gegenstände] gleichsam näher in die Gegenwart des allmächtigen Schöpfers gebracht, um die Werke seiner Hände, die so majestätisch von allen Seiten hervor glänzten, mit gebührter Andacht zu bewundern.»8

Als beglückend empfand von Loën auch den Gedanken, dass die Schweizer, deren Land er durchquerte, «in stolzer Freyheit» lebten. Anderer Meinung war der mitreisende Grosshofmeister, General in sardischen Diensten; er hielt die Schweizer für Spitzbuben («coquins»). Doch der aufklärerisch gesinnte Frankfurter liess sich nicht beirren. Als er von Savoyen wieder nach Genf kam, erhielt er schon von der äusseren Erscheinung «einen deutlichen Begriff von den Vorzügen eines freyen Staats und von dem Verderben, in welche die Hoheit der Monarchen durch den Krieg ihre Völcker stürtzen». Ganz besonders galten die Vorzüge für die Berggebiete, an denen es in der Schweiz nicht mangelte: «Die rauhesten Gegenden zeugen insgemein bessere Menschen, als die fruchtbarste Gefilder, wo der Uberfluss, der Müßiggang und die Wohllüste die Menschen verderben.»9

Allgemein war das Alpenbild der Aufklärung, das hier aufscheint, vielschichtiger, als man oft annimmt. Denn es gab nicht nur ein Projekt der Aufklärung, sondern zahlreiche Projekte. Und das Bild von den Alpen hatte nicht bloss eine, sondern viele Dimensionen: ästhetische, emotionale, ökonomische, religiöse, politische. Die Alpenbilder befanden sich zudem in beständigem Wandel. Die jüngere Forschung hat sich von der Schwarz-Weiss-Periodisierung früherer Autoren mehrheitlich verabschiedet und anhand einer grossen Zahl von Texten gezeigt, dass man nicht von einem einfachen Übergang von «hässlichen, furchterregenden» zu «reizvollen, erhabenen» Alpen sprechen kann. Vielmehr gab es seit der Zunahme der Schriftlichkeit im Spätmittelalter verschiedene Ansichten über die Bergwelt. Manchmal fanden sich positive und negative Wertungen in ein und demselben Text, manchmal verteilten sie sich auf verschiedene Texte. Ausgehend von der Naturforschung kam es seit dem frühen 18. Jahrhundert zu einer Verlagerung. Die positiven Wertungen gewannen an Gewicht und wurden mit der Zeit zu regelrechten Konventionen, während die negativen Wertungen in den Hintergrund traten, ohne je ganz zu verschwinden. Auffälliger noch als die Urteilsverschiebung war aber die ungeheure Vermehrung der Texte und damit der Aufmerksamkeit, welche die Alpen auf sich zogen. Nach Ausweis der Reiseliteratur fiel der Beginn der explosionsartigen Zunahme in die 1760er-Jahre, als «aufgeklärte» Stimmen in Europa vielerorts die Deutungshoheit gewannen.10 Die Reiseberichte weisen auch darauf hin, dass dieser neue Alpendiskurs in geografischer Hinsicht ausgesprochen selektiv war. Er betraf vor allem die kleine Region von der Zentralschweiz bis nach Chamonix mit dem hohen Mont-Blanc-Gipfel. Die Alpenreisenden kamen vor allem aus nördlichen Ländern, namentlich England, Frankreich und Deutschland. In den folgenden Abschnitten präsentieren wir einige dieser Reisenden, mit speziellem Blick auf ihre politischen Ideen und Beobachtungen.11

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Abb. 1: Ansicht des Genfersees mit schweizerischen und savoyischen Alpen aus den «Tableaux topographiques» von Beat Fidel Zurlauben, 1780.

«Ein freyes und glückseliges Volk»

«Wenn man ein freyes und glückseliges Volk sehen will, so muß man in die Schweitz reisen.» Mit diesen Worten leitete Johann Michael von Loën einen Bericht über die Eidgenossenschaft ein, die er 1719 und dann wieder im Gefolge der erwähnten hessischen Prinzessin 1724 bereist hatte. Es sei erstaunlich, wie Menschen mit derart grossen Unterschieden punkto Religion, Sitte und Sprache seit dem ersten Bund von 1315 eine so «unverbrüchliche Vereinigung» und eine so «mächtige Republick» haben erschaffen können. «Keine Länder in der Welt sind besser zu einer freyen Republick gelegen. Die Natur hat sie gleichsam mit unersteiglichen Mauren umgeben. Ihre eigne Nachbarn beschützen sie durch ihre Eifersucht, indem es einem jeden nachtheilig seyn würde dem andern einen Flecken davon zu gönnen.» Einige meinten freilich, dass es die «natürliche Armuth» sei, welche die Schweizer vor Einfällen auswärtiger Feinde schütze. Denn sie hätten ausser einigen Eisenbergwerken und ihren Weiden in den Tälern wenig Schätze.

«Allein diejenigen, welche so urtheilen, kennen den wahren Werth der Länder nicht. Die ganze Schweitz, auch in den wildesten Gebürgen, ist voller Menschen; diese sind die wahren Reichthümer eines Landes. Was kann man nicht mit ihnen ausrichten, zumahl mit solchen, die frisch, gesund, arbeitsam, redlich und beherzt, wie die Schweitzer, sind?»12

Über die Schweizer zirkulierten allerdings noch andere Urteile, welche von Loën seinen Lesern nicht vorenthielt. Sie galten – besonders bei den Franzosen – als «unhöfliches, rohes und grobes Volk», kurz: als dumme Bauern («gros paisans»). Er selbst war positiver gestimmt und hob ihren Witz hervor, der sich ihrer freien Denkungsart verdanke. Doch die Freiheit hatte in seinen Augen auch Schattenseiten. Sie mache das gemeine Volk «ein wenig trotzig und ungesittet, auch hin und wieder wollüstiger und üppiger, als man es in diesen Ländern vermuthen sollte».13 Es ist nicht sicher, wann genau von Loën den Schweizer Bericht und jenen über die Prinzessin zu Papier brachte. Wahrscheinlich geschah es in den 1740er-Jahren und vielleicht zuerst in französischer Sprache, die im Adel und in gebildeten Kreisen weit über Frankreich hinaus verbreitet war. In seinen gesammelten «Kleinen Schriften» erschienen die Texte erstmals 1749. Von Loën war ein sehr produktiver Autor. Das Neue Gelehrte Europa, eine in Wolfenbüttel gedruckte Galerie von Intellektuellenbiografien bemerkte 1753: «Der Hr. von Loen ist gegenwärtig in der gelehrten Welt eine Person, auf welche aller Augen gerichtet sind.» Der preussische König und Aufklärungsfreund Friedrich II. berief ihn als Regierungspräsidenten von zwei Grafschaften. Früher hatte von Loën solche Berufungen abgelehnt und sittenkritische Romane verfasst. Jetzt sagte er zu, blieb aber weiterhin stolz, einem neuen Zeitalter der Vernunft anzugehören und für das Wohl der Gesellschaft zu arbeiten. Dazu eigneten sich in seinen Augen die Staatsform einer reformfreudigen, zentralistischen Monarchie, aber auch – wie mit dem Schweizer Beispiel belegt – demokratisch-republikanische Verfassungen.14

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Abb. 2: Johann Michael von Loën (1694–1776), deutscher Autor und Staatsmann der Aufklärung. Frontispiz seiner «Kleinen Schriften», Ausgabe 1750.

Karriere in einem kulturell aufgeschlossenen deutschen Fürstenstaat machte auch von Loëns Grossneffe, ein anderer Frankfurter, auf den nun wirklich viele Augen blickten: Johann Wolfgang Goethe. In Dichtung und Wahrheit (1811) würdigte Goethe den Schwager seiner Grossmutter als mutigen Mann, der mit kritischen und vorurteilsfreien Schriften viel bewirkt und sich auch Unannehmlichkeiten eingehandelt habe.15 Goethe selbst war der Schweizer Bergwelt vor allem aus Gründen des ästhetisch-emotionalen Naturerlebnisses und seiner damit verbundenen Naturforschung zugetan. Er hatte sie drei Mal während mehreren Monaten besucht: 1775, 1779 und 1797. Beim letzten Mal gehörte er zu den berühmtesten Autoren seiner Zeit. Tagebücher, Briefe, Gedichte, Zeichnungen und weitere Dokumente zeugen von diesen streckenweise zu Fuss zurückgelegten Reisen. Auch Texte, welche die Alpen nicht nennen, könnten von ihnen inspiriert gewesen sein, wie etwa die kleine Abhandlung Über den Granit. In ihr verband Goethe die Betrachtung des menschlichen Herzens mit der Beobachtung dieses «ältesten, festesten, tiefsten, unerschütterlichsten Sohnes der Natur».

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Abb. 3: «Scheideblick vom Gotthard nach Italien». Zeichnung von Johann Wolfgang Goethe vom 22. Juni 1775.

«Auf einem hohen nackten Gipfel sitzend und eine weite Gegend überschauend, kann ich mir sagen: Hier ruhst du unmittelbar auf einem Grunde, der bis zu den tiefsten Orten der Erde hinreicht, keine neuere Schicht, keine aufgehäufte zusammengeschwemmte Trümmer haben sich zwischen dich und den festen Boden der Urwelt gelegt.»16

Eine sehr bekannte, weil umstrittene Äusserung über die politischen Verhältnisse in der Schweiz legte Goethe einer Romanfigur in den Mund. Die Passage wurde 1796 geschrieben und erschien 1808 in Briefe aus der Schweiz, die einer Edition der Leiden des jungen Werthers angehängt und als von diesem stammend ausgegeben wurde:

«Frei wären die Schweizer? frei diese wohlhabenden Bürger in den verschlossenen Städten? frei diese armen Teufel an ihren Klippen und Felsen? Was man dem Menschen nicht alles weiß machen kann! besonders wenn man so ein altes Märchen in Spiritus aufbewahrt. Sie machten sich einmal von einem Tyrannen los und konnten sich in einem Augenblick frei denken; nun erschuf ihnen die liebe Sonne aus dem Aas des Unterdrückers einen Schwarm von kleinen Tyrannen durch eine sonderbare Wiedergeburt; nun erzählen sie das alte Märchen immer fort, man hört bis zum Überdruß: sie hätten sich einmal frei gemacht und wären frei geblieben; und nun sitzen sie hinter ihren Mauern, eingefangen von ihren Gewohnheiten und Gesetzen, ihren Fraubasereien [Geschwätz] und Philistereien [Kleingeistigkeit], und da draußen auf den Felsen ist auch wohl der Mühe wert, von Freiheit zu reden, wenn man das halbe Jahr vom Schnee wie ein Murmeltier gefangengehalten wird.»17

Laut Forschung ist die wahre Absicht des Autors in dieser Passage schwer zu ermitteln. Schon die Stereotypie des Diskurses könnte zum Widerspruch gereizt haben. Tatsächlich war die Botschaft von der Schweizer Freiheit seit den 1760er-Jahren in der Reiseliteratur fast gebetsmühlenartig wiederholt und verbreitet worden. Das war auch die Zeit, als das lange, barock anmutende Lehrgedicht von Albrecht von Haller über die Alpen (1732) wirklich berühmt wurde. Nicht wenige bemühten sich jetzt, es auswendig herzusagen. Mit der Zeit jedoch wurde der Blick einiger Autoren kritischer. Einerseits kannte man das idealisierte Land nun besser als früher, andererseits erhöhte die zunehmende Politisierung der Aufklärung die Massstäbe. Die altertümliche Gerichtspraxis in der Eidgenossenschaft sorgte bei Aufklärern für Unmut. So besonders im Fall von Anna Göldin, die 1782 unter dem Vorwurf der Hexerei verhaftet und – weil man das offiziell nicht mehr sagen durfte – wegen Giftmords verklagt und hingerichtet wurde. Das aristokratische Regiment in den Städten und die Geschlechterherrschaft in den Länderorten gerieten nun vermehrt in die Kritik, besonders seit die 1789 ausgebrochene Revolution in Frankreich nach grundsätzlichen Massnahmen und Entscheidungen rief. Während sich die einen auf die Seite der überzeugten Erneuerer schlugen und die Freiheit in der Schweiz als bisher nicht verwirklichte Fiktion geisselten, konnten konservative Geister diese Freiheit jetzt umso mehr als übertrieben empfinden.18 Ohnehin liessen sich viele Behauptungen über die Machtverteilung schlecht überprüfen. Wenn es einen Ort gab, wo man die republikanisch-freiheitliche Verfassung im Vollzug beobachten und sinnlich erleben konnte, dann waren es die periodischen Versammlungen der politisch berechtigen Landleute, die sogenannten Landsgemeinden.

Landsgemeindedemokratie

Im Jahr 1777 war die allgemeine Landsgemeinde in Glarus auf Sonntag, den 27. Juli, angesetzt. Infolge starker Regenfälle und Überschwemmungen wurden jedoch viele Landleute aufgehalten, sodass sich nur etwa ein Drittel auf der grossen Wiese zwischen dem Hauptort und Schwanden einfand. Der Landammann beorderte die Anwesenden daher in die Kirche und liess darüber befinden, ob man das jährliche politische Grossereignis aus gegebenem Anlass auf den folgenden Tag verschieben sollte. Eigentlich war die Teilnahme für die erwachsenen Männer verpflichtend. Zugleich fragte er die gut tausendköpfige Versammlung, ob einige ausländische Reisende – drei Engländer und ein Franzose – diese Landsgemeinde besuchen durften. Beim Franzosen handelte es sich um den 22-jährigen Louis Ramond de Carbonnières, der einen Bericht dazu hinterlassen hat: «Eine brausende und schmeichelhafte Akklamation kündigte uns die Einwilligung dieser Republikaner an», stellte er zufrieden fest.19

Im Verlaufe des Sonntags trafen dann mehr und mehr Stimmberechtigte ein, und am nächsten Morgen begaben sich alle auf die Landsgemeindewiese. Dort war ein vierfacher Ring von Bänken mit einem Durchmesser von ungefähr hundert Metern («plus des trois cents pieds») aufgestellt. Auf den innersten Bänken sassen die Räte, auf den anderen die gemeinen Männer, alle mit Waffen und ohne für fremde Augen erkennbare Rangunterschiede. Der Landammann stand aufrecht, gestützt auf ein «Freiheitsschwert», mit dem man angeblich einst die Österreicher vertrieben hatte, neben ihm ein Gerichtsdiener und zwei Weibel in den Standesfarben. Die Frauen kamen nicht