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Etwas was bleibt!

Das Buch ist ein Geschenk an meine beiden Söhne. Das Vertrauen das mir mein Mann und mein Sohn Mike bei diesem Buch entgegengebracht haben ist mit

Gold nicht aufzuwerten.

Danke!

Theresa Luisa Schermer

Hilfe ich werde

60!

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© 2018 Theresa Luisa Schermer

Alle Rechte Vorbehalten. All rights reserved.

Verlag und tredition GmbH, Hamburg
Druck: ISBN:978-3-7469-2737-4 (Paperback)
978-3-7469-2742-8 (e-Book)
Titelbild:© selensergen - Fotolia.com
© pics ive - Fotolia.com
Umschlaggestaltung:Julia Evseeva
Layout:Julia Evseeva

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

INHALTSVERZEICHNIS

Über mich

Zum Schreiben kam ich erst vor kurzem

Vorwort

Scheiß Sechziger

Enttäuschte Wahrnehmung

Erkenntnis

Gedanken der Fürsorge

Du musst loslassen können!

Eine Geschichte zum nachdenken

Mein Körper wurde krank

Die Suche nach meinem Sinn des Lebens!

Menschen überfordern sich gerne selbst

Ist das Leben nicht schön?

Sag Ja zu mir

Unbeschwerte, reiche Kindheit

Tage der Arbeit und Entbehrung

Aus dem Joch der Eltern entfliehen

Meine erste Liebe, ich wurde zur Frau

Die Geburt meines ersten Sohnes

Erinnerungen an meine kleine Familie

Der Zusammenbruch meines vermeintlichen Glücks

Liebe ist nicht gleich Liebe

Der Wille - alles wird wieder gut

Die Geburt meines zweiten Sohnes

Meine zweite große Liebe

Leidenschaft und Liebe sind nicht kontrollier- und planbar

Die Pflege für die Liebe

Dem Anderen Wert und Dankbar sein

Ein erstes Gefühl des Altwerdens

Karriere

Pflicht und Aufopferung für die Eltern

Neues Lebensgefühl - umdenken - befreien - die Zeit nutzen

Sterne und Elemente beeinflussen dich!

Mein Gedicht an mich

Mein Glaube - meine Kultur

Die Warnung

Liebeserklärung an meinen Mann

Wenn Eltern alt werden

Rückschläge - wie gehe ich mit ihnen um

Meine beiden Kinder - meine beiden Leben

Schon drei Jahre lang begleitet mich jetzt mein Buch

Ich bin Teil eines großen Ganzen

Ich lerne mit mir umzugehen

Wie entsteht Charakter?

Erkenne dich selbst

Die Schattenseiten

Was den Charakter verändert

Loben und motivieren statt nörgeln

Leitmotiv: Ich bin, weil ich helfe

Defensive statt Offensive

Leitmotiv: Ich bin, weil ich autonom bin

Taten statt Worte

Leitmotiv: Ich bin, weil ich alles plane

Keinen Raum für Unkonventionelles

Literatur Empfehlungen

Über mich

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Mein Name ist Theresa, gerade eben 60 Jahre alt geworden. Ich lebe mit meinem Mann Carlo in einem kleinen Ort im südlichen Bayern. Meinen Beruf als Sekretärin habe ich vor ein paar Monaten an den Nagel gehängt. Ich genieße momentan den wohlverdienten Vorruhestand. Auf meinen beruflichen Wegen waren das Finanzministerium, ein Flugplatz, ein großes Flugzeugunternehmen in Deutschland, ein paar Jahre der Selbstständigkeit, Jahre der Pflege meiner Eltern und zu guter Letzt ein renommiertes, im Ausland geschätztes, mittelständiges Unternehmen unweit von meinem Wohnort entfernt diejenigen, die mir monatlich mein Konto ausglichen.

Meinen Mann Carlo und meine beiden Kinder Pietro und Mike liebe ich über alles. Meine große Freude sind all meine Enkelkinder und die übrige Familie. Meine Leidenschaft sind das Schreiben und mein Haus mit Garten.

„My home is my castle.“

Zum Schreiben kam ich erst vor kurzem

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Unsere regionale Zeitung brachte eine Seite für Kinder heraus. Dabei konnten Omas und Opas dem Verlag ihre Geschichten von früher zuschicken. Die schönsten Geschichten wurden in einem Buch zusammengefasst. Zwei von meinen Erzählungen waren dabei. Meine große Freude darüber veranlasste mich, endlich mit dem Schreiben zu beginnen. Jetzt fehlte natürlich noch das Thema. Das war schnell gefunden, da ich erst kürzlich eine schreckliche Entdeckung an mir machen musste: „Ich werde 60 Jahre alt.“

Meine Ideen zu diesem Buch holte ich mir aus meinem Leben, vielen Erfahrungen, meinen Eindrücken aus dem Alltag und aus Gesprächen mit Menschen.

Geschrieben wurde auf dem PC, meistens abends. Dabei vergaß ich oft die Zeit und wunderte mich, wie spät es schon war. Meine Finger rasten über die Tastatur, als hätte ich alles erst gestern erlebt. Ich konnte gar nicht genug davon bekommen. Ja, ich bin süchtig nach dem Schreiben.

Vorwort

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Viele Tage sind vergangen - ich meine natürlich Jahre - und davon ganze 59 an der Zahl. Ich frage mich nicht, wo die Zeit hingegangen ist, denn mein Lebensgefühl sagt mir, dass es viele, viele Jahre waren - einige grausam und lehrreich, andere schön und sehr glücklich. Meine beiden Kinder, die ich auf die Welt bringen durfte, sind das Größte und Erfolgreichste in meinem Leben, das ich zu Stande gebracht habe. Darauf bin ich stolz. Nur war ich jung - sehr jung. Konnte ich meine Liebe und Fürsorge zu meinen Kindern richtig einsetzen, mit dem stärksten Gefühl der Welt erleben? War ich mit 17 Jahren, als ich meinen ersten Sohn gebar, nicht selbst noch ein Kind? Das sind Fragen, die mich heute beschäftigen.

Im Rückblick auf mein gelebtes Leben bereue ich keine einzige Minute. Oder doch? Ja, eine - na gut - zwei Sachen würde ich mir heute wünschen, nicht getan bzw. mehr daraus gemacht zu haben. Ich bin mit Humor geboren und diesen habe ich mir bis heute erhalten. Optimismus ist mein Wegbegleiter. Der Blick in die Zukunft hat mich immer beflügelt und neugierig gemacht. So lebte ich in der Vergangenheit und die Zukunft wird mich nicht anders finden. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, einmal mit viel Lachen, guten Gedanken und Hoffnung in die Zukunft für meine Lieben von dieser Erde gehen zu dürfen - ich meine müssen.

Viele Höhen und Tiefen des Lebens haben mich gepackt, geschüttelt, gewogen und verwöhnt. Das Böse wie das Gute haben mich stets begleitet und beherrscht wie vieles andere in meinem Leben. Es gehört zum Ursprung unserer und auch meiner Existenz. Doch was ist böse und was ist gut? Alles auf dieser Welt hat zwei Seiten und ist relativ anzusehen. Es soll Gesetze geben. Welche sind das - die von Gott gegebenen oder die von Menschen ausgeklügelten? Hat nicht jeder sein eigenes Gesetz und seine wertvollen eigenen Werte, die ihm schon in die Wiege gelegt wurden? Sind es solche Werte, die wir erst an uns erkennen müssen und erst dann danach leben und entscheiden dürfen, so wie ein Zwang des Müssens? Ich liebe das Leben wie mich selbst. Ich bin das Glück und die Trauer. Wo werden sie mich hin tragen?

Der, der sich getraut mein Buch zu lesen, wird bemerken, dass ich keine trübe, sonore, jammernde, depressive Alte vorgebe. Er wird feststellen, dass meine Zeilen sehr viele Fragen ohne Antworten beinhalten. Er wird sich fragen: „Was will die Alte eigentlich? Soll sie Ruhe geben. Jeder wird mal alt.“

Ha, da täuschst du dich! Meine Fragen sind auch deine. Horch in dich hinein! Hörst du es? Da ich auf meine vielen Fragen oft keine Antwort weiß und abwarte, bis mir das Leben sie gibt, werde ich mich weiterhin in Geduld üben und dir wünschen, dass du, falls einige meiner Fragen deinen gleichen, dir selbst die Antwort geben kannst, die ich dir nie geben werden könnte. Mag sein, dass dir meine Schreibweise sehr eigen erscheint, gedankenartig und fragend. Ich will dich anregen, dich selbst in meinen Erzählungen zu finden. Ich lade dich ein. Wandere mit mir durch meine Geschichte.

Weißt du jetzt, warum ich das Buch schreibe? Ich kann dir nicht den Schlüssel zu einem perfekten Leben geben. Das will ich auch gar nicht. Ist das lebendige Existieren auf dieser Erde nicht faszinierend und abenteuerlich mit all seinen Facetten des Möglichen und Unmöglichen?

Also wünsche ich dir viel Freude an meinen Erzählungen aus meinem Dasein. Fühle dich wohl, habe mit mir Angst, beruhige dich wieder und träume mit mir in die Zukunft. Es ist ja doch nur eine Geschichte - meine Geschichte. Schreib doch deine eigene, ich würde sie gerne lesen.

Scheiß Sechziger

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Am 26. Januar werde ich meinen 60. Geburtstag feiern. Ich fühle ich mich wie eine Rakete, die vergessen wurde an Silvester in die Luft gejagt zu werden. Die Zahl 60 lässt mich frösteln. Öfters am Abend vor dem Einschlafen - oder auch Nichteinschlafen - grübele ich über irre Dinge nach, deren Inhalte von wunderbarer bis totunglücklicher Natur sind. Ist es die Angst, in den vergangenen Jahren zu viel versäumt zu haben oder das nicht Erreichte nie mehr erreichen zu dürfen? Bin ich ausgelaugt, alt, verbraucht, unnütz, vergessen? Mein Inneres gebärdet sich als Zirkuszelt. Tatütata, ich bin da. Sind es Depressionen, Spinnereien oder Hormonschwankungen, von denen ich schon gehört, die ich jedoch ignoriert und belächelt habe?

Bilde ich mir ein, nicht mehr wahrgenommen zu werden? Delikat gewählte Worte wie „Hm, für Ihr Alter sehen Sie aber noch gut aus“ oder „Oh, was? Sie sind schon 60 Jahre alt? Das hätte ich nicht geglaubt. Ich hätte Sie jünger geschätzt“, höre ich mir an. Schleim, Schleim ... Irgendwie muss man ja ans Fressen gelangen. Ihre Schleimspur reicht oft von Hamburg bis auf Bremen. Ist das Leben ein Kampf, muss man nehmen, was kommt. Was hat mein Alter mit dem Aussehen zu tun? Würde nicht ein Ausdruck von Bewunderung genügen, zum Beispiel „Oh, Sie sehen heute aber wieder gut aus!“. Salbei und Honig wären diese Worte für meine Seele.

Habe ich bei all meiner Hetze in meinem bisherigen Leben etwas verpasst, frage ich mich? Bilde ich mir das alles ein? Wo ist mein Ich für meine Umgebung? All diese Fragen stell ich mir jetzt nicht nur - nein, sie plagen mich! Die 60 ist einfach Scheiße. Es liegt an der Zahl und ganz sicher nicht an mir. Ich beobachte mich, wie ich öfter mit meinem Gesicht näher an den Spiegel herantrete. Oh je, natürlich sehe ich meine Falten um den Mund herum. Jessas, Barthaare sind da auch noch. Die müssen weg. Der Rasierapparat meines Mannes tut gute Dienste und muss sofort ran. Oh, sind das Tränensäcke? Nein, nur ein bisschen geschwollen. Aloe Vera wird es schon richten. Schluss mit dem Zinnober - das ist alles Einbildung zwecks des damischen Sechzigers. Ich beruhige mich, jedoch nicht lange. Im Gegenteil: Meine Beobachtungen über mich selbst werden immer fragwürdiger und extremer. Stimmungsschwankungen machen sich breit. Ich stelle mir Fragen wie „Soll ich etwas verändern? Sollte ich mich endlich damit zufrieden geben, dass unsere Gesellschaft nur jungen, dynamischen Wesen Wertschätzung und Beachtung entgegenbringen möchte? Soll ich mich aufgeben, mich verstecken und in der Versenkung des Alters verschwinden? Bin ich überflüssig, lästig, zu erwartungsvoll, störend geworden?“ Was soll das alles? In ein paar Monaten gehe ich in den Vorruhestand - übrigens ist das wieder so ein cooles Wort - dann geht's los. Schluss mit dem Ganzen! Ich habe dann Zeit wie Heu - für meine Familie und meine Enkelkinder. Genau! Wie sehr die mich brauchen und schon warten bis ich endlich in Rente gehe!

In Windeseile verfliegt aller Trübsinn. Ein Lächeln erhellt mein Gesicht. Alles wird gut.

Enttäuschte Wahrnehmung

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Die Zeit des Vorruhestandes ist endlich gekommen. Meine Kinder und Enkelkinder werde ich jetzt verwöhnen, ihnen viel Zeit schenken und mit meinen Ratschlägen helfen, wo immer sie mich brauchen!

Halloooo, wo sind sie denn? Ich bin hier. Ich will euch helfen. Ihr braucht doch meine Hilfe! Habe ich mich etwa getäuscht?

Was höre ich da: „Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit.“ Was? Wieso keine Zeit? Ich will doch für sie Zeit aufbringen. Sie haben und stellen keine Fragen. Nein, sie erteilen mir wiederum Ratschläge: „Mam, so musst du das machen! Mach das nicht! Das darfst du nicht so machen! Das kannst du nicht!“ Gescheit und wohlerzogen werfen sie mir an den Kopf, sie würden ihren Kindern in ihren Angelegenheiten nie dreinreden. Ihre Kinder müssen und können immer selbst entscheiden. Nur so lernen Kinder, selbstständig zu werden. Innerlich muss ich lachen. Und ob. Dieses Nichtreinreden verabreichen sie ihren Kindern oft in diplomatischer, hinterlistiger Art und Weise.

Ich höre auch Worte wie: „Ich bin erwachsen. Misch dich da bitte nicht ein. Ich bin alt genug. Das ist ganz allein meine Sache. Das entscheide ich. Mach dir keine Sorgen. Ich mach das.“ Oder: „Ich habe jetzt meine eigene Familie.“ Oder: „Da kann ich dir nicht helfen.“ Und folgende Aussage fasziniert mich am meisten: „Das musst du mir schon früher sagen. Jetzt hab ich keine Zeit.“ Auch: „Die Türe steht immer bei uns offen, du kannst kommen wenn du willst. Aber dich besuchen - das geht nicht. Dazu fehlt uns die Zeit. Für dich ist es einfacher, uns zu besuchen. Jetzt hast du die Zeit dafür, die wir nicht haben.“

Ihre Abweisung tut weh. Sie zwingt mich, in mich zu gehen, umzudenken und mich von meinem herzlich gewollten Vorhaben zurückzuziehen. Mein Entschluss steht fest. Ich entschließe mich zum Rückzug.

Wer bin ich, dass ich diese Worte hören und ertragen muss? Sind es doch simple, beschämende Ausreden des „Nicht mit mir etwas zu tun haben“ und Worte, die einem räudigen Hund würdig wären, jedoch nicht einem Menschen, der alles Vermeintliche getan hat und auch weiterhin alles für seine Lieben tun würde. Oh, wie grausam, erniedrigend und entwürdigend ist das ganze Gehabe. Es tut weh! Wie gekränkt ist mein Innerstes. Meine Gefühle werden mit Füßen getreten und mein Herz zutiefst beleidigt.

Wie banal, dumm und einfach klingen ihre Worte. Und doch strafen sie mich erbärmlich ab und tun sehr weh. Geschieht dies alles bewusst? Oder sind es Worte der unbeschwerten Jugend - belanglos, nichtssagend, unüberlegt und haltlos, ja sogar oberflächlich dahingesagt, ohne spüren zu wollen, was sie damit bewirken und in mir kaputt machen?

Still höre ich ihnen zu. Allen höre ich zu und denke dabei: Muss - muss - muss. Müssen tu ich gar nichts, nur sterben. Soll ich ihnen das sagen? Nein, ich werde Stück für Stück trauriger und ruhiger. Ich fühle mich wie eine kleine Maus, die nicht ans Futter kommt, weil die anderen starken Geschwister sie wegdrängeln. Sollte ich mich jetzt akkurat zurückziehen und den Finger nicht mehr heben?

Halloooooo, ich bin hier, ich bin auch noch da! Oh Schreck, ich tu es. Ich ziehe mich zurück. Lass sie doch, es wird schon so gut sein. Zu meinem Erschrecken stelle ich diese Erkenntnis über mein Verhalten meinen Kindern gegenüber fest. Puh, was für ein Schwächling bin ich doch. Alles in mir bäumt sich auf zum Kampf. Mit mir nicht! Sollen sie nur kommen und mir Vorschriften machen. Was habe ich ihnen alles gerne getan und war immer, wenn sie mich am notwendigsten brauchten, für sie da. Zeigen sie mir versteckt, was ich alles in meinem früheren Leben falsch gemacht habe? Nein oder ja? Wieder versinke ich in Trauer darüber, alleine zu sein - alleine mit mir, meinen Gedanken, meinem ich. Wo soll ich hin, wen soll ich fragen, wer wird mich verstehen? Soll ich alles so lassen, wie es ist? Wieder folgen Tage der Trauer, des Alleinseins und der Gedanken an Früher. Habe ich nicht die Vergangenheit schon lange hinter mir verlassen? Heute lebe ich in der Gegenwart und mit großer innerer Kraft an die Zukunft denkend. Was sollen die Gedanken an die Vergangenheit? Sie hat mich erzogen, geprägt und geschult. Das Ergebnis der Zeit bin ich. Ich lebe jetzt, im Heute. Mein Geist und mein Körper sind gewachsen. Sie haben sich weiterentwickelt, wie ich gelebt habe. Ich bin das, das die Zeit mit seinem Für und Wider von mir abverlangt hat. Auf der Bühne des Lebens schlängelt sich meine Figur durchs Leben. Kanten und Risse sind daran zu erkennen - Spuren des Lebens, die mich zu einem Ganzen formen ließen. Nur ich kann zufrieden oder auch unzufrieden mit mir sein, denn nur ich gehöre mir alleine. Alleine bin ich auf diese Welt gekommen und alleine werde ich sie wieder verlassen. Also frage ich mich, ob ich mit dem Ergebnis zufrieden bin - mit mir? Ich weiß, dass ich bin, wer ich bin und dass mein Dasein auf dieser Welt einen Sinn hatte und immer noch hat. Den habe ich erfüllt und werde ihn auch weiterhin erfüllen. Ich gehöre ganz allein mir.

Ich verspüre in mir das Verlangen fortzugehen weit, weit fort - hier in meiner Umgebung alle Zelte abzubrechen, weit weg von meinen Wurzeln neu anzufangen und die letzten Jahre meines Lebens so zu gestalten, dass ich meinen Gedanken, den Fragen nach dem Warum, der Suche nach Fehlern, die ich in meinem Leben vielleicht gemacht habe, und Ungewissheiten, was ich bei deinen Kindern falsch gemacht habe, entfliehen kann oder sie ausreißen oder sogar zerstören kann. Ich möchte mich am liebsten selbst für meine gewohnt, geliebte Umgebung einfach auslöschen.

Warum verspüre ich erst jetzt dieses Verlorengehen? Weil ich 60 Jahre alt werde? Oder war ich früher zu dumm, den schleichenden Prozess des „Nicht mehr Wert Seins“ zu bemerken? War ich in der Vergangenheit vielleicht doch zu sehr mit mir beschäftigt, als dass ich das Fremdwerden meinen Kindern gegenüber nicht bemerkt oder übersehen habe? Oder bin ich zu empfindlich oder depressiv geworden? Tut es ihnen nicht im Herzen weh, wenn sie nicht nach meinem Befinden und eventuellen Wünschen nachfragen?

Freiwillig wähle ich mir diese Fahrt ins Abseits nicht. Ich beschließe also, selbst zu gehen und selbst den Weg des Möglichen zu finden. Ich will verstehen lernen, einen Weg zum Füreinander zu gehen.

Irgendwann einmal kommt unausweichlich und doch für jede und jeden der Tag, an dem der lange Weg des Altwerdens unser Lebenshaus und unseren Körper betritt. Wann und in welchem Jahrgang dieses Bewusstwerden eintritt, ist bei jedem Menschen unterschiedlich. Bei mir ist es eben mit dem Tag, an dem ich 60 Jahre alt wurde.

Angst und Trauer beginnen. Dieses Gefühl betritt meinen Geist, meine Gedanken und meinen Körper. Muss ich Abschied nehmen von Lebensphasen und von Menschen die mir sehr ans Herz gewachsen sind?

Das ist wohl ein sehr schmerzhaftes Empfinden. Wie auf den Grund eines Brunnens bin ich hinab

gestiegen, zunächst einmal völlig abgeschnitten von allem bisher Vertrauten.

Ich fühle mich, als wate ich durch den heißen Sand einer Wüste. Durch deren Einsamkeit schlängelt sich ein Fluss, der ausgetrocknet ist und dessen Wasser deshalb nicht mehr fließen kann. Ich erstarre äußerlich wie ein Zweig ohne Wasser, der immer zerbrechlicher wird. Ich fühle mich ausgedorrt, weil ich die Erfrischung des gewohnten Alltags und die Zärtlichkeit meiner Lieben nicht mehr spüren darf und kann.

Der kleinste Handgriff überfordert mich, weil nichts mehr so ist wie es einmal war. Vom Fluss des Lebens fühle ich mich abgeschnitten und vergessen. Was ist nur mit mir und was wird werden? Gedanken über Gedanken. Keiner will und kann sie hören. Ich muss wieder einmal weinen und bemerke, wie meine Tränen mich doch trösten.

Und wie geht es dann weiter? Ach, es gibt nichts Widersprüchlicheres als die Reise durch die Landschaften meiner Gefühle, Gedanken und Trauer. Noch eben fühlte ich mich als Verlassener, einsamer Wanderer in einer trockenen Wüste. Jedoch jetzt plötzlich, ohne Übergang, befinde ich mich im Mittelpunkt eines Vulkans. Ein unglaublicher Ausbruch droht mich förmlich zu zerreißen. Es ist eine Wut auf alle, die mich allein und im Stich gelassen haben, und Hass auf mich selbst, weil ich dumm genug war, mein Leben und mich von meinen Eltern, Kindern und Freunden abhängig gemacht zu haben. Und was muss und soll ich noch alles aushalten? Über all dieser Gefühlshitze sehe ich vom Vulkan aus in der Ferne die Stadt der Glücklichen. Dort erkenne ich all das, das ich vermeintlich verloren habe: Meine Eltern sind gestorben, die Kinder leben ihr eigenes Leben und von meinen Freunde waren einige noch nie wahre Freunde - Menschen also, die ihr ganz normales Leben weiterführen. Ferienstimmung. Glück. Alles, was auch mein Leben bisher schön und reich und festlich gestaltet hatte, ist vorbei - wirklich alles vorbei! Bin ich eifersüchtig, selbstherrlich oder gar egoistisch?

In meinem Inneren explodiert ein Mensch, den ich nicht zu kennen vermochte. Mir ist im Moment der Eintritt in diese Stadt der Glücklichen verwehrt. Noch! Denn trotz des Ausgeschlossenseins verspüre ich in meiner Wut nach einer gewissen Zeit, dass langsam und vorsichtig, hin und wieder auch nur in Spuren, eine neue Lebenskraft in mir heranwächst, die offensichtlich selbst in den schlimmsten Momenten nie völlig aus mir entwichen ist.

Noch aber, wenn ich mich richtig kenne, ist das bunte Leben noch weit von mir entfernt. Denn am Tränensee muss ich schleunigst noch vorbei.

Völlig unmotiviert brechen sie hervor: die Tränen. Beim Einkäufen im Supermarkt, wo ich oft nicht nur zu den Geburtstagen das Spielzeug für meine Enkelkinder gesehen und gekauft habe, auf der Autobahn, wenn ich an meiner früheren Arbeitsstelle vorbeifahre, oder im Schlafzimmer, wenn ich an die Wand sehe, wo all die Bilder meiner Lieben hängen von wundervollen lebendigen früheren Tagen. Oft beginnen diese Tränen aber auch ohne konkreten Anlass zu fließen, aber dafür mit einem unbestimmten Gefühl, das den endgültigen Verlust wie einen schneidenden Stich ins Herz bewusst werden lässt.