Chris Wickham

DAS
MITTELALTER

EUROPA VON 500 BIS 1500


Aus dem Englischen
von Susanne Held

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Medieval Europe« im Verlag Yale University Press, New Haven und London

© 2016 by Chris Wickham

Für die deutsche Ausgabe

© 2018, 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos und Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von © Picture Alliance / CPA Media
(Italy / China: Marco Polo sailing from Venice in 1271)

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98505-4

E-Book: ISBN 978-3-608-11028-9

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1

Ein neuer Blick auf das Mittelalter

Dieses Buch handelt vom Wandel. Die Epoche, die wir als »Mittelalter(1)« bezeichnen, dauerte tausend Jahre, von 500 bis 1500; und Europa(1), das Thema dieses Buchs, sah nach dieser Periode völlig anders aus als zu deren Beginn. Den Anfang beherrschte das römische Imperium(1), das die eine Hälfte Europas(2) unter sich vereinte, sie aber zugleich auch scharf von der anderen Hälfte abtrennte; ein Jahrtausend später hatte Europa(3) die komplizierte Form angenommen, die es seither prägt: mit der Vielzahl von Staaten(1) in ihrer noch heute mehr oder weniger ausgeprägten, jedenfalls erkennbaren Form. Ich möchte mit diesem Buch zeigen, wie sich dieser Wandel und viele andere Wandlungsprozesse vollzogen und inwiefern sie von Bedeutung sind. Aber ich möchte mich nicht auf die Ergebnisse konzentrieren. Viele Autoren, die sich mit dem Mittelalter(2) befassten, richteten ihr Augenmerk vor allem auf die Ursprünge dieser »National«-Staaten(2) oder auf andere Aspekte dessen, was sie als »Moderne« ansahen. Für solche Autoren erhält die Periode ihren Sinn aufgrund der damit verbundenen Ergebnisse. Ich halte das für einen gravierenden Irrtum. Die Geschichte ist nicht teleologisch: Das heißt, historische Entwicklung bewegt sich nicht auf etwas zu, sondern sie geht von etwas aus. Außerdem kann ich, was mich betrifft, sagen: Die Zeit des Mittelalters, die so voller Energie war, ist an und für sich interessant; sie hat es nicht nötig, in das Raster irgendwelcher späteren Entwicklungen gepresst zu werden. Ich hoffe, mein Buch kann das vermitteln.

Aber das bedeutet nicht, dass die Geschichte des europäischen(4) Mittelalters einfach nur aus durcheinanderwirbelnden Ereignissen bestanden hätte, deren Muster keinerlei Struktur aufwiesen – außer als Bestandteile eines beliebig ausgewählten Jahrtausends. Das Gegenteil ist der Fall. Das Mittelalter(3) zeichnet sich durch mehrere deutlich markierte Momente des Wandels aus; sie sind es, die der Epoche Form geben. Die wichtigsten Momente dieses Wandels sind meines Erachtens folgende – und ihnen allen ist jeweils ein Kapitel in diesem Buch gewidmet: der Untergang des Römischen Reichs(2) im Westen im 5. Jahrhundert; die Krise(1) des Reichs im Osten, als es im 7. Jahrhundert mit dem Aufkommen des Islam(1) konfrontiert wurde; die Eindringlichkeit des karolingischen Experiments in einer im großen Maßstab moralisch(1) orientierten Regierung im späten 8. und im 9. Jahrhundert; die Ausdehnung des Christentums(1) in Nord- und Osteuropa (vor allem im 10. Jahrhundert); die radikale Dezentralisierung politischer(1) Macht(1) im Westen im 11. Jahrhundert; das demographische(1) und ökonomische(1) Wachstum im 10. und bis zum 13. Jahrhundert; der Wiederaufbau politischer(2) und religiöser Macht im Westen im 12. und 13. Jahrhundert; das Schwinden der Macht von Byzanz(1) zur selben Zeit; der Schwarze Tod(1) und die Herausbildung von Staatsgefügen im 14. Jahrhundert; und das Aufkommen des Engagements breiterer Bevölkerungsschichten zusammen mit der Entstehung von Öffentlichkeit(1) im späten 14. und im 15. Jahrhundert. All diese Wendepunkte wurden durch mehrere strukturelle Entwicklungen verbunden: Dazu gehören unter anderen die Rücknahme und Neuerfindung von Konzeptionen öffentlicher(2) Machtausübung(2); die Verschiebung der materiellen Mittel, die – von der Steuereinziehung(1) zum Landbesitz(1) und wieder zurück – den politischen(3) Systemen zur Verfügung standen; der sich wandelnde Einfluss der Schrift(1) auf die politische(4) Kultur(1); und, in der zweiten Hälfte des Mittelalters(4), die Zunahme formalisierter, bindender Strukturen lokaler Macht(3) und Identität(1), wodurch die Umgangsformen zwischen Herrschern und dem von ihnen regierten Volk verändert wurden. Auch das soll in diesem Buch ausgiebig behandelt werden.

Ein Buch dieses Umfangs kann sich nicht detailliert auf die Mikrogeschichte von Gesellschaften oder Kulturen(2) einlassen; auch kann es keine auf einzelne Länder bezogenen, detaillierten Darstellungen der Ereignisse liefern. Ich biete eine Interpretation des Mittelalters(5), keine lehrbuchmäßige Darstellung – davon gibt es bereits viele: teilweise ganz exzellente Veröffentlichungen, denen nicht noch eine weitere hinzugefügt werden muss.[1] Natürlich beginne ich jedes Kapitel mit kurzen Darstellungen der politischen(5) Ereignisse, um meine Argumente in einen Kontext zu stellen – vor allem für jene Leser, die zum ersten Mal in Kontakt mit dem Mittelalter(6) kommen. Doch ich beabsichtige, mich auf die Momente des Wandels und auf die übergreifenden Strukturen zu konzentrieren, um zu zeigen, was meiner Ansicht nach für die Epoche des Mittelalters am charakteristischsten war, wodurch diese Zeit interessant wird; und diese Momente und Strukturen liefern auch die Grundlagen für das, was folgt.

Meine Zusammenstellung solcher Momente des Wandels ergibt außerdem eine andere historische Verlaufslinie im Vergleich zu derjenigen, die offenbar – sei es explizit, sei es implizit – in nur allzu vielen Darstellungen des Mittelalters(7) den Inhalt vorgibt. Eine weit verbreitete Interpretation versteht Europa(5) sogar noch heute in dem Sinn, dass es mit der »Gregorianischen Reform(1)« im 11. Jahrhundert aus einer Phase des Verfalls emporstieg; dass es mit der »Renaissance(1) des 12. Jahrhunderts« aus der Unwissenheit auftauchte; mit der flämischen Tuchherstellung(1) und dem venezianischen(1) Schiffshandel(1)(1) aus der Armut; aus politischer(6) Schwäche mit der Gründung von (National-)Staaten(3) durch Heinrich II.(1) und Eduard (1)I. in England(1), durch Philipp II.(1) und Ludwig IX.(1) in Frankreich(1), durch Alfons VI. und Ferdinand(1) III. [Fernando el Santo] in Kastilien(1); um schließlich im 12. und 13. Jahrhundert, im sogenannten »Hochmittelalter(8)«, seinen Gipfelpunkt zu erreichen: mit Kreuzzügen(1), dem Ritterwesen(1), mit gotischen(1) Kathedralen(1), der Herrschaft(1) des Papstes(1), der Universität(1)(1) von Paris(1), den Märkten(1) der Champagne(1)(1). Im Kontrast dazu durchleben dann die Jahrzehnte und Jahrhunderte nach 1350 wieder einen »Niedergang«, mit Pest(1)(1), Krieg, Schisma(1) und kultureller Verunsicherung, bis schließlich der Humanismus und eine radikale Kirchenreform(1) alles wieder ins Lot bringen. Dieses Narrativ kommt in diesem Buch nicht vor, da es eine verzerrte Darstellung des Spätmittelalters bietet und das Frühmittelalter und Byzanz(2) komplett ausblendet; außerdem ist viel zu viel an dieser Konstruktion dem Wunsch geschuldet, das Mittelalter(9), zumindest jenes nach 1050, zu einem »echten« Bestandteil der Moderne zu machen, was ich bereits früher kritisiert habe. Diese Sichtweise ist auch das verborgene Erbe jenes alten Anspruchs gegenüber der Geschichtswissenschaft, sie möge moralische(2) Lehren erteilen, bewunderungswürdige Perioden, Helden und Schurken vor Augen führen – ein Ziel, von dem Historiker zwar behaupten, sie hätten sich davon verabschiedet, was aber häufig tatsächlich nicht der Fall ist.

Eine dergestalt moralisierende Sicht leitet sich für viele aus dem Wort »mittelalterlich(10)« selbst ab. Das Wort hat eine interessante Geschichte; von Beginn an war es negativ besetzt, und häufig änderte sich daran auch nichts. Seit den Zeiten der römischen Republik bezeichneten sich die Menschen immer wieder als »modern« – lateinisch(1) moderni – und die, die vor ihnen waren, als antiqui, »alt«. Im 14. und 15. Jahrhundert breitete sich unter einigen Intellektuellen(1), den von uns so genannten Humanisten(1), die Gewohnheit aus, das Wort »antiqui« auf die klassischen Autoren des Römischen Reichs(3) und dessen Vorläufer zu beziehen, in denen diese Intellektuellen(2) ihre eigentlichen Vorfahren sahen – im Unterschied zu den als minderwertig(1) angesehenen Autoren des dazwischenliegenden Jahrtausends, das im 17. Jahrhundert immer nachdrücklicher zurückgestuft und infolgedessen medium aevum, das Zeitalter dazwischen, das »Mittelalter(11)« genannt wurde. Der Gebrauch des Begriffs setzte sich dann vor allem im 19. Jahrhundert durch, und er breitete sich auf alles aus: Man sprach von »mittelalterlicher« Regierung, »mittelalterlicher« Wirtschaft, der »mittelalterlichen« Kirche(2) und so weiter, was – ebenfalls im 19. Jahrhundert – deutlich gegen das Zeitalter der Renaissance(2) abgesetzt wurde, von welchem die »moderne« Geschichte angeblich ihren Ausgang nahm.[2] Die Zeit des Mittelalters(12) konnte damit als »Betriebsunfall« abgetan werden, als eine Art Rosstäuschertrick, der von einigen wenigen Gelehrten an der Zukunft verübt wurde. Diese Vorstellung wurde allerdings, während sich immer mehr Schichten von »Modernität« aufbauten, zu einem wirkmächtigen Bild.

Als die Geschichtsschreibung(1) dann seit den 1880er Jahren stärker professionalisiert(1) wurde und sich Spezialisierungen für einzelne Perioden herausbildeten, gewann auch die mittelalterliche(13) Vergangenheit ein positiveres Image. Manches daran war eher defensiver Natur, beispielsweise die Behauptungen von Spezialisten, es habe in diversen mittelalterlichen Jahrhunderten bereits eigenständige »Renaissancen« gegeben, die dann ihre Periode in den Augen herablassender moderner Zeitgenossen legitimieren konnten: die »Renaissance(3) des 12. Jahrhunderts« oder auch die »Karolingische Renaissance«. Manches war von echtem, teilweise feurigem Enthusiasmus geprägt, so etwa wenn katholische(1) Historiker die religiöse Unverdorbenheit des Mittelalters rühmten oder nationalistische Historiker sich auf die grundsätzlich mittelalterlichen Wurzeln der grundsätzlich überlegenen Identität(2) ihrer je eigenen Nationen konzentrierten. Die Epoche des Mittelalters(14), lang vergangen und teilweise nur spärlich dokumentiert, wurde hier zum phantasierten Ursprung aller möglichen Sehnsüchte des 20. Jahrhunderts – ebenso fiktional wie die rhetorischen(1) Elaborate der Humanisten(2).

Doch man leistete andererseits im 20. Jahrhundert auch harte empirische Arbeit. Damit geriet die Komplexität und Faszination des Mittelalters(15) zunehmend klar in den Blick. Mittelalter-Historiker schulden der Voreingenommenheit nationalistischer Geschichtsschreibung(2) häufig mehr, als sie bereit sind zuzugestehen. Es gilt nach wie vor, dass englische(2) Historiker eher geneigt sind, das Erstarken des englischen(3) Staates(4) in den Mittelpunkt zu stellen – des ersten Nationalstaats in Europa(6), ein echtes Alleinstellungsmerkmal ihres Landes. Deutsche Historiker plagen sich mit dem Begriff des Sonderwegs ab, der angeblich verhinderte, dass sich in ihrem Land ein vergleichbares Modell herausbilden konnte. Die Italiener(1) schließlich beurteilen die Zerschlagung des Königreichs Italien mit Gleichmut, weil sie den italienischen(2) Städten und mit ihnen der Bürgerkultur Autonomie verschaffte, die zur (für italienische(3) Historiker höchst italienischen(4)) Renaissance(4) führte.[3] Doch hat sich die Arbeit auf dem Gebiet der Mittelalterforschung(16) mittlerweile zu einer solchen Gründlichkeit und Differenziertheit entwickelt, dass es zu diesen Auffassungen auch Alternativen gibt, und wir sind eher imstande, sie zu überwinden.

Damit ist zwar ein Problem gelöst, gleichzeitig aber ein anderes aufgeworfen. Wenn wir im Mittelalter(17) nicht mehr eine lange, dunkle Phase der Willkürgewalt(1), der Unwissenheit und des Aberglaubens sehen – was unterscheidet es dann von der Zeit davor und danach? Der Beginn ist in gewisser Hinsicht einfacher auszumachen, da er üblicherweise an den politischen(7) Krisen(2) festgemacht wird, die sich durch den Untergang des Weströmischen Reichs im 5. Jahrhundert ergaben, woraus sich der ungefähre Zeitpunkt von 500 n. Chr. für die Trennlinie zwischen Antike und Mittelalter(18) ergibt. Gleichgültig, ob man nun das Römische Reich(4) als irgendwie »besser« einstuft als die westlichen Nachfolgestaaten(5) oder nicht, so waren letztere jedenfalls mit Sicherheit stärker aufgesplittert(1), strukturell schwächer und wirtschaftlich weniger komplex. Der Bruch wird verkompliziert durch das lange Überleben des Oströmischen Reichs(5), das wir heute als Byzanz(3) bezeichnen; infolgedessen gibt es in Süd-Ost-Europa(7) um 500 keinerlei Scheidelinie. Tatsächlich war auch im Westen lediglich eine Handvoll der heutigen europäischen(8) Nationen betroffen – die größten sind Frankreich(2), Spanien(1), Italien(5) und das südliche Britannien(1) –, denn das Römische Imperium(6) hatte sich nie bis Irland(1), Skandinavien(1), den größten Teil Deutschlands(1) und die meisten slawischsprachigen(1) Länder ausgedehnt.

Kompliziert wird das Problem noch zusätzlich durch Ergebnisse der letzten Generation von Historikern, die zeigen konnten, dass es über die Zeitgrenze des Jahrs 500 hinweg bedeutende Kontinuitäten gab, speziell in Kulturpraktiken(3) – bei religiösen Vorstellungen, beim Begriff öffentlicher(3) Macht(4) –, wodurch sich das Fortleben einer »späten Spätantike« noch für längere Zeit hinzieht, bei den einen bis 800, bei anderen sogar bis zum 11. Jahrhundert. In diesen Fällen wird die Abruptheit des Zusammenbruchs des Römischen Reichs(7) durch den Bezug zwischen Wandel und Beständigkeit abgemildert. Doch das halbe Jahrhundert vor und nach 500 bleibt dennoch ein überzeugender Anfangspunkt und zumindest für mich ein signifikanter Zeitraum, innerhalb dessen sich Veränderungen auf so vielen Ebenen vollziehen, dass sie unmöglich ignoriert werden können.

Das Jahr 1500 (beziehungsweise auch hier wieder das halbe Jahrhundert davor und danach) ist ein schwierigerer Fall: Damals fanden weniger Veränderungen statt, oder die angeblichen Zeichen für den Anbruch der »Moderne« waren nicht alle besonders markant. Die Übernahme von Byzanz(4) durch die osmanischen(1) Türken im Jahr 1453 war nichts im engeren Sinn Weltbewegendes, weil das einst so mächtige Reich mittlerweile in kleine Provinzen innerhalb des heutigen Griechenland(1) und der Türkei(1) zerfallen war, und die Osmanen(2) bedienten sich weiterhin recht effektiv der byzantinischen(5) politischen(8) Strukturen. Die »Entdeckung« Amerikas(1) durch Kolumbus(1) oder, besser gesagt, die Eroberung der größeren Staaten(6) Amerikas(2) durch spanische(2) Abenteurer in den 1520er und 1530er Jahren war für Amerikaner mit Sicherheit eine Katastrophe, doch bis sich die dortigen Entwicklungen spürbar auf Europa(9) (abgesehen von Spanien(3)) auswirkten, verging viel Zeit. Die Bewegung des Humanismus(3), das geistige Herz der Renaissance(5), wirkt in ihrem ganzen Gebaren stark mittelalterlich(19). Was bleibt, ist die Reformation(1), die ebenfalls in die 1520er und 1530er Jahre fällt (und im weiteren Verlauf des Jahrhunderts die katholische(2) Gegenreformation(1)): ein religiöser und kultureller Wandlungsprozess, der West- und Mitteleuropa in zwei Teile spaltete und zwei sich häufig widerstreitende(1) Lager entstehen ließ, die sich in politischer(9) und kultureller Hinsicht stetig auseinanderentwickelten, ein Prozess, der noch heute anhält. Letzteres war sicher ein bedeutender und relativ plötzlicher Bruch, auch wenn er sich auf das orthodoxe(1) Christentum(2) Osteuropas kaum auswirkte. Wenn wir die Reformation(2) als das Ereignis begreifen, das das Ende des Mittelalters(20) in Europa(10) markiert, dann stellt sich allerdings das Problem, dass wir das Mittelalter mit einer politischen(10) und wirtschaftlichen Krise(3) in einer Umgebung kultureller und religiöser Kontinuitäten beginnen lassen und das Ende in einer kulturellen und religiösen Krise(4) in einer Umgebung verorten, wo Politik(11) und Wirtschaft überwiegend unverändert bleiben. In dieser ganzen Definition des Mittelalters(21) steckt also etwas Künstliches, das wir aber kaum beseitigen können.

Diese Erkenntnis erlaubt uns allerdings, uns noch einmal der Frage zuzuwenden, wie wir uns zum Mittelalter(22) als einer in sich geschlossenen Einheit verhalten. Natürlich wäre es möglich, nach einem im Vergleich zum Jahr 1500 besseren Zeitpunkt als möglichem Schlusskandidaten Ausschau zu halten: 1700 womöglich, mit seinen Revolutionen im Wissenschafts- und Finanzwesen; oder 1800, mit seinen politischen(12) und industriellen Revolution(1)en. Schon des Öfteren wurden diese Phasen enger in Betracht gezogen. Allerdings würde man dadurch festschreiben, dass der Wandel auf einem bestimmten Gebiet im Vergleich mit anderen Bereichen am wichtigsten war; man würde neue Grenzen erfinden, statt sie zu relativieren. Wenn wir bei dem bleiben, was wir haben, dann hat das den Vorteil, dass 500 bis 1500 eben eine künstliche Zeitspanne ist, in der Veränderungen auf unterschiedliche Weise an unterschiedlichen Orten verfolgt werden können, ohne dass sie teleologisch auf ein Großereignis am Schluss zulaufen müssten, sei das nun eine Reformation(3), eine Revolution, eine Industrialisierung oder sonst ein Zeichen von »Modernität«.

Hinzuzufügen ist – obwohl ich dergleichen auf diesen Seiten nicht vorhabe –, dass diese Vorgehensweise auch einen weiter ausgreifenden Vergleich ermöglicht. Wissenschaftler, die sich in unserem Jahrtausend mit der Geschichte Afrikas(1) oder Indiens oder Chinas beschäftigen, äußern häufig Kritik an der Bezeichnung »Mittelalter(23)«, weil damit anscheinend europäischer(11) Ballast transportiert wird und vor allem eine Teleologie unvermeidlicher europäischer(12) Überlegenheit vorausgesetzt wird, was die meisten Historiker heutzutage ablehnen. Doch hat man die Künstlichkeit erst anerkannt, dann kann die europäische(13) Mittelalter(24)-Erfahrung komparativ in neutralerer, das heißt konstruktiver Weise gegen andere Erfahrungen abgegrenzt werden.[4]

Faktisch ist auch »Europa(14)« kein Begriff, der sich von selbst versteht. Es handelt sich – genauso wie bei Südostasien – schlicht nur um eine Halbinsel vor der eurasischen Landmasse.[5] Nach Nordosten ist Europa(15) von den großen asiatischen Staaten(7) durch die Wälder Russlands und die Weite Sibiriens(1) getrennt, doch der südlich davon gelegene Steppenkorridor verband – wie nacheinander die Hunnen(1), die bulgarischen(1) Turk(1)-Völker und die Mongolen(1) bewiesen haben – für unternehmungslustige Reiter zu allen Zeiten Asien und Europa(16), und die Steppe(1) setzte sich in Richtung Westen über die Ukraine(1) nach Ungarn(1) ins Herz Europas(17) hinein fort. Vor allem aber: Südeuropa ist untrennbar mit dem Mittelmeerraum(1) verbunden und dadurch in allen Epochen über wirtschaftliche, wenn auch nicht politische(13) und kulturelle Beziehungen mit den anliegenden Gebieten Westasiens und Nordafrikas(2). Als das Römische Reich(8) noch existierte, war das Mittelmeer als Verbindungsfaktor ein sehr viel wichtigeres Studienobjekt als »Europa(18)«: Letzteres war einerseits in das Römische Reich(9) im Süden und andererseits in ein ständig wechselndes Netzwerk von (nach römischer Bezeichnung) »barbarischen« Völkern im Norden aufgespalten. Das sollte sich auch so schnell nicht ändern; die christliche(3) Religion und die Regierungstechniken der nachrömischen Verwaltung(1)(10) weiteten sich erst nach 950 auch über die alte römische Grenze hinweg aus. Damals entwickelte sich das Mittelmeer(2) allmählich auch wieder zu einem wichtigen Handelsdrehkreuz(2), und für den Rest des Mittelalters(25) hatte es dieselbe Bedeutung wie die Tauschnetzwerke(1) im Norden.[6] Außerdem war Europa(19) nie eine in sich geschlossene politische(14) Einheit und wurde es auch später nie.

Das heißt nicht, dass die Menschen im Mittelalter(26) nicht von Europa(20) sprachen. Im Umfeld des karolingischen Hofs im 9. Jahrhundert, im Gefolge von Königen, die über das heutige Frankreich(3), Deutschland(2), die Niederlande(1) und Italien(6) herrschten, war manchmal von den jeweiligen Herrschern als den Herren von »Europa(21)« die Rede, ebenso bei den Nachfolgern im ottonischen(1) Deutschland des 10. Jahrhunderts: Man stellte die jeweiligen Herrscher als potentielle Oberherren über nur vage vorgestellte, dabei aber ausgedehnte Länder und Regionen dar, und dafür war »Europa(22)« ein geeignetes Wort. In diesem rhetorischen(2) Sinn überdauerte der Begriff in Kombination mit einem aus der Antike übernommenen schlichten geographischen Rahmen das Mittelalter(27), aber nur selten – nicht nie, aber selten – diente er als Grundlage für irgendeine behauptete Identität(3).[7] Es stimmt, dass das Christentum(4) sich während des Hochmittelalters(28) in all die Gebiete ausdehnte, die heute als europäische(23) Länder bezeichnet werden (Litauen(1), das damals sehr viel größer war als heute, war der letzte Staat(8), dessen Herrscher im späten 14. Jahrhundert konvertierten(1)). Doch entstand daraus keine gemeinsame europäische(24) religiöse Kultur(4), denn die Ausbreitung des lateinischen(2) und des griechischen(2) Christentums(5) waren zwei separate Prozesse. Außerdem änderte sich ständig die Grenze zwischen den von Christen und den von Muslimen(1) beherrschten Gebieten: Im Spanien(4) des 13. Jahrhunderts drängten christliche Herrscher in Spanien südwärts; im 14. und 15. Jahrhundert drängten muslimische(2) Herrscher (die Osmanen(3)) nordwärts – die klare Abgrenzung eines »christlichen(6) Europa(25)« (die außerdem immer die zahlreichen Juden(1) in Europa(26) ausklammerte) passte also nie zur Realität, woran sich bis heute nichts geändert hat.

Wir werden sehen, dass in einem sehr allgemeinen Sinn in der zweiten Hälfte der von uns untersuchten Periode Europa(27) tatsächlich in gewissem Ausmaß auf eine gemeinsame Entwicklungsrichtung einschwenkte. Das geschah im Rahmen einer Vielfalt von Institutionen und politischen(15) Gepflogenheiten, etwa dem Netzwerk der Bistümer oder der Verwendung der Schrift(2) in der Regierung, was Verbindungen von Russland bis hinüber nach Portugal(1) schuf. Allerdings reicht das für uns nicht aus, um den Kontinent als Ganzheit anzusehen. Dazu war er innerlich zu vielgestaltig. Sämtliche Behauptungen, es existiere so etwas wie eine europäische(28) und ausschließlich europäische(29) Einheit, sind sogar heute noch reine Fiktion – und für das Mittelalter(29) wären sie völlig aus der Luft gegriffen. Wir sehen also: Das mittelalterliche Europa(30) ist einfach nur ein ausgedehnter, vielgestaltiger Raum innerhalb einer langen Zeitperiode. Es liegen dazu so viele Zeugnisse vor, dass eine differenzierte Untersuchung möglich ist. Eine romantische Vorstellung ist das nicht, und das ist auch gar nicht beabsichtigt. Trotzdem bieten dieser Raum und diese Zeit fesselndes Material. Mein Ziel ist es, diesem Material eine Form zu geben.

Noch eine letzte Warnung an dieser Stelle. Wir kennen zwei gebräuchliche Arten, sich den Jahrhunderten des Mittelalters(30) anzunähern: Die eine geht davon aus, dass die Menschen im Mittelalter Leute »wie wir« waren, die lediglich in einer technisch einfacher ausgestatteten Welt – Schwerter, Pferde, Pergament, keine Zentralheizung – lebten; die andere legt zwischen uns und die Menschen des Mittelalters(31) den Graben eines tiefen Unterschieds und stattet Letztere mit Wertesystemen(2) und Weltauffassungen aus, die von vornherein schwer zu begreifen sind, auf uns häufig unerfreulich wirken und die komplexer Rekonstruktionsbemühungen bedürfen, um zu einer eigenständigen Logik und Rechtfertigung zu kommen. Beide Zugangsweisen haben in gewisser Weise ihren Wert(3), sie sind jedoch beide für sich genommen Sackgassen. Die erste riskiert, sich in Banalitäten zu erschöpfen oder in eine Moralisierung(3) zu verfallen, die sich aus der Enttäuschung ergibt, wenn Akteure im Mittelalter(32) anscheinend daran scheiterten, etwas zu begreifen, was für uns klar auf der Hand liegt. Auch die zweite Methode birgt das Risiko, moralisierend(4) zu werden, doch ihre Alternative ist allzu häufig eine Art Kollusion bis hin zur Possierlichkeit: Der Historiker wird zum Anthropologen, der sich lediglich, manchmal allerdings nur im kleinsten Rahmen, auf die Faszination des Absonderlichen konzentriert. Ich möchte mich eher beider Methoden in einem weiter ausgreifenden historisierenden Versuch bedienen, um herauszufinden, wie die Menschen im Mittelalter(33) in ihren jeweiligen tatsächlichen politischen(16) und ökonomischen(2) Umgebungen und mit den Werten(4), die sie tatsächlich vertraten, Entscheidungen trafen, indem sie »ihre eigene Geschichte mach[t]en, aber sie mach[t]en sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen«.[8] Marx(1), von dem diese Worte stammen, ging nicht davon aus, dass eine solche Analyse zu stillschweigendem Einvernehmen führen könnte, was auch ich nicht tue, doch sie erfordert jedenfalls das Verständnis verschiedener Handlungsträger in einer sehr anderen, aber nicht unkenntlichen Welt: Das ist für jede Form von Geschichtsschreibung(3) erforderlich, wobei es natürlich wichtig ist zu sehen, dass die 980er Jahre höchst befremdlich waren, und wir müssen unsere Phantasie anstrengen, um die damaligen Werte(5), die damalige politische(17) Logik zu rekonstruieren; aber genauso wichtig ist es, nicht aus dem Auge zu verlieren, dass dasselbe auch für die 1980er Jahre gilt.

* * *

In den letzten Passagen dieses einleitenden Kapitels möchte ich einige grundlegende Parameter für die Funktionsweise der mittelalterlichen(34) Gesellschaft vorstellen, die dazu dienen, die unterschiedlichen Verhaltensmuster und politischen(18) Ausrichtungen einzuschätzen, die uns im weiteren Verlauf des Buchs begegnen werden. Im ersten Abschnitt spreche ich über Politik(19), vor allem während der mittleren Periode des Mittelalters; dann komme ich in geraffterer Form auf die Wirtschaft und einige grundlegende Aspekte der Kultur(5) des Mittelalters(35) zu sprechen. Die Menschen im Mittelalter dachten und handelten nicht alle gleich, natürlich gab es auch damals immense Unterschiede. Aber es gab doch auch einige Merkmale, die die überwiegende Mehrheit betrafen. Einige dieser Merkmale waren schlicht Folgen grundlegender sozioökonomischer Gegebenheiten, die, wie wir sehen werden, für die gesamte Epoche typisch waren.

Es war nicht einfach, sich im Europa(31) des Mittelalters(36) fortzubewegen. Das Römische Reich(11) hatte ein Netzwerk von Straßen(1) hinterlassen, allerdings reichte dieses nicht über die römischen Grenzen entlang des Rheins(1) und der Donau(1) hinaus; das Straßensystem(2) im übrigen Deutschland(3) und in noch größerem Ausmaß weiter im Norden und Osten war auf lange Zeit hinaus nur rudimentär entwickelt, und Reisende waren daher wenn möglich auf den Wasserstraßen und in Flusstälern(1) unterwegs. In einer Welt ohne Landkarten konnten nur Experten(1) irgendwelche Streckenerkundungs-Risiken auf sich nehmen. Abgesehen von den Alpen(1) gibt es in Europa(32) keine hohen Berge; das entscheidende Hindernis waren damals die Wälder, die – abgesehen von Britannien(2) und Regionen des Mittelmeerraums(3) – den größten Teil von Kontinentaleuropa überzogen: Rund die Hälfte des heutigen Deutschland(4), rund 30 Prozent des heutigen Frankreich(4) und ein noch größerer Teil Osteuropas bestanden aus Wald. Die Geschichten von tapferen jungen Schneiderlein, die sich in den Märchenwäldern der Gebrüder Grimm(1) verirren, waren keine Phantasie, jedenfalls nicht in dieser Hinsicht. Im Jahr 1073 musste der deutsche Kaiser Heinrich(1) IV. nach einem schnellen Rückzug im Zusammenhang mit dem Ausbruch des großen Sachsenaufstands seinen Weg durch den Wald nehmen, weil die Sachsen(1) die Straßen(3) bewachten, und er war mit seinem Gefolge drei Tage ohne Verpflegung unterwegs, bevor wieder besiedelte Gebiete erreicht wurden. Und man war in allen Fällen, auch auf den Straßen(4), langsam unterwegs. Als sich derselbe Heinrich(2), der mittlerweile die Sachsen(2) besiegt hatte, während der Jahre 1075 bis 1076 mit Papst(2) Gregor VII.(1) einen politischen(20) Showdown mit einem regen Austausch(2) an Drohbotschaften lieferte, der sich schnell zu wechselseitigen Absetzungsdrohungen hochschaukelte, dauerte es fast einen Monat, bis eine dieser Botschaften den ganzen Weg zwischen Südsachsen und Utrecht(1) in den heutigen Niederlanden(2), wo Heinrich(3) sich aufhielt, und Rom(1) zurücklegte – wobei in diesem Zusammenhang noch schnelle berittene Boten eingesetzt wurden. Sie waren immerhin bis zur Einführung der Eisenbahn im 19. Jahrhundert das schnellste Kommunikationsmittel(1).[9] Die Landschaft war insgesamt eine Gefahr und voller Unwägbarkeiten; die erhabene Schönheit einer Bergkette nahm fast niemand wahr – Berge galten eher als Aufenthaltsort von Dämonen(1) und (in Skandinavien(2)) von Trollen.

Allerdings dürfen wir diesen Wildnis-Charakter auch nicht übertreiben. Er war ein Hintergrund, der sich nur hin und wieder mehr in den Vordergrund schob, was einige europäische(33) Politik(21)-Systeme nicht davon abhielt, eine große Ausdehnung zu erreichen, und zwar auch über längere Zeiträume hinweg. Das Karolingerreich(1) nahm, wie wir schon gesehen haben, mehr als die Hälfte Westeuropas(34) ein; die Macht(5) der Fürsten von Kiew(1) im 11. Jahrhundert reichte fast ebenso weit, sie erstreckte sich über das heutige Russland und die Ukraine(2), das Land nördlich der offenen Steppe(2), das praktisch vollständig mit Wald bewachsen war. Die Menschen konnten durchaus herumkommen. Könige waren häufig während ihrer gesamten Regierungszeit unterwegs – König Johann(1) von England(4) (1199–1216)[10] legte täglich im Schnitt 20 Kilometer zurück und blieb nur selten länger als ein paar Nächte an einem Ort.[11] Große Heere bezwangen regelmäßig tausend Kilometer und mehr, etwa bei den Feldzügen deutscher Kaiser in Italien(7) im Zeitraum zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert oder bei den Märschen über Land und den Meeresüberquerungen durch die Kreuzfahrer(1), die mit dem Ziel aufbrachen, Palästina(1) oder Ägypten(1) anzugreifen – abgesehen von allem anderen waren das zumindest logistisch triumphale Unternehmungen. Auch größere Bevölkerungsgruppen(2) konnten sich, wenn auch langsamer, von einem Ort zum anderen bewegen, wie die deutsche Migrationsbewegung in ausgedehnte Gebiete Osteuropas nach 1150 zeigt. Sicher ist aber festzuhalten, dass die europäische(35) Welt im Allgemeinen sehr stark ortsgebunden war. Die meisten Menschen kannten nur die unmittelbare Umgebung, einige nächstgelegene Dörfer(1) beziehungsweise Märkte(2) in ihrer direkten Nähe. Ein Graf – also der örtliche Vertreter des Königs –, dessen Aufgabenbereich am Rand eines Königreichs lag, konnte häufig für einen beträchtlichen Zeitraum machen, was er wollte, ohne dass der König dazu in der Lage war, ihn davon abzuhalten, oder in manchen Fällen sogar überhaupt davon Kenntnis hatte, was sein Repräsentant(1) im Schilde führte. Die Kommunikationsschwierigkeiten(2) standen dem immer im Weg. Doch wenn es sich um tatkräftige Könige handelte, dann tauchten sie früher oder später mit bewaffneten(1) Männern auf (oder sie beauftragten andere Grafen, sich des Problems anzunehmen), und den Grafen war klar, dass ihnen das bevorstand: Damit war zumindest bis zu einem gewissen Grade offener Abtrünnigkeit vorgebeugt. Außerdem gab es noch andere Regierungstechniken, mit denen die Macht(6) von Herrschern recht weit und recht zuverlässig ausgeweitet werden konnte. Wir werden uns in späteren Kapiteln damit befassen. Hier möchte ich zunächst einige grundlegende Mechanismen politischer(22) Macht(7) vorstellen, die unsere Epoche zu einem Großteil prägten. Ich konzentriere mich auf einen bestimmten Fall und befasse mich anschließend mit dessen Bedeutung.

Im Sommer des Jahres 1159 erhob der König von England(5), Heinrich II.(2) (1154–1189), Anspruch auf die südfranzösische Grafschaft(1) Toulouse(1). Heinrich war bereits im Besitz der Hälfte von Frankreich(5), von Herzogtümern und Grafschaften(2) von der Normandie(1) im Norden bis zu den Pyrenäen(1) im Süden. Diese Gebiete waren zu einem Teil von seinen beiden Eltern geerbt, zum anderen hatte seine Frau Eleanor(1) [Aleonòr d’Aquitània], ihrerseits Erbin des großen Herzogtums Aquitanien(1), sie in die Ehe mitgebracht; man konnte mit guten Gründen behaupten, dass auch Toulouse(2) zu Eleanors(2) Erbe gehörte, falls Heinrich(3) den dortigen Grafen zum Einlenken bewegen konnte. All diese französischen(6) Ländereien(2) besaß er durch den französischen(7) König Ludwig VII.(1) (1137–1180), dem er gehuldigt und Treue geschworen hatte: Erst im Jahr 1158 hatte er versprochen, Leben und Person Ludwigs zu verteidigen. Ludwig jedoch, dessen Machtbereich(8) auf die Gegend um Paris(1) beschränkt war, hatte keinerlei Perspektive, der Militärmacht(9) Heinrichs Paroli bieten zu können.

Heinrich(4) marschierte in jenem Sommer mit einem riesigen Heer in der Grafschaft(3) Toulouse(3) ein, wahrscheinlich mit dem größten Aufgebot, das er je zusammengerufen hatte, darunter auch die wichtigsten Barone aus seinen englischen(6) und französischen(8) Domänen(3); ja sogar der König von Schottland(1), Malcolm(1) IV., der Heinrich Treue geschworen hatte, war mit dabei. Ludwig(2) konnte Heinrich(5) nicht gestatten, seine Autorität noch weiter auszudehnen, außerdem war Graf Raimund V.(1) von Toulouse(4) sein Schwager. Er musste also den Versuch unternehmen, diesem beizustehen, aber was konnte er tun? Ludwig beschloss, mit relativ kleinem Gefolge (also schnell) nach Toulouse zu reiten, und als Heinrich mit seinem Heer eintraf, befand sich der König von Frankreich(9) bereits in der Stadt(1) und organisierte die Verteidigung. Heinrich(6) hätte Toulouse sehr wahrscheinlich trotz der starken Befestigungsanlagen(1) einnehmen können – so sah jedenfalls eindeutig sein Plan aus –, doch mittlerweile befand sich der Herr, dem er Treue geschworen hatte, innerhalb der Stadtmauern. Eine zeitgenössische Quelle vermerkt: »Er wollte die Stadt(2) Toulouse(5) nicht belagern, zu Ehren(1) Ludwigs(3) des Königs der Franzosen, der diese Stadt(3) gegen König Heinrich(7) verteidigte«; eine andere Quelle (die die Meinung vertrat, dass Heinrich falsch gehandelt hatte) sagte, er habe den Rat, nicht anzugreifen, aus »eitlem Aberglauben und Ehrfurcht« befolgt. Heinrich befand sich also offenbar in einer Zwickmühle. Wenn er seinen Herrn angriff, dem er geschworen hatte, dass er ihn verteidigen werde, welchen Wert(6) hatten dann noch die Eide(1) seiner eigenen Barone ihm gegenüber?(2) Und was fing er mit einem König an, den er als Gefangenen genommen hatte, der aber sein Herr war? Er griff also nicht an, und nach einem mit Raubzügen verbrachten Sommer zog er sich schließlich zurück. Heinrich(8), einer der beiden mächtigsten Monarchen in Westeuropa(36), konnte es nicht riskieren, als Eidbrecher(3) wahrgenommen zu werden; er zog es vor, als gescheiterter Stratege Ansehen zu verlieren – und das in beträchtlichem Ausmaß.[12]

Worauf es in diesem Fall ankam, war die persönliche Beziehung zwischen Heinrich(9) und Ludwig(4). Diese Beziehung war durch zeremonielle(1) Akte abgesichert – durch Eide(2), Huldigungen (die formale Anerkennung einer persönlichen Abhängigkeit) und so weiter; und sie hing sehr eng mit Ehre(4) zusammen. Außerdem war sie mit Herrschaftsvorstellungen verknüpft: Das Zeremoniell(2) war Teil der Bedingungen, mit denen Heinrich(10) als Herr das runde Dutzend seiner Grafschaften(4) und Herzogtümer mit den damit verbundenen Ländereien(4) vom König von Frankreich(10) bekommen hatte – im Unterschied zu seinem eigenen reichsten und kohärentesten Territorium, England(7) selbst, wo er seinerseits der souveräne Herrscher war. Damit befinden wir uns mitten in jener Welt, die häufig als militärischer(1) Feudalismus bezeichnet wird: Eine breite Elite(1)-Schicht hoher Aristokraten(1) und Ritter(2) leistete Militärdienst(2) und bewies politische(23) Loyalität, und sie erhielten als Gegengabe Ämter(1) oder Ländereien(5) von Königen oder auch weniger bedeutenden Adligen(2), die ihnen wieder genommen wurden, wenn sie sich als untreu erwiesen. Solche Männer wurden häufig als die eingeschworenen vassi, als Vasallen des Königs, bezeichnet, und der an Bedingungen gebundene Landbesitz(6) hieß feoda, Lehen, woraus sich die Worte »feudal« und »Feudal(1)-Vasallen« in der modernen Terminologie der Geschichtswissenschaft ableiten. Heinrichs(11) französische(11) Ländereien(7) werden in zeitgenössischen Quellen häufig als feoda bezeichnet; auch Heinrichs Barone kamen vor allem in ihrer Eigenschaft als seine »eingeschworenen« Gefolgsleute und Empfänger von Grundbesitz mit nach Toulouse(6).

Gerade in den letzten Jahren wurde übrigens die Terminologie des »Feudalismus(2)« oder »Lehnswesens(1)« häufig in Frage gestellt. Susan Reynolds(1) machte darauf aufmerksam, dass militärische(3) und politische(24) Verpflichtungen oder die Bedeutung von Wörtern wie »Lehen« nur selten klar definiert waren, jedenfalls nicht im Frankreich(12) des 12. Jahrhunderts. Mehrere Experten(2) verwiesen auch darauf, dass »Feudalismus« kein mittelalterliches(37) Wort ist und unter der Feder diverser moderner Autoren sehr viele unterschiedliche Dinge bedeuten kann. Man hat daher auch argumentiert, das Wort sei so schwammig geworden, dass es praktisch nutzlos sei. Meiner Meinung nach ist der Begriff durchaus noch nützlich, wenn man ihn klar definiert.[13] Wenn ich ihn trotzdem in diesem Buch nur selten verwende, dann liegt das lediglich daran, dass ich versuche, Fachtermini so weit wie möglich zu vermeiden, nicht weil dieser Begriff an sich problematischer wäre als irgendeiner der anderen Begriffe, mit denen Historiker arbeiten. Jedenfalls war für Heinrichs(12) Handlungsweise im Zusammenhang mit der Belagerung von Toulouse(7) eindeutig der Umstand entscheidend, dass Ludwig(5) Heinrichs Lehnsherr(2) war, dem Heinrich als Gegenleistung für seine französischen(13) Ländereien(8) einen Eid(3) geschworen hatte, und dass Heinrichs Barone zu Heinrich in derselben Beziehung standen. Das Herrschaftsverhältnis, ob man es nun als »feudal« bezeichnet oder nicht, prägte diese Begegnung mit Sicherheit.

Ein Hauptgrund war darin zu sehen, dass der Militärdienst(4) der Oberschicht überwiegend nicht gegen Besoldung geleistet wurde. Söldner(1) wurden im 12. Jahrhundert eingesetzt und machten den Großteil der Infanterie aus (was auch für das Heer Heinrichs(13) im Jahr 1159 galt), die Reiterei hingegen und die Führungsschicht setzten sich überwiegend aus Männern zusammen, die – selbst wenn sie teilweise ebenfalls entlohnt wurden – persönliche Verpflichtungen hatten, entweder gegenüber dem Königreich oder gegenüber der Person des Königs oder auch gegenüber beiden.[14] Das Römische Reich(12) hatte ein vollständig bezahltes Heer besessen, das sehr viel umfangreicher gewesen war als seine Pendants im Mittelalter(38), außerdem ständig einsatzbereit war; und um das aufrechterhalten zu können, mussten auf Landbesitz(9) hohe Steuern(2) erhoben werden – wir werden sehen, dass Landbesitz bei weitem die wichtigste Quelle von Reichtum war. Das ermöglichte eine sehr einheitliche politische(25) Struktur, und das Verschwinden dieses Steuersystems(1) im Westen (vgl. das zweite Kapitel) war der Hauptgrund dafür, dass frühmittelalterliche Nachfolgerstaaten(9) so viel schwächer waren. Die byzantinischen(6) und osmanischen(4) Reiche waren ähnlich organisiert, was in Südosteuropa im Mittelalter eine starke Kontinuität zur Folge hatte, wie wir im dritten und im neunten Kapitel sehen werden. Auch in Westeuropa(37) griff man im ausgehenden Mittelalter(39) wieder auf allgemeine Besteuerung(3)(1)(3)(1)(1)(40)(26)