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Über das Buch

»Bäume können keine Witze erzählen. Aber Geschichten ganz bestimmt.«

Rot, eine mächtige Eiche, zählt schon viele Jahresringe und ist etwas ganz Besonderes. Denn Rot ist ein Wunschbaum – ein Baum, dem die Menschen ihre tiefsten Wünsche anvertrauen. Als eine neue Familie in die Nachbarschaft zieht, ist Rots Weisheit von größerer Bedeutung denn je …

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for newcomers

and

for welcomers

Inhalt

Über das Buch

Auf Bäume gib acht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Danksagung

Über die Autorin

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Auf Bäume gib acht

Es gibt ein Gedicht

von einer Eiche, die spricht.

Zu mir aber spricht jeder Baum

hier und jetzt, nicht nur im Traum.

So habe ich im Lauf von Jahren

viel Wahres von den Bäumen erfahren.

Wer auch so etwas hören will,

der schweige selbst und halte still.

Nur dem, der andern zuhör’n kann,

vertrauen sich die Bäume an.

Mary Carolyn Davies (1924)

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1

Es ist nicht leicht, mit Bäumen ins Gespräch zu kommen. Wir sind nicht schwatzhaft.

Dafür tun wir erstaunliche Dinge, von denen du nur träumen kannst: Eulenkinder schützen. Schwache Bäumchen stützen. Licht zu Zucker machen.

Nur, einfach so mit Leuten sprechen? Das vielleicht nicht.

Und erwarte bloß nicht, von einem Baum einen guten Witz zu hören!

Wir unterhalten uns allerdings durchaus mit manchen Lebewesen. Mit denen nämlich, denen wir vertrauen können. Wir reden mit waghalsigen Eichhörnchen. Wir reden mit schwer arbeitenden Würmern. Wir reden mit farbenprächtigen Schmetterlingen und mit schüchternen Nachtfaltern.

Vögel? Ja, die sind entzückend. Frösche? Miesepetrig, aber herzensgut. Schlangen? Furchtbare Klatschbasen.

Und Bäume? Bisher mochte ich noch jeden.

Nun ja, fast jeden. Die Platane unten an der Ecke – das ist vielleicht eine!

Und was ist mit Menschen? Reden wir mit denen? Ich meine richtiges Sprechen, das, was so typisch für Menschen ist?

Gute Frage.

Immerhin haben wir Bäume kein einfaches Verhältnis zu den Menschen. Im einen Augenblick werden wir von euch umarmt. Im nächsten Augenblick macht ihr plötzlich Tische und Zungenspatel aus uns.

Vielleicht wunderst du dich, warum in der Schule mit keinem Wort erwähnt wurde, dass Bäume sprechen, nicht einmal im Biologieunterricht. Die Lehrer sind nicht schuld daran. Sie wissen es einfach nicht besser. So, wie die meisten Menschen.

Aber falls du zufällig an einem besonderen Glückstag unter einem besonders freundlich aussehenden Baum stehst, dann hör mal genau hin!

Bäume können keine Witze erzählen.

Aber Geschichten ganz bestimmt.

Und wenn du nur Blätterrascheln hörst, mach dir nichts draus. Die meisten Bäume sind nämlich eher stille Typen.

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2

Ich heiße übrigens Rot.

Kennen wir uns vielleicht schon? Die Eiche bei der Grundschule?

Groß, aber nicht übertrieben groß?

Schön kühler Schatten im Sommer und im Herbst fantastische Farben?

Ich bin eine Roteiche, auch Quercus rubra genannt, und stolz darauf.

Roteichen sind in Nordamerika sehr verbreitet. Allein schon hier in der Gegend sind wir zu Hunderten und flechten uns mit unseren Wurzeln durch den Erdboden wie fleißige Weberinnen.

Ich habe eine furchige rötlich-graue Rinde, lederartige, spitz gelappte Blätter, eigensinnige und unermüdliche Wurzeln und – auch wenn ich es jetzt selbst sage – die schönste Herbstfarbe der ganzen Straße. »Rot« ist gar kein Ausdruck für meine Blätter. Im Oktober bin ich ein einziges Flammenmeer. Ein Wunder, dass nicht jeden Herbst die Feuerwehr anrückt, um mich zu löschen.

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Roteichen heißen alle Rot – da staunst du vielleicht.

Nach demselben Muster heißen Zucker-Ahorn immer »Zucker«. Wacholder nennen sich »Wacholder«. Und alle Boojum-Bäume heißen »Boojum«.

So ist es in der Baumwelt. Wir brauchen keine Namen, um uns voneinander zu unterscheiden.

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Stell dir mal eine Schulklasse vor, in der jedes Kind Melvin heißt. Wie soll der arme Lehrer morgens herausfinden, wer heute fehlt? Es ist also gut, dass Bäume nicht zur Schule gehen.

Natürlich gibt es auch Ausnahmen bei der Namensgebung. In Los Angeles steht irgendwo eine Palme, die unbedingt Karma genannt werden will, aber man weiß ja, wie Kalifornier sein können.

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3

Du kannst gerne Rot zu mir sagen, wie meine Freunde. Aber die Leute aus der Nachbarschaft nennen mich schon lange »Baum der Wünsche«.

Der Grund dafür liegt weit in der Vergangenheit, als ich noch ein winziges Samenkorn war, allerdings eines mit großen Plänen.

Lange Geschichte.

Immer am Ersten Mai kommen die Leute aus der ganzen Stadt zu mir, um mich mit Zetteln, Schildchen, Stoffresten, Wollfäden, und gelegentlich auch einer Turnsocke, zu schmücken. Jede dieser Gaben steht für einen Traum, ein Verlangen oder eine Sehnsucht.

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Egal, ob aufgehängt, hochgeworfen oder ordentlich mit einem Schleifchen befestigt: Immer geht es um den Wunsch nach etwas Besserem.

Wir Wunschbäume haben eine viele hundert Jahre alte und ehrwürdige Geschichte. Die meisten Wunschbäume sind Weißdornbäume, manchmal auch Eschen, und stehen in Irland. Aber man kann auf der ganzen Welt Wunschbäumen begegnen.

Die Leute sind normalerweise freundlich zu mir, wenn sie mit ihren Wünschen zu mir kommen. Sie wissen, dass sie an meine Zweige nur einen lockeren Knoten machen dürfen, damit ich weiter wachsen kann. Sie nehmen Rücksicht auf meine neuen Blätter und achten auf meine oberirdischen Wurzeln.

Nachdem sie ihren Wunsch auf ein Stück Stoff oder Papier geschrieben haben, binden sie das an einen meiner Zweige. Fast immer flüstern sie dabei ihren Wunsch vor sich hin.

Traditionell wünscht man sich was am Ersten Mai, aber das ganze Jahr hindurch kommen Leute vorbei.

Du meine Güte, was ich nicht schon alles gehört habe!

Ich wünsche mir ein Skateboard, das fliegen kann.

Ich wünsche mir eine Welt ohne Krieg.

Ich wünsche mir eine ganze Woche voller Sonnenschein.

Ich wünsche mir die längste Zuckerstange der Welt.

Ich wünsche mir eine Eins im Erdkundetest.

Ich wünsche mir, dass Ms Gentorini morgens bessere Laune hat.

Ich wünsche mir, dass mein Meerschweinchen sprechen kann.

Ich wünsche mir, dass mein Papa wieder gesund wird.

Ich wünsche mir, dass ich nie wieder Hunger habe.

Ich wünsche mir, dass ich nicht so alleine bin.

Ich wünsche mir, dass mir ein Wunsch einfällt.

So viele Wünsche. Großartige und alberne, selbstsüchtige und liebevolle.

Es ist mir eine Ehre, dass auf meine müden alten Äste so viele Hoffnungen gesetzt werden.

Obwohl ich am Abend des Ersten Mai aussehe, als ob man einen riesigen Papierkorb über mir ausgekippt hätte.

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4

Wahrscheinlich ist dir schon aufgefallen, dass ich mehr rede als andere Bäume. Das ist neu für mich. Ich hab den Bogen noch nicht so raus.

Aber ein Geheimnis bewahren kann ich schon seit eh und je. Und das muss man auch können, wenn man ein Wunschbaum ist. Die Menschen erzählen den Bäumen alles Mögliche. Sie wissen, dass wir zuhören.

Uns bleibt ja auch nichts anderes übrig.

Außerdem erfährt man mehr, wenn man zuhört.

Bongo behauptet, dass ich mich überall einmische, und da hat sie vermutlich recht. Sie ist meine beste Freundin, eine Krähe, die ich schon kenne, seit sie nur ein wild um sich hackender Eizahn in einer gesprenkelten Eierschale war.

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Wir sind manchmal verschiedener Meinung, aber so ist das unter Freunden, egal um welche Lebewesen es sich handelt. Ich habe in meinem Leben viele unerwartete Freundschaften gesehen: Da waren ein Pony und eine Kröte, ein Rotschwanzbussard und eine Weißfußmaus, ein Fliederbusch und ein Monarchenfalter. Sie alle waren manchmal verschiedener Meinung.

Ich finde, dass Bongo für einen so jungen Vogel zu pessimistisch ist.

Bongo findet, dass ich für einen so alten Baum zu optimistisch bin.

Das stimmt. Ich bin ein Optimist. Ich betrachte die Dinge gern im größeren Zusammenhang. Und alt wie ich bin, habe ich beides erlebt: Gutes und Schlechtes. Aber das Gute hat bei Weitem überwogen.

Bongo und ich sind uns also darin einig, dass wir uns nicht immer einig sein müssen. Und das ist gut. Denn schließlich sind wir sehr verschieden.

Bongo findet es zum Beispiel lächerlich, wie wir Bäume uns benennen. Sie suchte sich ihren Namen selbst aus, nachdem sie zum ersten Mal ausgeflogen war, und so ist es bei den Krähen üblich. Sie muss nicht einmal bei dem Namen bleiben. Krähen ändern ihre Namen je nach Laune. Gizmo, Bongos Cousine, hatte schon siebzehn verschiedene Namen.

Krähen wählen manchmal Menschennamen. Joe Crows gibt es wie Sand am Meer, denn das bedeutet Pechvogel oder Unglücksrabe. Andere nennen sich nach allem, was ihre Fantasie anregt: Knallkopf, Jujube oder Lindwurm. Auch Kunstflugmanöver sind beliebte Namen: Todesspirale und Fassrolle. Oder Farben wie Aubergine und Rabenschwarz.

Viele Krähen entscheiden sich für Geräusche, die sie selber gern machen. (Krähen können alles, was sie hören, täuschend echt nachahmen.) Ich kannte Krähen, die Windorgel, Sattelschlepper oder Grantiger Taxifahrer hießen, und auch noch ein paar andere, deren Namen ich lieber nicht erwähne, weil sie weniger salonfähig sind.

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In unserer Straße wohnt eine angehende Rockband, die aus vier Teenagern besteht. Sie üben in einer Garage. Sie haben ein Akkordeon, eine Bassgitarre, eine Tuba und Bongotrommeln. Außerhalb ihrer Garage hat die Band noch nie gespielt, aber Bongo sitzt gerne auf dem Dach und wiegt sich im Takt der Musik.

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5

Aber nicht bloß die Namen sind bei uns anders als bei Krähen.

Manche Bäume sind männlich. Manche Bäume sind weiblich. Und manche, und dazu gehöre ich, sind beides.

Das ist verwirrend, wie vieles in der Natur. Ich bin eine Sie. Ich bin ein Er. Nenn mich so oder so, beides ist richtig.

Im Lauf von Jahren habe ich erfahren, dass Botaniker – solche Glückspilze, die tagaus, tagein nur das Leben der Pflanzen studieren – einige Baumarten, wie zum Beispiel Stechpalmen und Weiden, »zweihäusig« nennen, was bedeutet, dass es jeweils männliche und weibliche Bäume gibt.

Viele andere Baumarten jedoch, auch meine, nennen sie »einhäusig«. Das ist der wissenschaftliche Ausdruck dafür, dass man auf derselben Pflanze sowohl männliche als auch weibliche Blüten vorfindet.

Da zeigt sich doch, dass Bäume ein viel spannenderes Leben haben, als du gedacht hättest.

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6

In einer Hinsicht sind Bäume und Krähen allerdings gleich: Sie dürfen nicht mit Menschen sprechen. Das ist ein Gesetz. Es gilt für alle Lebewesen.

Es sei zu unserem eigenen Schutz. So heißt es zumindest.

Ich habe mich oft gefragt, ob dieses ewige Schweigen wirklich so gut ist.

Es kam nämlich oft vor, dass ich mal den Mund aufmachen und mit der Wahrheit rausrücken, dazwischenfahren und mich nützlich machen wollte. Ich habe aber trotzdem immer geschwiegen. Denn so ist die Welt eben eingerichtet.

Hat sich nicht jemand mal versehentlich verraten? Doch, das ist vorgekommen. Letztes Jahr hörte ich zum Beispiel folgende Geschichte:

Ein Frosch namens Fliege machte sein Mittagsschläfchen in einem Briefkasten. (Frösche nennen sich immer nach den Insekten, die sie am liebsten fressen.) Als der Postbeamte den Briefkasten öffnete, hüpfte Fliege heraus und quakte vor Schreck furchtbar laut. Der Postbeamte fiel in Ohnmacht.

Als er wieder zu sich kam, hockte Fliege auf seiner Stirn und entschuldigte sich aufgeregt und wortreich.

Fliege hat das Nicht mit Menschen sprechen-Gesetz eindeutig übertreten.

Wie so oft, war der Vorfall bald wieder vergessen. Schließlich wusste der Postbeamte ja ganz genau, dass Frösche nicht sprechen können. »Das hab ich mir nur eingebildet«, hat er sich sicherlich gesagt.

Ziemlich bald danach ging er allerdings in Ruhestand – und das ist doch bemerkenswert.

Wie dem auch sei, wenn man bedenkt, wie viele Bäume und Frösche und Otter und Rotkehlchen und Libellen und Gürteltiere und sonstige Tiere und Pflanzen es gibt, sollte man meinen, dass die Menschen unser kleines Geheimnis langsam durchschaut haben.

Was soll ich sagen? Die Natur ist erfinderisch. Und Menschen sind … entschuldige, aber besonders gute Beobachter seid ihr meistens nicht.

Falls du neugierig bist und nicht alles auf Anhieb glaubst, fragst du dich jetzt vielleicht, wie sich Bäume eigentlich genau verständigen. Unwillkürlich schaust du dir gerade eine Goldkiefer, eine Zitterpappel oder einen Amberbaum genauer an, um den Zauber zu entschlüsseln.

Menschen können sprechen, weil Lunge, Kehle, Kehlkopf, Zunge und Lippen ein kompliziertes Zusammenspiel von Tönen, Atem und Bewegung bilden.

Man kann aber auf vielerlei Art etwas mitteilen. Wenn man eine Augenbraue hochzieht, ein Kichern unterdrückt oder eine Träne wegwischt, dann drückt man damit auch etwas aus.

Die Verständigung bei Bäumen ist genauso kompliziert und staunenswert wie bei Menschen. In einem geheimnisvollen Tanz aus Sonnenlicht und Zucker, Wasser, Wind und Erde bauen wir unsichtbare Brücken und verbinden uns mit der Umwelt.

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Frösche haben ihre eigenen Methoden, sich mit der Umwelt auszutauschen. Hunde genauso. Molche und Spinnen, Elefanten und Adler ebenso.

Und wie machen wir es nun genau? Das wissen nur wir, und ihr müsst es herausfinden.

Auch die Natur liebt ein gutes Geheimnis.

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7

Ich bin übrigens nicht bloß ein Baum. Ich bin ein Zuhause. Ein Lebensraum.