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Ein Mann mit Eiern

Was war eigentlich zuerst da? Der Ärger oder das Ei?

»Die Alarmierung klingt schon merkwürdig, oder?«, fragte ich, während Hein unseren Rettungswagen unaufgeregt durch das frühabendliche Sauwetter steuerte. »›Passant hat einen Mann auf dem P4 am Stadion befreit – schaut euch das mal an.‹ Was soll man damit anfangen? Woraus befreit? Oder wovon? Oder handelt es sich um ein Alkoholproblem, und Herr C. aus E. bei K. hat den Notruf einfach nicht geregelt gekriegt?«

Hein winkte ab. »Du machst dir immer zu viele Gedanken«, sagte er. »Wissen ist zwar Macht, aber nix wissen macht auch nix. Hör auf nachzudenken – der Bürger als solcher beweist dir doch jeden Tag, dass deine Vorstellungskraft mit dem Wahnsinn seines Handelns nicht konkurrieren kann. Wahrscheinlich hat gerade zum ersten Mal ein Mensch ein Ei gelegt, und wir sollen es jetzt ausbrüten – was weiß ich. Zieh dir Gummihandschuhe an, in nicht mal einer Minute sind wir da.« Hein hatte wie immer recht.

Bisher war es ein ausgesprochen ruhiger, ja fast langweiliger Sonntag gewesen – und zwar der erste nach dem ersten Frühlingsvollmond, der im Jahre 325 nach Christus auf dem Konzil von Nicäa als Osterdatum festgelegt worden war. Dramatisches hatte sich deshalb jedoch noch lange nicht ereignet, und das Spektakulärste am heutigen Tag war noch die schmerzhaft rausgeflogene Kniescheibe einer gestürzten Teilnehmerin der Osterprozession gewesen, die Hein flugs wieder einrenkte, um dies sofort als eine gewisse Form der Wiederauferstehung für sich in Anspruch zu nehmen.

Berufliche Unterforderung mündet bei mir bisweilen im genauen Gegenteil, und als wir nun mit unserem Rettungswagen auf den in der Alarmierung genannten Parkplatz P4 einbogen, war ich in gewisser Weise erregt. Es herrschte eine surreale, ja sogar ein wenig unheimliche Stimmung. Wie sich das diffuse schwach gelbe Licht der Parkplatzbeleuchtung mit dem Nieselregen und unserem Blaulicht mischte, wäre Alfred Hitchcock, Edgar Wallace und sogar Carolin Reiber würdig gewesen.

»Ich glaube, da vorn tut sich was«, sagte Hein und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger aus dem Seitenfenster. Aus fahlen Silhouetten wurden langsam deutliche Umrisse, und gleich darauf erkannten wir zwei männliche Personen, die sich stetig auf uns zu bewegten. Der eine schob ein Fahrrad, und der andere ging so breitbeinig, wie es seine Anatomie zuließ.

»So, dann wollen wir mal«, murmelte ich, während Hein und ich die Fahrzeugtüren öffneten. Wir stiegen aus, und als wir zeitgleich die Türen zuwarfen, ergänzte Hein flüsternd: »Da bin ich mir noch nicht so sicher.«

Ich trat den beiden Männern entgegen. »Guten Abend, Rettungsdienst. Haben Sie uns gerufen?«

»Und ob!«, antwortete der Kerl, der das Fahrrad schob. Er war jung, gute einsachtzig groß, schlank, sportlich und verdammt gut aussehend. Aufkleber eines Wohnheims auf dem Fahrrad und das gesamte Erscheinungsbild ließen mich den Mann als Sportstudenten einordnen. Seine Stimme klang aufgeregt. »Hier hat ein Verbrechen stattgefunden. Ich hab den Herrn hier befreit! Ist die Polizei auch schon da?«

Mit der freien Hand stützte er einen deutlich älteren Herrn um die sechzig (grau meliertes Haar, übergewichtig), der einen fahrigen, unsicheren Eindruck machte. Die ganze Ausstrahlung des Mannes schrie: »So etwas kann mir nicht passiert sein!« In seinem klein karierten Hemd und seiner viel zu weiten Stoffhose wirkte er gleichzeitig wütend und beschämt. Darüber hinaus hatte man ihn mit irgendetwas von oben bis unten beschmiert, und seine Körperhaltung signalisierte, dass er auch physisch gelitten hatte.

»Von einem Verbrechen war bisher keine Rede«, ergriff Hein das Wort. »Was die Polizei angeht, können wir aber mal nachhaken. Trotzdem wüssten auch wir ganz gern, was sich hier überhaupt zugetragen hat.«

Der Mittsechziger, dessen Gangbild deutliche Ähnlichkeiten mit John Wayne aufwies, erwiderte: »Man hat mich brutal überfallen, beraubt und dann gefesselt hier zurückgelassen!«

»Es tut uns zunächst mal sehr leid, dass Ihnen dergleichen widerfahren ist«, sagte Hein für seine Verhältnisse sehr einfühlsam. »Aber beschreiben Sie uns bitte dennoch möglichst genau, was passiert ist. Und Ihren Namen benötigen wir ebenfalls.«

»Mein Name ist Lampe – wie das Licht. Aber Sie glauben es mir sowieso nicht.« John Wayne seufzte tief und mitleiderregend, bevor er fortfuhr: »Eigentlich wollte ich nur pinkeln.«

»Das ist kein Verbrechen, höchstens eine Ordnungswidrigkeit«, unterbrach ich spontan und so unpassend wie überflüssig, aber manchmal ist die Zunge halt schneller als das Gehirn. Was soll man da machen?

»Entschuldigen Sie meinen Kollegen.« Hein warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, bevor er das mutmaßliche Opfer ermunterte. »Fahren Sie bitte einfach fort, Herr Lampe.«

»Wie schon gesagt, ich musste dringend pinkeln. Bis zu Hause sind es noch zig Kilometer, das hätte ich niemals geschafft. Nur deshalb habe ich hier auf dem Parkplatz angehalten. Ungefähr fünf Meter vor mir stand noch ein anderes Auto geparkt, ohne Beleuchtung, aber mit laufendem Motor. Ich habe mir nichts dabei gedacht, sondern trat an die Böschung, um mein Geschäft zu verrichten. Und dann ging auch schon das Geschrei los. Eine Frau rief völlig hysterisch: ›Hau ab, du Arsch! Weg mit dir! Was suchst du hier? Wir wollen hier in Ruhe vögeln!‹ Aus Reflex habe ich mich, noch immer pinkelnd, umgedreht. Dann kam auch schon ein riesiger Kerl auf mich zu, der mir ohne Vorwarnung mit voller Wucht zwischen die Beine trat, und dann gingen erst mal die Lichter aus. Ab da … kompletter Filmriss.« Herr Lampe sah uns mit leidender Miene an.

»Kommen Sie erst mal mit in den Rettungswagen«, schlug ich vor. »Da regnet es wenigstens nicht, und während wir Sie medizinisch grob durchchecken, können Sie uns alles Weitere zumindest in etwas angenehmerer Atmosphäre schildern. Was meinen Sie?«

Herr Lampe nickte dankbar. Gesagt, getan. Während der helfende Passant auf dem Beifahrersitz des RTW Platz nahm und wir parallel zu ersten Untersuchungen das Eintreffen der Polizei abwarteten, lauschten Hein und ich den weiteren Schilderungen des Opfers.

»Also, das Nächste, an das ich mich wieder erinnern kann, ist, dass ich nicht in der Lage war, mich richtig zu bewegen. Dann wurde mir langsam klar, dass man mich an einen Laternenpfahl angebunden hatte, die Hände mit Nylonstrümpfen hinter dem Rücken gefesselt, sodass ich mich nicht selbst befreien konnte. Das muss man sich mal vorstellen. Welche Mühe die sich mit mir gemacht haben – und das nur, weil die sich gestört fühlten. Mein Auto ist übrigens auch weg, verschwunden, geklaut, nagelneuer Audi, gerade zweitausend Kilometer drauf. Ich hab doch nichts Böses gewollt!« Herr Lampe erzählte mit so gequälter Stimme, dass ich kurz den Impuls spürte, ihn einmal fest zu drücken. Ich ließ es bleiben, und auch ohne diesen Akt der menschlichen Zuwendung schloss unser Patient seinen Bericht mit Erleichterung: »Gott sei Dank ist dann irgendwann der junge Mann hier aufgetaucht und hat mich befreit.«

Hein setzte zu einer Nachfrage an, vermutlich um herauszufinden, womit man Herrn Lampe beschmiert hatte, als ein Streifenwagen mit Schwung und Blaulicht auf den Parkplatz schleuderte.

»Das ist gut, die Polizei trifft gerade ein, dann brauchen Sie nicht alles zweimal zu erzählen«, stellte mein Kollege nüchtern fest, als der uns gut bekannte Polizeihauptkommissar Schnelle gesten- und wortreich auf uns zueilte.

»Aha, wieder mal Hein und Jörg – die Miss Marple und der Herr Stringer des hiesigen Rettungsdienstes«, begrüßte er uns in seiner unnachahmlichen Art. »Warum seid ihr eigentlich immer vor uns am Tatort? Das macht euch irgendwie verdächtig. Wahrscheinlich habt ihr schon Ermittlungsarbeit geleistet, eine Fahndung eingeleitet, den Täter gefasst und den Typen im Wald an einen Baum gebunden. Stimmt das so in etwa?«

»Nicht ganz«, erwiderte ich und gab PHK Schnelle eine kurze Zusammenfassung unserer bisherigen Erkenntnisse. »Das Opfer, der Herr Lampe. Beim Urinieren überfallen, beraubt, an eine Laterne gefesselt und mit irgendwas beschmiert, vital so weit stabil. Zeuge auf dem Beifahrersitz, Täter vermutlich mit dem Fahrzeug des Opfers flüchtig. Lage alles in allem noch unklar.«

Der Polizist hörte aufmerksam zu, überlegte kurz und ließ uns dann an seinen Gedanken teilhaben. »Ich denke, es ergibt Sinn, wenn wir uns aufteilen. Mein Kollege bleibt hier bei Ihnen, Herr Lampe, und nimmt Ihre Aussage auf. Ich schaue mir gemeinsam mit Ihrem Befreier den eigentlichen Tatort an und höre mir die Schilderung des unabhängigen Zeugen an.« PHK Schnelle hielt kurz inne und musterte Herrn Lampe eingehend. »Mein Gott, Sie sehen ja schlimm aus – mit was hat man Sie da beschmiert? Ach, lassen Sie’s gut sein. Details klären wir später.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich an den vermeintlichen Sportstudenten auf dem Beifahrersitz und forderte ihn per Handzeichen auf, ihm zu folgen. Mit ein wenig Widerwillen im Gesicht, denn der Nieselregen war inzwischen in einen ordentlichen Landregen übergegangen, stieg der junge Mann aus und schloss zum Polizisten auf, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.

»Ich komme ebenfalls mit!«, entschied Hein ungefragt, von natürlicher Neugier getrieben. Ein gleichgültiges »Soll mir egal sein!« von PHK Schnelle verhallte im Regen, als mein Kollege den Kragen seiner Jacke hochzog und hinterhereilte.

»Dann komme ich jetzt mal zu Ihnen ins Trockene«, erklärte der zweite Polizist und stieg in den Patientenraum des Rettungswagens.

»Wahrscheinlich soll ich alles noch mal erzählen, oder?«, fragte Herr Lampe geringfügig genervt, ergab sich aber in sein Schicksal, während der Polizist zustimmend nickte. Der Ärmste schilderte also erneut sein Leid, fügte hinzu, dass neben seinem Auto auch noch Mobiltelefon und Portemonnaie gestohlen seien, und endete dieses Mal mit: »Übrigens fühlen sich meine Glocken zunehmend beschissen an.«

Während der Polizist etwas von Fahndungserfolgen nach Raubüberfällen faselte und nach Personenbeschreibungen fragte, reichte ich Herrn Lampe eine Art Eisbeutel, in Fachkreisen auch »Coolpack« genannt, mit dem er sein Gemächt samt Anhang kühlen konnte.

»Eine Beschreibung der Täter kriege ich nicht hin«, quetschte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Außer dass der Typ, der mir zwischen die Beine getreten hat, riesengroß war, kann ich gar nichts sagen. Ahhhh, ist das kalt – aber tut das gut, puhhh!« Herr Lampe schloss die Augen und atmete ein paarmal tief ein und aus, bevor er fortfuhr: »Ich kann nicht mal sagen, ob die zu zweit, zu dritt oder zu viert waren. Ich weiß nur: Nach dem Tritt gingen die Lampen aus. Klingt zwar lustig bei meinem Nachnamen, ist es aber nicht. Auch als ich gefesselt an diesem Mast gestanden habe, konnte ich nichts erkennen – die haben mir mit irgendetwas die Augen verbunden. Am besten, Sie fragen mal den jungen Mann, der mich befreit hat.«

»Sie wissen schon, dass der Parkplatz häufig von Prostituierten zur Verrichtung ihrer Dienstleistung genutzt wird?«, erkundigte sich der Polizist abschließend, woraufhin Herr Lampe Augenkontakt vermied und eine Antwort schuldig blieb.

Währenddessen …

»Dann kamen Sie also aus dieser Richtung und wollten über den Parkplatz weiter zu den Sportanlagen, als Ihnen eine offensichtlich hilflose Person auffiel, die an diesen Mast gebunden war?«, hinterfragte PHK Schnelle die bisherigen Aussagen des Zeugen und deutete auf den stählernen Fuß der Lichtquelle.

»Ja, genau. Eigentlich habe ich gedacht, ich wäre in das Filmset eines Krimis geraten und würde gleich angeschnauzt. Dann habe ich langsam begriffen, dass der ganze Scheiß hier echt ist. Ich muss zugeben, dass ich mich erst ein Dutzend Mal umgedreht habe, bis ich sicher war, dass hier nicht noch ein paar Irre rumlaufen.« Der Zeuge zuckte mit den Schultern. »Na ja, schließlich habe ich dem Herrn einen Damenslip vom Kopf gezogen – der müsste irgendwo noch herumliegen.«

Hein bückte sich sogleich und hielt das Beweisstück in die Höhe. »Jawohl, lag hier. Ein schwarzer Damenslip, auf dessen spärlichem Stoffanteil die Worte ›Fuck the World‹ eingestickt sind.«

PHK Schnelle ignorierte Hein und sein Fundstück und forderte stattdessen: »Und weiter?«

»Na ja, ich hab den Kerl dann mit meinem Taschenmesser von seinen Fesseln befreit. Das waren so Nylondinger, mit denen die Handgelenke einzeln verschnürt und auf dem Rücken hinter dem Mast zusammengeknotet waren. Erinnerte ein wenig an einen Marterpfahl, Indianer und so, Sie verstehen? Der Mann – Herr Lampe – hat sich immerzu bei mir bedankt und abwechselnd geflucht, was für Wahnsinnige ihm das angetan hätten. Mich haben die ganzen zerbrochenen Eierschalen gewundert, die hier überall rumliegen. Irgendwas ist da doch komisch, oder?« Der Sportstudent warf PHK Schnelle einen fragenden Blick zu.

»Der Gedanke kam mir auch schon«, erwiderte der Polizist, während er den Tatort weiter in Augenschein nahm. Er begutachtete die Reste der durch den Zeugen beschriebenen Nylonfesseln, die wohl aus rötlichen halterlosen Strümpfen bestanden hatten, und untersuchte akribisch die zahllosen Eierschalen, die ringsherum verstreut lagen.

»Zwei, vier, zehn, sechzehn, zwanzig, vierzig … ach du Scheiße«, überschlug er grob die Anzahl der zerbrochenen Hühnerfrüchte, und allmählich dämmerte Hein, dass zwischen den Eierschalen und dem besudelten Herrn Lampe ein Zusammenhang bestehen könnte.

»Die haben den armen Kerl überfallen, beklaut, der Freiheit beraubt und dann auch noch mit rohen Eiern beschmissen! Was für ekelhafte Schweine!«, gab Hein konsterniert von sich.

»Ja, so ungefähr dürfte es gewesen sein«, antwortete PHK Schnelle, führte dann jedoch weiter aus: »Erstens ist hier ein Treffpunkt der Straßenprostitution. Zweitens haben nach meiner Erfahrung Zuhälter und Nutten selbst in der Osterzeit keine vierzig bis sechzig Eier dabei, und drittens habe ich das Gefühl, dass übertriebenes Mitleid mit dem vermeintlichen Opfer fehl am Platz sein könnte. Am besten, wir sprechen noch mal mit dem Herrn.«

Wenige Minuten später traf sich die gesamte Combo am Rettungswagen. Der Regen hatte inzwischen nachgelassen, und so hielt sich mein Mitleid in Grenzen, dass PHK Schnelle, der vermeintliche Sportstudent und Hein aus Platzgründen draußen bleiben mussten, während unser Opfer, der namenlose Polizist und ich es uns im Inneren des Patientenraums gemütlich gemacht hatten. Es folgte der Austausch der jeweils gewonnenen Erkenntnisse.

»Es ist alles noch viel schlimmer, als wir dachten!«, entfuhr es mir. »Hier geht es um Körperverletzung, Diebstahl und Freiheitsberaubung in besonders schwerem Fall. Außerdem hat man Herrn Lampe auch noch die Augen verbunden, er ist also nicht mal in der Lage, eine Personenbeschreibung zu liefern.«

Ein genervtes »Genau!« des Polizisten unterbrach meine empörten Ausführungen. Gerade wollte er zu weiteren Schilderungen ansetzen, als Hein das Wort ergriff.

»Na ja, Augen verbinden ist relativ. Eigentlich hatte man Ihnen …« Mein Kollege schaute nun Herrn Lampe direkt in die Augen. »Eigentlich hatte man Ihnen einen vermutlich benutzten schwarzen Damenschlüpfer über den Kopf gezogen.«

Herr Lampe antwortete nicht, sondern übergab sich unter heftigem Würgen mit einem lauten »Brröööhhh« spontan in den Rettungswagen.

Mit den Worten »Das war’s! Jetzt könnt ihr euren Scheiß hier aber echt allein machen!« verließ der Polizist den Rettungswagen. PHK Schnelle schaute seinem Kollegen mitleidig hinterher, als ich versuchte, Hein mit Blicken zu töten. Der zuckte nur entschuldigend mit den Schultern, während unser Opfer sich langsam wieder fing und in ein sich wiederholendes »Warum? Warum?« verfiel.

»Warum? Das ist eine sehr gute Frage!«, schaltete sich nun PHK Schnelle investigativ in die Wahrheitsfindung ein. »Das ist alles ganz fürchterlich, was hier passiert ist – aber wozu hatten Sie eigentlich unzählige Eier bei sich? Oder sind beziehungsweise waren die nicht von Ihnen?«

»Was soll die Frage? Es ist Ostern!«, wäre eine kluge Antwort gewesen. Die skurrile Replik des gepeinigten Herrn Lampe war jedoch folgende: »Doch, die Eier sind von mir. Ich war zum Grillen eingeladen. Das ist doch kein Verbrechen, oder?«

»Zum Grillen?«, fragte PHK Schnelle, bevor er süffisant fortfuhr: »Vielleicht hat Sie ja der Osterhase überfallen. Ich weiß noch nicht genau, was hier passiert ist. Aber ich finde es heraus! Wir rufen jetzt ein paar Kollegen, die den Tatort sichern. Mit Ihnen«, er deutete unheilvoll auf Herrn Lampe, der sich erschrocken duckte, »fahren wir zur Untersuchung und anschließenden Spurensicherung ins Krankenhaus. Ostern hin oder her – auf irgendwelche faulen Eier habe ich keinen Bock mehr!«

Hein schloss die Schiebetür des Rettungswagens und ließ mich mit Herrn Lampe und dessen Bescherung allein. Draußen wandte er sich verdutzt an PHK Schnelle. »Jetzt waren Sie aber plötzlich sehr streng! Der arme Kerl kann doch wahrscheinlich gar nichts dafür, der wollte doch nur …«

»Der wollte doch nur was? Spielen?«, unterbrach der Kommissar. »Hein! Jetzt mal nicht so naiv. Der Parkplatz gehört nach Anbruch der Dunkelheit inoffiziell zum Straßenstrich. Der Kerl hat vermutlich ’nen Fetisch und steht darauf, wenn Nutten ihn gefesselt mit rohen Eiern bewerfen. Bloß ist er leider an die falschen Mädels geraten und übel abgezogen worden. Von allem anderen muss ich erst mal überzeugt werden. Beim Pinkeln überfallen!« Schnelle schnaubte abfällig. »Mit sechzig Eiern im Gepäck bei acht Grad Außentemperatur zum Grillen eingeladen! An Ostern! Das berühmte Ostereiergrillen – der erzählt uns eine Räuberpistole vom Allerfeinsten!« Schnelle wandte sich ab und ließ Hein stehen.

Der Sportstudent, der in der Zwischenzeit ein wenig zur Randfigur geworden war, sprach nun seinerseits Hein an: »Entschuldigung, ich bin ein wenig unsicher, und ich weiß auch nicht so recht, wie ich es formulieren soll. Ich habe so was schließlich noch nie erlebt – aber darf man über das Ganze hier lachen?«

Hein dachte einen Moment nach und antwortete dann: »Hmm, nicht alles, was komisch ist, ist auch lustig – aber in diesem Fall würde ich sagen: Ja.«

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Jörg Nießen wurde 1975 im Rheinland geboren und kam über seinen Zivildienst vor über zwanzig Jahren zum Rettungsdienst. Heute ist er als Berufsfeuerwehrmann und Notfallsanitäter in einer nordrhein-westfälischen Großstadt tätig und hat neben mehreren Büchern über seinen Alltag im Rettungswagen auch ein Kinder- und Jugendbuch verfasst. Mit seinem Debüt »Schauen Sie sich mal diese Sauerei an« und dem Nachfolger »Die Sauerei geht weiter ...« stand er monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Inhalt

Vorwort

Aller guten Dinge sind drei

Nicht jedes Kompliment ist angebracht

Rettungsgasse ist kein Straßenname

Der Weg ist manchmal doch nicht das Ziel

Ein Mann mit Eiern

Was war eigentlich zuerst da? Der Ärger oder das Ei?

Alter schützt vor Torheit nicht

Frau Braun will’s nicht gewesen sein

Die Natur hat ihre Tücken

Eine unerwartete Begegnung endet schmerzhaft

Nichts sehen – nichts hören – nichts sagen

Wenn das System versagt

Mit 66 Jahren …

… da fängt das Leben an

Tierisches

»… ich habe ihm nur die Augen zugehalten.«

Wer heilt, hat recht

Alternative Heilmethoden vs. Schulmedizin

Die lästige Verwandtschaft

Wahre Liebe gibt es nur unter Brüdern

Unfälle passieren nicht

– sie werden verursacht

Man(n) braucht auch mal Urlaub

Hein und ich auf großer Fahrt

Eine Feuerwache ist kein Kindergarten

– manchmal eben doch

Die Tücken der Technik

Warum man an modernen Errungenschaften zweifeln darf

Advent

Saisongeschäft für Feuerwehr und Rettungsdienst

Herr Reinsch, ein OP-Hemd und ein Koffer

Befriedigung und Enttäuschung liegen oft nah beieinander

Privatsphäre

Ist Zimmer 7 noch frei?

Danksagung

Vorwort

»Am Ende wird alles gut. Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es auch noch nicht zu Ende.«

Dieser wunderbare Satz wird wahlweise als indisches Sprichwort, als Zitat von Oscar Wilde, John Lennon oder auch Fernando Sabino gehandelt. Für mich spielt es nur eine untergeordnete Rolle, wer in diesem Fall tatsächlich der Urheber ist. Ich favorisiere die Inder, viel interessanter finde ich jedoch die eigentliche Bedeutung, denn sowohl viele Rettungsdienst- und Feuerwehreinsätze als auch meine schriftstellerische Arbeit spiegeln den Sinn dieses Satzes hervorragend wider.

Wann ist ein Einsatz »gut«? Auf diese Frage werden Notrufer, Leitstellenmitarbeiter, Einsatzkräfte, Patienten und Angehörige wahrscheinlich sehr unterschiedliche Antworten geben. Natürlich habe auch ich mir diese Frage gestellt, und meine Antwort lautet: Solange ich den menschlichen und fachlichen Herausforderungen im Einsatz gerecht werden konnte und nach Schichtende gesund an Körper und Geist nach Hause fahre – so lange ist alles gut!

Was meine Bücher angeht, da darf der Leser entscheiden, ob sie gut sind. Tatsache ist: Ich bin noch nicht am Ende. Erstens habe ich noch ein paar literarisch verwegene Ideen, und zweitens gibt es immer eine Menge Potenzial, eine Sache noch besser zu machen.

Auch nach mehreren Bestsellern und anderen Veröffentlichungen ist es mir erneut nicht gelungen, ein Fachbuch zu schreiben. Unterhaltung und ein schelmischer Blick auf das Blaulichtmilieu stehen wieder im Vordergrund. Darüber hinaus begleitet ein leicht erhobener Zeigefinger das Thema Rettungsgasse. Udo Jürgens ist zwar tot, spielt aber trotzdem eine Rolle. Kollege Hein macht Erfahrungen mit der Brandschutzerziehung, ein Fasan verschuldet beinahe einen Herzinfarkt, und im Advent treten, wie soll es anders sein, die typischen Notfälle auf. Ganz zu schweigen von Herrn Reinsch, der uns auf besondere Weise belastet. Wer so viel arbeitet, der darf auch mal Urlaub machen, und so sind Sie als Leser herzlich eingeladen, Hein und mich auf einen Segeltörn in die Türkei zu begleiten – Meuterei nicht ausgeschlossen.

Die Geschichten in diesem Buch beruhen auf tatsächlichen Begebenheiten, sie haben einen wahren Kern, sollten aber nicht mit dem Gros der Routineeinsätze verwechselt werden. Selbstverständlich wurden auch in diesem Buch Namen, Personen, Orte und Handlungsabläufe verändert, verflochten, übertrieben oder verfremdet. Übereinstimmungen mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Sollten Sie in der Rettungsgasse oder im Einsatz auf Kollegen von mir treffen – bestellen Sie bitte beste Grüße. Bis bald mal in diesem wundervollen Leben …

Ihr Jörg Nießen

PS: Bilden Sie im Stau von Anfang an eine Rettungsgasse und nicht erst, wenn Sie dazu aufgefordert werden. Dann haben Sie im Rahmen einer Vollsperrung Zeit und vielleicht sogar Muße, in diesem Buch zu schmökern.

Aller guten Dinge sind drei

Nicht jedes Kompliment ist angebracht

Treppenhäuser sind für den Rettungsdienst eine hochinteressante Sache. Natürlich gibt es eine Idealvorstellung, wie dieser Bauteil eines Hauses gestaltet sein sollte: breit, sauber, hell – das wären die ersten Adjektive, die mir einfallen würden. Leider sieht die Realität oft anders aus.

In vielen Treppenhäusern herrschen Zustände, die an einen Parcours moderner Hindernisläufe erinnern. Nachdem man im Eingangsbereich über sieben bis acht Fahrräder beziehungsweise Kinderwagen geklettert ist, beginnt ein kraftraubender Aufstieg durch einen engen dunklen Schlund. Vorbei an fragwürdigen Graffitis, immer darauf bedacht, nicht in benutzte Windeln zu treten, gilt es, aus hygienischen Gründen möglichst wenig mit dem Geländer oder den Wänden in Kontakt zu kommen. Falls Sie meine ganz persönliche Meinung zu diesem Thema interessiert: Treppenhäuser als Fluchtweg sind ganz okay, ansonsten bevorzuge ich großzügige vertikale Transportanlagen für Personen oder Güter aller Art, im Volksmund auch gern als Aufzug oder Lift bezeichnet.

Es ist zwar unnötig zu erwähnen, dass das Gebäude mit der Hausnummer 45 in der Mainhofstraße nicht über ein solches Transportmittel verfügte, aber der Vollständigkeit halber sei es hiermit getan. Die Sonne ging gerade auf und mein Lieblingskollege Hein und ich waren auf dem Weg ins vierte Obergeschoss, als uns auf halbem Weg ein Hindernis der besonderen Art begegnete. Begleitet von unverständlichem Brüllen und dem Geräusch einer zuschlagenden Tür polterte uns ein junger Mann entgegen, der es offensichtlich äußerst eilig hatte, das Haus zu verlassen.

Kontrolliertes Fallen – damit wäre sein Bewegungsablauf wohl passend beschrieben. Hein konnte gerade noch ausweichen, der Zusammenstoß mit mir war allerdings nicht mehr zu vermeiden. Ungefähr achtzig Kilogramm Mensch trafen mich unvorbereitet an der linken Schulter und brachten mich aus dem Gleichgewicht. Um nicht selbst zum Patienten zu werden, überließ ich die medizinische Ausrüstung der Schwerkraft und fand letzten Halt am gedrechselten Holzgeländer. Der Fliehende eilte wortlos weiter.

»Ein einfaches ›Entschuldigung‹ hätte gereicht …«, rief ich wütend hinter ihm her, bevor unten die Haustür ins Schloss fiel.

Auf der Treppe hatte sich der Defibrillator in verschiedene Einzelteile zerlegt, und auch die mitgeführte Absaugpumpe hatte ordentlich was abbekommen.

»Ich, ich, ich hab, ich hab mir den Kerl genau gemerkt«, rief Hein erschrocken. »Anfang dreißig, einsachtzig groß, blonde Haare, blaues T-Shirt mit orangefarbener Aufschrift.«

Genervt unterbrach ich ihn: »Hervorragende Arbeit, Watson! Und wer sucht nach dem Typ? Richtig! Niemand. Der will wahrscheinlich nur den nächsten Bus erwischen. Ist ja auch scheißegal! Lass uns das Zeug hier einsammeln, und dann ab in den vierten Stock. Da wartet ein Patient auf uns.«

Wenig später erreichten wir eine Wohnungstür, deren Namensschild mit dem Alarmschreiben übereinstimmte. Erwartungsvoll klingelte Hein bei Herrn oder Frau Dürstel. Ein sonores Brummen schallte durch den Flur, und eine Millisekunde später wurde die Tür nicht nur geöffnet, sondern förmlich aufgerissen.

»Gottlob! Da sind Sie ja! Ich habe Sie gerufen. In der Nachbarwohnung gab es Tumult vom Allerfeinsten, nicht zum ersten Mal – ich weiß! Aber diesmal waren auch weibliche Hilfeschreie zu hören. Ich bin sicher, Sie werden gebraucht!«, ereiferte sich ein schmächtiges Männlein mit hektischer Stimme.

»Jetzt mal ganz in Ruhe. Das heißt, bei Ihnen ist gar nichts passiert, sondern Sie machen sich Sorgen über Vorkommnisse in Ihrer Nachbarwohnung – richtig?«, fragte ich.

»Ja genau!« Der Notrufer nickte. »Da ging es wieder mal hoch her. Geschrei und Geräusche, als würde das ganze Haus abgerissen … nicht zu vergessen die Hilferufe.«

»Mag ja sein, dass wir hier gebraucht werden. Aber haben Sie außer uns auch die Polizei angerufen?«, warf Hein ein. »Ihre Schilderung lässt den Eindruck entstehen, dass unser aller Freund und Helfer hier ebenfalls gebraucht werden könnte.«

Herr Dürstel antwortete nicht sofort. Zunächst strich er sich mit der linken Hand mehrfach durch einen kaum vorhandenen Schnäuzer und überprüfte zeitgleich mit der Rechten, ob der Reißverschluss seiner Hose auch wirklich geschlossen war.

»Der Gründer vom Roten Kreuz, dieser Henry Dunant, der hat auf dem Schlachtfeld doch auch nicht die Polizei gerufen, sondern das Verbandszeug ausgepackt!«, konterte er schließlich und blieb erwartungsvoll im Türrahmen stehen. Dem war nichts hinzuzufügen. Der Gute machte zwar einen merkwürdigen Eindruck, aber was blieb uns übrig?

Hein und ich machten eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad und standen vor einer Tür ohne Namensschild. Hein klingelte, es vergingen circa zehn Sekunden, und Hein klingelte erneut. Diesmal mit Erfolg. In diesem Haus schien es üblich, die Wohnungstüren aufzureißen. Allerdings stand nun kein schmächtiges Männlein, sondern ein geschlechtsreifes, ausgewachsenes Mannsbild im Türrahmen.

»Was kann ich denn gegen euch tun? Hat der Idiot von nebenan wieder um Hilfe gerufen? Verpisst euch! Ihr habt mit Sicherheit Besseres zu tun«, begrüßte uns ein Hüne mit geschätzten hundert Kilo Lebendgewicht, der trotz der frühen Stunde einen betörenden Duft nach Mariacron verströmte.

»Es hieß, eine Frau habe um Hilfe gerufen«, entgegnete Hein, um eine selbstbewusste Ausstrahlung bemüht.

»Das ist jetzt nicht so ungewöhnlich!«, meinte der leicht ungepflegt wirkende Mittvierziger. »Die ruft ständig um Hilfe. ›Schatz, kannst du mal den Kasten Sprudelwasser aus dem Keller holen? Schatz, kannst du heute mal die Wohnung saugen?‹ Und so weiter. Für gewöhnlich ruft meine Alte aber nicht so laut, dass die dämliche Nachbarsfigur davon was mitkriegt. Vielleicht zwischendurch mal nachts, aber das hat dann andere Gründe – haha, knick-knack!« Der Hüne zwinkerte vielsagend mit dem linken Auge.

»Herr Schmitz! Sie sind so was von ekelhaft – gewalttätig, frauenverachtend und oft schon morgens betrunken …«, echauffierte sich Herr Dürstel aus dem Hintergrund.

»Boah, mach den Kopf zu, du Plagegeist!«, unterbrach Herr Schmitz. »Bei dir hat die Schaukel früher auch zu nah an der Hauswand gestanden. Mein Gott, du gibst jetzt Ruhe, sonst bist du heute schon der Zweite, dem ich ’ne Fünf auf die Backe male.«

Obwohl die Stimme des Hünen durchaus ernst zu nehmend klang, traute sich Hein scharfsinnig nachzufragen: »Wer war denn der Erste? Etwa Ihre Frau?«

»Bis gerade konnte ich euch ja ganz gut leiden, aber von mir aus …« Herr Schmitz warf Hein einen langen Blick zu, bevor er fortfuhr: »Mein angeblich bester Kumpel hat sich eben an meine Herzdame rangemacht. Da musste der König dem Buben mal zeigen, wer hier die Asse im Ärmel hat. Und was macht der Typ? Sagt glatt zu meiner Frau, so was wie mich hätte sie gar nicht verdient – da fragt man sich doch, wer hier beleidigt wird?! Ich mag es gar nicht, wenn ich nachdenken muss. Also hab ich mal kurz kurzen Prozess gemacht.«

»Und Ihrer Frau geht’s wirklich gut?« Die Seelenruhe, mit der der selbst ernannte König den Grund für den Tumult erklärte, machte mich nervös.

»Ahhh …« Ein genervtes Stöhnen verließ Herrn Schmitz, und ich rechnete damit, mindestens verbal verprügelt zu werden. Stattdessen zitierte der Hüne seine Angebetete herbei. »Peggy! Schwing deinen hübschen Hintern sofort nach hier! Hier sind ein paar Clowns vom Lotto, die wollen sich vom ordnungsgemäßen Zustand des Ziehungsgerätes überzeugen.«

Es vergingen einige Augenblicke, bis sich herausstellte, dass Herr Schmitz bezüglich des Hinterteils von Frau Schmitz keinesfalls übertrieben hatte und dass auch sonst anatomisch alles in bester Ordnung war.

Herr Dürstel bekam beim Anblick der Dame einen extrem verklärten bis glasigen Blick, und ich musste mich zurückhalten, um ihm keine Packung Papiertaschentücher anzubieten.

»Äh, hier sieht ja alles ganz hervorragend aus«, bemerkte Hein, ebenfalls von Frau Schmitz’ optischem Eindruck geblendet, bevor Herr Schmitz ihn warnend unterbrach.

»Ganz vorsichtig jetzt, Herr Rettungssanitäter! Ganz dünnes Eis!«

»Ich meine die Gesamtsituation.« Hein lächelte versöhnlich. »Wir wollen hier noch mal Gnade vor Recht ergehen lassen. Im Prinzip ist ja auch gar nichts passiert. Betrachten wir das Ganze einfach mal als vorausschauende Alarmierung. Herr Dürstel, Sie beruhigen sich, und wenn es schlimmer wird, rufen Sie einfach noch mal an.« Mit diesen Worten entließ Hein uns unprätentiös aus der Einsatzstelle.