DA, SC, AS & RL

John Berryman

Jackson Lamb, Chef der Slow Horses

Seine Mitarbeiter:

 

River Cartwright
Roderick Ho
Jed Moody
Catherine Standish
Min Harper
Louisa Guy
Struan Loy
Sidonie Baker

Die Agenten am MI5-Hauptsitz Regent’s Park

Diana Taverner (›Lady Di‹), Vizechefin des MI5

Ihre Mitarbeiter:

 

Nick Duf‌fy, Chef der ›Dogs‹
James Webb (›Spider‹)

Und so kam River Cartwright von der Überholspur ab und geriet zu den Slow Horses.

 

Am Dienstagmorgen um 8:20 Uhr war King’s Cross überfüllt mit jenen, die der O.B. als die Anderen bezeichnete: »Nichtkämpfer, River. Absolut ehrenvolle Beschäftigung in Friedenszeiten.« Ergänzt mit dem Nachtrag: »Nur dass wir seit September 1914 keinen Frieden mehr hatten.«

So wie der O.B. die Zahl aussprach, verwandelte sie sich in Rivers Kopf in römische Ziffern. MCMXIV.

Er hielt inne und tat so, als blicke er auf seine Armbanduhr; ein Manöver, das sich äußerlich nicht von einem tatsächlichen Blick auf seine Armbanduhr unterschied. Pendler umspülten ihn wie Wasser einen Felsen und äußerten ihre Verärgerung durch Zungenschnalzen und übertriebenes Seufzen. Am nächsten Ausgang – eine helle Öffnung, durch die schwaches Januartageslicht strömte – waren zwei der schwarzgekleideten Vollstrecker wie Statuen postiert. Dass sie schwer bewaffnet waren, fiel den Nichtkämpfern gar nicht auf; zu weit hatte man sich schon von 1914 entfernt.

Die Vollstrecker – so genannt, weil sie Aufgaben vollstreckten – hielten sich wie befohlen im Hintergrund.

Außerdem trug die Zielperson einen offenbar schweren Rucksack über der rechten Schulter. Ein Kabel, das sich aus dem Ohr des Mannes schlängelte, glich dem aus Rivers eigenem, vielleicht von einem iPod.

»Bestätigen Sie Sichtkontakt.«

River berührte das linke Ohr mit der linken Hand und sprach leise in etwas hinein, das wie ein Manschettenknopf aussah. »Bestätigt.«

Ein Schwarm von Touristen bevölkerte die Halle, schwer bepackt und offensichtlich auf dem Weg zu ihren Waggons. River passierte sie, ohne die Augen von der Zielperson abzuwenden, die auf die angrenzenden Bahnsteige zustrebte, diejenigen, von denen die Züge nach Cambridge und anderen östlichen Zielen abfuhren.

Züge, die im Allgemeinen weniger überfüllt waren als der InterCity 125 nach Norden.

Unwillkürlich stiegen Bilder in ihm auf: von verbogenen Metallteilen entlang zerstörter Gleise. Von brennenden Büschen neben dem Gleisbett, in denen Fleischfetzen hingen.

»Vergiss nie« – so die Worte des O.B. –, »dass es manchmal wirklich zum Schlimmsten kommt.«

Wobei das Schlimmste sich in den letzten Jahren exponentiell verschlimmert hatte.

Die Polizisten fuhren mit ihrer Unterhaltung fort.

River blieb stehen und ordnete seine Gedanken.

Er war ein junger Mann, mittelgroß, mit hellem Haar und heller Haut. Er hatte graue Augen, die oft nach innen gerichtet zu sein schienen, eine ziemlich scharfgeschnittene Nase und ein kleines Muttermal auf der Oberlippe. Wenn er sich konzentrierte, runzelte er derart die Stirn, dass er auf manche einen verwirrten Eindruck machte. Heute trug er Bluejeans und eine dunkle Jacke. Doch wenn man ihn an diesem Morgen nach seinem Aussehen gefragt hätte, hätte er zuerst sein Haar erwähnt. In letzter Zeit ging er am liebsten zu einem türkischen Friseur, wo man mit der Schere weit hinunterschnitt und die Härchen im Ohr ohne Vorwarnung mit einer offenen Flamme absengte. Danach stand River gerupft und geflämmt wie ein Hähnchen vom Stuhl auf. Seine Kopfhaut kribbelte jetzt noch im Luftzug.

Ohne die Augen von der Zielperson abzuwenden, die jetzt vierzig Meter vor ihm war – hauptsächlich, ohne die Augen von dem Rucksack abzuwenden –, sprach River erneut in seinen Manschettenknopf. »Folgen. Aber lasst ihm Freiraum.«

Wenn das Schlimmste eine Explosion im Zug war, war das Zweitschlimmste eine auf einem Bahnsteig. Die neuere

Er blickte sich nicht um und vertraute darauf, dass die schwarzgekleideten Vollstrecker nicht weit hinter ihm waren.

Links von River befanden sich Sandwichbars und kleine Cafés, eine Kneipe und ein Gebäckstand. Zu seiner Rechten wartete ein langer Zug. Entlang des Bahnsteigs hievten Reisende Koffer durch die Türen, während über ihnen Tauben lärmend von einem Stahlträger zum anderen flatterten. Aus einem Lautsprecher ertönten Anweisungen. Die Menge auf dem Bahnsteig hinter River schwoll an, und Einzelne lösten sich von ihr.

In Bahnhöfen herrschte immer diese Atmosphäre verhaltener Bewegung. Eine Menge glich einer drohenden Explosion. Menschen waren Fragmente. Sie wussten es nur noch nicht.

Die Zielperson verschwand hinter einer Gruppe von Reisenden.

River bewegte sich nach links, und die Zielperson kam wieder in sein Blickfeld.

Er passierte eine der Kaffeebars, und ein dort sitzendes Paar rief eine Erinnerung wach. Gestern um die gleiche Zeit war River in Islington gewesen. Sein Upgrade-Assessment beinhaltete die Zusammenstellung einer Akte über eine öffentliche Person, und River war ein Schattenkultusminister zugeteilt worden, der zwei kleine Schlaganfälle erlitten hatte und sich in einer Privatklinik in Hertfordshire erholte.

Gute Idee.

Die Zielperson wandte sich nach links.

»Potterville«, murmelte River vor sich hin.

Er ging unter der Fußgängerbrücke hindurch und wandte sich ebenfalls nach links.

Ein kurzer Blick zum Himmel über ihm – grau und feucht wie ein Spültuch –, und River betrat die Nebenhalle, in der sich die Bahnsteige 9, 10 und 11 befanden. Aus der Wand ragte ein halber Gepäckwagen hervor: Bahnsteig 9 3/4, wo der Hogwarts Express abfuhr. River ging weiter hinein. Die Zielperson lief bereits Bahnsteig 10 entlang.

Dann überschlugen sich die Ereignisse.

Es waren nicht viele Leute unterwegs – der nächste Zug fuhr erst in fünfzehn Minuten. Ein Mann auf einer Bank las eine Zeitung, und das war’s so ungefähr. River beschleunigte seine Schritte und schloss die Lücke zwischen sich und der Zielperson. Hinter ihm veränderte sich die Geräuschkulisse – diffuses Murmeln wurde zu konzentriertem Flüstern –, und er wusste, dass die Vollstrecker die Situation kommentierten.

Doch die Zielperson blickte sich nicht um. Sie ging immer weiter, als wollte sie in den hintersten Waggon

Wieder sprach River in seinen Knopf. Sagte das Wort: Zugriff! und rannte los.

»Alles auf den Boden!«

Der Mann auf der Bank sprang auf und wurde von einer Gestalt in Schwarz umgerissen.

»Runter!«

Weiter vorn sprangen zwei Männer vom Dach des Zuges der Zielperson in den Weg. Der Mann drehte sich um und sah River, der ihn mit ausgestrecktem Arm und flacher Hand auf‌forderte, sich auf den Boden zu legen.

Die Vollstrecker bellten Befehle:

Der Rucksack!

Rucksack fallen lassen!

»Legen Sie den Rucksack auf den Boden«, befahl River. »Und gehen Sie auf die Knie.«

»Aber ich –«

»Rucksack fallen lassen!«

Die Zielperson ließ den Rucksack fallen. Eine Hand hob ihn auf. Andere Hände ergriffen Gliedmaßen: Die Zielperson wurde flach und mit ausgebreiteten Armen und Beinen hingeworfen und über die Bodenfliesen gezogen, während man River den Rucksack reichte. Dieser stellte ihn vorsichtig auf die jetzt leere Bank und öffnete den Reißverschluss.

Über ihm umwehte eine automatische Durchsage die Stahlträger. Inspector Samms, bitte in die Leitstelle. Inspector Samms, bitte in die Leitstelle.

Bücher, ein DIN-A4-Notizblock, ein Stiftetui.

Inspector Samms …

… bitte in die …

River blickte auf. Seine Lippe zuckte. Er sagte, sehr ruhig –

… Leitstelle.

»Durchsucht ihn.«

»Tun Sie mir nicht weh!« Die Stimme des jungen Mannes klang gedämpft: Er lag mit dem Gesicht auf dem Boden, und mehrere Waffen waren auf seinen Kopf gerichtet.

Zielperson, ermahnte sich River. Nicht junger Mann. Zielperson.

Inspector Samms …

»Durchsucht ihn!« Er wandte sich wieder dem Rucksack zu. Das Etui enthielt drei Kugelschreiber und eine Büroklammer.

… bitte in die …

»Er ist sauber.«

River ließ das Etui auf die Bank fallen und kippte den Rucksack aus. Bücher, Notizblock, ein einzelner Bleistift, Taschentücher.

… Leitstelle.

Alles fiel zu Boden. Er schüttelte den Rucksack. Auch in den Seitentaschen war nichts.

»Überprüft ihn noch mal.«

»Er ist sauber.«

Inspector Samms …

»Würde bitte mal jemand dieses verdammte Ding abschalten?«

Als er die Panik in seiner Stimme hörte, kniff er den Mund zu.

… bitte in die …

River schüttelte erneut den Rucksack wie eine Ratte und ließ ihn dann fallen.

… Leitstelle.

Einer der Vollstrecker begann, leise, aber eindringlich in ein Kragenmikrophon zu sprechen.

River bemerkte, dass ihn jemand durch ein Fenster des wartenden Zuges anstarrte. Er ignorierte die Frau und machte sich auf den Weg den Bahnsteig hinunter.

»Sir?«

Es klang ziemlich sarkastisch.

Inspector Samms, bitte in die Leitstelle.

Blaues Hemd, weißes T-Shirt, dachte River.

Weißes Hemd, blaues T-Shirt?

Er beschleunigte seine Schritte. Ein Bahnpolizist trat vor, als er die Fahrkartenkontrolle erreichte, River umging ihn, schrie einen unzusammenhängenden Befehl und rannte dann in vollem Lauf zurück in die Haupthalle.

Inspector Samms – dann wurde die automatische Durchsage, eine codierte Nachricht an die Mitarbeiter, dass ein Sicherheitsalarm ausgelöst worden war, ausgeschaltet. Stattdessen ertönte eine menschliche Stimme:

»Aufgrund von Sicherheitsproblemen wird dieser Bahnhof evakuiert. Bitte begeben Sie sich zum nächsten Ausgang.«

Er hatte höchstens drei Minuten, bevor die Dogs eintrafen.

Rivers Füße wählten von selbst ihre Richtung und ließen ihn in Richtung der Halle schnellen, solange er noch

Ein lautes statisches Knistern in seinem Ohr.

Wieder eine Durchsage: »Bitte begeben Sie sich zum nächsten Ausgang. Der Bahnhof wird jetzt geschlossen.«

»River?«

Er brüllte in seinen Knopf: »Spider? Du Idiot, du hast mir die falschen Farben durchgegeben!«

»Was ist denn los? Überall kommen Leute raus.«

»Weißes T-Shirt unter einem blauen Hemd. Das hast du gesagt.«

»Nein, ich habe blaues T-Shirt unter –«

»Fuck you, Spider.« River riss seinen Ohrhörer heraus.

Er erreichte die Treppe, wo die Menge in die U-Bahn gesogen wurde. Jetzt jedoch strömte sie heraus. Sie wirkte nach außen hin gereizt, doch unterschwellig lauerten andere Emotionen: Angst, unterdrückte Panik. Die meisten von uns glauben, dass manche Dinge nur anderen zustoßen. Die meisten von uns glauben, dass der Tod so etwas ist. Die Worte der Durchsage nagten an dieser Überzeugung.

»Der Bahnhof wird jetzt geschlossen. Bitte begeben Sie sich zum nächsten Ausgang.«

Die U-Bahn ist der Herzschlag der Stadt, dachte River. Kein Bahnsteig mit Zügen nach Osten. Die U-Bahn.

Er drängte sich durch die herausströmende Menge und

Zwei Minuten, bis die Dogs kamen. Weniger.

Am Fuß der Treppe wurde der Korridor breiter. River raste um die Ecke und gelangte in eine Zwischenhalle – Fahrkartenautomaten an den Wänden, Ticketschalter mit heruntergezogenen Jalousien, deren Schlangen sich aufgelöst hatten. Die Menge hatte sich bereits ausgedünnt. Aufzüge waren angehalten worden, und man hatte Flatterband gespannt, um Schaulustige fernzuhalten. Die unterirdischen Bahnsteige lagen verlassen da.

River wurde von einem Bahnpolizisten angehalten.

»Der Bahnhof wird geräumt. Haben Sie die Durchsage nicht gehört, verdammt noch mal?«

»Geheimdi –«

»Sind die Bahnsteige geräumt?«

»Sie werden evakuiert.«

»Sind Sie sicher?«

»Das hat man mir jedenfalls –«

»Haben Sie Überwachungsmonitore?«

»Ja, natürlich, wir –«

»Zeigen Sie sie mir!«

Die Hintergrundgeräusche traten jetzt stärker hervor; Echos flüchtender Reisender waberten unter den Decken entlang. Doch noch andere Geräusche näherten sich: schnelle Schritte, die schwer auf dem Kachelboden widerhallten. Die Dogs. River hatte nur wenig Zeit, die Sache in Ordnung zu bringen.

Der Polizist blinzelte, erkannte aber Rivers Eile – sie war kaum zu übersehen – und deutete über die Schulter auf eine Tür mit der Aufschrift Kein Zutritt. River hatte sie geöffnet und hinter sich geschlossen, bevor die Verfolger erschienen.

Der kleine fensterlose Raum roch nach Schinkenspeck und sah aus wie das Kabuff eines Voyeurs. Ein Drehstuhl stand vor einer Reihe von Monitoren. Jeder wechselte regelmäßig das Bild mit immer demselben Ausschnitt: ein verlassener U-Bahnhof. Es war wie in einem langweiligen Science-Fiction-Film.

Ein Luftzug sagte ihm, dass der Polizist hereingekommen war.

»Wo sind welche Bahnsteige?«

Der Bahnpolizist zeigte es ihm; sie waren immer in Vierergruppen aufgeteilt. »Northern. Piccadilly. Victoria.«

River überflog sie. Alle zwei Sekunden ein neues Bild.

Unter der Erde ertönte ein fernes Grollen.

»Was ist das?«

Der Polizist starrte ihn an.

»Was?«

»Eine U-Bahn.«

»Fahren die noch?«

»Nur der Bahnhof ist geschlossen«, erwiderte der Polizist, als rede er mit einem Idioten. »Die U-Bahnen fahren noch.«

»Alle?«

»Ja. Aber die Züge halten nicht.«

Brauchten sie auch nicht.

»Welcher ist der Nächste?«

»Der nächste Zug, verdammt noch mal! Auf welchem Gleis?«

»Victoria. Richtung Norden.«

River war schon zur Tür raus.

Oben an der flachen Treppe stand ein kleiner, dunkelhaariger Mann, sprach in ein Headset und versperrte den Weg zurück zum Hauptbahnhof. Sein Tonfall veränderte sich abrupt, als er River erblickte.

»Er ist hier.«

Aber River war schon wieder weg. Er übersprang die Absperrung und stand oben auf der nächsten stillgelegten Rolltreppe. Er zog das Flatterband weg und eilte die erstarrten Stufen hinunter, immer zwei auf einmal.

Unten war es unheimlich leer. Wieder diese Science-Fiction-Atmosphäre.

U-Bahnen passierten die geschlossenen Haltestellen im Schneckentempo. River erreichte den Bahnsteig in dem Moment, als ein Zug wie ein großes, langsames Tier herbeikroch, nur Augen für ihn. Und es hatte viele Augen. River spürte alle von ihnen, all diese Augenpaare, die im Bauch des Monsters gefangen und auf ihn gerichtet waren, als er den Bahnsteig entlangstarrte, zu einer Person, die gerade aus einem Notausgang am anderen Ende aufgetaucht war.

Weißes Hemd. Blaues T-Shirt.

River rannte los.

Hinter ihm rannte noch jemand und rief seinen Namen, aber er reagierte nicht darauf. River befand sich im Wettlauf mit einem Zug. Er rannte mit ihm um die Wette und war dabei zu gewinnen – er holte ihn ein und überholte. Er hörte

Vor ihm – blaues T-Shirt, weißes Hemd – tat jemand ebenfalls das Einzige, was er tun konnte.

River hatte keine Luft mehr zum Rufen. Er hatte kaum noch Luft, sich vorwärtszukatapultieren, aber er schaffte es …

… beinahe. Beinahe schaffte er es, schnell genug zu sein.

Hinter ihm wurde erneut sein Name gerufen. Hinter ihm nahm die U-Bahn Fahrt auf.

Er war sich bewusst, wie ihn die Fahrerkabine überholte, fünf Meter von der Zielperson entfernt.

Denn dies war die Zielperson. Dies war von Anfang an die Zielperson gewesen. Während er sich ihr rasch näherte, erkannte er deutlicher den Jugendlichen, denn das war er: Achtzehn? Neunzehn? Schwarze Haare. Braune Haut. Und ein blaues T-Shirt unter einem weißen Hemd – fuck you, Spider –, das er aufknöpf‌te, und darunter kam ein Gürtel, bepackt mit …

Der Zug erreichte die Zielperson.

River streckte einen Arm aus, als könnte er die Ziellinie näher an sich heranziehen.

Die Schritte hinter ihm verlangsamten sich und erstarrten. Jemand fluchte.

Aber er war nicht annähernd nahe genug.

Die Zielperson zog an einer Schnur am Gürtel.

Und das war’s.

Slough House