Danksagung

Dies ist mein erster Roman, und auch wenn ich selbst das Projekt über zehn Jahre von der Idee bis hin zur Veröffentlichung mehr oder weniger inetnsiv angetrieben habe, so wäre ohne die folgenden Menschen nicht ein Wort gedruckt worden. Daher gebührt ihnen meine zutiefst empfundene Dankbarkeit:

Sabine Albrecht, meine wunderbare Frau, Krimi-Powerkonsumentin, analytische Schnellleserin und damit meine schärfste Lektorin. Keiner erkennt den Mörder so früh wie sie und niemand läßt sich so verteufelt schwer hinters Licht führen.

Irma und Richard Albrecht, die mich zu dem Menschen erzogen haben, der ich heute bin und damit dieses Buch immens mitgeprägt haben.

Dieter und Elke Deuster, die da waren, als Not am Mann war, und in deren Haus Kiran das Licht der Welt erblickt hat.

Nadja Kossack, die mein Manuskript im ICE zwischen Hamburg und München las und noch im Zug mit mir Kontakt aufnahm. Mit ihr hat das Abenteuer Schriftstellerei begonnen.

Lars Schulze Kossack und Lisbeth Körbelin, die beiden besten und kompetentesten Partner, die man sich als Literaturagenten wünschen kann.

Dietmar Mansfeld, Mitauswanderer und lange Jahre ein guter Freund und Ratgeber, der mir mit seinem umfassenden Wissen und Erfahrungsschatz die Augen über Osteuropa geöffnet hat.

Andrey Filippov, der mir viele unschätzbare Hintergrundinformationen über Russland gab. Die prügelnden Clowns vom Supermarkt werde ich noch in irgendeinem Buch unterbringen, versprochen.

Dr. Konrad Roentgen, dessen Taschenbuch Drei Seiten für ein Halleluja mindestens die halbe Miete für die Veröffentlichung war. Sein Werk sollte Pfichtlektüre für jeden angehenden Autor werden.

Cover

Kurzbeschreibung:

Der Mörder, der aus der Kälte kam …


Bei seinem Morgenspaziergang am Wannsee wird der 72-jährige Industriemagnat Friedrich Lautenschläger brutal zusammengeschlagen und erschossen. Für Kiran Mendelsohn, der gemeinsam mit dem eigenwilligen Kommissar Bolko Blohm die Ermittlungen leitet, tut sich ein Abgrund aus illegalen Machenschaften, Waffen- und Menschenhandel auf. Doch nichts kann ihn vorbereiten auf die Skrupellosigkeit des wahren Killers, der eine Seite in Kiran weckt, die der junge Ermittler eigentlich für immer vergessen wollte.


Ilja Albrecht

Sibirischer Wind


Thriller

Edel Elements

Buch

Bei seinem Morgenspaziergang am Wannsee wird der 72-jährige Industriemagnat Friedrich Lautenschläger brutal ermordet. Das Attentat versetzt Berlins oberste Etagen in helle Aufregung, denn Lautenschläger, Dreh- und Angelpunkt im Deutsch-Russischen Industriehandel, war ständiger Gast in Kanzleramt und Wirtschaftsministerium. In dieser prekären Situation bittet die zuständige Oberstaatsanwältin ihren alten Freund Kiran Mendelsohn, gemeinsam mit dem neuen, aus Hamburg zugezogenen Kommissar Bolko Blohm die Ermittlungen zu leiten. Kiran ist alles andere als begeistert. Nach einem traumatischen Vorfall während seiner Auslandsausbildung beim FBI in Quantico hatte er den aktiven Ermittlungen im Feld eigentlich abgeschworen. Stattdessen soll er jetzt, unter ständigem Druck von oben und argwöhnisch beobachtet vom Bundesnachrichtendienst, einen Mörder jagen. Womit Kiran und sein eigenwilliger Kollege Bolko nicht rechnen, ist der Abgrund aus illegalen Machenschaften, Waffen- und Menschenhandel, der sich schon bald vor ihnen auftut. Konfrontiert mit den Umtrieben der Russenmafia und der eiskalten Skrupellosigkeit eines professionellen Killers, muss Kiran auf Fähigkeiten und Erfahrungen zurückgreifen, von denen er eigentlich gehofft hatte, sie für immer in den Tiefen seiner Erinnerung begraben zu können ...

Autor

Ilja Albrecht, 1967 in Frankfurt am Main geboren, zog 1988 für sein Studium nach Berlin und erlebte dort den Mauerfall. Als DiplomKommunikationswirt ist er seit 2000 im Bereich eMarketing für internationale Unternehmen tätig. Nach einer Station in den USA lebt Ilja Albrecht heute gemeinsam mit seiner Frau im südlichen Mittelmeer auf Malta. Sibirischer Wind ist sein erster Roman.


Für Elke und Dietmar, die beide viel zu früh von uns gegangen sind

Prolog

Ein entsetzliches Krachen schreckte ihn aus dem Schlaf. Zuerst dachte er schlaftrunken, irgendetwas in der Wohnung nebenan sei kaputtgegangen. Das kam in letzter Zeit häufiger vor, und es wurde auch oft geschrien dabei. Es war Winter, und in dem, was von ihrem Viertel übrig geblieben war, mangelte es an allem. Es gab keine Arbeit, nichts zu heizen, kaum zu essen. Alle hatten diesen müden und zugleich gereizten Ausdruck im Gesicht.

Vor allem sein Vater.

Diesmal aber war etwas anders. Das Schreien kam aus seiner eigenen Wohnung, aus dem Schlafzimmer seiner Eltern. Dann krachte es erneut, wie von splitterndem Holz, dieses Mal begleitet von einem lauten Klirren. Das Fenster. Sein Vater würde niemals das Fenster zerschlagen. Schon gar nicht bei dieser Kälte.

Er hörte Stimmen, fremde Stimmen, und plötzlich bekam er entsetzliche Angst. Seine Mutter rief irgendetwas, aber es ging unter im allgemeinen Gejohle und Gelächter. Eine Tür barst. Er hörte seinen Vater aufschreien, es klang dumpf und schmerzverzerrt. Die fremden Stimmen wurden lauter, und nun konnte er sie verstehen. Sie wollten Geld und riefen etwas von Wegjagen. Sein Vater antwortete nicht, aber er hörte seine Schmerzenslaute, als sie auf ihn einschlugen. Die Angst wurde unerträglich, und er spürte, wie sich alles in ihm verkrampfte.

Dann flog seine Tür auf. Licht blendete ihn. Bevor er irgendetwas erkennen konnte, war die Gestalt schon über ihm. Er wurde aus dem Bett gezerrt und mit einem Tritt in die Ecke geschleudert. Der Schmerz und der Schock waren so stark, dass sich seine Blase entleerte. Dann bekam er einen furchtbaren Schlag und sah in eine höhnisch grinsende Fratze. Er sah die gelben Zähne, roch den Alkoholatem. Die Augen des Mannes flackerten irre. Er hörte die unerträglichen Schreie seiner Eltern. Ihr Schmerz war überall im Raum, und über ihm war der Teufel. Er versank in einem Meer von Panik, als ihm seine ganze Schutzlosigkeit klar wurde. Dann packte ihn der Mann am Genick.

»Na, kleiner Kamerad, wo sind die Spardosen versteckt?«

Wieder bekam er einen Tritt in den Bauch. Er bekam keine Luft mehr, und in seinen Ohren dröhnte es, sodass die Kampfgeräusche zu verstummen schienen. Aus den Augenwinkeln sah er den Flur und seine Mutter. Ein riesiger Mann stieß sie vor sich her. Er sah seinen Vater am Boden liegen, zwei Gestalten traten und prügelten auf ihn ein.

Jetzt war die Fratze wieder über ihm. Er sah den weit aufgerissenen Mund irgendwelche Worte formen, aber er konnte sie nicht hören. Er sah die Augen des Mannes und den wütenden Zorn darin. Der Mann schrie etwas und sein durchdringender Blick durchbohrte ihn. Der nächste Schlag traf ihn frontal, er schmeckte Blut. Die Sicht verschwamm, sein Gesicht brannte. Er sah den Mann immer noch schreien, aber hören konnte er ihn immer noch nicht. Er wusste nicht, ob er weinte. Dann holte der Mann noch einmal aus, die Faust und der Metallring rasten auf ihn zu.

Jetzt sterbe ich, dachte er.

Er spürte den Schlag kaum. Bevor er sich darüber wundern konnte, wurde ihm schwarz vor Augen, und er fiel in ein tiefes, stilles Nichts.

1

Kiran lehnte sich zurück und atmete tief ein.

Keine Stadt roch so gut wie Berlin im Frühling, wenn die Stadt aus dem langen Winterschlaf erwachte und alles um einen herum zu blühen begann. Vorbei war die Zeit der eisigen Winde und der griesgrämigen Gesichter. Die Sonne begann die Welt mit neuer Energie aufzuladen. Man konnte Menschen lachen und scherzen hören, mitunter sogar Busfahrer.

Es war sein erster Urlaub seit über einem Jahr. Zwei wunderbare Wochen lang würde er nichts anderes tun, als entspannen. Er würde nicht wegfahren, er würde in Berlin bleiben. Er wollte nur zwei Wochen lang nicht an die Arbeit denken müssen. Zum Schluss hatte er acht Fälle gleichzeitig bearbeiten müssen, das war selbst für einen Berater und Fallanalytiker im BKA zu viel, um zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen. Vor allem, wenn man nebenher noch an der Akademie unterrichtete.

Er saß draußen vor dem Lloyd’s, seinem Stammbistro und Restaurant am Paul-Lincke-Ufer und frühstückte. Von drinnen erklang leise Musik. Eines seiner Lieblingsstücke von Gershwin, eine schöne Coverversion aus den Achtzigern. Die nächsten vierzehn Tage würde er hier sitzen und sich nicht von der Stelle rühren. Das Bistro befand sich im Parterre des Hauses, in dem er wohnte. Hier hatte er seinerzeit ein schönes Loft gefunden. Obwohl im Berlin nach dem Mauerfall die Auswahl groß war, hatte er sich für dieses entschieden, einzig und allein wegen dem Lloyd’s.

Der Betreiber und Namensgeber war der mit Abstand seltsamste Wirt, dem Kiran jemals begegnet war. Nestor Lloyd war seinerzeit nach der Wiedervereinigung und Auflösung seines englischen Bataillons in der Stadt geblieben, um seine höchst eigene Vorstellung von Gastronomie zu verwirklichen: professioneller Ausschank kombiniert mit experimenteller Küche. Gerade in dieser Hinsicht war ihm Berlin lohnenswerter erschienen als die heimatliche Merseyside, und so hatte er sein Domizil in Kreuzberg aufgeschlagen. Zentrum seines Etablissements war eine Bar, deren Ausstattung jedem alteingesessenen Londoner Pub zur Ehre gereicht hätte. Der Rest der Einrichtung folgte konsequent Nestors anarchischem Geschmack. Das Mobiliar bestand aus Reliquien seiner Vorfahren, durchmischt mit absurden Einzelstücken, die er auf seinen Streifzügen durch die Welt und vor allem in Berlin gesammelt hatte.

Tagsüber eine Art Mischung aus Kneipe und Bistro, verwandelte sich das Lloyd’s abends in ein erstklassiges Restaurant. Speisekarten suchte man hier vergeblich. Neben der Bar hing eine Schiefertafel, auf der Nestor manchmal, wenn ihm danach war, das Tagesangebot aufmalte. Meistens jedoch unterrichtete er die Gäste am Tisch über die Spezialitäten des Tages, zumal er oft erst während dieser Unterhaltung entschied, was er wem anbot. Nestor liebte seine Frau Dierdra, brannte für den FC Liverpool, mochte die Deutschen und verabscheute Restaurantkritiker inklusive des frisch gebügelten Gourmetgesindels in deren Schlepptau. Seine kulinarischen Kreationen waren mit voller Absicht so absurd wie genial, was ihm zweifelhafte Besprechungen und eine recht illustre Klientel einbrachte.

Kiran fühlte sich hier so wohl wie sonst nur in seinen eigenen vier Wänden. Die nächsten zwei Wochen würden herrlich werden. Er würde sich ganz Nestors Kochkünsten überlassen und sich im übrigen nur seinen Pflanzen, der Musik und dem Aikido widmen.

In diese elegischen Überlegungen und in sein Blickfeld hinein trat eine bekannte Gestalt. Er erkannte sie sofort an ihrem blonden, leicht gewellten Haar, der aufrechten Figur, dem energischen und doch irgendwie sehr weiblichen Gang. Eleonore Roellinghoff kam direkt zu ihm an den Tisch, setzte sich und blitzte ihn aus ihren strahlend blauen Augen wütend an.

»Guten Morgen, Kiran, ich hoffe du hattest einen entspannten Start in den Tag?«

»Guten Morgen, Eleonore.«

Wie üblich kam sie gleich zur Sache. »Dein Handy ist ausgeschaltet, hast du eine Ahnung, seit wann ich dich zu erreichen versuche?«

»Ich bin seit null Uhr im Urlaub, Frau Oberstaatsanwältin«, sagte er mit einem, wie er meinte, immer noch charmanten Lächeln. Er war nicht bereit, auch nur eine Minute seiner wohlverdienten Auszeit herzugeben. Egal, was da da kommen sollte.

»Hast du keine internen Nachrichten gehört?«

»Nein, wieso, ich bin …«

»Herrgott, ja, du bist im Urlaub. Der Rest der Stadt aber nicht. Friedrich Lautenschläger ist erschossen worden.«

Kiran schaute sie ungläubig an.

»Sie haben ihn heute gegen sieben Uhr in der Nähe seiner Villa auf dem Uferweg am Wannsee gefunden. Man hat ihn anscheinend beim Morgenspaziergang abgepasst. Zwei Kugeln in die Brust, eine zwischen die Augen.«

Es dauerte einen Moment, bis Kiran die volle Tragweite dieser Nachricht erfasste. Friedrich Lautenschläger – der große alte Mann der deutschen Industriepolitik. Mit Immobilien, Bauprojekten und geschickten Investitionen in den Siebzigern reich geworden, hatte er seine spätere Machtposition vor allem durch seine hervorragenden Beziehungen zu Osteuropa erlangt. Nach dem Fall der Mauer war Lautenschläger zum Motor des Aufbaus Ost geworden. Er musste längst in den Siebzigern sein, überlegte Kiran, dennoch gehörte er nach wie vor zur Elite der deutschen Wirtschaft. Er führte noch immer persönlich die Amtsgeschäfte seiner Investment-Firma Omniacorp und war eine der wichtigsten Verbindungen der deutschen Politik zur russischen Industrie. Der Mann ging im Kanzleramt und im Wirtschaftsministerium ein und aus.

Sein Aufstieg war vom BKA von jeher mit Argwohn verfolgt worden. In schöner Regelmäßigkeit gab es Hinweise auf dubiose Machenschaften und Verbindungen, die jedoch nie genauer verfolgt worden waren. Kein leitender Ermittler hatte es gewagt, seine Karriere aufs Spiel zu setzen, um ausgerechnet Lautenschläger anzugehen. Zu gut waren dessen Verbindungen, die Protektion in den Etagen der Macht schlicht unüberwindlich.

Sie wartete auf eine Antwort, die aber nicht kam.

»Weißt du was das bedeutet? Ich hatte seit heute früh das halbe Kabinett inklusive all deiner Chefs am Telefon. Die sind am Rotieren. Genauso gut hätten sie den Wirtschaftsminister erschießen können.«

»Und das wäre gar nicht mal ...«

»Kiran!«

Er wurde Ernst. »Okay, aber ich verstehe nicht, warum du damit zu mir kommst. Das Thema Lautenschläger ist sicher schon längst Sache des BND. Bei uns ist das höchstens was für nassforsche Aufsteiger.« Er konnte sie schon buchstäblich um die Wette laufen sehen.

»Und genau die kann ich nicht gebrauchen. Das Innenministerium ist hypernervös. Die wollen jegliche Verwicklungen vermeiden – intern, extern, international. Der Generalbundesanwalt hat mir zu Verstehen gegeben, dass dieser Fall wie ein normaler Mordfall behandelt werden soll – von uns und dem BKA.«

Kiran verdrehte die Augen. »Das stinkt gewaltig, Eleonore. Sonst bekommen wir solche Fälle nicht mal von weitem zu sehen. Warum jetzt?«

Er sah sie an. Er hatte seine alte Freundin noch nie so besorgt erlebt. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung. Eleonore zündete sich mit fahrigen Bewegungen eine Zigarette an.

»Ich habe nur kurz mit dem Chef gesprochen. Sie haben seit einiger Zeit gegen Lautenschläger ermittelt.«

»Wer?«

»Die Wirtschaftsabteilung SO3, Bereich Organisierte Kriminalität. Irgendjemand in seinem Umfeld oder er selbst hat es wohl zu weit getrieben, das konnte selbst das BKA nicht mehr übersehen. Man hat mir gesagt, die Ermittlungen gegen ihn könnten für einige hochstehende Personen womöglich unangenehme Folgen haben. Um da nicht zu stören, muss dieser Fall von einer Sonderkommission als Mord mit internationaler Tragweite behandelt werden. Parallel zu den laufenden Ermittlungen und absolut neutral hinsichtlich BND und anderen Diensten.«

»Mit anderen Worten, die wollen alles schön unter Verschluss halten.«

»Genau, deshalb eine klassische Mordermittlung, deshalb wir. Man hat mir gesagt, ich hätte weitgehend freie Hand in der Benennung einer Sonderkommission.«

Kiran ahnte, was kommen würde. Eleonore sah ihn an.

»Ich will, dass du dabei bist, Kiran. Aber nicht wie sonst. Nicht nur Profiling. Der ermittelnde Kommissar der Soko ist neu, ein junges Talent, aber er braucht einen erfahrenen Mann neben sich. Ich will, dass du mit ihm die Ermittlungen leitest und durchführst – im Feld.«

»Eleonore, ich ...«

»Kiran, es ist doch klar, was die mit mir machen. Die wollen einen politisch korrekten Täter haben, ohne dass man ihnen ins Handwerk pfuscht. Völliger Wahnsinn, wenn du mich fragst. Das hier ist ein Minenfeld, und ich stehe mittendrin. Wenn ich einen falschen Schritt mache, dann war’s das.«

Sie drückte nervös die halbgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus.

»Hör zu, Kiran«, fuhr sie fort, »ich weiß ja, warum du nicht mehr draußen arbeitest. Wer wüsste das besser als ich. Aber ich kenne niemanden, dem ich in dieser Sache so vertrauen kann wie dir. Das Kernteam ist relativ jung, aber brillant. Alles, was ihnen fehlt, ist ein besonnener zweiter Teamleiter. Ich brauche deine Hilfe, Kiran, wirklich!«

Wieder sah Kiran diesen besorgten Blick in ihren Augen. Er wusste, er konnte ihr diese Bitte nicht abschlagen. Eleonore war für ihn da gewesen, als er ihre Hilfe gebraucht hatte. Nun war es an ihm, ihr ebenfalls einen Freundschaftsdienst zu erweisen. Zudem hatte ihn schon länger das Gefühl beschlichen, dass sein selbstgewähltes Exil vom operativen Einsatz irgendwann zu Ende gehen würde. Dass dies ausgerechnet bei einem derart brisanten Fall geschehen sollte, war einerseits beängstigend, zugleich jedoch seltsamerweise befreiend.

»Also gut. Wo soll ich anfangen? Ist der Tatort noch begehbar?«

Zum ersten Mal lächelte Eleonore ein wenig. »Fahr nach Wannsee. Die Kriminaltechnik müsste noch bei der Arbeit sein. Bolko Blohm ist der Leiter der Ermittlungen. Er ist ebenfalls vor Ort. Sagt dir der Name was?«

Kiran nickte. Er hatte von ihm gehört. Blohm war gerade erst aus dem LKA Hamburg rekrutiert worden. Relativ jung, intelligent und ziemlich unkonventionell, wie man hörte. Vor nicht allzu langer Zeit waren dies keine karrierefördernden Attribute. In den letzten Jahren hatten die Verantwortlichen jedoch endlich ein wenig umgedacht. Dem Verbrechen sollten nicht nur die üblichen Beamte, sondern auch straßentaugliche Ermittler entgegengestellt werden. Typen, die etwas vom Leben gesehen hatten und nicht direkt vom BKA-Ausbildungsfließband an den Schreibtisch gesetzt worden waren. Bis die Akademie soweit war, diese Sorte Ermittler zu rekrutieren, auszubilden und zu fördern, würde noch einige Zeit vergehen. Kiran konnte ein Lied davon singen. Bis dahin musste man andernorts nach Talenten suchen, die diese bislang kaum geförderten Eigenschaften mitbrachten. Blohm war offensichtlich einer der ersten Vertreter dieser neuen Spezies.

Kiran war bewusst, dass Eleonore mit der Benennung eines jungen Teams voll und ganz den Erwartungen und Plänen der hohen Politik entsprach – die Frischlinge waren ersetzbar, leicht zu beeinflussen und notfalls perfekte Sündenböcke, falls etwas schieflachen sollte

Und ihm war ebenfalls klar, dass er in diesem Ränkespiel ihr Trumpf sein würde.

2

Eigentlich, dachte Kiran, hätte ich jetzt auf dem Weg in die Großmarkthalle sein sollen. Er hatte sich unlängst einen Teppanyaki-Grill zugelegt und dessen Einweihung während der letzten Tage ausführlich geplant. Gestern hatte er ein edles Stück Kobe-Rind bestellt und im Geiste bereits eine Marinade entworfen. Stattdessen befand er sich jetzt auf dem Weg zu einem Tatort. Nach der Verabschiedung von Eleonore war er in seinen moosgrünen Mini gestiegen und losgefahren. Wie üblich brachte ihn der hektische Berliner Verkehr nicht aus der Ruhe, sondern vielmehr ins Grübeln. In erster Linie dachte er über Eleonore nach.

Er hatte sie gleich zu Anfang seiner Ausbildung kennengelernt. Kiran hatte sich noch im ersten Ausbildungsjahr auf der Akademie des BKA befunden und zum ersten Mal in seinem Leben die Gewissheit gehabt, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Von jeher ein Mensch, der Ruhe und Ordnung schätzte und sein Leben stets nahezu perfekt organisierte, war seine Jugend in einem hochkreativen Elternhaus mit einem bildhauenden Vater und einer malenden Mutter eher ein Kampf gegen Unwägbarkeiten und Chaos gewesen. Um so mehr genoss er die Zeit auf der Akademie. Anders als noch während der Schulzeit, befanden sich hier nur Menschen, die wussten, was sie wollten. Es gab Strukturen und klare Vorgaben. Kiran, noch völlig unerfahren bezüglich der Untiefen des BKA-Apparats, war in seinem Element.

Seinen Ausbildern gefiel die ruhige intelligente Art dieses jungen Mannes. Er schien die Studieninhalte förmlich aufzusaugen, verstand sie nicht nur, sondern dachte sie weiter. Sein Faible für logische Zusammenhänge machte selbst die trockenste Theorie zu einem interessanten Spiel für ihn. Dazu sprach er dank eines Austauschjahrs in den USA fließend und akzentfrei Englisch. Seine Lehrer fanden außerdem schnell heraus, dass Kiran zusätzlich dazu über beängstigende Kenntnisse im Bereich der Selbstverteidigung verfügte. Selbst im Umgang mit der Waffe bewies er ein auch für ihn selbst überraschendes Talent.

Zu diesem Zeitpunkt erweckte er zum ersten Mal die Aufmerksamkeit eines Ausbilders. Horst Roellinghoff unterrichtete in der Akademie des BKA vor allem in den Bereichen Zielfahndung und operativer Einsatz. Obwohl dies eher Inhalte des zweiten Ausbildungsjahres waren und er Kiran somit noch nicht kennengelernt hatte, tauschten sich die Ausbilder in der Akademie regelmäßig über die Fähigkeiten und möglichen Verwendungszwecke der Neuankömmlinge aus. Dies musste jedoch nicht unbedingt ein Vorteil sein. Talentierte Auszubildende wurden unter den Lehrenden für gewöhnlich hoch gehandelt. Erste und häufigste Abnehmer waren der BND und andere Sicherheitsbehörden, für viele Ausbilder nach wie vor das Maß aller Dinge. Sie vermittelten daher gern Nachwuchs, um sich für diese professionelle Auswahl und Gefälligkeit zugleich selbst zu empfehlen.

Der alte Roellinghoff, wie er allgemein genannt wurde, betrachtete diesen Tauschbasar mit entschiedener Verachtung. Nicht nur war ihm der gesamte Nachrichtendienst suspekt, er war auch ein leidenschaftlicher Vertreter moderner und vernetzter Ermittlungsmethoden. Dies bedeutete für ihn nicht nur Technisierung, sondern ebenso die gezielte intellektuelle und vor allem internationale Ausbildung seiner Schützlinge. Die anderen Dienste setzten viel zu sehr auf interne Politik und geheimen Popanz. Dem erfahrenen Roellinghoff jedoch hatte gerade der deutsche Herbst klargemacht, dass den Herausforderungen Ende des 20. Jahrhunderts nicht mehr mit biederen Agenten und Fahndern alter Schule begegnet werden konnte.

In seiner Funktion als Verbindungsmann der interpolizeilichen Organisation zu den USA hatte Horst Roellinghoff gerade wegen dieser Ansichten viele Freunde und Verbündete beim FBI gefunden. Dort hatte man im Zwist mit dem CIA und der National Security Agency ähnliche Probleme und diese erst mit Ausbau und Abschottung der eigenen Akademie halbwegs in den Griff bekommen. Seitdem wurden in Quantico Special-Agents ausgebildet, die den neuartigen politisierten und terroristischen Einflüssen in der Gesellschaft nicht nur fachlich, sondern auch menschlich begegnen sollten. Dies, so hatte Roellinghoff seinerzeit erkannt, war der einzig gangbare Weg in moderner Verbrechensbekämpfung.

Als Roellinghoff auf Geheiß eines Kollegen Kiran erst beim Nahkampftraining, dann beim Schießen und zum Schluss bei der Debatte in einer Basisveranstaltung über juristische Grundlagen beobachtet hatte, war er sich sicher: Hier hatte er einen perfekten Vertreter dieser neuen Generation gefunden. Bevor ihm irgendjemand dazwischenfunken konnte, hatte er sich dem jungen Mann vorgestellt und ihn ohne Umschweife zum Essen eingeladen. Kiran, dem nur halbwegs klar war, wem er da gegenüberstand, hatte schüchtern eingewilligt.

Roellinghoff wohnte unweit der Akademie in einem ruhigen Vorort von Wiesbaden. Die alten Villen hier zeugten weniger von Wohlstand als alter Tradition des Bildungsbürgertums, wie Kiran fand, als er am frühen Abend desselben Tages zu seiner Einladung radelte. Die gepflegten Gärten und Fassaden suggerierten gehobene Mittelklasse, Ruhe und Beschaulichkeit. Der Eindruck wurde verstärkt durch den herrlichen Geruch frischen Flieders und dem beruhigenden Gebrumme der Rasenmäher.

All dies hatte ihn seine Nervosität vergessen lassen und sogar regelrecht entspannt, so dass er vollkommen unvorbereitet gewesen war, als sich die Tür auf sein Klingeln öffnete und die Tochter des Hauses vor ihm stand. Sie hatte blondes Haar und strahlend blaue Augen, aus denen sie ihn misstrauisch und etwas spöttisch musterte, bis ihm auffiel, dass er sie wie eine Erscheinung anstarrte. Nach einer halben Ewigkeit hatte sie sich als Roellinghoffs Tochter Eleonore vorgestellt, ihn eingelassen und auf die Gartenterrasse geführt. Dort saß der Hausherr entspannt in einem Korbsessel und rauchte seine obligatorische Pfeife.

Horst Roellinghoff mochte in der Akademie den Ruf eines Hardliners haben, in seiner heimischen Umgebung stellte er sich als überaus charmanter Gastgeber heraus. Statt langweiliger Fachdebatten gab es einen köstlichen Ossobucco und einem noch köstlicheren Wein. Vor Antritt seines Studiums hatte Kiran die wenige Literatur über Geschichte und Aufbau des BKA verschlungen, an diesem Abend aber wurde sie vor ihm lebendig.

Roellinghoff war im Alter von zwanzig Jahren über die Sicherungsgruppe Bonn zum Dienst gekommen, also ein Mann der ersten Stunde. Seine humorvollen Anekdoten und intelligente Kommentare zur Entwicklung des BKA fesselten Kiran vom ersten Moment an. Hier erfuhr er aus erster Hand, wie sich diese Institution von einem zweifelhaften Sammelbecken ehemaliger Mitglieder der NSDAP und SS-Führer ab den siebziger Jahren endlich zu einer modernen Ermittlungsbehörde entwickelt hatte. Einige der Missstände, die Roellinghoff mit großer Unverblümtheit schilderte, machten sogar den sonst so realistischen Kiran sprachlos. So schlug der alte Veteran geschickt einen Bogen hin zu seinem eigentlichen Anliegen: herauszufinden, welche Ideen und Ideale diesen jungen Mann angetrieben hatten, Ermittlungsarbeit zu seinem Lebensinhalt zu machen.

Durch sein Elternhaus an lange Abende am Esstisch gewöhnt, fühlte sich Kiran im Grunde sehr wohl in der Gesellschaft dieser BKA-Legende und seiner intelligenten Tochter. Andererseits beschlich ihn zunehmend das Gefühl, dass er hier einer sehr gründlichen Prüfung unterzogen wurde. Nicht nur vom alten Roellinghoff, sondern auch von Eleonore.

Wie sich im Laufe des Abends herausstellte, war sie nur wenige Jahre älter als Kiran und befand sich mitten im Jurastudium. Sicherlich war sie durch Karriere und Mentalität ihres Vaters geprägt, hatte aber in der Juristerei ihre eigene Nische gefunden. Kiran stellte höfliche und, wie er glaubte, intelligente Fragen zu ihrem Studium. Zugleich aber wurde er beständig von ihrem forschenden, beinahe sezierenden Blick verwirrt.

Mit seinen klaren, feinen Gesichtszügen, dem blonden Haar, dem Aikido-gestählten Körper und seinem ruhigen Wesen wirkte er auf das weibliche Geschlecht sehr attraktiv, dennoch hatte er es bislang verstanden, sich den meisten Annäherungsversuchen zu entziehen. Seine Erfahrungen mit Frauen waren daher zwar keine schlechten, für sein Alter jedoch durchaus begrenzt. Einer derart selbstsicheren jungen Frau war er auf jeden Fall noch nie begegnet. Zudem saß er hier am Esstisch eines der wichtigsten Ausbilder und Vordenker des BKA. Alles in allem ein äußerst rutschiges Parkett.

Als der Abend schließlich zu Ende ging, fühlte sich Kiran wie nach dem mündlichen Abitur, vollkommen erschöpft und zugleich federleicht und glücklich. Irgendwie hatte er das Gefühl, in ein neues Leben einzutauchen. Dies war natürlich die Absicht Roellinghoffs gewesen. Obwohl er hinsichtlich bestimmter Eigenarten dieses jungen Mannes etwas misstrauisch war, hatte er seine Entscheidung längst getroffen. Als sie sich verabschiedeten, war Kiran ohne es zu merken, bereits mit Haut und Haaren diesem Mann verschrieben, der sein Mentor und Vorbild werden und seine Zukunft bestimmen sollte.

Die Auswirkungen dieses Treffens waren bereits am nächsten Tag zu spüren gewesen. Offensichtlich hatte es einige Telefonate gegeben, denn zusätzlich zu seinem üblichen Stundenplan bekam er Einzelgespräche und Trainings mit Horst Roellinghoff zugeteilt.

In dieser Zeit wurden Eleonore und er zu engen Freunden. Der alte Roellinghoff schien von dieser Entwicklung zwischen den beiden erfreut und begrüßte es, dass sie zusammen ausgingen. Offensichtlich waren hier zwei starke und unabhängige Charaktere aufeinander getroffen, Einzelgänger und Kopfmenschen. Insofern war es nur gut, wenn diese beiden Intelligenzbestien endlich mal aus dem Haus kamen und jemanden zum Reden hatten. Es war die schönste Zeit in Kirans Leben, Vater und Tochter Roellinghoff wurden zur Ersatzfamilie für ihn. Die beiden sollten seine Rettung sein, als er wenige Jahre später in eine schlimme Krise geriet.

An all diese Dinge musste Kiran denken, als er sich nun auf dem Weg nach Wannsee befand. Eleonore war die einzige Frau in seinem Leben, die ihn nicht nur verstand, sondern immer für ihn da war, ohne jemals irgendetwas zu fordern. Umso befremdlicher war ihr jetziges Verhalten – und ihre Angst, obwohl es auf der Hand lag, warum sie derart unter Druck stand. Ihre Karriere war bislang planmäßig verlaufen, sie war nach Abschluss des Studiums und ihrer praktischen Jahre die mit Abstand jüngste Staatsanwältin von Berlin geworden. Hier war er ihr auch beruflich wieder begegnet, als er seine Stellung als Berater und Fallanalytiker im neuen Berliner Hauptquartier des BKA bezogen hatte.

Sie war die einzige gewesen, die seine Abkehr von der operativen Feldarbeit unterstützt hatte. Dies lag sicher auch daran, dass sie neben ihrem Vater die einzige war, die den wahren Grund für diese Entscheidung kannte.

Dass sie in den folgenden Jahren ihren gesamten Einfluss geltend gemacht hatte, um ihn in seiner Position zu festigen, würde er ihr niemals vergessen. Nun stand sie kurz vor dem Eintritt in die höchsten Gefilde ihres Arbeitsbereichs und damit erneut auf dem Prüfstand. Mehr noch, es schien, als würde dieser Fall vor allem ihren durchgängig männlichen Neidern eine hochwillkommene Gelegenheit bieten, ihren Aufstieg rüde zu stoppen. Nicht nur deshalb war ihm klar, dass jetzt, da sie seine Hilfe brauchte, für ihn die Zeit gekommen war, sich seinen Dämonen zu stellen.

Er fuhr daher mit gemischten Gefühlen die Potsdamer Chaussee entlang und erreichte schließlich Wannsee. Durch die Villengegend fahrend, bereitete er sich mit ein paar geistigen Entspannungsübungen auf das vor, was ihm begegnen würde.

3

Nachdem Kiran seinen Wagen auf einem nahen Parkplatz abgestellt hatte, lief er am Ufer entlang in Richtung des Tatorts.

Seltsamerweise sah er keine Vertreter der Presse, als er sich an der Absperrung auswies. Offenbar hatte man die Identität des Opfers auf irgendeine Weise bislang geheim halten können. Hinter dem nächsten Gebüsch war ein weiterer Bereich abgesperrt, der von Mitarbeitern der Kriminaltechnik in ihren weißen Overalls fotografiert und abgesucht wurde. Auf einer Bank saß eine Beamtin und schrieb etwas in einen Notizblock. Weiter am Ufer stand ein Mann, etwa Ende dreißig, mit halblangem, leicht strähnigem Haar und Dreitage-Bart. Er trug eine abgetragene Lederjacke, eine teuer aussehende Jeans, schwere Schuhe und zündete sich gerade eine Zigarette an. Das musste Bolko Blohm sein.

»Guten Morgen«, sagte Kiran, als er sich näherte und die Hand ausstreckte. »Kiran Mendelsohn, Fallanalyse und Beratung, Sie sind wahrscheinlich Kriminalhauptkommissar Blohm?«

Der andere musterte ihn kurz, nickte und schüttelte ihm die Hand. »Derselbe. Dann sind Sie also der sagenumwobene Mendelsohn? Wie ich höre, hat man Sie direkt aus dem Urlaub ins Team geholt.«

Kiran nickte. »Oberstaatsanwältin Roellinghoff eben beim Frühstück, um genau zu sein.«

»Coole Frau. Zur Zeit aber eher nervös. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wer hier abserviert wurde. Das wird ein ziemlich übler Fall werden, das ist Ihnen hoffentlich klar?«

»Ich denke schon. Industriemagnat. Diverse potentielle Tätergruppen. Druck von oben ... Ich fürchte, man wird uns kaum in Ruhe unsere Arbeit machen lassen.«

»Könnte man so sagen. Mir ist allerdings nicht ganz klar, warum wir dazu einen Profiler brauchen, sieht ja nicht aus wie die Tat eines geistesgestörten Serienmörders. Es sei denn, morgen liegt der nächste Bonze im Gras.« Er lachte, die Aussicht schien ihm zu gefallen.

Kiran überging diese Flapsigkeit, obwohl er im Grunde ähnlich dachte. Er schaute sich um.

»Was wissen wir über den Tathergang?«

»Nun, das Opfer kennen Sie – Friedrich Lautenschläger, Industrieboss, Stammgast im Kanzleramt, Bewohner der Riesenvilla da hinten. Vor etwa drei Stunden von einer Joggerin gefunden, offenbar beim Spaziergang überfallen worden. Zwei Kugeln in die Brust, eine zwischen die Augen. Profiarbeit, wie es aussieht. Allerdings ist er vorher tätlich angegriffen worden. Die Leiche ist schon bei der Gerichtsmedizin.«

»Profis eliminieren ihre Opfer mit gezielten Schüssen und verschwinden dann umgehend«, sagte Kiran. »Wieso sollte jemand einen alten Mann vorher noch zusammenschlagen?«

Blohm schaute ihn von der Seite an. »Der Mann war verdammt mächtig. Hatte Feinde, Konkurrenten, was weiß ich. Es gibt tausend Gründe, Kerle wie den so über die Klinge springen zu lassen.«

»Sie mögen den Mann nicht?«

»Ich weiß wenig über Lautenschläger«, bekannte Blohm. »Das Wenige, was ich gehört habe, hat mir nicht gefallen. Hat sich zuletzt am Aufbau Ost gesundgestoßen und verdient jetzt Unsummen, indem er Fabriken dort wieder schließt und weiter nach Osteuropa verlegt. Er profitiert, die Industrie profitiert, die Politik profitiert, und die Arbeiter stehen in der Wüste. Ein Arschloch, wenn Sie mich fragen.«

Kiran war überrascht von diesen offenen Worten. Das war keine besonders professionelle Herangehensweise, gleichgültig, wie Recht Blohm mit seiner Äußerung haben mochte. Ihm wurde klar, dass diese Ansicht wahrscheinlich von weiten Teilen der Presse und der Bevölkerung geteilt werden würde. Auf der anderen Seite standen die Mächtigen dieses Landes, und im Niemandsland dazwischen mussten sie beide den Täter finden und das schnell.

»Die Kollegin da hinten ...«

»Kriminalkommissarin Alenka Motte«, antwortete Blohm etwas verkniffen. Offenbar hatte er eine Antwort auf seine Tirade erwartet. »Sie und ein Kriminaloberkommissar Enzo Moretti sind uns als Team zugeteilt. Moretti befragt gerade die Nachbarschaft.«

Kiran war inzwischen zum eigentlichen Tatort gegangen. Blohm folgte und beide versuchten, an den weiß gekleideten Gestalten vorbeizuschauen und zu erkennen, was geschehen war. Schließlich fragte Kiran einen der beiden Beamten.

»Schon was gefunden?«

Der Mann schaute hoch und ließ den Fotoapparat sinken. »Wenig Spuren bislang. Das Opfer ist wohl auf diesem asphaltierten Uferweg gelaufen. Erst hier rund um den Fundort finden sich Spuren eines Kampfes, die meisten vom Opfer. Er ist getaumelt, ein paarmal hingefallen, hat sich aufgerappelt und ist dann rückwärts hier ans Ufer gefallen. Wahrscheinlich als er erschossen wurde. Keine Hülsen. Die Fußspuren im Staub sind alle durcheinander und verwischt, wir haben aber einen sauberen Fußabdruck weiter rechts, Sportschuh Größe 44, also nicht von der Zeugin. Das ist alles.«

»Gute Arbeit«, sagte Kiran. Vielmehr würden sie wohl auch nicht finden.

Der Mann lächelte und fotografierte weiter. Kiran tat so, als bemerke er Blohms spöttischen Seitenblick nicht.

»Ein Schuhabdruck, klasse«, sagte Blohm. »Und die Joggerin ist unsere einzige Zeugin.«

»Wir müssen auch die Villen am gegenüberliegenden Ufer abklappern«, antwortete Kiran.

»Meinen Sie, irgendjemand hat so früh da drüben durch ein Fernglas gesehen?«

»Keine Ahnung, aber die Neugier der Menschen ist grenzenlos, vor allem in dieser Gegend. Das kann dieser Moretti erledigen. Mal sehen, was die Zeugin gesehen hat«, sagte Kiran.

Sie gingen zur Bank hinüber, während Blohm auf dem Handy Moretti anrief und ihn anwies, seine Befragung der Anwohner auf sämtliche Villen in Sichtweite auszudehnen. Moretti schien protestieren zu wollen, doch Bolko unterbrach ihn kurzerhand und wies ihn an, sich Unterstützung bei der Dienstelle Wannsee zu holen. Dann klappte er das Handy mit einem leichten Grinsen zu. Alenka Motte war inzwischen aufgestanden und kam auf sie zu.

Kiran kannte Alenka von der Akademie. Eine junge, durchtrainierte und etwas gefühlskalt anmutende Frau. Hinter den unbewegten Gesichtszügen verbarg sich jedoch ein messerscharfer Verstand. Sie war stets hochkonzentriert und bei der Sache, was Kiran seinerzeit schnell für sie eingenommen hatte.

Alenka begrüßte Kiran. »Guten Morgen, Herr Mendelsohn. Schön, endlich mal mit Ihnen arbeiten zu dürfen«, sagte sie lächelnd.

»Guten Morgen, Frau Motte, freut mich auch. Die Zeugin – was konnte sie aussagen?«

»Nicht viel. Kam angelaufen, hat zuerst die Füße des Opfers an der Böschung gesehen, dann genauer nachgeschaut und sich erstmal übergeben. Dann hat sie uns angerufen, das war um 6.57 Uhr.«

»Mir schleierhaft, wie man derart früh freiwillig durch die Gegend rennen kann«, meinte Blohm. »Sonst irgendwas? Hat sie irgendjemanden gesehen?«

»Nein, niemanden. Sie war ja in Bewegung. Sie war bei der Vernehmung noch ziemlich aufgelöst. Wir werden sie in der Zentrale noch einmal befragen und in Ruhe alles mir ihr durchgehen. Vielleicht war der Mörder gerade erst fertig, als sie ankam.«

Kiran schüttelte skeptisch den Kopf. »Sehr gut gedacht, obwohl ich bezweifle, dass sie den Täter gesehen hat. Wer immer das hier getan hat, hätte eine dazukommende Zeugin ebenfalls beseitigt. Sehen sie zu, dass Sie sie befragen, bevor ihr das klar wird. Danach wird sie wohl eine Weile im Schockzustand sein, die Arme. Immerhin hatte sie viel Glück. Vergessen Sie nicht, ihr auch das zu sagen, Alenka.«

»Ich habe schon gehört, dass Sie eher was von einem Psychiater haben sollen«, meinte Blohm mit leichtem Spott.

»Keine Aussage ist erledigt, bevor nicht jeder Aspekt der Aussage beleuchtet, alle Fragen gestellt und die Zeugen beraten wurden«, unterbracht ihn Alenka in belustigtem Dozententon. »Mendelsohn, Grundlagen der psychologischen Fallbearbeitung, Kapitel zwei.«

»Das wissen Sie noch?«, fragte Kiran. »Ist immerhin auch bei Ihnen schon ein paar Jahre her.«

»Sicher, bestimmte Dinge brennen sich ein. Anders als die Mehrzahl meiner männlichen Kommilitonen habe ich den Sinn dieser Regel auch begriffen.«

»Na prima, wenn wir dann wieder an die Arbeit gehen wollen? Sie gehen mit der Zeugin in die Zentrale und können sie dort nach Herzenslust therapieren. Ist die Familie Lautenschläger zu Hause?«, fragte Blohm.

Alenka sah ihn mit hochgezogenen Brauen an und nickte, lächelte Kiran kurz an und ging dann zum Einsatzwagen.

»Und wir begeben uns in die Welt der Reichen und Mächtigen«, sagte Blohm. Er deutete auf die Villa im Grünen und setzte sich in Bewegung. Kiran warf noch einen Blick auf den Tatort, dann folgte er seinem Kollegen .

4

Die Villa Lautenschläger lag direkt am Ufer des Wannsees. Umgeben von weiten, perfekt gepflegten Rasenflächen und abgeschirmt von mächtigen Tannen und ausladenden Laubbäumen erinnerte das alte Herrschaftshaus mit großer Uferterrasse und anliegendem Bootshaus an die glanzvollen Zeiten des Berliner Großbürgertums, das sich hier zu Anfang des 20. Jahrhunderts niedergelassen hatte. In dieser Gegend wohnte vornehmlich der alteingesessene Geldadel und inzwischen auch einige, die in der hinzugezogenen Welt der Politik und der Medien neuerdings das Sagen hatten.

Kiran hatte so seine Erfahrungen mit dieser Klientel. Über seine Eltern war er vor einigen Jahren zu einer Vernissage unweit von hier eingeladen worden. Der Abend war eine Tortur gewesen, doch als Sohn der Künstler konnte er schließlich nicht nach einer Stunde wieder verschwinden. Stattdessen wurde er wahlweise von überdrehten Millionärsgattinnen oder deren arroganten Töchtern angeflirtet. Alternativ dazu löcherten ihn die garantiert kunst-uninteressierten Gatten nach indiskreten Details aus Fallgeschichten des BKA. Sobald es die Etikette annähernd gestattete, hatte er sich schließlich empfohlen. Als einzige Genugtuung an jenem Abend konnte er auf dem Weg zum Wagen immerhin die Erdpfeife beschlagnahmen, die sich der Sohn des Hauses mit ein paar Gleichaltrigen im Garten gebaut hatte.

Sie klingelten am Tor, das sich summend öffnete.

»Man könnte meinen, die haben uns kommen sehen«, sagte Blohm grinsend und deutete nach oben.

Kiran blickte auf eine hochmoderne Überwachungsanlage mit verschiedenartigen, über den gesamten Eingang verteilten Kameralinsen. Auf dem Weg zum Haus entdeckten sie weitere Kameras, ähnlich wie am Tor wahlweise in Bäumen versteckt oder in Steinfiguren eingearbeitet. Irgendwo musste ein Sicherheitsraum sein, der eine flächendeckende Abbildung des gesamten Grundstücks ermöglichte.

Am Haus angekommen wurden sie von einer Haushälterin empfangen und eingelassen. Im Wohnzimmer, das mit einem riesigen Panoramafenster ausgestattet war und einen imposanten Blick auf den Wannsee bot, saßen auf einem Sofa eine ältere Dame und ein Mann etwa in Kirans Alter. Dieser erhob sich und ging auf sie zu.

»Guten Morgen, meine Herren. Ich nehme an, Sie sind Herr Mendelsohn«, sagte er und schüttelte Kiran jovial die Hand. »Und Sie müssen Herr Blohm sein. Ich bin der Sohn des Hauses, Martin Lautenschläger. Dies ist meine Mutter, Marianne Lautenschläger.«

Man könnte meinen, wir sind zum Tee geladen, dachte Kiran. Offenbar hatte man sie angekündigt. Martin Lautenschläger trug ein dunkles Jackett, das Hemd mit offenem Kragen wurde von einem Seidenschal komplettiert, sein Haar war perfekt frisiert. Der ganze Eindruck des Mannes hatte etwas seltsam Öliges, kaum kaschiert durch seine betont guten Manieren Im Gegensatz dazu strahlte seine Mutter eine völlige Ruhe aus. Ihre aristokratischen und im Alter immer noch sehr attraktiven Züge erschienen vollkommen ernst und nahezu emotionslos. Selbst Ihre Stimme war kontrolliert, als sie sprach.

»Man hat mir gesagt, mein Mann sei umgekommen. Erschossen, gleich hier am See. Man hat mir untersagt, zu der Stelle hin zu gehen, um ihn zu sehen.«

»Ich bin mir sicher, das war nur zu Ihrem Besten, Frau Lautenschläger. Abgesehen davon muss der Tatort abgesperrt und untersucht werden, wenn wir den Täter ergreifen wollen«, erwiderte Blohm ebenso kühl. »Darf ich fragen, wer Sie informiert hat?«

»Gero hat mich vor einer Stunde kontaktiert, ich wollte gerade aus dem Haus gehen. Kurz danach hat mein Sohn auf dem Weg hierher angerufen.«

So, so, dachte Kiran, der Herr Generalbundesanwalt von Braunfels persönlich, offenbar ein Freund der Familie. Das konnte ja heiter werden, wenn der Mann sich bereits in den ersten Ermittlungsstunden derart aktiv an allem beteiligte.

Blohm musste etwas Ähnliches gedacht haben, als er sich mit etwas verkniffenem Gesicht an den Sohn wandte.

»Und Herr von Braunfels hat auch Sie ...«

»Ja, er hat mich ebenfalls informiert. Ich war auf dem Weg zur Arbeit. In Begleitung übrigens. Name und Adresse der Dame habe ich Ihnen hier notiert.« Er reichte Blohm einen Zettel, den dieser mit unbewegter Miene las und in seiner ausgebeulten Lederjacke verstaute.

»Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen, Frau Lautenschläger?«, fragte Kiran.

»Ich habe meinen Mann zum letzten Mal gestern Abend gesehen, als ich zu Bett ging. Das war um Viertel vor Zehn. Er ist wie immer länger aufgeblieben. Heute Morgen ist er, ebenfalls wie immer, früher aufgestanden als ich, um Viertel nach sechs. Mein Mann hat nie viel geschlafen. Nach seinem üblichen Kaffee hat er seinen Morgenspaziergang gemacht. Den macht er jeden Morgen pünktlich um halb sieben.«

Mein lieber Mann, dachte Kiran. Der Tatort lag etwa fünf Minuten zu Fuß von hier. Zehn, wenn man Alter und Spaziergeschwindigkeit bedachte. Die Zeugin hatte wirklich unfassbares Glück gehabt. Der Mörder musste Lautenschläger nur wenige Minuten vor Ihrer Ankunft endgültig erledigt haben.

»Frau Lautenschläger, hat Ihr Mann gestern oder in den Tagen davor irgendetwas erwähnt, das auf eine Bedrohung schließen lassen könnte?«

»Junger Mann, mein Gatte wird bedroht seit ich ihn kennengelernt habe. Er hat sich von jeher mit weiß Gott welchen Existenzen überworfen oder mit ihnen Geschäfte gemacht, zumeist beides. Wenn Sie diesen Fall lösen wollen, werden Sie eine sehr lange Liste potentieller Feinde abarbeiten müssen.«

Sie blickte Kiran an, und deutete mit keiner Regung oder unstetem Blick auch nur den Hauch einer Emotion an. Sie hat sich perfekt in der Gewalt, dachte er.

»Frau Lautenschläger, erlauben Sie mir ein persönliche Frage – wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Mann?« fragte er dann.

Sie war nicht im mindesten überrascht und antwortete umgehend.

»Wir führen ... wir haben eine erfolgreiche Ehe geführt. Wir haben uns immer Freiräume gelassen und uns gegenseitig respektiert. Ich habe mich nicht für die Geschäfte meines Mannes interessiert, und das erwartete er auch gar nicht.«

»Und Sie, Herr Lautenschläger, wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater beschreiben?«, schaltete Blohm sich ein.

Lautenschläger junior zuckte mit den Schultern.

»Im Grunde ähnlich wie meine Mutter. Er war kein Mensch, der andere an sich heranließ. Er zeigte auch kein besonderes Interesse an anderen Menschen, es sei denn, sie waren in irgendeiner Weise nützlich für seine Geschäfte.«

Dem Sohn gelang es weniger, seine Abneigung zu verbergen.