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Die Autorin

Renate Daniel, Dr. med., Studium der Medizin an der Universität Heidelberg, anschließend Weiterbildung zur Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie am Epilepsiezentrum Kehl-Kork sowie am Zentrum für Psychiatrie Emmendingen. Zeitgleich Weiterbildung in Psychoanalyse am C. G. Jung-Institut Zürich.

Derzeit ist sie in eigener Praxis in Zürich niedergelassen und als Programmdirektorin am C. G. Jung-Institut Zürich verantwortlich für die Erstellung des Semesterprogramms sowie für zahlreiche weitere Belange in der operativen Leitung des Instituts.

Seit vielen Jahren ist sie Dozentin, Lehranalytikerin und Supervisorin am C. G. Jung-Institut Zürich und in der Lehre tätig bei den Jung-Gesellschaften Basel, Köln und Stuttgart sowie den Lindauer Psychotherapiewochen.

Renate Daniel

Das Selbst

Grundlagen und Implikationen eines zentralen Konzepts der Analytischen Psychologie

Verlag W. Kohlhammer

Für Trudel und Cyriak

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030167-2

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-030168-9

epub:   ISBN 978-3-17-030169-6

mobi:   ISBN 978-3-17-030170-2

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Geleitwort

 

 

Dieser Buchreihe gebe ich sehr gerne ein Geleitwort mit auf den Weg. Dies geschieht heute an einer Station in der psychotherapeutischen Landschaft, von der aus man fast verwundert zurück blickt auf die Zeit, in der sich Angehörige verschiedener »Schulen« vehement darüber stritten, wer erfolgreicher ist, wer die besseren Konzepte hat, wer zum Mainstream gehört, wer nicht, und – wer, gerade weil er nicht dazu gehört, deshalb vielleicht sogar ganz besonders bedeutsam ist. Unterdessen wissen wir aufgrund von Studien zur Psychotherapie, dass die allgemeinen Faktoren, wie zum Beispiel die therapeutische Beziehungsgestaltung, verbunden mit der Erwartung auf Besserung, wie die Ressourcen der Patienten, wie das Umfeld, in dem die einzelnen leben und in dem sie behandelt werden, eine grössere Rolle spielen als die verschiedenen Behandlungstechniken. Zudem – und das zeigen auch Forschungen (PAPs Studie, Praxisstudie Ambulante Psychotherapie Schweiz) – werden heute von den Therapeutinnen und Therapeuten neben den schulspezifischen viele allgemeine Interventionstechniken angewandt, vor allem aber auch viele aus jeweils anderen Schulen als denen, in denen sie primär ausgebildet sind.

Gerade aber, weil wir unterdessen so viel gemeinsam haben und unbefangen auch Interventionstechniken von anderen Schulen übernehmen, wächst auch das Interesse daran, wie es denn um die Konzepte der »jeweils Anderen« wirklich bestellt ist. Als Jungianerin bemerke ich immer wieder, dass Theorien von Jung als »Steinbruch« benutzt werden, dessen Steine dann in einer neuen Bauweise, beziehungsweise in einer neuen »Fassung« erscheinen, ohne dass auf Jung hingewiesen wird. Das geschah mit der Jungschen Traumdeutung, von der viele Aspekte überall dort übernommen werden, wo heute mit Träumen gearbeitet wird. Dass C.G. Jung zwar auch nicht der erste war, der mit Imaginationen intensiv gearbeitet hat, Imagination aber zentral ist in der Jungschen Theorie, wurde gelegentlich »vergessen«; die Schematheorie kann ihre Nähe zur Jungschen Komplextheorie, die 100 Jahre früher entstanden ist, gewiss nicht verbergen.

Vieles mag geschehen, weil die ursprünglichen Konzepte von Jung zu wenig bekannt sind. Deshalb begrüsse ich die Idee von Ralf Vogel, eine Buchreihe bei Kohlhammer herauszugeben, bei der grundsätzliche Konzepte von Jung – in ihrer Entwicklung – beschrieben und ausformuliert werden, wie sie heute sich darstellen, mit Blick auf die Verbindung von Theorie und praktischer Arbeit. Ich bin sicher, dass von der Jungschen Theorie mit der grossen Bedeutung, die Bilder und das Bildhafte in ihr haben, auch auf Kolleginnen und Kollegen anderer Ausrichtungen viel Anregung ausgehen kann.

Verena Kast

Inhalt

 

 

  1. Geleitwort
  2. Einführung
  3. 1 C. G. Jungs Konzept von Ich und Selbst
  4. Ich, Ich-Bewusstsein und Ich-Komplex bei C. G. Jung
  5. Das Selbst bei C. G. Jung
  6. Paradoxie des Selbst
  7. Symbole des Selbst
  8. Das Selbst als Gottvater – das Ich als Gotteskind
  9. Die Entwicklung des Selbst
  10. Die Abstraktion des Gottesbildes
  11. 2 Schicksal und Selbst im Wandel der Zeit
  12. Verantwortungsdiffusion
  13. Schicksalskonzepte unterliegen dem Zeitgeist
  14. Krankheitskonzepte sind zeitgeistabhängig
  15. Der menschliche Anteil am Bösen
  16. Die Bürde der Schuld
  17. Der Teufel in der heutigen Welt
  18. Spinne und Stein als Selbstsymbol
  19. Machsal
  20. 3 Grenzerfahrungen: Geburt und Tod
  21. Die Geburt ist ins Krankenhaus umgezogen – somit ein Fall für die Medizin
  22. Reproduktionsmedizin
  23. Der Tod ist ins Krankenhaus umgezogen – somit ein Fall für die Medizin
  24. Wem gehört der Tod?
  25. Der Tod als narzisstische Kränkung
  26. Leitlinien für die aktive Sterbehilfe?
  27. 4 Das Auge als Selbstsymbol
  28. Gesehenwerden
  29. Sehen als Instrument von Macht und Autonomie
  30. Von der Schwierigkeit zu vertrauen
  31. Vom Wesen der Schönheit
  32. Schönheit liegt im Auge des Betrachters und der jeweiligen (Sub-)Kultur
  33. Schönheit ist nicht mehr gottgegeben, sondern harte Arbeit
  34. Schönheit in der psychotherapeutischen Praxis
  35. Übertragungs- und Gegenübertragungsaspekte der Schönheit
  36. 5 Das dunkle Selbst
  37. Kann Christus ein Selbstsymbol sein?
  38. Kannibalismus
  39. Das Nichts
  40. Das dunkle Selbst in der Therapie
  41. Das Böse verbannen? Vom Trend der Tabuisierung
  42. 6 Ich, Selbst und die Zeit
  43. Wem gehört die Zeit?
  44. Zeitqualität und Zeitbedürfnisse
  45. Beschleunigung
  46. Das ungelebte Leben
  47. Psychische Erkrankungen als Folge der modernen Zeitnutzung
  48. Ewigkeit
  49. Nachwort
  50. Literatur
  51. Verzeichnis der Filme
  52. Sach- und Personenverzeichnis

Einführung

 

 

Obwohl wir tagtäglich den Begriff »Selbst« in den Mund nehmen, beispielsweise in Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein oder Selbstzweifel, ist es nicht ganz einfach zu erklären, was wir damit meinen. Ähnlich geht es uns mit dem Wort »Ich«. Auch die Frage nach dem Unterschied zwischen den beiden Begriffen »Selbst« und »Ich« kann uns in Verlegenheit bringen. Dabei fällt auf, dass wir Selbst und Ich nicht beliebig austauschen können. So sprechen wir weder von Ich-Vertrauen noch von Ich-Heilung, sondern von Selbstvertrauen bzw. Selbstheilung. Und Ich-Bewusstsein und Selbstbewusstsein meinen nicht dasselbe. Es gibt einen Unterschied zwischen Ich und Selbst, und mit ihm beschäftigt sich dieses Buch.

Dieser Unterschied ist für die Psychologie interessant und relevant. Psychologische Schulen definieren die Termini »Ich« und »Selbst« in teilweise ähnlicher, aber auch unterschiedlicher Art und Weise, weshalb es leicht zu Missverständnissen kommt, wenn die jeweiligen Definitionen nicht geklärt sind. Persönlich wählen wir häufig das uns plausibelste psychologische Konzept; manchmal mischen wir Konzepte, nicht immer bewusst, und gelegentlich kommt es zum Streit über die Deutungshoheit.

In diesem Buch geht es nicht darum, das überzeugendste Selbstkonzept zu finden, sondern C. G. Jungs Kernideen über Ich bzw. Selbst vorzustellen und auf ihre Relevanz für die heutige Lebenswirklichkeit zu untersuchen.

Wer sich mit Jungs Konzept des Selbst beschäftigt, lässt sich ein auf sein Menschenbild und seine Vorstellungen über Gott, Göttliches und Glaubensfragen. Jung findet es gerechtfertigt, sich mit diesen Themen psychologisch auseinanderzusetzen, weil sich die Menschen seit jeher damit beschäftigt haben und dazugehörige Antworten erheblichen Einfluss auf unsere Lebens- und Beziehungsgestaltung haben. Auch ethische Haltungen, Ideologien, gesellschaftliche und politische Prozesse sowie therapeutische Modelle werden davon beeinflusst.

Jungs Ideen und Thesen zu Ich und Selbst sind gelegentlich schwer nachzuvollziehen oder widersprüchlich. Einige Ungereimtheiten erklären sich durch seinen jahrzehntelangen »Work in progress«, bei dem er Dank neuer Erkenntnisse und Erfahrungen seine Theorie umgebaut und angepasst hat. Allerdings sind Paradoxie, Unschärfe sowie Uneindeutigkeit wesentliche Elemente seines Selbstkonzeptes, weil dazugehörige Aussagen zumindest teilweise unsere Vorstellungskraft sprengen und jenseits rationaler Logik beheimatet sind. Irritationen entstehen auch deshalb, weil religiöse Fragen das berühren, was dem Menschen das Verehrungswürdigste und »Heiligste« ist. Und in der Regel reagieren Menschen in allen Epochen und Kulturen sehr heftig, wenn das jeweils »Heilige« infrage gestellt wird. Kaum jemand kann gelassen reagieren, wenn andere das ihm Wertvollste nicht respektieren. Deshalb ist es fast nicht vermeidbar, bei der Lektüre zumindest gelegentlich verwirrt, befremdet oder gar verärgert zu sein.

Es erscheint mir hilfreich, sich zunächst einmal so weit wie möglich vorurteilsfrei auf die beschriebenen Ideen einzulassen. Dabei geht es mir nicht darum, den Leser von Jungs Konzepten zu überzeugen, sondern beizutragen, diesbezüglich eigene Vorstellungen und Überzeugungen bewusster wahrzunehmen sowie deren Einfluss auf das eigene Selbstbild und Weltbild.

Unter den verschiedenen Möglichkeiten, sich dem Thema »Ich und Selbst« zu nähern, bevorzuge ich das Narrativ, wozu der Philosoph Odo Marquard meinte:

»Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten. Geschichten aber muß man erzählen. Das tun die Geisteswissenschaften: sie kompensieren Modernisierungsschäden, indem sie erzählen; und je mehr versachlicht wird, desto mehr – kompensatorisch – muß erzählt werden: sonst sterben die Menschen an narrativer Atrophie.« (Marquard, 1986, S. 105)

Bedeutende Narrative wie Mythen, Märchen, Religion und Literatur berühren Sinnfragen, indem sie die grundlegenden Fragen unseres Daseins aufgreifen. Als symbolische Texte sind sie jedoch nicht vollständig erfassbar, sondern entziehen sich zumindest teilweise dem Verständnis. Auch deshalb bleibt dazu Gesagtes und Erfahrenes vorläufig und kann wissenschaftlich meistens nicht bewiesen werden. Dem Leser wird deshalb große Offenheit abverlangt sowohl für das Thema als auch die Art der Annäherung.

1          C. G. Jungs Konzept von Ich und Selbst

 

 

Ich, Ich-Bewusstsein und Ich-Komplex bei C. G. Jung

Werfen wir einen Blick darauf, wie C. G. Jung das Ich zu definieren und umschreiben versucht:

»Trotz der unabsehbaren Reichweite seiner Grundlagen ist das Ich nie mehr und nie weniger als das Bewußtsein überhaupt. Als Bewußtseinsfaktor könnte das Ich, theoretisch wenigstens, vollständig beschrieben werden. Dies würde aber nie mehr als ein Bild der bewußten Persönlichkeit liefern, in welchem alle dem Subjekt unbekannten respektive unbewußten Züge fehlen. Das Gesamtbild der Persönlichkeit müßte diese aber einschließen.« (Jung, GW Bd. 9/2, § 7)

Gemäß Jung sind Ich und Bewusstsein als Fähigkeit zu Wissen, Erkennen und Verstehen identisch. Damit sind einige zentrale Aspekte des Bewusstseins benannt, aber was genau Bewusstsein ausmacht und wie es funktioniert, ist bis heute nicht geklärt. Der Neurobiologe Antonio Damasio (Damasio, 2001, S. 23) bezweifelt sogar grundsätzlich, dass die Kognitionswissenschaften das Phänomen »Bewusstsein« je begreifen und erklären können. Trotz dieser Verständnisschwierigkeit kommen wir nicht umhin, mit dem Begriff »Bewusstsein« zu arbeiten.

Während Bewusstsein unsere allgemeine Fähigkeit darstellt, Wissen über die Welt und Kompetenzen zu erwerben, ermöglicht das Ich-Bewusstsein die Erkenntnis um und über uns selbst. Dieses Eigenbewusstsein ist bei der Geburt noch nicht vorhanden, sondern entwickelt und differenziert sich schrittweise. Etwa im Alter von zwei Jahren erfolgt die Geburt des Ich-Bewusstseins, wenn ein Kleinkind von sich nicht mehr in der dritten Person spricht, also nicht länger sagt: »Sarah möchte einen Keks«, sondern erklärt: »Ich möchte einen Keks.«.

Den auftauchenden Charakter des Ich-Bewusstseins erleben Erwachsene gelegentlich beim Aufwachen. Für einen winzigen Moment ist uns nicht klar, wo wir sind oder welcher Tag gerade ist. Erst das erwachte, bewusste Ich besitzt die Fähigkeit, sich zu orientieren und zwar räumlich, zeitlich und zur eigenen Person. Sehr selten geschieht es bei einem Gesunden, dass man für wenige Momente morgens nicht einmal weiß, wer erwacht. Marc Wittmann (Wittmann, 2015, S. 7) hat das einmal erlebt. In kürzester Zeit seien jedoch seine Erinnerungen zurückgekehrt und damit auch die Gewissheit über sein Ich, die Gewissheit »sich selbst zu sein und zu existieren«. Unsere Erinnerungsfähigkeit ist somit eine Voraussetzung für die Ich-Bewusstheit, und tatsächlich können wir uns an Erlebnisse aus der gesamten Vor-Ich-Zeit unserer frühen Kindheit nicht bewusst erinnern. Bewusste Erinnerungen werden erst möglich, sobald das Ich existiert. Gleichzeitig bilden Erinnerungen das Fundament des Ich, denn ohne autobiografisches Gedächtnis wissen wir nicht, wer wir sind, wie unser Ich beschaffen und in der Welt eingebettet ist. Das Ich ist sich seiner selbst bewusst, sobald wir Geschichten von uns kennen, uns also ein Narrativ unseres Ich zugänglich ist.

Doch die Sache ist nicht ganz so einfach. Damasio (Damasio, 2001, S. 104 ff) beschreibt verschiedene Stufen des Ich-Bewusstseins. Unser erweitertes Ich-Bewusstsein benötigt laut Damasio eine große Palette kognitiver Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit, Konzentration, Nachdenken, usw. Insbesondere Lernen und Erinnern befähigen das erweiterte Ich-Bewusstsein zu komplexen Interaktionen mit sich und der Welt. Vor jeder Kognition und Erinnerung zur eigenen Person und damit auch unabhängig von Lernerfahrungen existiert nach Damasio ein sogenanntes Kernbewusstsein (core self), nämlich ein Präsenzgefühl, als Empfindung ein Ich bzw. sich selbst zu sein.

Solange dieses Kernbewusstsein intakt ist – so Damasio – haben Menschen Emotionen. Emotionen und das primäre Kernbewusstsein sind demnach untrennbar miteinander verknüpft, weshalb der Titel seines Buches lautet: Ich fühle, also bin ich. Diese These passt zu Jungs Konzept vom Ich als einem Komplex:

»Unter ›Ich« verstehe ich einen Komplex von Vorstellungen, der mir das Zentrum meines Bewußtseinsfeldes ausmacht und mir von hoher Kontinuität und Identität mit sich selber zu sein scheint. Ich spreche daher auch vom Ich-Komplex. […] bewußt ist mir ein psychisches Element, insofern es auf den Ich-Komplex bezogen ist. […] der Ich-Komplex ist bloß ein Komplex unter anderen Komplexen.« (Jung, GW Bd. 6, § 730)

Die lateinische Sprachwurzel des Wortes Komplex: »umfassen, sich umschlingen und vollständig machen« deutet an, dass jeder Komplex ein relativ abgeschlossenes Ganzes bildet und aus mehreren, ineinander verwobenen Komponenten besteht. Zum Komplex gehören alle im Gedächtnis gespeicherten Beziehungserfahrungen und Vorstellungen zum Thema des Komplexes. Beim Ich-Komplex wären das Erlebnisse, Bilder, Gedanken, Überzeugungen bzw. Wahrnehmungen zum eigenen Ich. Mit diesen Inhalten untrennbar verknüpft sind Gefühle, bzw. eine ganze Gefühlspalette. Und diese Gefühle zeigen, dass unser Ich-Komplex kein rein geistiges, sondern ein körperlich verankertes Bewusstseinsphänomen ist, denn Gefühle sind immer psychosomatisch, immer auch Körpererfahrung. Bilder wie »Schmetterlinge im Bauch« oder »Kloß im Hals« erinnern uns an diesen Zusammenhang. Deshalb muss das von Damasio beschriebene Kernbewusstsein des Ich im Körper wurzeln, worauf bereits der englische Originaltitel seines Buches The Feeling of What Happens, Body and Emotion in the Making of Consciousness verweist. Ohne Körper, da ist Damasio mit Jung einig, gibt es also weder Bewusstsein noch Ich-Bewusstsein. Und diesen Körperbezug beschreibt Jung so:

»Der Ich-Komplex ist beim normalen Menschen die oberste psychische Instanz: wir verstehen darunter die Vorstellungsmasse des Ichs, welche wir uns von dem mächtigen und immer lebendigen Gefühlston des eigenen Körpers begleitet denken.« (Jung, GW Bd. 3, § 82)

Der Ich-Komplex ist somit ein psychosomatisches Phänomen, bei dem Emotionen eine wesentliche Rolle spielen. Diese Emotionen sind nicht immer bewusst, sei es, weil sie verdrängt sind oder als unbewusste oder halbbewusste Hintergrundaktivität mitlaufen. Deshalb ist der Ich-Komplex mehr als unser Ich-Bewusstsein und m. E. nie vollständig bewusst. Das Ich-Bewusstsein als Zentrum des Ich-Komplexes kann aber die Aufmerksamkeit auf diese Emotionen, auf Vergessenes oder Verdrängtes lenken und sie weitgehend bewusstmachen.

Ich-Bewusstsein befähigt Menschen, das eigene Spiegelbild zu erkennen. Diese Fähigkeit ist nicht trivial, sondern ein evolutionärer Vorsprung, denn abgesehen von Schimpansen und Delfinen können Tiere ihr Spiegelbild nicht sich selbst zuordnen und reagieren mit Desinteresse, Flucht oder Angriff (vgl. Roth, 2001, S. 330). Was passiert psychologisch, wenn wir uns im Spiegel betrachten? Was lehrt uns diese Fähigkeit über das Wesen des Ich-Bewusstseins? Vor dem Spiegel spalten wir uns auf in Beobachter und Beobachtbarem, sind somit gleichzeitig Subjekt und Objekt, was Thomas Bernhard in seiner Erzählung »Gehen« verdeutlicht:

»Wenn wir uns selbst beobachten, beobachten wir ja immer niemals uns selbst, sondern immer einen anderen. Wir können also niemals von Selbstbeobachtung sprechen, oder wir sprechen davon, dass wir uns selbst beobachten als der, der wir sind, wenn wir uns selbst beobachten, der wir aber niemals sind, wenn wir uns nicht selbst beobachten, und also beobachten wir, wenn wir uns selbst beobachten, niemals den, welchen wir zu beobachten beabsichtigt haben, sondern einen Anderen.« (Bernhard, 2013, S. 87)

Ich-Bewusstheit ist somit ein Akt der Trennung, weshalb Ich-Bewusstsein und Ich-Sein bzw. Sich-selbst-Sein nicht dasselbe sind. In der japanischen Sprache ist das offensichtlich, denn »erkennen« heißt gleichzeitig »geteilt sein«. Den Unterschied, um den es geht, kann man vergleichen mit dem Unterschied zwischen Zeuge-Sein und Betroffen-Sein. Ich-Bewusstsein bedeutet somit auch, dass wir unsere Bewusstseinsfähigkeit erkennen und darüber nachdenken können – was ohne Sprache nicht möglich wäre. Sprache und Begriffe sind Voraussetzung der Bewusstwerdung.

Vor dem Spiegel erkennen wir uns, weil zwischen uns und dem Spiegel eine Distanz liegt. Ich-Bewusstheit braucht Distanz und befähigt zur Distanz. Doch wir müssen uns nicht nur konkret vor den Spiegel stellen, um etwas über uns zu erfahren, sondern können uns auch psychologisch betrachten. Wenn wir beispielsweise wütend sind, können wir uns fragen, was gerade mit uns los ist und aus einer gewissen Distanz heraus einen wütenden Persönlichkeitsanteil von uns bewusst beobachten. Dieses Distanzieren hat den Vorteil, dass wir nicht ständig oder vollständig dem Affekt ausgeliefert sind. Wenn das Ich-Bewusstsein die Wut erkennt, muss ein Zerstörungsimpuls nicht zwangsläufig die Oberhand gewinnen und als eine Art Naturkatastrophe das Ich überwältigen.

Das bewusste Ich hat zumindest gelegentlich die beschriebene Wahlmöglichkeit, was es angesichts einer unbändigen Wut tun will. Erst das Ich-Bewusstsein ermöglicht eine solche Abwägung. Ich-Bewusstsein ist die Voraussetzung für eine solche subjektiv empfundene Freiheit:

»[…] trotz aller kausalen Gebundenheit besitzt der Mensch ein Freiheitsgefühl, das mit der Autonomie des Bewußtseins identisch ist. […] Die Existenz des Ichbewußtseins hat nur Sinn, wenn sie frei und autonom ist.« (Jung, GW Bd. 11, § 391)

und

»Das Ich […] hat in der Reichweite des Bewußtseinsfeldes – wie man sagt – Willensfreiheit.« (Jung, GW Bd. 9/2, § 9)

Der sogenannte freie Wille zeigt sich aus neurobiologischer Sicht (Solms & Turnbull, 2004, S. 292) vor allem durch die Fähigkeit, etwas unterlassen zu können. Der freie Wille, dessen physische Korrelate sich nach heutiger Kenntnis in den Präfrontallappen befinden, befähigt uns, Instinkte oder Affekte zu hemmen. Hier beweist das Ich Frustrationstoleranz, Bezogenheit und Disziplin. Dieser freie Wille des Ich ist die Grundlage bzw. Voraussetzung der menschlichen Kultur, denn er ermöglicht eine zunehmende Befreiung von Naturzwängen. Während wilde Tiere bis heute den Naturgesetzen ohne Wenn und Aber ausgeliefert sind, hat sich das Ich durch den freien Willen zunehmend mehr innere und äußere Spielräume erobert.

Das Selbst bei C. G. Jung

Psychologisch gesehen besteht der Mensch laut Jung aus dem Bewusstsein und dem Unbewussten. Für die Summe der beiden Teile benutzt Jung den Begriff des Selbst:

»Ich habe daher vorgeschlagen, die vorhandene, jedoch nicht völlig erfaßbare Gesamtpersönlichkeit als das Selbst zu bezeichnen.« (Jung, GW Bd. 9/2, § 9)

und

»Wenn wir nun vom Menschen sprechen, so meinen wir dessen unbegrenzbares Ganzes, eine unformulierbare Totalität, die nur symbolisch ausgedrückt werden kann. Ich habe den Ausdruck ›Selbst‹ gewählt, um die Totalität des Menschen, die Summe seiner bewußten und unbewußten Gegebenheiten, zu bezeichnen.« (Jung, GW Bd. 11, § 140)

Jung behauptet, dass wir weder genau wissen noch in Worte fassen können, wie oder wer wir eigentlich sind. Mit unserer Erkenntnisfähigkeit, also unserem Ich-Bewusstsein stoßen wir diesbezüglich an substanzielle Grenzen, weil das Unbewusste nie vollständig bewusst werden kann. Da immer etwas verborgen bleibt, ist es unheimlich schwer, Genaues über das Selbst – so wie Jung den Begriff benutzt – auszusagen. Das Selbst als Gesamtpersönlichkeit übersteigt gewissermaßen unseren Horizont, wir können es prinzipiell nur annäherungsweise verstehen. Im Zusammenhang mit dieser Uneindeutigkeit und Unklarheit spricht der Literaturprofessor Peter von Matt vom »menschlichen Urrätsel« (von Matt, 2003, S. 58): Wir wissen, dass wir sind, aber nicht genau, was und wer wir sind. Dieses Geheimnis kann seines Erachtens der Verstand nicht lösen. Es braucht dazu die Dichtung, und er verweist auf Angelus Silesius, den Theologen, Arzt und Mystiker im 17. Jahrhundert, der zwar vom Ich spricht, damit aber wohl eher das Selbst im Sinne von C. G. Jung beschreibt:

»Ich weiß nicht, was ich bin / Ich bin nicht was ich weiß:

Ein Ding und nit ein Ding: Ein Stüpfchin und ein Kreis.« (zit. nach von Matt, 2003, S. 58)

Das Stüpfchin ist der Kreismittelpunkt, in den der Zirkel gestochen wird. Als Punkt ist das Stüpfchin mathematisch ein Nichts, ein Ort ohne Ausdehnung. Gleichzeitig ist dieses winzige Löchlein als Geburtsort und Zentrum des Kreises von zentraler Bedeutung. In diesem Gedicht schwingt die Spannung zwischen dem Erleben von Nichtigkeit (Stüpfchin) und Wichtigkeit (Kreismittelpunkt) mit. Vielen ist eine solche Spannung aus ihrem Selbstwerterleben vertraut, das zwischen dem Gefühl von absoluter Wertlosigkeit (der Mensch als kleines Rädchen) und Selbsterhöhung bzw. Selbstüberschätzung (nichts ist unmöglich) schwanken kann. Immanuel Kant definiert diese Gegensatzspannung in seiner Kritik der praktischen Vernunft folgendermaßen:

»Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. […] Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit. […] Der zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart.« (Kant, 1986, S. 160)

Die Fähigkeit zu Moral und Ethik ist für Kant der zentrale Wert, an dem sich Bedeutung und Wert des Menschlichen messen lassen, was an die zuvor erwähnte neurobiologische Definition des freien Willens erinnert.

Paradoxie des Selbst

Jung beschreibt zwei Aspekte des Selbst: einerseits als Gesamtpersönlichkeit und andererseits als Zentrum unserer Gesamtpersönlichkeit. Rational schwer verständlich kann das Selbst demnach gleichzeitig auf zwei fundamental unterschiedliche Arten erlebt werden: als eine das Ich umfassende Ganzheit oder als unbewusster Persönlichkeitsmittelpunkt, der als innere Zentrale mit einem schwächeren Ich-Bewusstsein bzw. dem Ich-Komplex in Beziehung steht:

»[…] wenn wir das Ich auffassen als untergeordnet oder enthalten in einem übergeordneten Selbst als dem Zentrum der ganzen, unbegrenzten und undefinierbaren psychischen Persönlichkeit.« (Jung, GW Bd. 11, § 67)

Gleichzeitig sind Ich und Selbst miteinander verwoben, ohne dass die Beziehungsqualität ganz eindeutig fassbar ist:

»Wie man das Selbst immer definieren mag, so ist es etwas anderes als das Ich, […] ein Umfänglicheres, welches die Erfahrung des Ich in sich schließt und es daher überragt. Gleich wie das Ich eine gewisse Erfahrung meiner selbst ist, so ist das Selbst eine Erfahrung meines Ich, welche aber nicht mehr in Form eines erweiterten oder höheren Ich, sondern in Form eines Nicht-Ich erlebt wird.« (Jung, GW Bd. 11, § 885)

Dieses Phänomen kennt die Autorin Janne Teller vom Schreiben. Ihre Worte fließen aus einer Quelle, die mit dem Ich nicht identisch ist, ohne dass klar ist, wer in wem enthalten ist:

»[…] wenn ich schreibe. Dann hängt Alles zusammen, dann weiß ich Alles, denn dann bin ich nicht ich, sondern ein Teil von diesem Alles, und Alles ist es, das die Wörter findet. […] Alles ist kein Zustand, in dem man sich frei bewegen kann. […] Man kann auch nicht sagen, dass man Alles weiß, denn schließlich sind die Dinge gleichzeitig so, wie sie keinesfalls sind. Es ist bloß so, als wäre Alles ein Teil von einem selbst, oder vielleicht auch umgekehrt, sodass man selbst Teil von Allem ist und daher dessen Wissen anzapfen kann. […] Man kann nicht vom Alles reden, ohne dass Alles verschwindet. […] Alles kann auch nicht in den Fingern sein, aber durch sie hindurchströmen.« (Teller, 2013, S. 128 ff)

und

» Alles ist so etwas wie ein endloser See der universellen Menschheit. […] Alles ist der See, den ich anzapfe, wenn ich schreibe.« (Teller, 2013, S. 141 f)

Janne Tellers »Alles« reicht weit über das persönliche Ich und persönliche Unbewusste hinaus. Es gehört der ganzen Menschheit, weshalb alle daran teilhaben. Die Analytische Psychologie spricht hier vom kollektiven Unbewussten – eine Schicht im Unbewussten an der die gesamte Menschheit Anteil hat – mit dem Selbst als Zentrum. Demnach wäre das Selbst nicht ausschließlich individueller, sondern auch transpersonaler, kollektiver Natur, was in der Terminologie von Angelus Silesius heißt:

»Gott ist mein Mittelpunkt, wenn ich ihn in mich schließe: / mein Umkreis dann, wenn ich aus Lieb in ihn zerfließe.« (zit. nach Jung, GW Bd. 14/1, § 128, Fußnote 70)

Diese Formulierung von Silesius, aber auch die Aussage des biblischen Paulus: »Er ist in euch und ihr in ihm« kann ich nur deshalb heranziehen, weil Jung bei weiteren Aussagen zum Selbst einen Quantensprung macht, indem er das Selbst mit unserem innerseelischen Gottesbild gleichsetzt, was für manche eine Provokation sein mag:

»Die Psychologie ist, wie gesagt, nicht in der Lage, metaphysische Behauptungen aufzustellen. Sie kann nur konstatieren, daß die Symbolik der psychischen Ganzheit mit der des Gottesbildes koinzidiert, aber niemals beweisen, daß ein Gottesbild Gott selber ist, oder daß das Selbst Gott ersetzt.« (Jung, GW Bd. 9/2, § 308)

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