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Der Autor

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Hans-Joachim Hannich ist Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie an der Universitätsmedizin Greifswald. Nach dem Studium der Psychologie an der Universität Münster von 1977 bis 1980 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Medizinische Psychologie der Universität Münster, parallel dazu Promotionsstudium in Medizin mit Abschluss 1982 zum Dr. rerum medicinalium. Von 1980 bis 1987 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universitätsklinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Münster tätig mit den Hauptarbeitsbereichen: Psychosomatik in der Intensivmedizin, Schmerztherapie, Psychopathologie im Krankenhaus. 1986 Habilitation und 1987 Ernennung zum Professor für Klinische Psychologie und Psychosomatik an der Universität Münster, von 1990–1992 geschäftsführender Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie der Universität Münster. 1994 erfolgte die Berufung als Gründungsprofessor für Medizinische Psychologie an die Universitätsmedizin Greifswald. Tätigkeit in zahlreichen nationalen und internationalen Gremien, Gastprofessor für Medizinische Psychologie an der Medizinischen Universität Graz (Österreich). Forschungsschwerpunkte u. a.: Arzt-Patienten-Beziehung, ärztliche Gesprächsführung, psychotherapeutische Versorgungsforschung, Psychotraumatologie.

    In den Jahren 1984–1992 erfolgte seine Ausbildung zum individualpsychologischen Psychoanalytiker am Alfred-Adler-Institut Nord, Delmenhorst. Seit 2000 ist er Lehranalytiker der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT), seit 2004 1. Vorsitzender des Instituts für Psychotherapie und Psychoanalyse Mecklenburg-Vorpommern (IPPMV).

Hans-Joachim Hannich

Individualpsychologie nach Alfred Adler

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031226-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-031227-2

epub:    ISBN 978-3-17-031228-9

mobi:    ISBN 978-3-17-031229-6

Geleitwort zur Reihe

 

 

Die Psychotherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt: In den anerkannten Psychotherapieverfahren wurde das Spektrum an Behandlungsansätzen und -methoden extrem erweitert. Diese Methoden sind weitgehend auch empirisch abgesichert und evidenzbasiert. Dazu gibt es erkennbare Tendenzen der Integration von psychotherapeutischen Ansätzen, die sich manchmal ohnehin nicht immer eindeutig einem spezifischen Verfahren zuordnen lassen.

Konsequenz dieser Veränderungen ist, dass es kaum noch möglich ist, die Theorie eines psychotherapeutischen Verfahrens und deren Umsetzung in einem exklusiven Lehrbuch darzustellen. Vielmehr wird es auch den Bedürfnissen von Praktikern und Personen in Aus- und Weiterbildung entsprechen, sich spezifisch und komprimiert Informationen über bestimmte Ansätze und Fragestellungen in der Psychotherapie zu beschaffen. Diesen Bedürfnissen soll die Buchreihe »Psychotherapie kompakt« entgegenkommen.

Die von uns herausgegebene neue Buchreihe verfolgt den Anspruch, einen systematisch angelegten und gleichermaßen klinisch wie empirisch ausgerichteten Überblick über die manchmal kaum noch überschaubare Vielzahl aktueller psychotherapeutischer Techniken und Methoden zu geben. Die Reihe orientiert sich an den wissenschaftlich fundierten Verfahren, also der Psychodynamischen Psychotherapie, der Verhaltenstherapie, der Humanistischen und der Systemischen Therapie, wobei auch Methoden dargestellt werden, die weniger durch ihre empirische, sondern durch ihre klinische Evidenz Verbreitung gefunden haben. Die einzelnen Bände werden, soweit möglich, einer vorgegeben inneren Struktur folgen, die als zentrale Merkmale die Geschichte und Entwicklung des Ansatzes, die Verbindung zu anderen Methoden, die empirische und klinische Evidenz, die Kernelemente von Diagnostik und Therapie sowie Fallbeispiele umfasst. Darüber hinaus möchten wir uns mit verfahrensübergreifenden Querschnittsthemen befassen, die u. a. Fragestellungen der Diagnostik, der verschiedenen Rahmenbedingungen, Settings, der Psychotherapieforschung und der Supervision enthalten.

Harald J. Freyberger (Stralsund/Greifswald)

Rita Rosner (Eichstätt-Ingolstadt)

Günter H. Seidler (Dossenheim/Heidelberg)

Rolf-Dieter Stieglitz (Basel)

Bernhard Strauß (Jena)

Inhalt

 

 

  1. Der Autor
  2. Geleitwort zur Reihe
  3. Vorwort
  4. 1 Ursprung und Entwicklung der Individualpsychologie
  5. 1.1 Die individualpsychologische Theoriebildung in der Nähe und Distanz zur Psychoanalyse Freuds
  6. 1.1.1 Zu den Anfängen – der Sozialmediziner Alfred Adler
  7. 1.1.2 Die Begegnung mit Freud – von der Entdeckung der Gemeinsamkeiten bis zur Trennung
  8. 1.1.3 Die Entwicklung der Individualpsychologie als eigenständige Theorie
  9. 1.2 Die Blütezeit der Individualpsychologie als Psychologie der Reformbewegung
  10. 1.3 Zwischen Niedergang und Fortbestand – Die Individualpsychologie in den 1930er Jahren
  11. 1.4 Der Neuaufbau der Individualpsychologie nach dem Krieg
  12. 2 Verwandtschaft mit anderen Verfahren
  13. 2.1 Psychoanalyse
  14. 2.2 Psychoanalytische Ich-Psychologie
  15. 2.3 Neo-Psychoanalyse
  16. 2.4 Logotherapie
  17. 2.5 Transaktionale Analyse
  18. 2.6 Nicht-tiefenpsychologische Verfahren
  19. 3 Wissenschaftliche und therapietheoretische Grundlagen des individualpsychologischen Verfahrens
  20. 3.1 Das Minderwertigkeitsfühl und seine Kompensation
  21. 3.2 Das Konzept der Finalität
  22. 3.3 Das Gemeinschaftsgefühl
  23. 3.4 Der Lebensstil
  24. 3.4.1 Das Familienklima als lebensstilbildendes Element
  25. 3.4.2 Die Geschwisterkonstellation als lebensstilbildendes Moment
  26. 3.5 Aggressionstrieb, Triebverschränkung und -verwandlungen
  27. 3.6 Die Bedeutung des Unbewussten
  28. 3.7 Die Neurosentheorie der Individualpsychologie
  29. 3.8 Die Ätiologie der Neurose
  30. 4 Kernelemente der Diagnostik
  31. 4.1 Die Beziehungsherstellung und Klärung des Behandlungsvorgehens
  32. 4.2 Die Anamneseerhebung
  33. 4.3 Die Lebensstilanalyse
  34. 5 Kernelemente der Therapie
  35. 5.1 Die Beziehungsgestaltung und ihre Auswirkungen auf den therapeutischen Prozess
  36. 5.2 Der Umgang mit Übertragung-Gegenübertragung und der Modus des »In-der-Schwebe-Haltens«
  37. 5.3 Die Bearbeitung von Träumen
  38. 5.4 Der Umgang mit dem Veränderungswiderstand
  39. 5.5 Die Beendigung der Therapie
  40. 5.6 Das Sechs-Punkte-Vorgehen der Individualpsychologie
  41. 6 Klinisches Fallbeispiel
  42. 6.1 Beziehungsherstellung und Diagnostik
  43. 6.1.1 Konsultationsgrund
  44. 6.1.2 Spontanangaben der Patientin
  45. 6.1.3 Erster Eindruck
  46. 6.1.4 Therapiemotivation
  47. 6.2 Anamnestische Daten
  48. 6.2.1 Werdegang
  49. 6.2.2 Familienkonstellation und Beziehungen der Familienmitglieder
  50. 6.3 Analyse des Lebensstils anhand früher Kindheitserinnerungen
  51. 6.3.1 Der Lebensstil und seine Auswirkungen auf die Lebensaufgaben
  52. 6.3.2 Der Initialtraum
  53. 6.4 Überlegungen zur Psychodynamik
  54. 6.5 Der Verlauf des therapeutischen Behandlungsprozesses
  55. 6.5.1 Die aktuelle Problematik im Spiegel des Lebensstils
  56. 6.5.2 Die Erfahrung von Gemeinschaft und die Errichtung neuer Ziele
  57. 6.6 Unterstützung und Festigung der Horizonterweiterung/Katamnese
  58. 7 Hauptanwendungsgebiete der Individualpsychologie
  59. 7.1 Die individualpsychologische Beratung als Neurosenprophylaxe
  60. 7.2 Die individualpsychologische Psychotherapie als Verfahren der Neurosenbehandlung
  61. 8 Settings und die therapeutische Beziehung
  62. 8.1 Individualpsychologische Beratung
  63. 8.2 Individualpsychologische Psychotherapie
  64. 9 Wissenschaftliche Evidenz
  65. 10 Klinische Evidenz
  66. 11 Institutionelle Verankerung
  67. 12 Informationen zur Aus-, Fort- und Weiterbildung
  68. Literatur
  69. Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

Freud, Adler, Jung – diese drei Namen werden genannt, wenn es um die Begründer der Tiefenpsychologie geht. Freud als dem Vater der Psychoanalyse kommt dabei die unumstrittene Vorreiter-Rolle zu, während Jung und Adler als seine Schüler und spätere Dissidenten bezeichnet werden. Wissenschaftshistorisch ist die Schüler-Rolle des späteren Schöpfers der komplexen oder analytischen Psychologie Jung unbestritten. Dagegen kann Adler eher als zeitweiliger Weggefährte Freuds beschrieben werden, der sich vor dem Treffen mit ihm bereits mit psychologischen Fragestellungen befasst und nach der Trennung von ihm die Individualpsychologie etabliert hat. Viele ihrer Grundbegriffe wie »Minderwertigkeitskomplex«, »Selbstwertgefühl«, »Kompensation« oder »Machtstreben« gehören heute zum allgemeinen Sprachgebrauch, wenn es um die populärwissenschaftliche Erklärung psychologischer Vorgänge geht.

Als psychotherapeutischer Ansatz stellt die Individualpsychologie Alfred Adlers neben der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jungs die dritte Säule der Tiefenpsychologie dar. Sie ist als anerkanntes Verfahren für die psychotherapeutisch-psychoanalytische Behandlung von Patienten mit seelischen Störungen zugelassen. Sie verfügt über eine theoriespezifische Krankheitslehre zum Entstehen psychischer Erkrankungen und über eigene Methoden zu ihrer Prävention und Therapie. Sowohl im englisch- als auch deutschsprachigen Raum verfügt sie über Organisationsstrukturen, in denen über Forschung und Lehre individualpsychologisches Denken und Handeln weiterentwickelt bzw. vermittelt wird.

1          Ursprung und Entwicklung der Individualpsychologie

 

 

Der historisch-gesellschaftliche Kontext, in den die Entstehung der Individualpsychologie eingebettet ist, stellt das Wien des Fin de siècle mit dem Übergang zur Moderne (1904–1912) dar. Die österreichische Hauptstadt ist zu dieser Zeit das geistige Zentrum Europas. In ihm treffen verschiedenartigste Einflüsse aus Kunst, Literatur, Medizin, Naturwissenschaft und Technik aufeinander und werden zum wichtigen Impulsgeber für die rasante Entwicklung des geistig-kulturellen Lebens im beginnenden 20. Jahrhundert. In der Psychologie revolutionieren die Erkenntnisse Sigmund Freuds das Vorstellungsbild vom Menschen. Seine Betonung der Sexualität als Triebfeder für Erleben und Verhalten bricht festgefügte gesellschaftliche Tabuzonen auf und beeinflusst nachhaltig den Diskurs in Wissenschaft und Kunst.

In diese Zeit des intellektuellen Aufbruchs fallen auch die ersten Ansätze der Individualpsychologie durch Alfred Adler. Sie entstehen aus der Nähe zu Freud und entwickeln sich später in deutlicher Abgrenzung zu ihm. Für Bruder-Bezzel (1999) stellt die Zeit der Zusammenarbeit mit Freud und die darauffolgende Trennung die erste Entwicklungsphase der Adlerianischen Theoriebildung dar (image Kap. 1.1). Die zweite ergibt sich als Antwort auf die kulturellen und politischen Umwälzungen im Zuge des Ersten Weltkriegs. In der sozialdemokratisch geprägten Reformbewegung mit ihrem Ursprung im »Roten Wien« der 1920er Jahre wirkt Adler prägend. Seine Vorstellungen für eine verändertes Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen fließen wesentlich in die Reformideen und -projekte der politischen Entscheidungsträger ein und erfahren ihre Bewährung in der Praxis (image Kap. 1.2). Zu Beginn der 1930er Jahre erfolgt dann als dritte Entwicklungsphase eine zunehmende Ideologisierung der Theorie. Sie ist auf der einen Seite assoziiert mit dem Niedergang der Reformbewegungen im »Roten Wien«, auf der anderen Seite bildet sie einen Reflex auf das Erstarken des Faschismus in Europa und vor allem in Deutschland. Diese Entwicklung in der Individualpsychologie wird maßgeblich von Schülern Adlers initiiert, die sich als Teil der politischen Linke gegen das aufkommende Hitler-Regime zur Wehr setzen. Adler selbst steht ihren Bestrebungen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Von seiner Seite verfolgt er den Aufbau der Individualpsychologie in den USA. Gleichzeitig setzt er sich mit großem Engagement für den Erhalt des Friedens in Europa und der Welt ein (image Kap. 1.3).

1.1       Die individualpsychologische Theoriebildung in der Nähe und Distanz zur Psychoanalyse Freuds

1.1.1     Zu den Anfängen – der Sozialmediziner Alfred Adler

Der 1870 in Wien geborene Alfred Adler ist Zeuge des gesellschaftlichen Wandels und der sozialen Umbrüche seiner Zeit. In seine Kindheit und Jugend fällt das glanzvolle Wien des Adels und des reichen Bürgertums, aber auch das der in ihrer Existenz bedrohten breiten Massen. Das grassierende Gründungsfieber verhilft seinen Gewinnern zu vorher nie gekanntem Wohlstand, beschert seinen Verlierern jedoch die Verarmung und ein Leben an den Rändern der Gesellschaft. Tiefe ökonomische Krisen führen zu sozialen Spannungen und befördern das Entstehen einander bekämpfender rechter und linker Massenparteien. Wachsende Nationalismen in den Bevölkerungsgruppen spalten den Vielvölkerstaat und treiben ihn in den 1. Weltkrieg hinein.

Diese Zeit des gesellschaftlichen Wandels und der Gegensätze wirkt sich auch auf Adlers unmittelbaren Lebensbedingungen aus. Sein Vater Leopold, ein aus Ungarn stammender Getreidehändler, verliert aufgrund der rapiden wirtschaftlichen Veränderungen das Vermögen, so dass die Familie Adler mit ihren sieben Kindern – Alfred Adler ist der Zweitgeborene – auf die Unterstützung anderer Zweige der Familie angewiesen ist.1 Diese Tatsache ist für ihn ebenso prägend wie sein angegriffener Gesundheitszustand. Er leidet in der Kindheit an Rachitis und an Stimmritzenkrämpfen mit nächtlichen Erstickungsanfällen. Trotz seiner körperlichen Anfälligkeit lernt der Junge, sich gegenüber den kräftigeren Kameraden zu behaupten und entwickelt gleichzeitig ein Gefühl für Schwächere. Da er in den jungen Jahren immer wieder auf ärztliche Hilfe angewiesen ist, beschließt er, selbst Arzt zu werden. Der Tod seines jüngeren Bruders, den Alfred Adler miterleben muss, stärkt ihn in seinem Entschluss. Der Bruder verstirbt im gleichen Bett, ohne dass der kleine Alfred Hilfe leisten kann.

Zu seinem Berufsziel Arzt sagt Adler selbst: »…ich habe ein Ziel festgesetzt, von dem ich erwarten durfte, dass es meiner kindlichen Not, meiner Furcht vor dem Tode ein Ende machen konnte. Es ist klar, dass ich von dieser Berufswahl mehr erwartet habe, als sie leisten konnte: den Tod, die Todesfurcht überwinden, das hätte ich eigentlich von menschlichen Leistungen nicht erwarten dürfen…« (zit. nach Rattner 1981, S. 13).

Nach der Schulzeit immatrikuliert sich Adler 1888 an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien mit dem Ziel, nach Studienabschluss als praktischer Arzt tätig zu werden. 1895 beendet er das Studium und arbeitet als Augenarzt an der Universitätsaugenklinik.

In seiner Studienzeit befasst sich Adler mit Marxismus, Philosophie, Geistes- und Kulturwissenschaften. Er diskutiert diese Themen in intensiven Gesprächen mit Freunden vorzugsweise bei Treffen in Wiener Kaffeehäusern. Diese Vorliebe zum zwanglosen Gedankenaustausch zu philosophischen und sozialen Fragen behält er auch später bei, als er in Wien und international zu einer prominenten Persönlichkeit geworden ist (Hoffman 1997).

Im Jahre 1897 heiratet Adler die 24-jährige Russin Raissa Timofejewna Epstein. Von ihr ist bekannt, dass sie Kontakt zur russischen Revolutionsbewegung hat und dem Kreis um Trotzki nahesteht. Aus der Ehe gehen vier Kinder hervor.

1898 eröffnet Adler seine ärztliche Allgemeinpraxis in einem Arme-Leute-Viertel unweit des Wiener Praters. Seine Patienten stammen vorwiegend aus der unteren Mittelschicht mit überwiegend jüdischer Herkunft. Dass seine Klientel nicht reich ist, ist für Adler ohne Belang. Er will als Arzt die Welt verändern und keine Reichtümer erwerben. Durch seinen angenehmen Umgang mit den Kranken ist er von Kollegen und Patienten alsbald hochgeschätzt (Hoffman 1997). Im selben Jahr erscheint seine erste medizinische Veröffentlichung als Broschüre in der Reihe »Wegweiser der Gewerbehygiene«. Sie befasst sich unter dem Titel »Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe« (Adler 1898) mit den Arbeits- und Lebensbedingungen von Schneidern und deren Erkrankungen. In ihm stellt Adler den Zusammenhang zwischen ökonomischer Lage und Krankheiten her. Er kritisiert die zeitgenössische Medizin, die das Vorhandensein sozial verursachter Krankheiten ignoriert, und stellt die Notwendigkeit für arbeitsmedizinische Untersuchungen und eine sozialere Gesetzgebung heraus. Die Schrift schließt mit einem fast modernen Forderungskatalog ab. Er umfasst Punkte wie die konsequente Durchsetzung bestehender Arbeitsschutzregelungen, die Forderung nach Unfallversicherung auch für Kleinbetriebe, nach Pflichtversicherungen für Ruhestand und Arbeitslosigkeit und nach einer maximalen Wochenarbeitszeit. Auch setzt er sich für die Trennung zwischen Arbeits-und Wohnbereich bei Schneidern sowie das Verbot der Zahlung von Akkordlöhnen ein und drängt auf die Errichtung angemessener Wohnungen und Speisesäle.

Dieser Veröffentlichung folgen in den Jahren 1902 und 1903 vier weitere sozialmedizinische Beiträge, die sich mit dem Zusammenhang zwischen sozialem Elend und Krankheit befassen. Adler richtet sich an den sozial engagierten Arzt und stellt die Notwendigkeit der Prävention von Krankheiten als die bedeutendste Aufgabe der modernen Medizin dar. Auch greift er den zu dieser Zeit vor allem in den angloamerikanischen Ländern populären Public-Health-Gedanken zur Bekämpfung der grassierenden Infektionskrankheiten auf. Zur Verbesserung der öffentlichen Hygiene schlägt er als wichtigen Schritt die Einrichtung eines Lehrstuhls für Sozialmedizin an der Medizinischen Fakultät vor (Adler 1902a, b). Ferner beteiligt er sich an aktuellen sozialpolitischen Debatten zu den Folgen der immer rapider fortschreitenden Industrialisierung und Urbanisierung (Adler 1903a). Dabei vertritt er Ansichten der Sozialdemokratie sowie die Ideen des Arztes und Sozialreformers Rudolf Virchows zur Sicherung der medizinischen Grundversorgung der Bevölkerung (Adler 1903b).

Seine sozialreformerischen Bestrebungen lassen bereits die Einstellung erahnen, mit der er seine spätere psychologische Theorie und Praxis vertreten wird. In ihnen nimmt die Erziehung einen zentralen Stellenwert ein, um soziale Verbesserungen herbeizuführen. Ebenso wie er 1902 für eine Lehrkanzel für soziale Medizin plädiert, wird er sich fast zwanzig Jahre später für die Einrichtung einer Lehrkanzel für Heilpädagogik (heute: Sonderpädagogik) als zentraler Stelle zur Bekämpfung von Verwahrlosung und Delinquenz bei Kindern und Jugendlichen einsetzen (Adler 1920, 1974).

1.1.2     Die Begegnung mit Freud – von der Entdeckung der Gemeinsamkeiten bis zur Trennung

Im Jahr 1902 erfolgt die erste Begegnung zwischen Adler und Freud. Die Umstände der Begegnung sind nicht genau reproduzierbar. Eine Version lautet, dass der Begründer der Psychoanalyse auf Adler durch einen Artikel aufmerksam wurde. In ihm soll dieser Freuds Werk »Die Traumdeutung« gegen Anfeindungen verteidigt und eine ernsthafte Auseinandersetzung der Ärzteschaft mit Freuds Gedanken verlangt haben. Daraufhin erfolgt per Brief die Einladung Adlers zu den Diskussionsabenden in Freuds Wohnung, die später als Psychologische Mittwochsgesellschaften bekannt werden (Bruder-Bezzel und Lehmkuhl 2011).

Eine andere, von Freud vertretene Version besagt, dass eine Gruppe von Ärzten – darunter Adler – mit der Bitte um psychoanalytischen Unterricht an ihn herangetreten sei (Freud 1924). Er sei dem Wunsch entgegengekommen und habe die Interessenten und damit auch Adler zu den wöchentlich stattfindenden Mittwochsgesellschaften eingeladen.

Es steht fest, dass die Diskussionsabende entscheidend für die psychologische Ausrichtung in den weiteren Arbeiten Adlers sind. Der Einfluss Freuds zeigt sich in Veröffentlichungen, in denen Adler sich – eng an Freuds Gedanken anlehnend – mit Fragen zur Sexualpädagogik und mit psychoanalytischen Beobachtungen zu Fehlleistungen befasst (Adler 1905a, 1977, 1905b). Gleichzeitig ist er bestrebt, an eigenen Gedanken und Erfahrungen festzuhalten. So veröffentlicht er 1904 die Schrift »Der Arzt als Erzieher«, in dem er das Grundthema der eigenen Theorie umreißt. Er beschreibt darin den Zusammenhang zwischen körperlicher und seelischer Schwäche und leitet daraus pädagogische Prinzipien zu ihrer Überwindung ab. Er fordert eine erzieherische Haltung, die statt durch Bestrafung durch Zuwenden, Loben und Ermutigen die eigenen Kräfte stärkt. Auf diese Weise entwickelt er weitgehend unabhängig von Freud die ersten Ansätze eines Behandlungskonzeptes, das später in der individualpsychologischen Theoriebildung weiter ausgeformt wird.

Von Beginn seiner Teilnahme an den Mittwochsgesellschaften offenbart sich somit eine gewisse Distanz Adlers zu den von Freud in die Runde gebrachten theoretischen Vorgaben. Die allmählich sich herauskristallisierenden Widersprüche führen bei Adler bereits 1904 zu der Bereitschaft, die Mittwochs-Gesellschaft zu verlassen. Auf die Ankündigung seines Austritts hin gelingt es Freud, ihn zum Bleiben zu überreden.

Die sich verschärfenden Meinungsunterschiede zwischen Adler und Freud haben ihren Ausgangspunkt in der unterschiedlichen Bewertung der Libido als Quelle der seelischen Dynamik. Adler wendet sich gegen das von Freud vertretene Dogma, dass alle Neurosen nur auf Triebverdrängung und Ödipuskomplex zurückgeführt werden müssen. Er sieht in der sexuellen nur eine, wenn auch sehr wichtige Teilkomponente des menschlichen Lebens.

Das eigenständige Denken findet seinen Ausdruck in dem 1907 veröffentlichten Buch zur »Studie über die Minderwertigkeit von Organen« (Adler 1907, 1977). Hierin stellt Adler das Konzept der Organminderwertigkeit vor. Auch wenn er diesen Ansatz als Beitrag zu psychoanalytischen Theoriebildung auffasst, stimmt er kaum noch mit den Vorstellungen Freuds überein.

Der Widerspruch zwischen beiden wird offenkundig, als Adler 1908 in seinem Vortrag zum »Sadismus in Leben und Neurose« (Adler 1908, 1976) sein Aggressions-Konzept vorstellt. Darin betont er, dass Aggression ein Wechselspiel aus verschiedenartigen instinktiven Trieben darstellt und unabhängig von Sexualität und Libido vorhanden sei. Auch wenn Freud die Existenz aggressiver menschlicher Impulse bestätigt, kann er Adlers Behauptung eines neben dem Sexualtrieb zweiten übergeordneten Triebes nicht gelten lassen, denn: »was Adler den Aggressionstrieb heiße, das sei unsere Libido« (Protokolle, Bd. I, 1908-1909, 1976, S. 382f.).

Offen tritt der Dissens anlässlich Adlers Vortrag »Über die Einheit der Neurosen« (1909, 1977) zutage. Freud widerspricht in jeder Hinsicht seinen Befunden. Er wirft ihm vor, durch die absichtliche Elimination des Sexuellen Bewusstseins- und Ich-Psychologie zu betreiben. Die Auseinandersetzung zwischen beiden verschärft sich anlässlich der Veröffentlichung Adlers zum Thema »Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose« (Adler 1910a, 1914, 1973). In dieser Arbeit setzt er an die Stelle eines angeborenen Aggressionstriebs den emotionalen Zustand der Minderwertigkeit als »eine teils bewusste, teils unverstandene Stellungnahme den Aufgaben des Lebens gegenüber« (vgl. Ansbacher und Ansbacher 1982, S. 58). Mit der Vorstellung des Minderwertigkeitsgefühls als Dreh- und Angelpunkt seelischer Entwicklung stellt er bewusst das Triebkonzept Freuds in Frage (Hoffman 1997). Dennoch sieht sich Adler weiterhin als ein loyaler Repräsentant der psychoanalytischen Schule. Getragen von der Vorstellung, dass die Wissenschaft der Psychoanalyse mehr umfasst als Freuds Vorstellung von der kindlichen Sexualität¸ scheint er davon ausgegangen zu sein, Freud durch die Macht des Faktischen von der Richtigkeit seiner Annahmen überzeugen zu können.

Die Ausführungen Adlers und die damit verbundenen Diskussionen führen zu einer erheblichen Polarisierung innerhalb der Mittwochsgesellschaft. Zwischenzeitlich um etliche Mitglieder gewachsen, teilt sich diese in zwei Lager auf. Der Ton zwischen den Pro-Adler- und den Pro-Freud-Anhängern erfährt anlässlich des 2. Internationalen Psychoanalytischen Kongresses in Nürnberg im Jahre 1910 eine drastische Zuspitzung. Um ein Auseinanderbrechen der psychoanalytischen Vereinigung zu vermeiden, schlägt Freud im Anschluss an den Kongress Adler zur Wahl als Vorsitzenden und späteren Präsidenten der »Wiener psychoanalytischen Vereinigung« vor. Auch soll er die Aufgabe der Schriftleitung des Zentralblattes für Psychoanalyse (zusammen mit Freud und Stekel) übernehmen. Diesem diplomatischen Schachzug stimmen beide Parteien zu. Freud wird in die neu geschaffene Position des »wissenschaftlichen Vorsitzenden« gewählt.

Dennoch bleiben die Widersprüche zwischen den beiden Kontrahenten unvermindert bestehen. Auf Initiative Freuds wird Adler zu zwei Vorträgen eingeladen, »um die Adlerschen Lehren einmal im Zusammenhang und insbesondere in Hinblick auf die Divergenz gegenüber der Freudschen Lehre eingehend zu diskutieren, um, wenn möglich, eine Verschmelzung beider Anschauungen oder mindestens eine Klärung der Differenz zu erzielen« (Protokolle, Bd. III, 1910–1911, 1979, S. 62). Adler nimmt diese Aufforderung als ein Entgegenkommen Freuds wahr, während dieser Adler mit dem Schritt zu einer Entscheidung für oder gegen ihn zwingen will.

Der erste Vortrag trägt den Titel »Die Rolle der Sexualität in der Neurose« (Adler 1914a, 1973), der zweite steht unter der Überschrift: »Verdrängung und männlicher Protest«: ihre Rolle und Bedeutung für die neurotische Dynamik« (Adler 1914b, 1973). In beiden Vorträgen hebt Adler die bahnbrechenden Erkenntnisse Freuds über die Rolle der Sexualität in der Neurose hervor. Dennoch bleibt er bei seiner Auffassung, dass nicht die Lust, sondern die Überwindung eines drückenden Gefühls von Minderwertigkeit das Hauptziel psychischer Aktivitäten darstellt. Sowohl Normale als auch Neurotiker leiden unter Minderwertigkeit, da sie durch biologische, pädagogische, soziale und kulturelle Gründe determiniert sei. In das Streben nach Überwindung des Defiziterlebens ist die Sexualität eingebunden.

Auf die heftige Kritik zu seinen Aussagen legt Adler seine Position als Vorsitzender der psychoanalytischen Vereinigung wegen »Inkompatibilität seiner wissenschaftlichen Stellung und seiner Stellung im Verein« nieder (Protokolle, Bd. III, 1910-1911, 1979, S. 172). Er erklärt mit einigen Gleichgesinnten seinen Austritt aus dem Kreis und wendet sich der Gründung einer eigenständigen Vereinigung zu.

Einen Grund für die unüberbrückbare Kluft zwischen Freud und Adler sieht Sperber (1983) in den unterschiedlichen Persönlichkeiten beider Protagonisten. Freud ist eher introvertiert, Adler eher extravertiert. Von seinem Biografen Rattner (1974) wird er wird als umgänglicher und kontaktfreudiger Mensch beschrieben. »Er liebte humorvolle Gespräche, und ein Teil seiner Theorien wurden im Kaffeehaus-Geplauder mit seinen Schülern entwickelt… Adler gab sich unprätentiös…Er hatte nicht den Ehrgeiz, als Intellektueller zu brillieren. Freud hingegen ist voll intellektualistischer Energie, seine …Theorien überbieten sich an Kompliziertheit und Undurchschaubarkeit… Adler war menschlicher als Freud, Freud war gelehrter als Adler« (Rattner 1974, S. 40).

Zudem werden die unterschiedlichen Geschwisterkonstellationen beider Kontrahenten als Erklärung herangezogen. Als Zweitgeborener hat Adler eine kämpferische Haltung gegenüber seinem älteren Bruder Sigmund eingenommen, so dass er den älteren Freud nicht als Autorität akzeptieren kann. Das Muster Freuds, als Erstgeborener im jüngeren Bruder seinen intimen Freund und gegnerischen Rivalen gleichzeitig zu sehen, lässt die Auseinandersetzung zwischen beiden eskalieren.

Auch unterscheiden sich die Kontrahenten in Bezug auf ihre Einstellungen und Werthaltungen. Adler ist dem sozialdemokratischen Spektrum zuzuordnen und vor seiner Zuwendung zur Psychoanalyse in der Sozial- und Allgemeinmedizin praktisch tätig. Sein Bemühen gilt der Verbesserung der gesundheitlichen Lage der von ihm behandelten Patienten aus der Unter- bzw. Mittelschicht. Wissen-Wollen ist bei ihm dem Helfen-Wollen gleichgestellt (Rattner 1974). Freud hingegen ist viel mehr vom wissenschaftlichen Erkenntnisstreben als vom therapeutischen Ethos geleitet. Zudem stammen seine Patienten vorwiegend aus gesellschaftlichen Kreisen ohne ökonomische Zwänge, die mit ihren sexuellen Problemen um Hilfe suchen.

Eine weitere Vermutung für die Heftigkeit der Reaktionen Freuds auf Adlers abweichende Gedanken ist, dass Freud um die wissenschaftliche Anerkennung seiner Schule kämpfen muss. Aus diesem Grunde darf der Wahrheitsgehalt seiner Erkenntnisse von niemandem aus seinem Kreis ernsthaft in Frage gestellt werden.2

Dazu passt der wissenschaftshistorische Hintergrund, vor dem sich die Freud-Adler-Kontroverse abspielt. Die Naturwissenschaften in der damaligen Zeit schaffen fortgesetzt neue Erkenntnisse, die den Forschern wissenschaftlichen Ruhm, Einfluss und Reichtum einbringen. Freud empfindet sich als Entdecker des Unbewussten und damit gleichsam als Eroberer von Neuland. Diesen Ruhm, den er sich gegen alle Widerstände der akademischen Welt erkämpfen muss, soll er mit keinem teilen müssen (Hoffman 1997).