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Julia Gruber

Der eigene Weg

Impulse für
mehr Lebenssinn
und Zufriedenheit

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Alle Geschichten sind frei erfunden. Der Einfachheit halber wird im Folgenden nur die männliche Schreibweise genutzt.

Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter gemeint.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie – detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2018

© 2018 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Druck: FINIDR, s.r.o., Lípová 1965, 737 01 Český Těšín

ISBN 978-3-99100-245-1

eISBN 978-3-99100-246-8

Inhalt

Einleitende Worte

1. Urvertrauen

Die Frau, die dem Silbermond folgte

Der Wunderbaum

Rendezvous auf der Wiese

Glück oder Unglück?

Späte Geborgenheit

Das goldene Blatt

Dreierlei Vertrauen

Allgemeines zum Urvertrauen

2. Beziehungen

Sie nannten es Liebe

Don Juan auf der Parkbank

1 + 1 = 3

Böse Pizza

Das kalte Ende

Eine wunderbare Idee

Tanz im Dunkel

Allgemeines zu Beziehungen

3. Macht und Wille

Sonne, Vögel und Beethoven

Das Spiel von Gut und Böse

Die Macht im Hause Bernstein

Der Zweck heiligt die Mittel

Party der Charaktere

Die Lektion mit der Mauer

Nachricht von Ziggy

Allgemeines zu Macht und Wille

4. Mitgefühl

Die Rose am Weiher

Zuhause in zwei Versionen

Das Gasthaus zur zerbrochenen Schale

Der Abt und sein Lieblingsschüler

Die Alte vom Berg

Vier Brüder

Der mutige Lehrer

Allgemeines zu Mitgefühl

5. Die eigene Wahrheit

Peters Wahrheit

Gerdas Wahrheit

Noahs Wahrheit

Carmens Wahrheit

Erics Wahrheit

Torstens Wahrheit

Gertrauds Wahrheit

Allgemeines zur eigenen Wahrheit

6. Geisteskraft

Drei Häuser für den König

Māngari

Der Leuchtturm

Friedhof unter Farnen

Der Brief

Tag X

Der Bauer mit der Krone

Allgemeines zur Geisteskraft

7. Freiheit

Fenster zum Tiger

Finger auf der Borke

Der Engel und die Rückenschmerzen

Flieg, Schmetterling!

Marten und der Tanz

Wirklich frei bist du, wenn …

Das Kätzchen und die Zeitungen

Allgemeines zur Freiheit

Ein Danke und wie das Buch entstand

Einleitende Worte

Das Leben ist alles: stürmisch und zart, öde und aufregend, schmerzhaft und voller Freude. Es ist gewaltiger, als wir uns je vorstellen könnten, und birgt alle Gegensätze in sich. Das Ganze ist wie ein großer Tanz von Anziehung und Abstoßung, an dem wir Menschen eingeladen sind mitzuwirken. Auf natürliche Weise gehen wir dabei jenen Dingen zu, die zu uns passen. Und vom Unangenehmen halten wir uns tendenziell fern, ob dies nun die zu heiße Herdplatte ist, ein Mensch, dessen Chemie nicht mit der unseren harmoniert, oder andere Umstände, mit denen wir uns unwohl fühlen. Dabei entsteht unser eigener, individueller Weg. So weit, so gut.

Doch das ist nicht alles. Gleichzeitig erzählen wir uns eine Geschichte von uns selbst. Wer wir sind und wer wir nicht sind. Was in der Welt dort „draußen“ gut ist und was schlecht. Wo wir besser dran sind als andere und wo wir benachteiligt werden. Was wir in der Vergangenheit nicht hätten tun dürfen und was in der Zukunft unbedingt passieren müsste, damit wir glücklich sein können. Wir versuchen zu steuern und zu rudern, zu kontrollieren und zu manipulieren. Und damit fängt unser Leiden an. Denn das Leben macht, was es will. Wir alle gleichen Kindern auf einem Jahrmarktskarussell: Wir sitzen in den kleinen bunten Autos und lenken wild in alle Richtungen. Doch in Wirklichkeit fahren wir gemeinsam im Kreis. Welches Ziel wir dort draußen auch immer für unsere Fahrt auswählen mögen, es wird an uns vorbeihuschen und uns nicht längerfristig befriedigen. Halten wir es lieber mit Ernst Ferstl, der sagte: „Die Kunst eines erfüllten Lebens ist die Kunst des Lassens: Zulassen – Weglassen – Loslassen.“ Statt verkrampft an bestimmten Vorstellungen über unseren Lebensweg festzuhalten, können wir es uns genauso gut in unserem Karussellauto gemütlich machen, den Fahrtwind in unseren Haaren spüren, die Aussicht genießen und das sich ständig wandelnde Leben.

Ist Ihnen diese Einstellung zu passiv? Die Erfahrung zeigt, dass aus einer entspannten inneren Haltung die effektvollsten Handlungen entstehen können. Deshalb ist in der japanischen Kampfkunst Aikido der friedfertige, gelassene Geist Grundlage jeder gelungenen Aktion. Aggression, Angst und Ablehnung beeinflussen das natürliche Reaktionsvermögen und schwächen den Kämpfer. Erst wenn wir den Dingen ihre inhärente Natur belassen, ohne sie beeinflussen oder verändern zu wollen, können wir sie wirklich erkennen. Damit erlangen wir den besten Überblick, um sie lenken und nutzen zu können.

Im Zen gibt es den Begriff des „Anfängergeistes“. Er beschreibt die Fähigkeit, die Dinge immer wieder frisch und neu zu sehen. Sozusagen mit den Augen eines Kindes. In diesem Buch werden Sie dazu eingeladen, den Protagonisten der Geschichten (und gleichzeitig sich selbst) entsprechend unvoreingenommen und offen zu begegnen. Jeder Moment des eigenen Weges, so schmerzhaft er manchmal erscheinen mag, ist ein einmaliges, unwiederholbares Wunder. Und er ist niemals von Dauer.

Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert, die jeweils ein wichtiges Thema des Menschseins beleuchten: Urvertrauen, Beziehungen, Macht und Wille, Mitgefühl, die eigene Wahrheit, Geisteskraft und Freiheit.1

Jedes Kapitel wiederum besitzt sieben Miniaturgeschichten. Weil sie so kurzgehalten sind, können Sie diese auch gemütlich zwischendurch in einer Pause lesen. Lassen Sie sich dabei Zeit. Im Zen gibt es die alte Tradition der Kōans. Diese verdichteten Lehrgeschichten und Anekdoten haben oft paradoxe Inhalte. Sie werden dem Schüler vom Meister übergeben, damit dieser zur Erkenntnis der „Nichtzweiheit“2 vordringen kann. Wer ein Kōan nur verstandesmäßig interpretiert, geht oft am Kern der Sache vorbei. Denn sein wahrer Gehalt offenbart sich durch Meditation und Innenschau. Auch von den Geschichten in diesem Buch profitieren Sie am besten, wenn Sie sich immer wieder Zeit zum Innehalten geben und das Gelesene in sich nachwirken lassen.

Nach Lust und Laune können Sie nun das Buch aufschlagen und einen Text lesen, der Sie gerade anspricht. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, das Buch als systematischen Begleiter und Übungsfeld im Alltag zu nutzen. Nehmen Sie sich dazu jede Woche ein Kapitel vor und lesen Sie davon täglich eine Geschichte. Sie werden erstaunt feststellen, welche Magie das Buch nun entfalten kann: Das jeweilige Thema, in das Sie eintauchen, wird sich auch in Ihrem Leben wiederfinden, denn die Energie folgt der Aufmerksamkeit.

Wenn Sie sich also beispielsweise das Kapitel 1 (Urvertrauen) vorgenommen haben, könnte es sein, dass Sie sich plötzlich in Situationen wiederfinden, in denen Ihr Urvertrauen gefordert wird. Beim Schreiben des Buches ist es mir selbst so ergangen. Ich war gerade beim 1. Kapitel, als ich in einer Schule versehentlich einen Feueralarm auslöste. Es war bloß viel Lärm um nichts: kein Brand, kein Sachschaden … Doch das Gebäude wurde vorschriftsmäßig evakuiert. Ich wartete mit etwa zweihundert Menschen in Hausschuhen in der Sicherheitszone im Park, während ein riesiges Feuerwehrauto mit sechs Männern in Schutzanzügen heranbrauste. Inklusive Blaulicht und Sirene, wie wir es von Actionfilmen kennen. Und ich stand da, konnte nichts tun und wäre am liebsten vor Scham im Erdboden versunken. Einatmen, ausatmen … Urvertrauen.

So konnte ich jedes der sieben Themen während des Schreibens in meinem Alltag wiederfinden. Und ich empfand es als sehr stimmig, dass gerade das letzte Kapitel zum Thema Freiheit in der Zeit um Weihnachten entstand. In jenen Tagen, in denen nach alter Tradition das Licht neu geboren wird. Ich hoffe, dass Sie beim Lesen des Buches so viel Freude empfinden wie ich beim Schreiben!

Herzlich,
Julia Gruber

1Für einen vertieften Einstieg in das Buch können Sie das jeweilige Thema auch mit den sieben Bewusstseinsebenen des indischen Chakrasystems in Bezug setzen:

1. Urvertrauen: Wurzelchakra (sanskr.: Muladhara = Wurzel, Stütze)

2. Beziehungen: Sakralchakra (sanskr.: Svadhisthana = Süße, Lieblichkeit)

3. Macht und Wille: Solarplexuschakra (sanskr.: Manipura = leuchtender Juwel)

4. Mitgefühl: Herzchakra (sanskr.: Anahata = nicht angeschlagen, unbeschädigt)

5. Die eigene Wahrheit: Halschakra (sanskr.: Vissudha = reinigen)

6. Geisteskraft: Stirnchakra (sanskr.: Ajna = wahrnehmen)

7. Freiheit: Kronenchakra (sanskr.: Sahasrara = tausendfältig)

2Nichtzweiheit (Nonduality) weist darauf hin, dass die einzelnen Dinge und das eigene Ich keine vom Rest abgegrenzte Existenz besitzen.

1.
Urvertrauen

Die Frau, die dem Silbermond folgte

Faru stand auf. Sie dehnte ihren Rücken. Seit jenem Tag, als sie fortgelaufen war, wies er eine krumme Stelle auf. Das machte sie kleiner, als sie eigentlich war. Faru lebte als Haushälterin, Kindermädchen und Bettgenossin im Haus von Yusuf. Ihre Eltern hatten sie an einen Händler verkauft, der ihnen Geld und eine gute Ausbildung für ihre Tochter versprochen hatte. Nach einer zweitägigen Reise in einem Transporter mit fünfzehn anderen Mädchen war sie zu Yusuf gekommen.

Ihr Arbeitstag hatte vierzehn Stunden. Manchmal arbeitete sie auch in der Nacht. Sie hatte kein eigenes Geld, keine Papiere und ihre Verbindung zur Außenwelt beschränkte sich auf die wenigen Blickkontakte im Garten, wenn ein paar Jungs zufällig über die Mauer lugten und nach ihr pfiffen.

Am Anfang dachte Faru, dass sich ihre Situation schon bessern würde, wenn sie ihre Tätigkeiten gut machte. Doch stattdessen wurden ihr noch mehr Arbeiten auferlegt. Dann versuchte sie, sich mit den Kindern anzufreunden, aber das mochte Yusuf nicht. Er duldete nichts Persönliches. Zur Strafe schnitt er ihr die Haare ab.

Immer wenn es ihr schlecht ging, hatte Faru den Traum, dass ihre Eltern sie eines Tages fänden und befreiten. Sie malte sich das Wiedersehen in den schönsten Farben aus: Im Dorf hätte man ihr zu Ehren einen Empfang vorbereitet. Die Freundinnen würden ihr Blumen ins Haar stecken wie einer Prinzessin. Die Burschen wären ganz neugierig auf all ihre Abenteuer in der fremden Stadt. Und im Haus der Eltern würde es nach frisch gebackenem Fladenbrot duften. Das dachte Faru und arrangierte sich so mit ihrem Kummer.

Doch vor einiger Zeit konnte sie das Bild ihres Dorfes nicht mehr heraufbeschwören. Da wurde Faru klar, dass die Eltern nicht mehr kommen würden, um sie zu retten. Nicht heute, nicht morgen, nicht in einem Jahr. Denn sie hatten fünf weitere Kinder zu versorgen und die kleine Landwirtschaft dazu. Wahrscheinlich wussten ihre Eltern nicht einmal, wo sie war. Faru hatte ja selbst keine Ahnung.

Da lief sie weg, denn ohne Hoffnung wollte sie nicht leben. Es dauerte fünf Stunden, bis Yusufs Leute sie in einer Scheune im Nachbarort fanden. Sie hatten die Hunde dabei. Die krumme Stelle in ihrem Rücken erinnerte sie noch heute daran. „Damit du so etwas nie wieder tust“, hatte Yusuf geschrien, „nicht einmal in deinen Träumen!“ Und er prügelte sie windelweich.

Faru wusste, dass ihr an dem Tag nicht nur die Wirbelsäule gebrochen wurde. Sie verlor die Lust zu essen. Ihre Augen wurden schlechter, vielleicht wollte sie die Welt nicht mehr sehen. In ihr gab es so viel Leid, kein Ende in Sicht. Sie dachte an das große Meer im Norden, von dem ihr Onkel erzählt hatte. Es reichte bis zum Horizont. „Und wenn du mit dem Schiff bis zum Horizont fahren willst“, sagte der Onkel, „dann läuft er vor dir davon.“

Welchen Sinn sollte ein Leben mit so viel Leid haben? Faru beschloss, sich umzubringen. Sie musste es nur klug anstellen, damit Yusuf ihr dabei nicht auf die Schliche kam. In einem geeigneten Moment würde sie sich vom Dach des Hauses auf die Steinplatten fallen lassen. Am besten nachts. Wenn sie sich bemühte, müsste es ausreichen, um sich das Genick zu brechen.

Heute war es so weit. Der Mond stand schon hoch am Himmel und die Lichter der Nachbarschaft waren ausgegangen. Faru schlich auf Zehenspitzen zur Dachluke hoch und kletterte flink nach oben. Über ihr thronte der runde Mond am Nachthimmel, blickte sie mit seinem silbernen Gesicht an. Schnell trat sie bis an die Mauerkante vor und wagte einen Blick nach unten. Es war schattig dort. Faru dachte an ihre Mutter und wie hart diese gearbeitet hatte, um alle Kinder durchzufüttern. An ihren Vater, der sie gerne als Lehrerin gesehen hätte. An ihre eigenen Träume, die in den letzten Jahren in Yusufs Haus – wie viele waren es eigentlich gewesen? – zu Staub zerfallen waren. Plötzlich schien es ihr, als ob der Mond zu ihr sprach. Er hatte die Stimme ihres Onkels und sagte: „Faru, jedes Menschenleben ist einzigartig! Ob es nun leidvoll ist oder glücklich. Was macht das schon für einen Unterschied? Für das Leben ist alles kostbar. Sieh her!“ Und dann ließ der Mond sein Silberlicht über das Häusermeer fließen. Er goss es über alle Dächer, die großen und die kleinen. Es verfing sich in den Ästen der Granatapfelbäume und im Gewirr der übervollen Mülltonnen. Auch Farus Arme und Beine leuchteten im Silberglanz. Ihr Gesicht, ihre Haare, die schon wieder nachgewachsen waren. Mondlicht drang in ihre Lunge, in die gekrümmte Wirbelsäule, strömte über ihre Blutbahn bis in ihr Herz.

Da stand sie, Faru, die Silberfrau. Hatte alle Hoffnung und Angst verloren. Langsam stieg sie vom Dach hinunter, streichelte Yusufs Hunde zum Abschied und öffnete das Tor. Es war kälter hier in dieser Gegend, also würde sie sich nach Süden wenden. Der Mond leuchtete ihr den Weg bis zum Fluss. Dort löste sie das Tau eines Bootes und ließ sich vom silbernen Wasser sachte stromabwärts tragen.

Der Wunderbaum

Was war das bloß für ein grauenhafter Geruch? Karl versuchte sich zu konzentrieren und Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Rund um ihn surrte und piepte es, es waren die vertrauten Geräusche des Krankenraums. Dieser Gestank – wo hatte er ihn zuletzt gerochen? Diese Mischung aus Fäkalien, Tannenwald und Chemiefabrik. Jetzt fiel es ihm wieder ein: das Taxi! Vor dem Unfall. Ein Duftbaum war am Rückspiegel befestigt gewesen. Nach dem Zusammenprall war er direkt über seiner Nase gelegen.

Mühsam öffnete Karl sein rechtes Auge. Ein Auge musste reichen, um diesen schrecklichen Verdacht zu erhärten. Tatsächlich, da hing das grüne Ungetüm. Angebunden an seinem dreiecksförmigen Bettaufrichter. Karl schnaufte auf: Unfassbar! Wem war dieser schlechte Scherz eingefallen? Verwandte hatte er keine, demnach konnten es nur Arbeitskollegen gewesen sein. Wollten sie damit andeuten, dass er nicht gut genug roch? Denen würde er es heimzahlen! Dass sie ihn so demütigten, seine schwache Lage so ausnutzten! Wut stieg aus der Tiefe seiner Eingeweide auf. Siedend heiße Wut.

„Hallo, Herr Opa, bist du jetzt wach?“, ertönte eine kleine Stimme. Eine Stimme von rechts. Er sah nichts, konnte ja seinen Kopf nicht bewegen.

„Gefällt dir der Baum? Ich habe ihn aus dem Auto meiner Mama mitgenommen.“

Wieso gab es in dem Krankenzimmer plötzlich Kinder? Er musste nach der Schwester klingeln, sie sollte den Rotzlöffel hinauswerfen. Wo war bloß der verdammte Knopf? Ach, jede Regung tat ihm so weh.

„Weißt du, meine Mama erlaubt mir immer, dass ich mich ein bisschen umsehe im Spital, damit mir nicht fad wird. Sie arbeitet zu Weihnachten, weil sie dann mehr bezahlt kriegt.“

Wo war bloß dieser Klingelknopf? Verzweifelt versuchte Karl seine Hand zu bewegen. Umsonst, alles wie fixiert. Da lag er nun und irgendwo neben ihm war dieser freche Bengel. Mein Gott, was dem noch alles einfallen könnte. Wann kam endlich die Krankenschwester? Das Spital war auch kein sicherer Ort für ihn. Er versuchte zu rufen, er strengte sich an. Doch es kam nur ein klägliches Stöhnen über seine Lippen.

„Hier bin ich! Warte, ich klettere auf einen Stuhl, damit du mich besser sehen kannst.“

Ein kleiner Kopf mit rotblonden Haaren und Sommersprossen tauchte in Karls Gesichtsfeld auf.

„Du siehst aus wie mein Opa, deswegen setze ich mich jeden Tag zu dir. Bisher hast du nur geschlafen.“

Um Gottes willen, der Rotzlöffel war schon öfter da gewesen! Hoffentlich hatte er nichts aus der Schublade gestohlen. Karl nahm sich vor, die Krankenschwester zu bitten, seine Geldtasche besser zu verstauen. Und dem Kerl sollte sie eine gehörige Tracht Prügel verpassen. Verzweifelt versuchte Karl seine Hand zu bewegen. Doch sie rührte sich keinen Millimeter von der Stelle.

„Meine Mama sagt, dass es den Menschen guttut, wenn sie gemeinsam unter dem Weihnachtsbaum sitzen. Deswegen habe ich den Duftbaum auf deine Turnstange gebunden. Dann können wir hier gemeinsam Weihnachten feiern.“

Eine Zeit war es still, einmal abgesehen von dem steten Surren und Piepen der Geräte.

„Mein Opa ist schon tot. Schau, ich habe Kekse mitgebracht.“

Wieder tauchte der rote Schopf des Buben auf. Dann hörte Karl das leise Knacken des Backteiges.

„Sie schmecken gut. Du musst erst gesund werden, dann gebe ich dir einen. Morgen komme ich wieder.“

Karl schloss die Augen. Er hörte das leise Klicken der Türe und war wieder allein. Der Bub nannte ihn Opa. Er hatte ihn zum Abschied an der Wange berührt. Karl schlief ein und träumte von einem Tannenwald.

Abends flog die Türe auf. Ein Arzt beugte sich über sein Bett: „Herr Berger, was soll denn dieser alberne Duftbaum an Ihrem Triangelgriff? Ich nehme ihn ab.“

Karl wusste, dass er es konnte. Er würde es schaffen. Ganz langsam neigte er seinen Kopf von links nach rechts. Zum ersten Mal hatte er ihn wieder alleine bewegt, ein Nein zustande gebracht. Nein! Sie sollten den Baum nicht abnehmen. Es war sein Wunderbaum. Und morgen würde er mit seinem kleinen Freund darunter Weihnachten feiern.

Rendezvous auf der Wiese

Er lebte mit ihr, tagein und tagaus. Und weil diese Routine schnell zur Selbstverständlichkeit wird und ihren Zauber verlieren kann, trafen sie sich jede Woche zu einem Rendezvous. Immer auf der großen Wiese oberhalb seines Hauses.

Auch heute suchte er eine geeignete Stelle im Gras aus und ließ sich nieder. Das Wichtigste für ihr Treffen war, sich Zeit zu geben. So konnte der Lärm in seinem Kopf verebben, die vielen Alltagsgedanken. Er legte sich auf den Rücken und verlor sich in der unendlichen Weite über ihm. Manchmal sah er zarte Wolkenformationen im Himmelsblau und jene langen weißen Striche, die Menschen auf ihren Flugreisen zeichneten. An anderen Tagen lag eine dicke, graue Decke über ihm ausgebreitet, zum Greifen nah. Oder es nieselte. Doch sie begegneten einander bei jedem Wetter. Das machte ihr Rendezvous so wertvoll. So vertraut.

Auch heute waren sie beide da. Er strich mit seinen Fingern durch ihr grünes Haar. Wie fein die Halme waren, wie vielgestaltig! Sie kitzelten ihn sanft auf der Haut. Andere Blätter waren kratzborstig, sodass er seine Hand schnell zurückzog. Rund um ihn duftete es nach Kamille und Sommerkräutern. Sie roch an jedem Tag anders, doch immer vertraut: manchmal nach frisch geschnittenem Gras, dann wieder herb nach feuchter Erdkrumme und moderndem Herbstlaub. Oder nach Schnee.

Während er so dalag mit ihr, entspannte sich sein ganzer Körper. Er fühlte, wie sein kleiner Rücken von ihrem großen getragen wurde. Seine Gürtelschnalle hob und senkte sich bei jedem Atemzug. Am Waldrand raschelten die Blätter der Bäume sanft im Wind. Es war ein gemeinsames Atmen und Pulsieren. Er, der Kleine. Und sie, die Große. Mutter Erde.

Glück oder Unglück?

Es waren einmal drei Freunde: Paul, Otto und Felix. Sie beschlossen, auf eine Reise zu gehen, um mehr von der Welt kennenzulernen.

Paul war ein Perfektionist, der nichts dem Zufall überließ. Akribisch plante er sein Gepäck, denn er wollte auf alle Situationen vorbereitet sein: Verbandskasten und Medikamente, Werkzeug, Essensvorräte, Kochutensilien, Landkarten. Auch die Wahl des rechten Autos musste bedacht werden – vielleicht ein Wohnmobil mit Anhänger?

Otto wiederum malte sich seine Abenteuerreise in leuchtenden Farben aus. Er wollte bis zum Meer im Osten kommen, vielleicht sogar darüber hinaus. Er würde einen schnellen Flitzer kaufen, um die Damen am Weg zu beeindrucken. Oder sollte es doch lieber ein Geländewagen werden? In jedem Fall sollte das Auto seinen sportlichen Typus unterstreichen.