1EINFÜHRUNG

AN EINEM SOMMERNACHMITTAG versammelten sich ein Team aus Ingenieuren und eine Gruppe von Managern aus einem der größten US-Unternehmen in einem Seminarraum mitten im riesigen firmeneigenen Schulungszentrum für Führungskräfte. Sie wollten ihren mehrere hundert Millionen Dollar umfassenden Fünfjahresplan zur Entwicklung eines neuen Diesel- und Erdgasmotors erörtern. Ihr Ziel war der Vorstoß in einen neuen Marktbereich, weshalb die Wogen der Begeisterung hochschlugen. Der Motor namens Series X bot viele Anwendungsmöglichkeiten in den verschiedensten Industriezweigen, von der Energieerzeugung bis zum Lokomotiven-Antrieb.

All das war den Anwesenden im Raum vollkommen bewusst. Außer einem, der ohne jegliche Vorkenntnisse über Motoren, Energie oder industrielle Produkten zu dem Meeting erschienen war und somit nur reihenweise Fragen stellen konnte, wie sie auch von irgendeinem Kinderbuchautor hätten stammen können:

„Wo wird der nochmal eingesetzt? In einem Schiff? In einem Flugzeug? Also auf dem Meer und an Land? In einem Zug?“

Sämtliche Manager und Ingenieure fragten sich zweifellos: „Wer ist dieser Typ?“

Dieser Typ war ich. Und das Unternehmen war General Electric, eine der ältesten und ehrwürdigsten Organisationen der USA mit einer (damaligen) Marktkapitalisierung von 220,47 Milliarden Dollar und immerhin 300 000 Mitarbeitern.

Was also hatte ich im Sommer 2012 bei GE zu suchen? Ich gehöre weder zur Konzernleitung noch habe ich beruflich mit Energie, Gesundheitswesen oder irgendeinem anderen der unzähligen Industrieunternehmen von GE zu tun.

Ich bin Unternehmer.

Und an jenem Tag hatten mich Jeffrey Immelt, Chairman und CEO von GE, und Beth Comstock, Vice Chairwoman, nach Crotonville, New York, eingeladen. Denn die beiden waren von einer Idee aus meinem ersten Buch The Lean Startup fasziniert – dass die Prinzipien des unternehmerischen Managements auf jede Branche, jede Unternehmensgröße und jeden Wirtschaftssektor anwendbar wären. Und ihrer Ansicht nach musste ihr Unternehmen damit beginnen, sich diese Prinzipien zu eigen zu machen. So sollte GE auf Kurs gebracht werden zu Wachstum und Anpassungsfähigkeit, und Immelt wollte ein Vermächtnis 2hinterlassen, das dem Unternehmen langfristige Erfolge bescheren würde.

Also gingen wir an jenem Tag noch einmal ganz neu an den Plan für den Series-X-Motor heran und erkannten, dass dieser deutlich schneller auf den Markt gebracht werden könnte, wenn man in wenigen Monaten – statt in mehreren Jahren – eine einfachere Version davon bauen würde. Dieser Zusammenkunft sollten noch viele weitere folgen (einige davon werden noch ausführlicher behandelt).

Am Tag darauf führte ich – oberflächlich betrachtet – eine völlig andere Unterhaltung. Ich sprach mit dem Gründer und CEO eines dieser exponentiell wachsenden Tech Startups der neuen Generation. Die beiden Unternehmen konnten kaum unterschiedlicher sein: eines alt, das andere neu, eines Marktführer in vielen seiner Geschäftsbereiche, das andere fieberhaft darum bemüht, Fuß zu fassen. Eines baut gewaltige materielle Produkte, das andere die Art von Softwareinfrastruktur, die das Internet antreibt. Eines an der Ost- das andere an der Westküste. In dem einen tragen die Führungskräfte Anzüge und im anderen zerrissene Jeans.

Der CEO dieses Unternehmens, eines frühen Anwenders von The Lean Startup, sah sich ganz neuen Herausforderungen gegenüber: Wie konnten sie über ihre erste erfolgreiche Innovation hinaus skalieren? Wie konnten sie ihre Mitarbeiter dazu befähigen, wie Unternehmer zu denken? Und wie konnten sie vor allem neue Quellen für nachhaltiges Wachstum erschließen?

Ich war verblüfft, wie sehr sich diese beiden Gespräche trotz all der oberflächlichen Unterschiede glichen. GE wollte – wie viele andere erfolgreiche Unternehmen auch – seine Kultur mit unternehmerischer Energie neu beleben, sodass es weiter wachsen konnte. Und das Startup, mit dem ich an jenem Nachmittag zusammengetroffen war, suchte nach einem Weg, seine Kultur des Unternehmertums während seines Wachstums zu erhalten.

In den vergangenen Jahren habe ich viele solcher Momente erlebt, in denen mir die ganz ähnlich gearteten Herausforderungen von vermeintlich so unterschiedlichen Organisationen auffielen. Bei all diesen Gesprächen mit Führungskräften und Gründern wurde mir klar, dass den Organisationen von heute – sowohl den etablierten als auch den angehenden – die Fähigkeiten fehlen, die sie brauchen, um in diesem Jahrhundert erfolgreich zu sein: die Fähigkeit, in hohem Tempo mit neuen Produkten und neuen Geschäftsmodellen zu experimentieren; die Fähigkeit, ihre kreativsten Mitarbeiter zu stärken; und die Fähigkeit, sich immer und immer wieder für einen Innovationsprozess zu engagieren – und diesen mit Rigorosität und Verantwortungsgefühl zu managen –, sodass sie neue Wachstums- und Produktivitäts-Quellen erschließen können.

3Um diesen Prozess – und wie man ihn in jedem Unternehmen und jeder Organisation implementieren und zum Erfolg führen kann – geht es in diesem Buch.

WER ICH BIN?

Meine Reise zu jenem Meeting in Crotonville kam auf ganz merkwürdige Art zustande – und komplett unerwartet. Zu Beginn meiner Laufbahn absolvierte ich eine Ausbildung zum Software-Ingenieur, danach wurde ich Unternehmer. Wenn Sie sich je eine Vorstellung von dem typischen Tech-Unternehmer als Kind gemacht haben, wie er im Keller seiner Eltern dauernd an irgendetwas herumlaboriert – tja, dann war das ich. Mein erster Vorstoß ins Unternehmertum, der sich zu Zeiten der Dotcom-Blase abspielte, erwies sich als totaler Fehlschlag. Und meine erste Veröffentlichung aus dem Jahre 1996 – das schillernde Werk The Black Art of Java Game Programming – konnte man, als ich zuletzt nachgesehen habe, bei Amazon.com gebraucht für 0,99 Dollar erwerben. Keines dieser Projekte taugte damals als Vorbote für die nachfolgenden Jahre, die ganz im Zeichen meines Engagements für ein neues Management-System stehen sollten.

Doch bald nach meinem Umzug ins Silicon Valley erkannte ich allmählich Muster darin, was zum Erfolg führte und was zum Scheitern. Ich fing an, ein Modell dafür auszuarbeiten, wie man die Praxis des Unternehmertums rigoroser gestalten könnte. Dann begann ich darüber zu schreiben, ab 2008 zunächst online, und später in dem Buch The Lean Startup, das 2011 erschien. Was von da an passierte, übertraf selbst meine kühnsten Erwartungen. Die Lean-Startup-Bewegung verbreitete sich über den ganzen Globus. Über eine Million Menschen weltweit lasen das Buch. Und es besteht die Möglichkeit, dass sich, egal wo Sie jetzt gerade sind, ganz in der Nähe eine lokale Lean-Startup-Meetup-Gruppe befindet.1 Tausende Gründer, Investoren und andere in dem Startup-Ökosystem sind zusammengekommen, um sich die Ideen und Praktiken des Lean Startup zu eigen zu machen.

In dem Buch stellte ich eine Behauptung auf, die zu jener Zeit ziemlich radikal erschien – dass man ein Startup richtig verstehen solle als „menschliche Institution, die im Umfeld extremer Unsicherheit ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung entwickelt“. Die Definition war absichtlich allgemein gehalten. Sie enthielt keine genaueren Angaben – weder über die Größe der Organisation oder ihre Form (Unternehmen, Nonprofit oder sonstige), noch über ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Branchen oder Sektoren. Dieser weitgefassten Definition 4zufolge kann jeder – egal mit welcher offiziellen Berufsbezeichnung – unvermutet ins kalte Wasser des Unternehmertums geraten, wenn sein Arbeitsumfeld hochgradig ungewiss wird. Ich behauptete, Unternehmer seien überall – in kleinen Firmen, riesigen Konzernen, in Schulen und im Gesundheitswesen, selbst in Regierungsbehörden. Überall, wo Menschen eifrig und oft ganz unvermittelt ihrer ehrenvollen Arbeit nachgingen, eine neuartige Idee zu testen, ein besseres Arbeitsverfahren hervorzubringen oder neue Kunden zu erreichen, indem sie für ein Produkt bzw. eine Dienstleistung neue Märkte erschlössen.

In den sechs Jahren seit der Veröffentlichung von The Lean Startup haben verschiedenste Organisationen, die dessen Methoden angewendet haben, diese Behauptung immer wieder bewiesen. Und ich habe die Möglichkeit gehabt, die ganze Welt zu bereisen und mit Unternehmen jeder nur erdenklichen Größe zusammenzuarbeiten. Mit drei Gründern, die an einer neuen App arbeiten? Ja. Kleinen Firmen? Auch. Religiösen Nonprofits? Auf jeden Fall. Mit mittelständischen Produktionsunternehmen? Ja. Exponentiell wachsende Technologie-Startups vor dem Börsengang? Definitiv. Mit riesigen Regierungsbürokratien? Ja. Einigen der größten und langsamsten multinationalen Unternehmen der Welt? Und ob. All diese unterschiedlichen Organisationen können die Lean-Startup-Methodik anwenden, um effektiver zu arbeiten und ihre Fortschritte schneller voranzutreiben.

AUFBAU DER FEHLENDEN FÄHIGKEITEN

Es waren diese Reisen, die mich schließlich in jenen Seminarraum von GE führten. Und der Erfolg des Series-X-Motors sowie eine Reihe weiterer, ähnlicher Pilotprojekte hatten ganz außergewöhnliche Folgen. Denn GE und ich gingen eine Partnerschaft ein, um ein Programm namens Fast-Works2 zu entwickeln, das einen maßgeblichen Kultur- und Managementwandel mit sich brachte. Mehrere Jahre lang schulten wir tausende Führungskräfte aus dem gesamten Unternehmen. Ich persönlich coachte über hundert Projektteams aller denkbaren Funktionen aus allen möglichen Regionen und Geschäftsbereichen des Unternehmens. Innerhalb von GE kamen sämtliche CEOs und Top-Manager in den Genuss von Schulungen zu unternehmerischen Arbeitsmethoden. Ferner wurden interne Funktionen transformiert, denn Innovation sollte gefördert – nicht verhindert – werden.

Dass auch Startups solche Schulungs- und Umbaumaßnahmen brauchen, hatte ich allerdings nicht erwartet. Genau wie viele andere meiner Kollegen im Silicon Valley kletterte ich meine Karriereleiter in dem 5Glauben empor, dass Leute aus „großen Unternehmen“ vollkommen anders wären, als solche kreativen, bahnbrechenden Unternehmer wie wir.3 Dass Unternehmen, sobald sie eine bestimmte Größe erreicht hatten, langsam von innen heraus zu sterben begännen. Sie waren nicht mehr innovativ, und dann kehrten die kreativsten Mitarbeiter ihnen den Rücken. Große Unternehmen würden zwangsläufig starr, bürokratisch und politisch.

Dieser Überzeugung entspringt ein merkwürdiges Paradox, eine Art kognitiver Dissonanz, die uns alle betrifft, die wir wachstumsstarke Unternehmen aufbauen wollen. Und nachdem ich buchstäblich mit hunderten Unternehmern gearbeitet hatte, gewöhnte ich mir an, ihnen die folgende Frage zu stellen:

„Wenn du große Unternehmen so sehr hasst, warum versuchst du dann gerade, selbst eines zu gründen?“

Da sind sie dann oft überfragt, denn in ihren Augen wird das Unternehmen, das sie gerade fleißig aufbauen, komplett anders sein. Es wird sich nicht mit gehaltlosen Meetings und neugierigen mittleren Führungskräften belasten, dynamisch und bunt zusammengewürfelt bleiben – eben ein ewiges Startup. Aber wie oft schaffen sie es tatsächlich, solch eine ideale Organisation aufzubauen?

In den vergangenen Jahren sind immer wieder Gründer und CEOs auf mich zugekommen, die zu den frühen Anwendern der Lean-Startup-Methode gehört hatten. Anfangs waren sie von jenen Komponenten des Lean Startup begeistert gewesen, die von dem schnellen Einstieg handelten – wie dem minimal funktionsfähigen Produkt (engl. abgek. MVP) und dem Kurswechsel (engl. Pivot). Doch leider hatten sie sich nicht mit derselben Aufmerksamkeit den Komponenten gewidmet, die, offen gesagt, etwas langweiliger waren: der Wissenschaft vom Management und der Disziplin der Buchhaltung. Und nun, da ihre Unternehmen bereits hunderte, tausende oder in manchen Fällen sogar zehntausende Mitarbeiter zählten, wurde ihnen klar, dass sie einen Weg finden mussten, an ihrer unternehmerischen Arbeitsweise festzuhalten, während sie gleichzeitig herkömmliche Management-Tools einsetzten, mehr Prognostizieren und auf ein traditionell anmutendes Organigramm zusteuerten.

Ich selbst habe das in dutzenden großartigen Unternehmen erlebt: wenn Mitarbeiter traditionellen Organisationsstrukturen und Leistungsanreizen unterworfen sind, ergeben sich daraus bestimmte bürokratische Verhaltensweisen – eine unausweichliche Folge des Designs dieser Systeme.

6Besagte Gründer wollten nun wissen: Könnten wir Lean-Startup-Techniken anwenden, um unsere Organisation davor zu bewahren, mit zunehmender Größe träge und bürokratisch zu werden? Und dank meiner zurückliegenden Arbeit bei größeren Organisationen konnte ich ihnen mit einem klaren Ja antworten.

Deshalb habe ich in den vergangenen fünf Jahren ein Doppelleben geführt. An unzähligen Tagen traf ich mich vormittags mit dem Chef einer gigantischen, marktführenden Organisation und verbrachte die Nachmittage bei Startups – von riesigen Hypergrowth-Erfolgsgeschichten aus dem Silicon Valley bis hin zu winzigen Hoffnungsträgern in ihrer Anfangsphase. Und dennoch stellten sie mir erstaunlich ähnliche Fragen:

Wie kann ich die Leute, die für mich arbeiten, dazu ermutigen, mehr wie Unternehmer zu denken?

Wie kann ich neue Produkte für neue Märkte schaffen, ohne meine Bestandskunden zu verlieren?

Wie nehme ich die Leute, die wie Unternehmer arbeiten, in die Verantwortung, ohne mein Kerngeschäft in Gefahr zu bringen?

Wie kann ich eine Kultur aufbauen, die ein Gleichgewicht zwischen den Anforderungen des bestehenden Geschäfts und neuen Wachstumsquellen herstellt?

Als Leser dieses Buches haben Sie diese Fragen im Hinblick auf Ihre Organisation vermutlich auch schon gestellt.

Ausgehend von den Erkenntnissen aus meiner Arbeit mit den Unternehmen begann ich mit der Entwicklung eines neuen Werkes über die Prinzipien, die nach der „Erste-Schritte“-Phase zur Anwendung kommen, besonders in etablierten und auch in Großunternehmen.

• Es geht darum, wie traditionelles Management und das, was ich unternehmerisches Management nenne, zusammenwirken können.

• Es geht darum, was Startups über das Lean Startup hinaus unternehmen müssen – wenn sie sich den Problemen gegenübersehen, die sich aus raschen Wachstum und Skalierung ergeben.

• Und es geht darum, wie sich der Prozess der Transformation von Organisationen hin zu einer schlankeren, iterativeren Arbeitsweise gestalten sollte.

Ich habe mit tausenden Managern und Gründern daran gearbeitet, diesen Ansatz zu testen und zu verfeinern. Ich war mitten unter ihnen – ob sie neue Produkte auf den Markt brachten, neue Unternehmen gründeten, IT-Systeme neu erfanden, Finanzprozesse prüften oder HR-Praktiken und Vertriebsstrategien überdachten. Ich habe mit Führungskräften sämtlicher Funktionen gearbeitet: ob Lieferkette, Rechtsabteilung oder Forschung und Entwicklung. Und ich habe in einer 7wilden Mischung aus Branchen gearbeitet: Tiefseebohrung, Elektronik, Automobile, Mode, Gesundheitswesen, Militär und Bildung, um nur einige zu nennen.

Der neue Ansatz stützt sich nicht nur auf meine unmittelbare Arbeit mit den Unternehmen, sondern auf die Weisheit einer ganzen Bewegung gleichgesinnter Führungskräfte. Er bezieht seine Informationen aus Fallstudien und anderen, unterschiedlichsten Quellen: multinationalen Ikonen wie GE und Toyota, etablierten Tech-Pionieren wie Amazon, Intuit und Facebook, der nachfolgenden Generation von Hypergrowth-Startups wie Twilio, Dropbox und Airbnb sowie unzähligen aufstrebenden Startups, von denen Sie – noch – nie gehört haben. Und er stützt sich – was fast noch erstaunlicher ist – auf die Arbeit von Innovatoren, die einige der ältesten und bürokratischsten Institutionen der Welt reformiert haben – inklusive der US-Regierung.

Visionäre Führungspersönlichkeiten aus Unternehmen aller Art werden sich der neuen Möglichkeiten bewusst, die das Beste des allgemeinen Managements mit der aufkommenden Disziplin des unternehmerischen Managements verschmelzen lassen.

Bei meiner Arbeit mit ihnen habe ich festgestellt, dass Unternehmertum das Potenzial besitzt, dem Management-Denken im 21. Jahrhundert neues Leben einzuhauchen. Es ist nicht mehr nur die Art, wie die Menschen in einer Branche arbeiten. Es ist die Art, wie sie überall arbeiten – bzw. arbeiten wollen.

Ich nenne es den Startup Way.

DIE FÜNF PRINZIPIEN DES STARTUP WAY

Der Startup Way verbindet die Rigorosität des allgemeinen Managements mit dem höchst iterativ vorgehenden Wesen von Startups. Es ist ein System, das sich in jeder Organisation anwenden lässt, die unabhängig von Größe, Alter oder Mission nach kontinuierlicher Innovation strebt.

Denken Sie noch einmal an die Definition eines Startups, die ich weiter oben aufgestellt habe. Da Unternehmertum immer mit dem Aufbau von Institutionen verbunden ist, geht es dabei zwangsläufig auch immer um Management. Beim Startup Way ist Unternehmertum eine Management-Disziplin, ein neuer Entwurf für die Organisation, die Bewertung und die Zuweisung von Ressourcen für die Arbeit eines Unternehmens. Es ist eine Philosophie, die die veralteten Muster ersetzt, die derzeit so viele Unternehmen bremsen. Eine Philosophie, die einen neuen Bauplan dafür bereitstellt, wie ein modernes Unternehmen arbeiten sollte, um durch kontinuierliche Innovation nachhaltiges 8Wachstum zu schaffen. Anstelle des gegenwärtigen Managementsystems, das an Planung und Prognosen gebunden ist, schafft der Startup Way ein System, das auf Tempo und Ungewissheit setzt und damit auch noch Erfolg hat.

Hier nun die fünf Grundprinzipien der Startup-Way-Philosophie:

1. Kontinuierliche Innovation

Zu viele Führungskräfte suchen nach der einen Schlüsselinnovation. Dabei erfordert langfristiges Wachstum etwas anderes: eine Methode zur sich ständig wiederholenden Entdeckung bahnbrechender Neuerungen, wobei man auf die Kreativität und das Talent auf allen Ebenen der Organisation setzt.

2. Das Startup als elementare Arbeitseinheit

Um kontinuierliche Innovationszyklen zu schaffen und neue Wachstumsquellen zu erschließen, brauchen Unternehmen Teams, die auf der Suche danach experimentieren dürfen. Das sind interne Startups, die durch eine eigenständige Organisationsstruktur unterstützt werden müssen.

3. Die fehlende Funktion

Wenn Sie dem Ökosystem einer Organisation Startups hinzufügen, so müssen diese auf eine Art gemanagt werden, die traditionelle Methoden über den Haufen wirft. Den meisten Organisationen fehlt eine Kerndisziplin – Unternehmertum –, die für ihren künftigen Erfolg eine ebenso große Rolle spielt wie Marketing oder Finanzen.

4. Die neuerliche Gründung

Die Organisationsstruktur solch einem tiefgreifenden Wandel zu unterziehen, kommt beinahe einer Neugründung des Unternehmens gleich, egal ob es fünf oder hundert Jahre alt ist.

5. Kontinuierliche Transformation

Das alles erfordert die Herausbildung einer neuen organisatorischen Kompetenz: der Fähigkeit, die DNA der Organisation umzuschreiben, um auf neue und vielfältige Herausforderungen reagieren zu können. Es wäre allerdings eine Schande, es bei nur einer Transformation zu belassen. Wenn ein Unternehmen erst herausgefunden hat, wie man sich umformen, kann – und sollte – es dazu bereit sein, dies in der Zukunft noch viele weitere Male zu wiederholen.

Es ist wichtig, gleich ausdrücklich voranzustellen, dass eine Bindung der gesamten Organisation an diese Arbeitsmethode keinesfalls bedeutet, dass jedes einzelne Team nach den Startup-Prinzipien umorganisiert wird. Ebenso wenig bedeutet es, dass jeder Mitarbeiter plötzlich wie durch Zauberhand beginnt, wie ein Unternehmer zu handeln. 9Vielmehr besteht das Ziel darin, es Startup-Teams zu ermöglichen, zuverlässig zu arbeiten, und jedem Mitarbeiter die Chance zu geben, unternehmerisch zu agieren. Dann können Menschen in Erscheinung treten, die schon von Natur aus zu solch einer Arbeitsweise tendieren – oder durch entsprechende Förderung und Befugnisse dazu bewegt werden könnten. Folglich muss sich jeder Manager in dem Unternehmen mit den Werkzeugen des unternehmerischen Managements vertraut machen, auch jene, die nicht direkt in die Startups eingebunden sind. Sie müssen begreifen, warum manche Leute anders arbeiten. Sie müssen in der Lage sein, sie nach neuen Maßstäben in die Verantwortung zu nehmen, und erkennen, wann ihre eigenen gewohnten „Gatekeeper“-Funktionen wie HR, IT, Rechtsabteilung und die Compliance-Abteilung im Wege stehen.

DAS BUCH

Dies ist kein Manifest. Davon haben wir wahrlich schon genug. Unsere Welt ist voller Gurus und Experten, die uns alle auffordern, uns schneller zu bewegen, innovativer zu sein und über den Tellerrand hinaus zu denken. Doch es fehlt uns an konkreten Details: Wie genau sollen wir das hinbekommen? Dieses Buch versucht, diese fehlenden Details zu liefern. Es bietet bewährte Methoden an, den Unternehmergeist einer Organisation wieder neu zu erwecken – bzw. ihn gar nicht erst verloren gehen zu lassen.

Wenn Sie eine Führungsperson sind – in einem Unternehmen oder einem Team –, so wird dieses Buch Ihnen eine Anleitung dafür an die Hand geben, wie Sie Ihre Organisation so umformen, dass sie dazu imstande ist, langfristig neue Wachstumsquellen zu erschließen. Sie werden lernen, Rechenschaftsstrukturen einzurichten, die Anreize für produktive Innovation schaffen, die einen echten Wert für ein Unternehmen darstellt. Sie werden lernen, die Arbeit so zu strukturieren, dass sie mehr Erfüllung bringt. Sie werden auch ein ganz neues Verständnis für Ihre Rolle als Führungskraft entwickeln – eine Rolle, die längst nicht mehr das ist, was noch immer in vielen MBA-Programmen gelehrt wird, und wonach Investoren und Vorstandsmitglieder noch immer suchen. Scott Cook, Mitgründer und mittlerweile Vorstandvorsitzender von Intuit, bezeichnet diesen Wandel als Perspektivenwechsel. Es ist der Unterschied, ob man „Caesar spielt“ (und über Leben und Tod von Projekten entscheidet) oder „den Wissenschaftler“ (immer offen für Forschungen und Entdeckungen). Es wird Ihre Arbeit interessanter und effektiver machen.

Als Grundlage dienen die Erfahrungen existierender und atmender Organisationen, die diese Ideen in einem breiten Spektrum von Sektoren, 10Branchen und Größenordnungen erfolgreich umgesetzt haben. The Startup Way beschreibt ganz ausführlich eine Reihe von spezifischen Maßnahmen, die Ihnen helfen können, in Unternehmertum als Kerndisziplin zu investieren, und erklärt Ihnen, wie Sie die Denkweise der Führungsspitze verändern können. Während meiner Arbeit mit GE wurden mir dort großzügige Einblicke gewährt, sodass ich Sie „hinter die Kulissen“ der FastWorks-Transformation mitnehmen kann, die als eine Art erweiterte Fallstudie dienen wird, um die Konzepte zu veranschaulichen, die implementiert wurden, um GE zukunftsfähig zu machen. Doch auch von vielen anderen Organisationen, die eine ähnliche Reise hinter sich gebracht haben, werde ich ausführlich berichten.

Im ersten Teil – „Das moderne Unternehmen“ – erläutern wir, warum herkömmliche Managementmethoden den Aufgaben nicht mehr gewachsen sind, und was an diesem besonderen historischen Moment die Einbeziehung des unternehmerischen Managements so überaus wichtig gemacht hat. Wir werden über die neuen Fähigkeiten und Arbeitsmethoden sprechen, die heute gebraucht werden.

Der erste Teil erklärt, inwiefern „das Startup“ die neue elementare Arbeitseinheit für höchst unsicheres Terrain darstellt, und umreißt die erforderlichen Bedingungen für den Aufbau eines Portfolios von Startups innerhalb einer Organisation. Wir werden erörtern, wie die Grundlagen für ein starkes Verantwortungsgefühl für Innovationsprojekte geschaffen werden können, selbst in Situationen großer Ungewissheit, wo Planungen und Prognosen schwierig bis unmöglich sind; aber auch wie man im Rahmen der Rechenschaftspflicht solche Maßnahmen vermeidet, die regelmäßig lohnenswerte Innovationsprojekte scheitern lassen. Wir verschaffen uns außerdem einen groben Überblick über die wesentlichen Punkte und Prozesse, die in The Lean Startup ausführlich behandelt werden, wie die minimal funktionsfähigen Produkte, die Kurswechsel und die Bauen-Messen-Lernen-Zyklus.

Im zweiten Teil – „Ein Leitfaden für die Transformation“ – werden wir in das „Wie“ des Startup Way eintauchen. Wenn Teams die Chance bekommen, sich nach dem Startup Way zu organisieren, zieht es sie normalerweise zu neuen und andersartigen Prozessen, als die Menschen sie gewohnt sind. Wir werden diese unkonventionellen Methoden untersuchen – von denen einige auf Konzepten aus The Lean Startup beruhen und andere brandneu sind. Wir werden außerdem besprechen, wie der Widerstreit zwischen diesen neuen Prozessen und den alten Systemen zu managen ist, darunter auch Konflikte zwischen den mittleren Managern – den Fortschrittskillern der Geschichte.

Für ein modernes Unternehmen sind die Ergebnisse kontinuierlicher Innovation nicht nur die bahnbrechenden neuen Produkte, Dienstleistungen, internen Systeme und kommerziellen Erfolge, die sie hervorbringt. Innovation birgt auch die Möglichkeit, eine neue Kultur zu 11entwickeln – die auf allen Ebenen der Organisation unternehmerische Kreativität freisetzt. Wir werden untersuchen, wie die richtigen Entscheidungen bezüglich der Rechenschaftspflicht und der Prozesse diese neue Kultur gedeihen und wachsen lassen.

Wir werden uns mit den Anforderungen für das Personal, die Einstellung neuer Mitarbeiter und die Entwicklung befassen, die diese neue Arbeitsmethode mit sich bringt. Wir werden ganz direkt die irrtümliche und dennoch weit verbreitete Ansicht angehen, dass eine unternehmerische Arbeitsweise danach verlangt, vorhandene Mitarbeiter zu entlassen und sich draußen nach aufgeweckten Superstars umzuschauen. In sämtlichen Organisationen, mit denen ich gearbeitet habe – ohne Ausnahme und einschließlich einiger Fortune-500-Ikonen – bin ich auf wahre Unternehmer getroffen. Wir werden darüber sprechen, wie man diese Talente aus ihrem Schattendasein herausholt, ein Coaching-und-Support-Netzwerk aufbaut und ihnen letztlich zum Erfolg verhilft. Wir werden untersuchen, wie die internen Funktionen eines Unternehmens, sei es HR, Recht, Finanzen, IT oder Beschaffung, transformiert werden können, um Innovation zu erleichtern, statt sie zu blockieren. Wir werden uns mit den Problemen beschäftigen, wie sie einzig im Zuge kontinuierlicher Innovation entstehen. Und schließlich nehmen wir den Prozess und die Mechanismen der Innovationsbilanz ganz genau unter die Lupe – die Finanzstruktur, die diese neue Arbeitsmethode trägt.

Im dritten Teil – „Das Gesamtbild“ – werden wir ergründen, was passiert, wenn der Transformationsprozess „abgeschlossen“ ist – bzw. eher die Tatsache, dass das nie wirklich eintritt. Das oberste Ziel des Startup Way besteht für Organisationen darin, im Zustand kontinuierlicher Transformation zu bleiben, wodurch sie unter jedweden Umständen erfolgreich sein werden. Und meiner Meinung nach lässt sich diese Art der Flexibilität in viel breiterem Umfang nutzen – deshalb geht es in den abschließenden Kapiteln um die größeren Auswirkungen dieser neuen Struktur, wenn man sie auf die öffentliche Ordnung anwendet und auf die Probleme, denen wir als Gesellschaft gegenüberstehen.

EIN WEG ZU LANGFRISTIGEM DENKEN

Um ein Thema aus The Lean Startup weiterzuführen, werde ich in diesem Buch immer wieder zu einer zentralen Frage zurückkehren: Wie können Unternehmen tatsächlich auf lange Sicht Wachstum und Ergebnisse erzeugen? Von all den Themen, die ich tagtäglich behandele, ist dieses für die Manager und Gründer von heute mit den meisten Emotionen behaftet. Ständig begegne ich Menschen, die händeringend danach streben, eine langfristige Vision für ihr Unternehmen zu verwirklichen, 12um ihm eine bedeutsame Veränderung als Vermächtnis zu hinterlassen. Und zugleich sind sie ob der kurzfristigen Anforderungen unserer derzeitigen Geschäftssysteme dauernd frustriert. Schon ein paar schlechte Quartale genügen, damit Investoren einen Wandel fordern und die interne Unternehmenspolitik einen massiven Umbruch herbeiführt – bis hoch in die Führungsspitze hinein.

Man könnte meinen, eine Organisation, die ihre Mitarbeiterleistungen im Rahmen strenger Quartalsfristen misst – wie es die meisten Unternehmen gegenwärtig tun –, würde mit einer Mentalität agieren, die schnelles Experimentieren nach einem knappen Zeitplan fördert. Tatsächlich aber passiert das Gegenteil. Aufgrund des kurzfristigen Drucks muss alles, was in einem Quartal zu schaffen ist, in hohem Maße vorhersehbar sein, damit man das künftige Engagement auf dessen Ergebnisse ausrichten kann. Anstatt die Innovationschancen zu erkennen, die mit dem Denken in kurzen Zyklen einhergehen, werden die Unternehmen vorsichtig und konzentrieren sich nur auf die Projekte, die ihrer Ansicht nach in dem Quartal oder Geschäftsjahr die bestmöglichen Resultate erzielen. Das bedeutet, dass sie weiterhin dieselben Dinge tun, egal ob diese Dinge so funktionieren wie früher oder nicht. Darüber hinaus ist das Unternehmen, das eine kurzfristige Berechenbarkeit fordert, auch schlecht dafür aufgestellt ist, die Teams, die an längerfristigen Projekten arbeiten, verantwortlich zu halten.

Ich denke, der in diesem Buch beschriebene neue Entwurf stellt konkrete Leitlinien dafür bereit, wie man dieses Dilemma hinter sich lassen und zu einem neuen, nachhaltigeren System zur Schaffung von langfristigem Wachstum und Flexibilität gelangen kann.

Nachdem Sie nun wissen, was wir erreichen wollen – einen Wandel in der Art und Weise, wie das moderne Unternehmen arbeitet – lassen Sie uns loslegen.

171. KAPITEL
DIE VERGANGENHEIT EHREN, DIE ZUKUNFT NEU ERFINDEN: DIE SCHAFFUNG DES MODERNEN UNTERNEHMENS

ALS ICH VOR JAHREN meine Arbeit bei GE aufnahm, setzte ich mich mit CEO Jeff Immelt zu einem Gespräch zusammen. Und an jenem Tag sagte er etwas zu mir, das mich bis heute begleitet: „Niemand möchte in einem veralteten Unternehmen arbeiten. Niemand möchte Produkte von einem veralteten Unternehmen kaufen. Und niemand möchte in ein veraltetes Unternehmen investieren.“

Darauf folgte eine eingehende Diskussion darüber, was ein Unternehmen wahrhaft modern macht. Woran erkennt man es, wenn man es sieht?

Ich bat ihn, sich Folgendes vorzustellen: Wenn ich aufs Geratewohl irgendeinen Mitarbeiter des Unternehmens herauspicken würde, egal aus welcher Ebene, Funktion oder Region, und dieser Mitarbeiter eine absolut brillante Idee hätte, die spektakuläre neue Wachstumsquellen für das Unternehmen erschließen würde, wie würde er oder sie diese Idee zur Umsetzung bringen? Verfügt das Unternehmen über einen automatischen Prozess zur Erprobung einer neuen Idee, um zu sehen, ob sie wirklich gut ist? Und verfügt das Unternehmen über die nötigen Management-Werkzeuge, um diese Idee mit maximaler Wirkung zu skalieren, selbst wenn sie in keines der derzeitigen Geschäftsfelder des Unternehmens so richtig passen will? Denn das tut ein modernes Unternehmen – es nutzt die Kreativität und das Talent jedes einzelnen Mitarbeiters.

Jeff antwortete mir geradewegs: „Darüber solltest du in deinem nächstes Buch schreiben.“

DER MARKTPLATZ DER UNGEWISSHEIT

Ich denke, die meisten Wirtschaftsführer geben zu, dass die tagtäglichen Herausforderungen bei der Bewältigung ihres Kerngeschäfts kaum Zeit und Energie lassen für neue Ideen und deren Erprobung. Das leuchtet ein, da die Unternehmen von heute in einem ganz anderen Umfeld operieren als ihre Vorgänger. Ich hatte das Privileg, in den 18vergangenen Jahren auf der ganzen Welt tausende Manager zu treffen. Und immer wieder werde ich Zeuge ihrer unglaublichen Besorgnis über die Unberechenbarkeit der Welt, in der sie leben. Was ihnen am meisten zu schaffen macht, sind:

1. Die Globalisierung und das Aufkommen neuer globaler Konkurrenten.

2. „Software, die die Welt auffrisst“1 und die Art und Weise, wie Automatisierung und IT die „Burggräben“2 zu zerstören scheinen, die die Konkurrenz auf Abstand halten, und die die Unternehmen früher um ihre Produkte und Dienstleistungen herum anlegen konnten.

3. Das zunehmende Tempo des Technologiewandels und der sich ändernden Verbraucherpräferenzen.

4. Die unfassbare Masse neuer, potenziell wachstumsstarker Startups, die in sämtliche Branchen drängen – auch wenn die meisten von ihnen am Ende untergehen.3

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Die Diffusions- und Adoptionsraten für neue Technologien sind im Laufe der Jahre gestiegen. Diese Grafik zeigt an, wie viele Jahre Technologien wie Elektrizität, Fernsehen und Internet gebraucht haben, um von mindestens 25 Prozent der US-Bevölkerung angenommen zu werden.4

19Und das sind nur ein paar Beispiele für externe Unsicherheitsfaktoren, mit denen die Manager von heute zu tun haben. Hinzu kommt, dass sie immer mehr unter Druck geraten, auch selbst noch zur Unsicherheit beizutragen: indem sie neue, innovative Produkte auf den Markt bringen, neue Wachstumsquellen aufspüren oder in neue Märkte vordringen.

Es ist wichtig, diesen Wandel auch als solchen zu begreifen. Fast das ganze 20. Jahrhundert lang war das Wachstum in den meisten Wirtschaftszweigen durch Kapazitäten begrenzt. Was ein Unternehmen tat, wenn es über zusätzliche Kapazitäten verfügte, lag auf der Hand: mehr herstellen und das dann verkaufen. „Neue Produkte“ waren in den meisten Fällen Varianten von dem, was ein Unternehmen sowieso schon produzierte. Und „Neues Wachstum“ bedeutete für gewöhnlich mehr Werbung, um mit den existierenden Produkten neue Zielgruppen zu erreichen. Der Wettbewerb fußte in erster Linie auf Preis, Qualität, Vielfalt und Vertrieb. Die Markteintrittsbarrieren waren hoch, und wenn es Konkurrenten doch einmal gelang, sie zu überwinden, so gingen Eintritt und Wachstum relativ langsam vor sich – jedenfalls nach heutigen Maßstäben.

In unseren Zeiten der globalen Kommunikation können neue Produkte überall konzipiert und hergestellt werden, und Verbraucher können sie in einem nie dagewesenen Tempo entdecken. Darüber hinaus haben Einzelpersonen und kleine Unternehmen auch einen nie dagewesenen Zugang zu diesen neuen globalen Systemen – im Vergleich zu den wenigen Kapitalbesitzern in der Vergangenheit.

Damit wird die alte Maxime von Karl Marx auf den Kopf gestellt. Was er Produktionsmittel nannte, kann heute gemietet werden. Ganze globale Lieferketten können ausgeliehen werden – für nur wenig mehr als die Marginalkosten der zugrunde liegenden Produkte, die sie produzieren. So werden die Anfangskapitalkosten, die man braucht, um etwas Neues auszuprobieren, drastisch gesenkt.

Überdies verschieben sich die Grundlagen des Wettbewerbs. Die Verbraucher von heute haben mehr Auswahl und höhere Ansprüche. Technologietrends belohnen die Unternehmen mit der größten Reichweite mit nahezu monopolartiger Macht. Und der Wettbewerb fußt häufig auf Design, Marke, Geschäftsmodell oder Technologie-Plattform.

20DAS MANAGEMENT-PORTFOLIO

In solch einem Kontext operieren also moderne Unternehmen. Sehr viele produzieren nach wie vor Konsumgüter. Doch immer öfter brauchen sie neue Wachstumsquellen, die nur durch Innovation zu erschließen sind. Und das wirkt sich ganz konkret auf das aus, was ich als Management-Portfolio eines Unternehmens bezeichne. Schrittweise Verbesserungen an existierenden Produkten oder neue Variationen davon sind relativ berechenbare Investitionen, genau wie Prozessoptimierungen zur Steigerung von Qualität und Margen. In solchen Fällen eignen sich die Werkzeuge des traditionellen Managements – von Prognosen bis hin zu den typischen Leistungszielen – ganz hervorragend.

Doch für andere Teile des Management-Portfolios, wo Innovationssprünge gewagt werden, funktionieren die traditionellen Management-Werkzeuge nicht. Allerdings haben die meisten Unternehmen nichts, womit man sie ersetzen könnte – noch nicht.

WARUM SICH TRADITIONELLE MANAGEMENT-WERKZEUGE MIT DER UNGEWISSHEIT SCHWERTUN

Vor ein paar Jahren nahm ich einen Klassiker der Management-Literatur zur Hand: My Years with General Motors (1963) von Alfred Sloan. Darin erzählt er von dem Zeitpunkt im Jahre 1921, als GM fast das Geld ausging. Der Grund dafür lag keineswegs in einer verheerenden Katastrophe oder irgendeinem Unterschlagungsskandal. Stattdessen hatte man schlichtweg zu viele Lagerbestände gekauft – in einer dramatischen Größenordnung von mehreren hundert Millionen Dollar (1920er-Jahre-Dollar!) –, nicht wissend, dass sich die allgemeine Konjunktur in jenem Jahr auf Talfahrt befand und die Nachfrage in den Jahren 1920–21 zurückgehen würde.

Nachdem Sloan das Unternehmen mithilfe von Notmaßnahmen gerettet hatte, begab er sich auf die jahrelange Suche nach einem neuen Management-Prinzip, das das erneute Auftreten solcher Probleme verhindern konnte. Schließlich machte er eine bahnbrechende Entdeckung, die er als „den Schlüssel zur koordinierten Kontrolle dezentraler Arbeitsabläufe“ bezeichnete.

Das Fundament dieses Systems bildete die rigorose Erstellung von Schätzungen der genauen Anzahl von Autos, die GM in einem „idealen“ Jahr verkaufen sollte – durch jeden einzelnen Bereichsleiter. Ausgehend von diesen Schätzungen und unter Berücksichtigung verschiedener interner Vorgaben und externer makroökonomischer Faktoren 21nahm das Unternehmen dann eine Prognose vor, für wie viele verkaufte Autos jeder Geschäftsbereich zuständig war. Die Manager, die diese Menge übertrafen, wurden befördert und jene, die hinter den Erwartungen zurückblieben, eben nicht. Sobald das System in Kraft war, trug es dazu bei, Fehlkalkulationen und Ressourcenverschwendung, wie sie zuvor im Unternehmen aufgetreten waren, zu vermeiden.

Die Struktur, der Alfred Sloan den Weg bereitet hatte, wurde zur Grundlage des gesamten allgemeinen Managements des 20. Jahrhunderts. Ohne sie lässt sich kein multinationales Mehrprodukt- und Mehrsparten-Unternehmen samt der dazugehörigen globalen Lieferketten betreiben. Es ist eine der wahrhaft revolutionären Ideen der vergangenen hundert Jahre und noch heute weit verbreitet. Jeder weiß, wie das läuft: wenn Sie die Erwartungen übertreffen, steigen Ihre Aktien und Sie werden befördert. Wer das nicht schafft, muss sich vorsehen.

Doch als ich diese Geschichte zum ersten Mal las, dachte ich nur: soll ich ernsthaft glauben, dass …

früher einmal …

Menschen Prognosen erstellten …

die sich tatsächlich erfüllten?

Und nicht nur das – die Prognosen sollen obendrein so präzise gewesen sein, dass sie sich als faires System für die Entscheidung eigneten, wer zu befördern war und wer nicht? Als Unternehmer hatte ich so etwas noch nie erlebt.

Die Startups im Silicon Valley, mit denen ich immer gearbeitet und die ich kennengelernt hatte, konnten keine präzisen Vorhersagen machen, weil sie auf keinerlei Unternehmensgeschichte zurückgreifen konnten. Weil nicht nur ihr Produkt unbekannt war, sondern auch ihr Markt – und in manchen Fällen sogar die Funktionalität der Technologie selbst –, waren genaue Prognosen komplett ausgeschlossen.5

Und dennoch erstellen auch Startups Prognosen – nur eben keine präzisen.

Zu Beginn meiner Karriere wusste ich nur, warum ich immer Prognosen für meine Firmen erstellte: weil man ohne sie kein Geld für ein Startup auftreiben kann. Ich nahm an, solche Vorhersagen seien eine Art Kabuki-Ritual, bei dem die Unternehmer den Investoren ihre Zähigkeit bewiesen, indem sie demonstrierten, wie viel Tabellenkalkulation sie ertragen konnten. Es war eine reine Übung im Fantasieren, getrieben von unserem Wunsch, einigermaßen entfernt plausible Erfolgsaussichten 22für eine Idee zu präsentieren, für die es – für gewöhnlich an diesem Punkt – keinerlei Beweise gab.

Allerdings dämmerte mir bald, dass manche Investoren den Prognosen tatsächlich Glauben schenkten. Sie versuchten sogar, sie als Instrument zu nutzen, Menschen verantwortlich zu halten – genau wie Alfred Sloan. Wenn ein Startup die Zahlen aus dem ursprünglichen Businessplan also nicht erreichte, hielten die Investoren das für ein Zeichen mangelhafter Ausführung. Als Unternehmer verwirrte mich diese Reaktion. Wussten sie denn nicht, dass diese Zahlen total aus der Luft gegriffen waren?

Später in meiner Karriere pflegte ich immer mehr Umgang mit Managern aus traditionellen Unternehmensjobs, die Innovation voranzutreiben versuchten. Je mehr solche Innovatoren ich traf, desto mehr bekam ich mit, wie sehr ihre Bosse an Prognosen als Instrument für die Rechenschaftslegung glaubten – selbst hochrangige Führungskräfte, die es (wie ich dachte) eigentlich besser wissen mussten. Der „Fantasieplan“ aus dem ersten Pitch ist oft viel zu optimistisch, um als echte Prognose zu taugen. Doch mangels eines anderen Systems brauchen Manager etwas, woran sie sich festhalten können. Und wenn es keine Alternative gibt, klammern sie sich eben an die Prognose – selbst wenn sie frei erfunden ist.

Inzwischen haben Sie sicher das Problem erfasst: ein älteres System der Rechenschaftspflicht, das aus einer ganz anderen Zeit stammt und für einen ganz anderen Kontext ausgelegt war, wird noch heute in Situationen angewendet, in denen es nicht funktioniert. Gewiss ist mitunter die mangelhafte Ausführung der Grund dafür, dass ein Team die Prognosen nicht erreicht. Aber manchmal liegt das auch daran, dass die Prognose selbst ein Fantasieprodukt war. Doch wie sollen wir das unterscheiden?

WIE GEHT MAN MIT MISSERFOLG UM?

Zweifellos haben Sie von Six Sigma gehört, einem der berühmtesten Unternehmenswandelungen in der Management-Geschichte. Das 1995 von CEO Jack Welch bei GE eingeführte Verfahren dient der Entwicklung und Auslieferung nahezu perfekter Produkte. Sigma ist eine statistische Größe, die misst, wie weit ein bestimmter Prozess von der Perfektion abweicht. Um Six-Sigma-Qualität zu erreichen, darf ein Prozess nicht mehr als 3,4 Fehler pro Million Fehlermöglichkeiten produzieren – er darf also in weniger als 0,0000034 Prozent der Zeit fehlerhaft sein. Welch führte das Verfahren bei GE mit dem Ziel ein, binnen fünf Jahren im gesamten Unternehmen Six-Sigma-Qualität zu erreichen. Dazu erklärte er: „Qualität kann GE in der Tat von einem 23der großen Unternehmen in das absolut bedeutendste Unternehmen der Weltwirtschaft umwandeln.“6

Als ich nun zwecks Schulung von Führungskräften bei GE unterwegs war, kamen sowohl bei Fans von Six Sigma als auch bei Skeptikern eine Menge Fragen dazu auf, ob FastWorks das nächste „große Ding“ von GE sei. Machte es die früheren Six-Sigma-Schulungen überflüssig? Und wenn FastWorks neben Six Sigma laufen sollte, woher würde man wissen, wann welche Methode anzuwenden sei? Gab es beim Lean Startup auch Zertifizierungen und Wissensgrade ähnlich der farbigen Gürtel bei Six Sigma?

Als ich mich eines Tages mit einem Six Sigma Black Belt aus einem der Industrieunternehmen von GE traf – einem eher skeptischen Vertreter – war ich einigermaßen verstört ob der Tasse auf seinem Schreibtisch, auf der stand: MISSERFOLG IST KEINE OPTION. Ich dachte so bei mir: in der Startup-Welt hätte niemand solch eine Tasse; das wäre ja total absurd. Ich habe jede Menge Situationen erlebt, in denen sich die Wirklichkeit als viel zu unberechenbar erwies, um Misserfolge auszuschließen.

Und dann fielen mir die besten und erfolgreichsten Unternehmer ein, die ich kannte. Was würde wohl auf ihrer Tasse stehen? Ich entschied mich für: MISSERFOLGE VERSPEISE ICH ZUM FRÜHSTÜCK.

Das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Sprüchen dient als gute Ausgangsbasis – um einerseits zu verstehen, warum es Startups so schwergefallen ist, traditionelle Management-Methoden zu übernehmen und umgekehrt, und andererseits zu begreifen, was sie verbindet. Früher einmal gehörte die frist- und budgetgerechte Herstellung von Qualitätsprodukten in großem Maßstab zu den Hauptproblemen der Zeit. Zu verstehen, wie man von innen heraus Qualität in die Produkte integrierte, erforderte die Beherrschung der neuen statistischen Wissenschaft von der Variation und damit auch die Entwicklung von Werkzeuge, Methodiken und Schulungsprogrammen, die sie praktisch umsetzbar machten. Standardisierung, Massenproduktion, Lean Manufacturing und Six Sigma sind allesamt Früchte dieses mühsam errungenen konzeptuellen Sieges.

Eingebrannt in diese Methoden ist die Annahme, dass Misserfolge durch gewissenhafte Vorbereitung, Planung und Ausführung vermieden werden können. Allerdings stellt der Startup-Teil des Management-Portfolios diese Annahme in Frage. Wenn manche Projekte die Vorhersagen nicht erreichen, weil die zugrundeliegende Ungewissheit extrem hoch war, wie nehmen wir dann diese Führungskräfte in die Verantwortung?

24DIE ART VERÄNDERN, WIE UNTERNEHMEN „GROSS WERDEN“

Aditya Agarwal arbeitete bei Facebook in den Anfangsjahren des Unternehmens – während es sich von zehn Leuten auf etwa 2500 vergrößerte – und ist heute Vice President of Engineering bei Dropbox. Er sieht das unternehmerische Dilemma wie folgt:

Einer der Gründe, weshalb es in größeren Unternehmen so schwierig ist, neue Dinge zu bauen, liegt darin, dass die Menschen nicht das mentale Modell „Eigentlich besteht mein Job darin, Neues zu lernen“ verinnerlichen. Nach dem vorherrschenden Modell werden Sie in irgendetwas richtig gut, und das sollen Sie dann immer weiter tun. Gewiss ist hier schrittweises Lernen mit im Spiel, aber im Vordergrund steht die Perfektionierung Ihres Handwerks statt dessen Weiterentwicklung aus eigener Kraft. Selbst Unternehmen, die ein gutes Produkt auf den Markt gebracht zu haben scheinen, wissen nicht zwangsläufig, wie sie das noch einmal schaffen können.

Eigentlich würde man meinen, dass ein innovatives Super-Startup wie Dropbox, das 2007 gegründet wurde und zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Buches zehn Milliarden Dollar wert war, 500 Millionen Nutzer und rund 1500 Mitarbeiter auf der ganzen Welt hatte7, das Problem der Nachahmung einer veralteten Struktur einfach umgehen würde, oder? Immerhin kam es mit einem Produkt auf den Markt, von dem noch nicht einmal irgendjemand wusste, dass er es brauchte, und ging dann regelrecht durch die Decke.

Doch es stieß auch auf Probleme, wie wir sie eigentlich nur mit traditionellen, etablierten Unternehmen assoziieren. Warum? Weil das Unternehmen im Laufe seines enormen und rasend schnellen Wachstums nach einem vertrauten Muster aufgebaut wurde. Dabei verlor es ein paar der Grundprinzipien des Produktdenkens, die seinen anfänglichen Erfolg erst möglich gemacht hatten. Die Markteinführung ihrer beiden neuen Flaggschiff-Produkte Mailbox und Carousel verlief, wie Agarwal es ausdrückte, „enttäuschend. Sie erreichten nicht die Größenordnungen, die wir wollten, sodass wie sie schließlich ausmustern mussten.“

Die Gründe für diese Misserfolge waren laut Agarwal bekannt: „Wir bekamen nicht genug relevantes Nutzer-Feedback. Wir bauten und bauten, hörten aber nicht gebührend zu.“

25Was Dropbox hier von etablierten, veralteten Unternehmen unterschied, war die Tatsache, dass sich das Unternehmen in seinem Kern seine ursprüngliche Auffassung von den besten Methoden zum Testen, Vermarkten und Weiterentwickeln von Ideen bewahrte. „Das war die schmerzlichste Erfahrung, die das Unternehmen hatte machen müssen“, so Agarwal, „aber auch die bereicherndste und wichtigste. Wir haben so viel darüber gelernt, was wir bei der Entwicklung neuer Produkte falsch gemacht hatten. Es ist wichtig, dass man den Schmerz annimmt, all die nachträglichen Analysen anstellt und dann daraus lernt. Nur so wird man besser und stärker.“

Nach der Übernahme mehrerer Änderungen, von denen einige in einem späteren Kapitel noch genauer behandelt werden, brachten sie Dropbox Paper heraus, ein neues Feature für die Kommunikation und Zusammenarbeit auf der Plattform, das sich auf die Erkenntnisse aus früheren Versuchen stützt. Es kam im Januar 2017 in 21 Sprachen weltweit auf den Markt.

Dazu Todd Jackson, Director of Product bei Dropbox: „Ganz neue Produkte auf den Markt zu bringen, ist eine völlig andere Disziplin“. Das Bewusstsein der Notwendigkeit, ein existierendes Produkt sowohl zu bewahren als auch weiterzuentwickeln, und gleichzeitig in der Lage zu sein, auf dieselbe Art mit neuen Produkten zu experimentieren, ist für den Erfolg im 21. Jahrhundert entscheidend und ein Merkmal eines modernen Unternehmens.

DIE ROLLE DER FÜHRUNGSKRÄFTE

Vor ein paar Jahren beantwortete ich Fragen auf einer Art Town-Hall-Meeting bei einem „Einhorn“-Startup8