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Wie
Madame Hortense
eine Million fand und damit verschwand

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Ein Normandie-Krimi von

Ricardo Salvador

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»Man muss sich immer
ein Laster
für seine alten Tage
aufsparen.«

Alexandre Vialatte,
Dernières nouvelles de l’homme

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»Wirkliche Feinde
lassen dich nie
im Stich.«

Stanislas Jerzy Lec

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Danksagung

Kapitel 1

Die blasse, kraftlose Sonne war kaum hinter dem dichten Wolkenschleier zu sehen. Verzweifelt versuchten einige Blätter immer noch, dem tödlichen und unvermeidlichen Fall zu entkommen, aber man merkte, dass sie nicht mehr mit ganzer Kraft dabei waren. Der Herbst war da, und sie hatten verloren. Es war ein grauer Herbst. Und ein trauriger. Aber so ist der Herbst nun mal.

Die Schreie des Eichelhähers, das Knirschen der Schritte und das Rascheln welker Äste hallten lange im fast kahlen Wald nach. Augustin hatte, um Lärm zu vermeiden, einen Schalldämpfer auf den Lauf seiner Waffe montiert. Einen topmodernen Schalldämpfer von Horner and Horner mit integriertem Regler und einer Dämpfung von acht Komma sechs. Das Beste vom Besten. Der Liebling eines jeden empfindlichen Trommelfells, das Nonplusultra für sensible Ohren.

Augustin war einen Meter achtundneunzig groß, hundert Zentimeter breit und wog einhundertdreiunddreißig Kilo, was einem Volumen von null Komma neun zwei Kubikmetern entsprach. Also wirklich außergewöhnliche Werte. Sein IQ hatte ebenfalls einen außergewöhnlichen Wert, allerdings in die entgegengesetzte Richtung.

Seine Stirn, die so niedrig war wie der Morgennebel, und seine ausdruckslosen Augen, die unter dicken Brauen hervorblickten, erinnerten unweigerlich daran, dass die Odyssee der Menschwerdung nicht an einem Tag stattgefunden und es doch einiges an Zeit und Ausdauer bedurft hatte, das Stadium des Homo sapiens zu erreichen. Von den Abzweigungen am Baum der Evolution gar nicht zu reden. Augustins Vorfahren hatten sich sicherlich irgendwann abgezweigt und waren in einer Sackgasse gelandet, aber dieses Problem war von der Wissenschaft noch nicht untersucht worden.

Augustin war nicht die Art Mensch, die ohne guten Grund Fragen stellte, ebenso wenig gehörte er zu denjenigen, die sich selbst Fragen stellten. Und falls das versehentlich doch einmal vorkam, suchte er keine Antwort. Tauchte ein Problem auf, schüttelte er kräftig den Kopf, um alle Gewissensbisse, die unter Umständen auftauchen konnten, zu verscheuchen, und erst danach regelte er die Angelegenheit. Häufig mithilfe seiner Fähigkeiten und seiner Erfahrung im Straßenkampf. Er beherrschte eine ganze Reihe tödlicher Angriffstechniken. Um genau zu sein, gab es kaum eine Angriffstechnik, die nicht tödlich endete, wenn Augustin sie anwandte.

Im Großen und Ganzen war er ein riesengroßer Idiot, eine hohle Nuss mit beeindruckenden Ausmaßen, was Höhe und Breite, aber eben nicht die Tiefe anging.

Als ihm sein Chef verkündet hatte, dass Paulo ein Verräter sei, hatte er nur geantwortet: »Ach so?« Und als schließlich sein Chef auch noch zunächst Frankie, dem anderen Schlägertypen in der Eingreiftruppe, befohlen hatte, ein für alle Mal das Problem »Paulo ist ein Verräter« zu beheben, hatte sich Augustin eingemischt: »Es ist besser, wenn ich mich kümmere.«

»Wenn ich mich DARUM kümmere!«, hatte ihn der Chef berichtigt.

»Worum?«, hatte Augustin geantwortet.

»Nichts«, hatte der Chef gesagt.

Augustin misstraute Frankie. Frankie verfügte über eine sadistische Ader, außerdem mochte er Paulo nicht, er würde also mit Sicherheit dafür sorgen, dass die Sache länger dauerte, und ihn bei kleiner Flamme mit einem Lötkolben rösten.

»Na gut, dann weißt du, was du zu tun hast«, hatte der Chef beschlossen.

Augustin hatte nicht geantwortet, sondern Paulo angesehen, der mit angeschwollener Visage, geknebelt und mit auf den Rücken gefesselten Händen dasaß. Dann hatte er den Kopf geschüttelt, um einiges zu verscheuchen, sehr vieles sogar. Denn schließlich ging es um Paulo – auch wenn er ein Verräter war, so war er doch sein Kumpel, sein Freund, fast schon sein großer Bruder. Als er schließlich mit Kopfschütteln fertig gewesen war und alles verscheucht hatte, hatte Augustin seinem Freund Paulo auf die Schulter geklopft und ihm klargemacht, dass er ihm ohne Sperenzchen folgen solle. Für einen Moment hatten sich ihre Blicke getroffen, aber nichts in ihren Augen hätte einem Außenstehenden verraten, dass sie sich schon seit dreißig Jahren kannten.

Während sie mit dem schwarzen Geländewagen in den Wald fuhren, versuchte Paulo seine Haut zu retten, indem er mit Augustin diskutierte. Aber das war verlorene Liebesmüh.

Lange marschierten sie durch den Wald, bis Augustin einen geeigneten Platz gefunden hatte, an dem man Paulos Leiche nicht so schnell finden würde.

Paulo hatte auf dem Weg hierher nicht geschrien, nicht geweint, nicht geseufzt, und das war auch besser so, denn Augustin vertrug so etwas gar nicht. Er wollte ihn lieber in guter Erinnerung behalten.

Schließlich musste Augustin graben. Das fiel ihm schwer, denn sein Klappspaten eignete sich nicht für seine riesigen Hände. Ein großer Spaten und kleine Hände wären besser gewesen, dachte er, während er seine Finger betrachtete.

Als er sein Werk endlich vollendet hatte, waren seine Kleider voll lehmiger Erde, Blätter klebten ihm im Gesicht, und überall war getrocknetes Blut. Er war verschwitzt und musste jetzt noch den ganzen Weg zum Auto zurücklaufen.

Als er schließlich auch den Rückweg überstanden hatte, erleichtert, dass die Arbeit erledigt war, überkam ihn das Gefühl, ein Detail vergessen zu haben, ein wichtiges Detail.

Frankie wartete im Wagen auf ihn. Er trug eine Schirmmütze im Stil der 50er Jahre. Zwischen seinen Lippen steckte eine dicke Boyards-Zigarette. Frankie war der letzte Gangster in Frankreich, der glaubte, dass man gefährlicher aussah, wenn man eine Schirmmütze trug und eine glimmende Boyards-Zigarette im Mund hatte. Er hatte sich unglaubliche Mühe gemacht, die starken Boyards-Zigaretten ausfindig zu machen, die es seit einigen Jahren nirgendwo mehr zu kaufen gab. Doch Frankie war hartnäckig gewesen. Eigentlich eher dumm, aber auf jeden Fall hartnäckig.

»Ist es erledigt?«

Augustin musterte ihn nur ausdruckslos. Schließlich, nach ein paar Kilometern Fahrt, beschloss er zu antworten.

»Ja, erledigt, für wen hältst du mich denn?« Er presste seine Stirn gegen das Seitenfenster.

Frankie antwortete nicht, dafür war er dann doch nicht dumm und nicht hartnäckig genug.

Der Rest der Fahrt verlief also schweigend.

Als sie die Stadt erreichten, bestand Frankie darauf, Augustin zunächst zu sich nach Hause zu fahren, damit er duschen und sich umziehen konnte, bevor sie dem Chef Bericht erstatteten. Augustin schimpfte zwar, aber als er sein Gesicht voller Schlamm und Blut im Rückspiegel musterte, war er einverstanden.

»Versuche, unauffällig zu sein, falls dir einer deiner Nachbarn über den Weg läuft«, rief Frankie ihm hinterher.

»Ich tue, was ich kann«, antwortete Augustin, bevor er im Treppenhaus seines Mietshauses verschwand.

Er duschte, parfümierte sich, zog sich eine Hose an, die ihm über die Knöchel fiel, und ein Hemd mit Rüschenkragen, setzte sich einen Cowboyhut auf und schlüpfte in seine gelben Schuhe. Er hatte einen außergewöhnlichen Kleidergeschmack, aber bisher hatte sich niemand getraut, ihn darauf aufmerksam zu machen.

Kapitel 2

Hortense rieb sich den schmerzenden Rücken. Es wurde für sie immer schwieriger, ihre Aufgaben gut zu erfüllen, denn die Firma, die sie angestellt hatte, hatte die Arbeitsmenge, die sie in der vorgegebenen Zeit erfüllen sollte, deutlich erhöht. Jetzt sollte sie auch noch in allen Büros in der vierten Etage sauber machen. Den Büros der Geschäftsführung. Mit hübschen Messingschildern an jeder Tür, auf denen der Name und die Funktion desjenigen, der im Büro saß, geschrieben stand. Diese Schilder zu reinigen, war trotz allen Aufwands ihre Lieblingsaufgabe. Sie gab sich unendlich viel Mühe, eines nach dem anderen so lange zu polieren, bis es glänzte.

Als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um auch den oberen Rand erreichen zu können, konnte sie in dem großen Schild, das die Tür des Geschäftsführers schmückte, das Spiegelbild ihres kleinen, feigenähnlichen Gesichts und ihrer grauen Haare sehen. Sie hatte schon immer so ein Puppengesicht gehabt, ein Feigenschnütchen, einen Kopf wie eine kleine, lächelnde Feige. In der Schule hatten sich die Kinder über sie lustig gemacht und sie »die Feige« genannt. Sogar ein Lehrer hatte einmal unbeabsichtigt diesen Namen fallen lassen. Er hatte sich zwar entschuldigt, das Übel war aber schon geschehen, und die ganze Klasse hatte sie von da an nur noch so genannt.

Seither hatte Hortense ihr Leben lang versucht, ihr Gesicht so unauffällig wie möglich zu verstecken, erst unter einer Kapuze, dann unter einer Mütze und im Erwachsenenalter schließlich unter einem karierten Etwas, das ihr nur ein Sturm vom Kopf reißen konnte. Ihr harmloses Aussehen machte sie in den Augen der Passanten unsichtbar, und das war ihr recht. Die Welt war voller bösartiger Witzbolde, die jedoch nichts Gutes im Sinn hatten und sich gerne auf Kosten Schwächerer lustig machten. Hortense war sich dessen bewusst und versuchte daher, jeden übermäßigen Kontakt mit ihren Mitmenschen zu vermeiden.

Sie war sehr zerbrechlich, fast schon durchscheinend, aber nicht mager. Meist trug sie einen großen gelben Regenmantel und umklammerte mit ihrer rechten Hand ihre alte, ausgebeulte Handtasche aus falschem Eidechsenleder. Diese war ein Geschenk ihres Mannes Léonard gewesen, der an einer Überdosis Kohlenstaub gestorben war, den er in den Minen von Nœux-en-Goëlle eingeatmet hatte. Dort hatte er dreißig jämmerliche Jahre lang für ein mühseliges Gehalt geschuftet. Oder dreißig mühselige Jahre für ein jämmerliches Gehalt, beides passte.

Inzwischen hätte sie sich zwar eine neue Handtasche kaufen müssen, aber sie war gerade etwas knapp bei Kasse. Eigentlich war sie seit dreißig Jahren knapp bei Kasse, seit die von der Geschäftsführung eingestellten Experten sich geweigert hatten, ihr nach Léonards Tod eine Entschädigung auszuzahlen, weil sie den Todesfall für eine Unvorsichtigkeit seinerseits hielten:

»Dadurch, dass der Geschädigte in unzulässiger Weise Luft eingeatmet hat und dabei Kohlenstaub in seine Venen gelangt ist, kann der Witwe keinesfalls eine Pension ausgezahlt werden, da dies sonst als Präzedenzfall für weiteres unvorsichtiges Verhalten gelten und sich nachteilig auf die Entwicklung der Kohleindustrie auswirken könnte.« So hatte es geheißen. Außerdem war angeführt worden, dass die auf diese Weise unrechtmäßig erworbene Kohle auch nicht vom Gehalt des Verstorbenen abgezogen worden sei, daher solle sie sich glücklich schätzen, dass man sie nicht posthum wegen Unterschlagung verklage.

Also hatte sie der Geschäftsleitung einfach nur dankbar sein und die ihr verliehene Ehrennadel entgegennehmen müssen. Eine Ehrennadel, die sie bereits am nächsten Tag hatte versetzen müssen, um die Miete für ihre Wohnung zu bezahlen, die ebenfalls der Minengesellschaft gehörte. Schließlich hatte sie sich auf die Suche nach einer Arbeit gemacht. Auch weil sie am liebsten im Supermarkt in ihrer Straße einkaufte, um nicht den Bus bis zum Einkaufszentrum außerhalb der Stadt nehmen zu müssen und sich mit ihren Einkäufen abzuschleppen, die ihr im Laufe der Jahre immer schwerer vorgekommen waren. Was sie sich nicht erklären konnte, da sie ihrer Meinung nach immer weniger Sachen in den Korb legte.

Das Messingschild, auf dem »Monsieur Lecroc, Generaldirektor« eingraviert war, funkelte wie neu. Hortense seufzte stolz und todmüde zugleich. Sie hatte noch nicht das Glück gehabt, den großen Chef kennenzulernen, aber die Gerüchte, die sich um ihn rankten, waren alles andere als liebevoll. Um sich also Mut zu machen und anzuklopfen, gönnte sie sich eine Prise Schnupftabak. Nur ein kleines bisschen in jedes Nasenloch.

Dann klopfte sie, erst schüchtern, schließlich etwas lauter. Auf der anderen Seite der Tür war ein Grummeln zu hören. Sie nahm all ihren Mut zusammen und beschloss, dieses »Grummf« als Einladung zum Eintreten aufzufassen.

Dichter und bitterer Rauch kratzte ihr in der Kehle, als sie die Tür öffnete. Das war kein Zigarettenrauch und auch keine Pfeife, den Geruch kannte sie. Ihr Vater hatte zu seinen Lebzeiten Pfeife geraucht, daher mochte sie den Geruch. Nein, dieser Rauch stammte von einer Zigarre.

Der Generaldirektor war groß und dick, das sah man, selbst wenn er hinter seinem Schreibtisch saß. Er hob kaum den Kopf, als Hortense eintrat. Sein Schädel war komplett kahl, glatt wie eine Billardkugel, und am liebsten hätte Hortense auch über ihn mit ihrem Tuch gewischt, um ihn wie die Türschilder zum Glänzen zu bringen.

»Ich hatte doch darum gebeten, unter keinen Umständen gestört zu werden!«

Lecrocs hohe, durchdringende Stimme passte nicht zu seinem Körper; man hätte fast glauben können, er sein ein als Oger verkleidetes Mädchen.

»Aber man hat mir gesagt, ich soll Ihr Büro putzen«, wagte Hortense zu erwidern. »Ich habe die Erlaubnis, hier hereinzukommen, sie ist vom Gebäudeverwalter persönlich unterzeichnet.« Mit zitternder Hand reichte sie einen Wisch blaues Papier über den Tisch.

Lecroc richtete sich auf, musterte Hortense zehn Sekunden lang und kaute auf der erloschenen Zigarre in seinem Mund herum.

»Ich kenne Sie, ich habe Ihre Personalakte gelesen, Sie sind Hortense … Hortense …«

»Habenix! Hortense Habenix, Monsieur le Directeur«, rief Hortense, die stolz darauf war, dass sie – wie ein Spion oder ein Politiker – eine Akte besaß und ein so wichtiger Mensch wie Lecroc sich an ihren Vornamen erinnerte.

»Stimmt! Was für ein seltsamer Name. Ich habe Sie noch nie hier auf dem Stockwerk gesehen. Kümmern Sie sich jetzt auch um mein Büro? Wo ist Lucienne?«

»Sie selbst hatten darum gebeten, dass ich hier putze, Monsieur le Directeur. Lucienne ist in Rente gegangen, also kümmere ich mich jetzt auch um den vierten Stock.«

»Ach ja, ich erinnere mich, in Ruhestand. Das hatte sie auch nötig, ihre Arbeit hat in letzter Zeit wirklich zu wünschen übrig gelassen. Aber wie sagt man so schön: ›Bewirken nicht oft Geduld und Nachsicht viel mehr als Reichtum?‹ Nicht wahr? Ha! Ha!«

»Ha! Ha!«, machte Hortense auf gut Glück.

Als Lecroc noch ein kleiner Lümmel gewesen und mit Rotz an der Nase zwischen den Füßen der Erwachsenen umhergerannt war, hatte Lucienne bereits die Mülleimer für sein Scheusal von Vater geleert. Ja, Lucienne hatte mit achtundsechzig Jahren die Rente nötig. Seit sie sechzehn Jahre alt war, hatte sie hier gearbeitet! Zweiundfünfzig Jahre hatte sie in dieser Firma geschuftet! Ohne Lohnerhöhungen, mal abgesehen von den Inflationsanpassungen.

»Ich kann etwas später wiederkommen, um Sie nicht zu stören, wenn Sie möchten.«

»Nein, bleiben Sie nur, ich habe gerade kurz Zeit, da kann ich Ihnen genau zeigen, was es zu tun gibt. Versuchen Sie gut aufzupassen, ich wiederhole es nicht.«

Auch wenn seine Stimme harmlos klang, so war ihr doch anzumerken, dass sie es gewohnt war, Befehle zu geben. Hortense murmelte ein unhörbares »Gut, Monsieur Lecroc« und blieb vor dem Schreibtisch stehen, ohne sich zu trauen, sich zu bewegen oder auch nur zu blinzeln. Sie versuchte sogar, mit dem Atmen aufzuhören. Kurz gesagt, sie hätte sich während der Zeit, die Lecroc noch für seinen Papierkram brauchte, am liebsten in eine Statue oder einen Kleiderständer verwandelt.

Die Sekunden verstrichen. Nach drei Minuten des Beinahe-Luftanhaltens erlaubte sich Hortense, ihren Blick schweifen zu lassen. Sie betrachtete das Zimmer, die Bilder an der Wand, die Fotos von Pferden, Fotos von wichtigen Menschen aus der Stadt, die dem Geschäftsführer die Hände schüttelten – der Bezirksvorsteher, der Präfekt … Sie erkannte auch Sylvia de la Closerie, die Schauspielerin aus dem Film »Ein Mann, der mich liebte«. Auf diesem Foto zeigte sie etwas zu viel Busen und Beine. Wirklich zu viel. Aber es war ein schöner Film, gut gespielt, mit guten Dialogen, mit vielen Violinen, also alles in allem gut. Als sie ihn sich angesehen hatte, hatte sie am Ende eine Träne verdrückt, als Sylvia, die eine sehr nette Prinzessin spielte, verkündete, dass sie todkrank sei. Aber zur großen Erleichterung des besorgten Publikums hatten die Ärzte sie trotzdem retten können. Diese Spezialisten waren wirklich großartig; schade, dass es solche Ärzte nicht hier im Quartier gab.

Plötzlich fand Hortense einen kleinen Teil ihres Selbstbewusstseins wieder. Ein Mann, der eine so schöne Schauspielerin begleiten durfte – eine Schauspielerin, die in so schönen Filmen spielte –, ein solcher Mann konnte doch nur sympathisch und großherzig sein. Sie hatte also nichts zu befürchten und konnte sich etwas entspannen. Sie begann das so lange unterbrochene regelmäßige Atmen wieder aufzunehmen und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Schon gut! Sie müssen nicht seufzen, ich bin ja schon fertig.«

Meine Güte! Sie erschrak. Lecroc hatte das für ein Zeichen von Ungeduld gehalten; er hatte geglaubt, dass sie wollte, dass er sich beeile!

»Aber nicht doch, ich …«

»Also«, begann Lecroc, »Sie wischen Staub auf meinen Schreibtisch, aber ich möchte, dass Sie jeden Gegenstand und jedes Blatt Papier wieder genau dort hinlegen, wo es vorher lag. Doch vor allem möchte ich nicht, dass Sie die Pokale und Trophäen auf dem Regal hinter mir anfassen und auch nicht mal kurz drüberwischen.«

Er fuchtelte mit den Armen herum, während er seine Anweisungen gab und in jede Ecke seines Büros zeigte. Dabei sprach er sehr schnell.

»Haben Sie es kapiert?«

»Ja … Ja, Monsieur le Directeur.«

Lecroc zog sein Jackett an und murmelte, wie froh er sei, dass er nichts wiederholen müsse, denn er habe es eilig, er habe schließlich noch etwas anderen zu tun, es sei ja Sonntagabend, da wolle man sich doch ausruhen. Er öffnete die Tür, die von seinem Büro in ein anderes Büro führte, und zeigte mit dem Daumen auf einen Haufen Säcke, die entlang der Wand aufgestapelt waren.

»Nun, da Sie alles verstanden haben, wenn Sie also fertig sind, kümmern Sie sich auch um dieses Büro hier, um den ganzen Dreck hier. Sie nehmen diese Säcke und werfen sie weg. Auch die voller Kleidung. Aber diesen hier, und diesen hier fassen Sie nicht an, verstanden?«

Hortense nickte. Ja, sie hatte verstanden, diese Säcke da, in Ordnung. Der Direktor machte sich davon. Als Hortense sich von ihm verabschiedete, antwortete er nicht.

Hortense hätte sich am Sonntag gerne ebenfalls ausgeruht, aber das Casino schloss nie, weshalb die Räume jeden Tag geputzt werden mussten. Allerdings nicht der Saal mit den einarmigen Banditen, dort durfte sie nicht rein, der Zutritt war nur geschultem Personal erlaubt.

Sie begann die Schreibtischlampe abzustauben, dann den Bildschirm, sie leerte den Papierkorb, verschob vorsichtig die Aktenberge, die auf dem Schreibtisch lagen, einen nach dem anderen, um sicherzugehen, dass sie sie nachher wieder an den richtigen Platz legte und sich nicht irrte. Ihr Gedächtnis begann jetzt im Alter etwas nachzulassen. Wie alles andere leider auch.

Hortense öffnete die Tür zum angrenzenden Büro und warf einen Blick auf das dort herrschende Chaos. Die Regale, der Schreibtisch, sämtliche Ordner – alles war geleert und der Inhalt in Säcke verpackt worden, wie für einen Umzug.

Wieso hatte sie nur behauptet, sie habe verstanden, was der Chef von ihr wollte? Er hatte so schnell gesprochen, sie hatte gar nichts verstanden, nur dass sie die Trophäen und Pokale im ersten Büro nicht anfassen sollte … aber was war mit den Säcken, hatte er irgendwas zu den Säcken gesagt?

Die Plastiksäcke standen entlang der Wände aufgereiht. Sie nahm eine kleine Prise Schnupftabak und genoss diese so lange wie nur möglich.

»Gut«, murmelte sie vor sich hin, »also, die Säcke dort an der Wand, die sollen hierbleiben. Nein, ich bringe sie in den Müll, die anderen aber … Oh, Mist, ich weiß es nicht mehr.«

Aber sie konnte die verdammten Säcke ja einfach öffnen. Wenn sie den Inhalt sah, wüsste sie schon, was sie damit zu tun hatte. Sie öffnete den ersten, was nicht einfach war, denn der Knoten war fest und ihre Finger arthritisch. Er enthielt alte Zeitungen, zerknitterte Papiere … also eindeutig Sachen für den Müll. Auch in dem zweiten Sack der Reihe befand sich nur alter Papierkram, also in den Müll damit. Im dritten lagen Kleider, alte, abgenutzte Sachen, also ebenfalls in den Müll. Vermutlich war demnach diese ganze Reihe für den Müllcontainer bestimmt. An der Wand gegenüber lehnten weitere Säcke, weshalb Hortense beschloss, auch deren Inhalt zu überprüfen, nur um sicherzugehen, dass sie keinen Fehler machte. Den Knoten des ersten Sacks zu öffnen, bereitete ihr unglaubliche Mühe, aber schließlich war er offen, und sie fand darin ein noch verpacktes Hemd und mit Zahlen beschriebene Papiere. Jetzt hatte sie bei der ganzen Aktion schon genug Zeit verloren und beschloss daher, die anderen Säcke nicht mehr zu überprüfen.

Diese ganze Reihe waren sicher die Säcke, die hierbleiben sollten, sagte sie sich.

Sie lud das Dutzend Säcke auf ihren Wagen, wobei sie keuchte wie ein Maulesel, fuhr noch einmal mit dem Staubtuch über den kleinen Glastisch und schob schließlich mit letzter Kraft ihren Wagen mit den quietschenden Rädern den Flur entlang, in dem es nach kaltem Zigarettenrauch roch.

Hortense war nicht gerne allein im Müllraum im Keller. Dort war es dunkel, und die einzige Glühbirne, die von der Decke hing, warf Schatten an die Wände und auf den Boden. Sie sahen aus wie kleine, kriechende Bestien, die sie erwartet hatten und genau in diesem Augenblick erwachten, um sie zu erschrecken. Es roch nach Feuchtigkeit und Müll, aber das war ja normal, sagte sie sich, denn schließlich musste ein Müllraum riechen wie ein Müllraum.

Sie lud die verflixten Säcke ab, was sich als noch mühsamer erwies, als sie zu transportieren. Sie musste sie hoch genug heben, um sie in den Container werfen zu können, und schon nach dem dritten Sack schmerzte ihr Rücken fürchterlich, was den Ort auch nicht gemütlicher machte. Als sie den fünften Sack hochheben wollte, musste sie feststellen, dass er schwerer war als die anderen zuvor, und weil sie am Ende ihrer Kräfte war, verloren ihre knochigen Finger den Halt, und der Plastiksack riss. Papier flog durch die Gegend und landete auf dem staubigen Betonboden. Dann hörte sie ein metallisches »Bling«. Allein bei dem Gedanken, alle verstreuten Papierfetzen einsammeln zu müssen, beschwerte sich ihre betagte Wirbelsäule erneut. Da sie sowieso spät dran war, beschloss sie, sich eine Zigarettenpause zu gönnen, bevor sie sich wieder an die Arbeit machte. Sie hasste zwar die Zigarren des Chefs, aber eine kleine Gauloises von Zeit zu Zeit, deren Rauch ihr in der Kehle kratzte, mochte sie. Die Flamme des Streichholzes, das sie anzündete, warf den Schatten ihrer gebeugten Silhouette an die Wand, was einige der ansässigen Nager fliehen ließ.

Hortense stützte sich auf eine Kiste, die in einer der Ecken stand, und atmete den Rauch tief ein, bevor sie ihr Lieblingsgift in konzentrischen Kreisen, die bis zur Decke segelten, wieder ausstieß. Nicht nur das Rauchen, sondern auch die Rauchkreise zu machen, bereitete ihr großes Vergnügen. Es erinnerte sie an ihre Kindheit, als ihr Großvater sie mit magischen Figuren begeistert hatte, die aus seiner Pfeife aufgestiegen waren. Wenn sie allein war und rauchte, musste sie jedes Mal an ihren Großvater denken, an seine wunderbaren Kreise und an die einzige mathematische Formel, die ihn in seiner ganzen Schulzeit je interessiert hatte: die Formel für den Flächeninhalt: A = πr2, wobei π, wenn man es aussprach, »Pi« hieß und drei Komma eins vier und irgendwas war.

Sie drückte ihren Zigarettenstummel sorgfältig aus, bevor sie ihn zurück in die Zigarettenschachtel steckte. Nur keinen Dreck machen, schließlich war sie es, die ihn wegräumen musste.

Sie sammelte die verstreuten Papiere ein, Scheckbelege, Kaufquittungen, Geldscheine, die Pistole und setzte an, um alles in den Müllcontainer zu werfen. Dann hielt sie inne …

Eine Pistole? Wirklich eine Pistole? War das das metallische Geräusch gewesen, das sie gehört hatte? Und Geldscheine? Und dann auch noch so viele! Wem mochten die nur gehören? Mein Gott, dachte sie, ich muss mich getäuscht und die falschen Säcke weggeworfen haben. Und alle Büros sind jetzt abgeschlossen! Was mache ich nur?

Kapitel 3

Hortense hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Nachdem sie zu Hause angekommen war, hatte sie den Sack voller Geldscheine, ohne diese anzufassen, auf ihren Wohnzimmerteppich gestellt, hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und gehofft, dass am nächsten Morgen alles verschwunden sein würde und sie das Ganze nur geträumt hätte. Aber der Sack war am nächsten Morgen immer noch da.

Ihr Wohnzimmer war, ebenso wie ihre übrige Wohnung, altmodisch eingerichtet, nur mit Möbeln, die schon sehr lange nicht mehr in Mode waren. Auf dem Nussholzbüffet standen mehrere sorgfältig gerahmte, vergilbte Fotos von ihr und Léonard. Léonard und Hortense in Tréport, Léonard und Hortense vor dem Eiffelturm, Léonard und Hortense vor den Klippen von Étretat. An der Wand hing ein großes ovales Bild von Léonard und Hortense. Sie ganz in Weiß mit einem Kranz aus Orangenblüten im Haar, er in einem schwarzen Jackett und sehr ernst am Tag ihrer Hochzeit. Die alten, wackeligen Möbel sahen aus, als würde das Holz beim kleinsten Windstoß zusammenbrechen. Auf dem Sofa, auf dem eine Decke mit Hahnentrittmuster lag, schlief Tiburce, ein alter und nicht mehr sehr aktiver Kater. Genau genommen war er so wenig aktiv, dass er an manchen Tagen das Möbelstück in der Wohnung war, das sich am wenigsten bewegte. Ungewöhnlich an der Inneneinrichtung war einzig und allein, dass es fast alles doppelt gab: zwei Fernseher, zwei Sessel, zwei Sofas, zwei Anrichten, zwei Beistelltische, zwei Nähmaschinen.

Hortense nahm die Spitzentischdecke von einem der beiden Tische im Wohnzimmer, auf ein anderes Möbel stellte sie die beiden kleinen Schneekugeln, die sie von einer Reise mit Léonard nach Lourdes mitgebracht hatte, und leerte den Inhalt des Müllsacks auf dem Tisch aus. Das eine war auf jeden Fall eine Pistole. Sie hatte so etwas schon in den Sonntagabendkrimis im Fernsehen gesehen, die sie sich allerdings nie bis zum Ende ansah, weil sie ihr viel zu brutal waren und sie danach schlecht schlafen konnte. Ein Revolver. Und zwar nicht so ein plumpes Teil für grobschlächtige Gangster oder böse Mafiosi, nein, eine schöne Pistole, elegant und schmal, mit einem verzierten Kolben und einem gedrehten Lauf. Und mit so einem Ding, das man an das Ende des Laufs schraubte.

»Das ist ein Schalldämpfer«, verkündete Katia, ihre Nachbarin und Freundin, die unbemerkt hinter ihrem Rücken aufgetaucht war.

Hortense sprang auf, versuchte aber nicht, den Gegenstand zu verstecken. Katia, die neugierig wie ein junger Hund war, hatte die Pistole ja schon gesehen.

»Woher weißt du das? Kennst du dich etwa mit Waffen aus?«

»Ich weiß, dass das ein Schalldämpfer ist, weil ich so einen schon mal gesehen habe. Ich habe einen Neffen, der arbeitet für die Polizei.«

»Pfft, ein Neffe bei der Polizei …«

Katia und Hortense hatten sich bei einem Stickkurs mit dem Thema »Die dänische Methode auf gezwirnter Baumwolle« kennengelernt, der vom Handarbeitsverein veranstaltet worden war. Sticken war nicht so einfach, wie oft angenommen wurde, man musste die Technik beherrschen, und Technik lernte sich nicht von allein. Es war also sinnvoll, sich weiterzubilden.

Auch wenn Katia nicht immer ein einfacher Mensch war und nach Hortense’ Geschmack ein bisschen zu oft über einem Gläschen Wein zu viel einnickte, waren sie sich sofort sympathisch gewesen, besonders wegen ihrer Nachnamen. Denn Katia hieß »Kleingeld«. Das war wohl ein tschechischer Name oder irgend so etwas, wie sie behauptete. Da sie aber eine Waise war, nahm Hortense an, dass sie ihre slawischen Wurzeln einfach erfunden hatte, um sich interessanter zu machen. Vermutlich war es einfach ein beliebiger Name vom Sozialamt. Katia hatte ihr auch erzählt, dass sie in ihrer Jugend im berühmtesten Varietétheater von Moskau aufgetreten war, dem TzarKazar. Und dass ihr damals die wichtigsten Adeligen und Geschäftsmänner Russlands für einen Kuss ihren ganzen Reichtum zu Füßen gelegt hätten. Hortense schenkte all der Angeberei keinen Glauben, aber auf jeden Fall war klar, dass zwischen ihr – Hortense Habenix – und Katia Kleingeld schon allein wegen ihrer Nachnamen eine Verbindung bestand. Also waren sie beste Freundinnen geworden, auch wenn sie sich die meiste Zeit stritten.

»Aber sicher doch, bei der Polizei.«

»Wenn ich es dir doch sage! Mein Neffe Benjamin ist ein bekannter Scharfschütze bei der Polizei!«

»Benjamin? Der, dessen Bankkonto gesperrt war?«

»Das hat doch damit nichts zu tun, und ich weiß auch gar nicht, warum du schon wieder darauf herumreitest.«

»Ich reite auf gar nichts herum, ich habe das einfach so erwähnt, das ist alles. Außerdem ist es seltsam, dass man wie du vom Amt leben muss, wenn man so viele Cousins hat.«

»Das sind aber doch angeheiratete Cousins! Und das hier ist auf jeden Fall ein Schalldämpfer. Den sollte man dir am besten vor den Mund schrauben!«

Hortense zuckte mit den Schultern. Katia war zwar nett, aber sie musste alles immer besser wissen als jeder andere. Wobei Hortense anerkennen musste, dass Katia ihr soeben erklärt hatte, dass man das Ding abschrauben konnte.

»Also, was macht man denn mit einem Schalldämpfer?«

»Du bist ja aber auch nicht die Hellste. Was soll man denn deiner Meinung nach mit einem Schalldämpfer machen? Eben den Schall dämpfen!«

Während sich Katia noch einmal an der Flasche Wein bediente – es war schon ihr viertes Glas –, fingerte Hortense an dem Ding herum. Was hatte sie dazu gebracht, dieses fürchterliche Teil mit nach Hause zu nehmen, anstatt es wegzuwerfen? Oder einfach den Sack in dem Büro wieder an seinen Platz zu stellen, als wäre nichts passiert. Was hatte sie nur dazu getrieben, ihren wichtigsten Grundsatz zu verletzen: Ehrlichkeit, Ehrlichkeit ohne Einschränkungen, ohne Bedingungen, einfach nur Ehrlichkeit?

»Du solltest mit dem Ding da aufpassen«, meinte Katia, »vielleicht ist es geladen.«

»Geladen?«

»Natürlich geladen – mit Kugeln!«

»Mit Kugeln?«

»Heute stehst du aber wirklich auf der Leitung. Womit denn sonst? So eine Knarre lädt man mit Kugeln und schießt damit. Komm, gib mal her.«

»Eine was?«

»Eine Knarre! Ein Schießeisen, ein Revolver, ein Colt – nun sei doch nicht albern …«

»Aber wieso kennst du denn so viele Namen dafür?«

»Wenn du mehr amerikanische Serien gucken würdest anstatt dieser Kirchensendung am Sonntagmorgen, wüsstest du, wovon ich rede. Reich mir das Ding jetzt mal! Und schenk mir doch noch ein Gläschen Wein ein.«

»Noch eines?«

»Das letzte.«

Unter den gleichermaßen entsetzten und bewundernden Blicken ihrer Freundin gab Katia dieser einen kleinen Einführungskurs in Sachen Schusswaffen.

»Hier ist der Sicherungshebel, hier der Abzug und da das Magazin.«

Nachdem sie kurz daran herumgenestelt hatte, schaffte sie es, das Magazin zu öffnen. Darin befanden sich zehn Patronen. Und Platz für mehr! Katia fummelte eine der Patronen heraus und schwenkte sie triumphierend, so wie sie es in Western gesehen hatte, wo das die Trunkenbolde taten, nachdem sie die Kugel mit der Spitze ihres Messers aus der Wunde des sterbenden Helden herausoperiert hatten.

Hortense versuchte sich zurückzuhalten, doch sie zitterte vor Aufregung, als sie das kleine Metallstück betrachtete. Ihre Kehle wurde trocken, und sie bekam kugelrunde Augen. Direkt hintereinander trank sie zwei Gläschen Wein in einem Zug aus.

»Jetzt hast du die Flasche leer gemacht«, schimpfte Katia. »Ich hole einen neue.«

»Aber du hattest doch gesagt, das sei dein letztes Glas Wein«, warf Hortense ein.

»Natürlich, das letzte aus dieser Flasche. Aber jetzt hast du alles weggetrunken … Du hast doch noch mehr, oder?«

Katia machte sich auf den Weg in den Keller, um noch mehr von dem köstlichen Getränk zu holen. Auf dem Treppenabsatz stieß sie mit einem grauhaarigen kleinen Mann zusammen, der eben an ihre Tür klopfen wollte.

»Madame Kleingeld! Genau Sie habe ich gesucht. Ich warte jetzt schon seit einer halben Stunde vor Ihrer Tür, aber Sie waren nicht da!«

»Natürlich war ich nicht da, Monsieur Elster, denn ich bin ja hier.«

»Dohle! Ich sage es Ihnen jedes Mal! Dohle!«

»Jaja, Dohle, Elster, das ist doch das Gleiche. Was wollen Sie denn noch von mir?!«

»Ich komme zur Bestandsaufnahme für die Pfändung, das wissen Sie sehr wohl!«

»Die Pfändung von was? Ich habe nichts mehr, meine Gläubiger haben sich schon alles geholt, was ich besaß!«

»Könnten Sie mir bitte trotzdem die Tür öffnen, dann notiere ich diesen Sachverhalt.«

Während Monsieur Elster das sagte, warf er einen Blick in Hortense’ Wohnzimmer mit den zwei Ledersofas, den zwei Anrichten, den zwei Fernsehern – also eigentlich war alles doppelt. Er warf der Eigentümerin der Wohnung einen argwöhnischen Blick zu, den diese ganz souverän erwiderte.

»Ich habe doch das Recht, mehrere Fernseher zu besitzen, nicht wahr? Wenn ich zwei Sendungen gleichzeitig sehen will, um Zeit zu sparen, ist das mein Recht! Ich habe das Geld, und ich kann es ausgeben, wie ich will!«, warf Hortense ein, um ihrer Freundin zu Hilfe zu kommen, bevor der Mann in Schwarz ihr Fragen stellen konnte.

»Ich verstehe schon, Sie haben Ihre Möbel bei Ihrer Nachbarin untergebracht, Madame Kleingeld. Sie wissen, dass ich Sie wegen Betrugs …«

»Dann tun Sie das doch, Monsieur Elster, tun Sie das doch. Aber jetzt stehen Sie mir im Weg, denn ich habe zu tun«, antwortete Katia, ohne ihn ausreden zu lassen. Sie zwinkerte ihrer Komplizin zu, stieß den Gerichtsvollzieher zur Seite und eilte die Treppe hinunter.

Hortense schlug ihm die Tür vor der Nase zu, und so blieb das Stand der Dinge, was den Verwaltungsbetrug anbelangte.

Allein in ihrer Wohnung traute sich Hortense kaum, sich zu bewegen. Sie setzte sich auf eines der Sofas, legte ihre Hände auf ihre Knie und fixierte die auseinandergebaute Waffe auf dem Wohnzimmertisch, die Kugeln, das Magazin, den Schalldämpfer. Zwar fürchtete sie sich davor, aber unter dem Einfluss des Weins begann sie die glänzenden Einzelteile der Pistole zu bewundern und fühlte sich unwiderstehlich von ihnen angezogen. Schließlich war sie mutig genug, die Hand nach der Waffe auszustrecken, aber die Stimme ihres Gewissens zwang sie, der Versuchung doch zu widerstehen.

»Die Pistole gehört dir nicht! Du musst sie dem Besitzer zurückgeben oder sie zur Polizei bringen!«, befahl ihr das kleine Engelchen auf ihrer Schulter, und sofort legte sie ihre Hand wieder auf ihr Knie.

»Ja, aber du hattest noch nie die Möglichkeit, dich einfach mal zu amüsieren! Das ist deine Chance, eine so schöne Pistole für dich ganz allein zu haben«, flüsterte das Teufelchen auf der anderen Schulter. Und ihre Hand strecke sich wieder in die Richtung des Dings aus.

Nach vierzig Jahren harter Arbeit und fast siebzig Jahren Armut sowie jeder Menge Tugend, die sich nicht ausgezahlt hatte, beschloss sie, einmal nicht auf ihr Gewissen zu hören. Sie griff nach der Waffe, drückte sie an ihre Brust, in der ihr Herz wie wild trommelte, und dann, nachdem sie jeden Widerstand aufgegeben hatte und ihre Reflexe die Überhand gewannen, polierte sie die Pistole gründlich. Trotz einiger Schwierigkeiten schaffte sie es, die Kugel wieder in das Magazin einzusetzen, und nach einigem Herumprobieren war auch bald das Magazin wieder an seinem vorgesehenen Platz.

Als Katia mit dem Arm voller Flaschen aus dem Keller zurückkam, sah sie Hortense breitbeinig wie John Wayne in »Der Mann, der Liberty Valance erschoss« dastehen, den Griff der Pistole umklammern und mit ausgestreckten Armen einen Blumentopf auf der Anrichte über die Kimme hinweg anvisieren.

»Ich kann dich keine zwei Minuten lang allein lassen. Das ist ja wohl eine Nummer zu groß für dich! Du weißt doch, auch ohne dass ich dich warnen muss, wie gefährlich dieses Ding ist!«

»Ich tue doch nur so als ob. Peng! Peng!«

Sie hatte gerade das zweite Mal »Peng« gesagt, als ein leiser Knall ertönte. Ohne Vorwarnung hatte sich ein Schuss gelöst, dieser hatte den Blumentopf pulverisiert und danach eine Suppenterrine, die dahinter gestanden hatte, in Scherben verwandelt – ein Erbstück von Louise, Hortense’ Großmutter, die für die Porzellanwerke in Limoges gearbeitet hatte. Die Kugel durchschlug schließlich die rechte Seite der Anrichte, ebenso wie die Wand zwischen Wohn- und Schlafzimmer, wo sie ein kleines Radio und den Schirm der Nachttischlampe in Stücke zerlegte, um nach ihrem weiteren Weg durch den Kleiderschrank und die darin hängende Kleidung die Wand zum Badezimmer zu durchschlagen und schließlich in einer Kopie des Gemäldes »Angelusläuten« von Millet stecken zu bleiben. Das Bild war Weihnachten 1977 der Deckel einer Schokoladenschachtel gewesen, den Léonard sorgfältig gerahmt hatte. Zum Glück war die Toilette heil geblieben.

»Mein Gott, bist du denn bescheuert?«, schrie Katia, allerdings ohne die Weinflasche fallen zu lassen, die sie trotz aller Aufregung bereits entkorkt hatte.

»Das war ich nicht! Ich habe nichts getan! Der Schuss ist von ganz allein losgegangen!«, jammerte Hortense, der noch nicht einmal der blasphemische Ausruf ihrer Freundin aufgefallen war, und das, obwohl Blasphemie für sie eine unverzeihliche Sünde war.

Erschrocken warf sie das fürchterliche Ding auf den Teppich, so als wäre es vor Hitze glutrot geworden, und versteckte sich hinter Katia.

»Beruhige dich«, sagte Katia. »Ich lege das Teil in die Schublade, und wir überlegen uns später, was wir damit tun. Hör erst mal auf zu zittern, davon wird mir ganz übel.«

Nachdem sie sich von dem Schock etwas erholt hatten, sahen sie sich den entstandenen Schaden an. Die kleine Wohnung erweckte den Anschein, als wäre sie Ziel eines Attentats geworden. Überall lagen Putz, Holzreste, Plastik und angekokelte Stoffstücke herum.

»Das ist eine Katastrophe! Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?«

»Wir kriegen das schon hin, mach dir keine Sorgen. Reich mir lieber Schaufel und Besen.«

»Aber all die Löcher! Die Reparatur wird sicher einiges kosten!«

»Ich habe einen Neffen, der ist Handwerker, der macht das umsonst. Schenk uns mal ein Glas Wein ein, während ich sauber mache.«

Zum Glück hatte Katia jede Menge angeheiratete Neffen mit bemerkenswerten Talenten.

Hortense ließ sich mit wackeligen Beinen in ihren Sessel sinken, dessen alte Federkerne unter ihrem Gewicht knarzten. Sie konnte ihren Blick nicht von der Schublade abwenden, in die Katia die Pistole gelegt hatte, ganz so, also befürchte sie, diese könnte wie ein Schachtelteufel heraus- und ihr wieder in die Hand springen. Schließlich schaffte sie es, sich auf die Geldscheine, die noch immer auf ihrem Wohnzimmertisch lagen, zu konzentrieren.

»Und all die Scheine? Das ist ja ein Vermögen! Monsieur Lecroc wird denken, ich sei eine Diebin, und mich ins Gefängnis werfen! Ich muss ihm alles zurückgeben … Stell dir vor, was passiert, wenn er die Polizei ruft und man das Geld bei mir findet?«