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Das Buch

Die Schwestern Adele und Elisabeth Kohlbrenner verlassen ihre Heimat jung, um an der Aufbruchstimmung des Wirtschaftswunders teilzuhaben. In der Mitte ihres Lebens bereuen sie jedoch, ihre Wurzeln abgeschnitten und das Glück an Orten gesucht zu haben, wo es für sie nicht zu finden war. Sie kehren nach Dachsberg im Südschwarzwald zurück und beschließen, einen alten Traum Wirklichkeit werden zu lassen, ihren Traum vom Rosengarten. Gemeinsam bewirtschaften sie ein Brachland in den Hügeln, ausgerechnet dort, wo zuletzt die Verpackungsfirma ihres Bruders stand, der nach einem Umweltskandal schließen musste. Adele und Elisabeth wollen dieses Land der Natur zurückgeben und den schönsten Rosengarten des Schwarzwalds anlegen. Jeder, der etwas davon versteht, rät ihnen ab: Die Höhenlage sei nichts für Rosen, der Boden zu steinig. Doch die beiden lassen sich nicht beirren.

Die Autorin

Marie Brunntaler wurde in Menzenschwand im Südschwarzwald geboren und verbrachte ihre Kindheit als Bauernmädchen. Gegen Ende der Wirtschaftswunderzeit absolvierte sie ein Biologiestudium und engagierte sich während der Ölkrise 1973 für ökologisches Umdenken im Energiebereich. Sie arbeitete als Sachbearbeiterin für Landschaftsplanung in Heidelberg und Bonn, wo sie Willy Brandt nach dessen Rücktritt als Bundeskanzler persönlich kennenlernte. Heute lebt sie mit ihrem Sohn in der Nähe der Schweizer Grenze. Das einfache Leben ist ihr erster Roman.

MARIE

BRUNNTALER

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ISBN 978-3-96161-507-0


© 2018 Julia Eisele Verlags GmbH, München

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für die Menschen aus Hierholz

1
SEPTEMBER 1990

Elisabeth stieß die Fensterflügel weit auf. Hier war ihr Land, ihr Hügel, es war das schwere Grün des Spätsommers, der sich störrisch an die Natur klammerte und dem Herbst noch nicht weichen wollte. Elisabeths Land war der Dachsberg, ihre Heimat die Höhe des Südschwarzwaldes. Vom Rhein aus war sie die ganze Strecke hochgefahren bis auf tausend Meter, den weitesten Weg ihres Lebens, den schmerzlichsten.

Das Haus strahlte Verwahrlosung aus. Es beschämte Elisabeth, wie dreckig es war, nicht im Sinn von Reinlichkeit, sondern in der Art, wie Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit an diesem Ort ihr Werk getan hatten. Bis zu seinem Tod hatte der Vater hier gelebt, an diesem Fenster hatte er gesessen. Den großen Kachelofen hatte er nicht mehr geheizt, nur noch den Küchenherd. Jeden Tag hatte er sich darauf das Bier gewärmt, weil sein Magen kaltes Bier nicht vertrug.

Elisabeth ließ die klare Luft herein, die weiche Luft des Sonnenuntergangs. Sie war müde von der langen Reise, von der Qual der Entscheidung, dem wochenlangen Ringen, bevor sie den Weg hierher gefunden hatte, und doch gab es kein Ausruhen für sie. Gleich wollte sie damit beginnen, alles schön und einladend zu machen, denn das alte Haus sollte Besuch bekommen.

Noch schien die Sonne auf den Kohlbrennerhof, aber bald würde sie hinter dem Kirschbaum verschwinden, wenig später hinter dem Tannenwald, der den Dachsberg nach Westen begrenzte. Danach würde es rasch kühl werden, der lebendige Tag binnen Minuten in die Kälte der Nacht umschlagen. Bis dahin musste der Ofen brennen. Von der Küche aus öffnete Elisabeth die Klappe des Kachelofens, der nebenan in der Stube stand. Er war die Majestät des Hauses, sein Herz, er war über zweihundert Jahre alt. Als Kind hatte Elisabeth beim Reinigen des Ofens eine alte ­Kachel entdeckt, in die der Ofensetzer die Jahreszahl eingraviert hatte, 1796. Als dieser Ofen gebaut worden war, kämpfte Napoleon gerade im Italienfeldzug. Seitdem hatte der Ofen Tag für Tag und Nacht für Nacht gebrannt und die Menschen des Hofes gewärmt. Als kleines Mädchen hatte Elisabeth auf der Ofenbank aus Speckstein geschlafen. In kalten Nächten war die ganze Familie an den Ofen gerückt, die Kleins­ten hatten sich oben draufgelegt, dort schlief man wunderbar.

Elisabeth zerriss einen alten Karton, der in der Küchenecke lag, und ging in den Stall. Wo früher Kühe und Schweine standen, hatte der Vater, seit er die Landwirtschaft aufgegeben hatte, sein Brennholz gelagert. Versonnen sah sich Elisabeth zwischen den raumhohen Stapeln um. Es war noch genügend Holz da, um über den Winter zu kommen. Die massiven Scheite, einen Meter lang, lagerten im Schweinekoben, die Äste der Nadelhölzer an der Wand daneben, das waren die Bengele. Elisabeth nahm einen Arm voll Bengele und etwas Kleinholz und brachte alles in die Küche. Sie schichtete die Äste im Ofen übereinander, packte den Karton dazwischen, feuerte ein Stück Zeitung an und schob es hinein.

Der Ofen zog. Nach Jahrzehnten, in denen er kalt geblieben war, zog er immer noch, qualmte nicht, stank nicht, der heiße Rauch fraß sich in die Höhe. Schon glomm es, schon zischte und knackte es, das uralte Holz schien sich regelrecht zu freuen, in den Flammen zu zerspringen und zu verglühen. Elisabeth ging noch einmal hinüber und kam mit fünf schweren Scheiten wieder. An einem kalten Tag im Winter hatten sie manchmal das Holz einer kleinen Tanne im Kachelofen verheizt, um das Haus warm zu halten. Elisabeth schloss die Klappe und drosselte die Luftzufuhr. Nun konnte sich das Feuer langsam entfalten.

Nachdem sie mit dem Besen das Gröbste gefegt hatte, holte sie den Staubsauger. Er war bei weitem nicht das Älteste in diesem Haus, trotzdem wirkte er wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit, ein Miele mit hohem Stiel, dessen Körper einem Schlitten glich. Elisabeth begann mit der Arbeit im Oberstock. Man putzte ein Haus immer von oben nach unten, das hatte die Mutter ihr beigebracht. Das Elternschlafzimmer war mit Birkenholz getäfelt, für einen Bauernhof bedeutete das Reichtum. An solchen Kleinigkeiten sah man, dass die Kohlbrenners einmal die Herren auf dem Dachsberg gewesen waren.

Das Mädchenzimmer, hier waren Elisabeth und ihre Schwester aufgewachsen. Vom Boden bis zur Decke erhob sich die Bücherwand, die Elisabeth immer noch einen Schauder des Erhabenen einjagte. Dem Vater waren Bücher gleichgültig gewesen, die Mutter hatte in jeder freien Minute gelesen. Elisabeth stellte den Staubsauger beiseite und zog Gullivers Reisen aus dem Regal. Sie fand die Stelle, wo sie vor über dreißig Jahren etwas an den Rand gekritzelt hatte.

Die unaufhaltsame Zeit, die Umstände, die Vergangenheit, Erinnerungen durchpulsten sie plötzlich, der Krieg, der Tod der Mutter, alles stand lebendig vor ihr, mächtig und beängstigend, auch schön, durchweht von Sommerwinden, der Geruch von frischem Heu, die schreienden Kühe, die gemolken werden wollten, der Blitz im Birnbaum, die alte Kathi, die beim Beten in der Kapelle erfroren war, alles, alles war wieder da und stärker, größer, unausweichlicher, weil ein halbes Leben dazwischen lag, Elisabeths Leben.

»Leben«, flüsterte sie und schlug Gullivers Reisen zu. Hier und heute die alten Fenster aufzustoßen und die Wärme hereinzulassen, das war kein Weg zurück, es war ein Blick in die Zukunft.

Elisabeth arbeitete sich Zimmer für Zimmer vor, putzte die Werkstatt des Vaters, das Bad mit der guss­eisernen Wanne, das knarrende Treppenhaus, Vor­rats­kammer und Küche, Arbeitszimmer und Stube. Obwohl ihr heiß geworden war, lehnte sie sich zwischendurch an die dunkelgrünen Fliesen des Kachel­ofens. Wie schnell er warm wurde, wie selbstverständlich er Behaglichkeit verströmte. Später, wenn die Nacht hereinbrach, würden die Kacheln so heiß sein, dass man sie kaum noch berühren konnte.

2
DER ALTE FEIND

Am nächsten Tag wurde es so sonnig, dass Elisabeth die Arbeit in ihrem leichten Sommerkleid verrichtete. Es war ein Stadtkleid, das sie in Bonn getragen hatte, wenn sie mit Dietrich am Rhein spazieren ging. Für ihn trug sie es auch heute, weil sie im Geist bei ihm sein wollte. Aber Elisabeth merkte rasch, dass dieses Kleid nicht in die Landschaft passte. Es war zu verspielt, zu luftig, es hatte dem Wetter hier, das in Minuten umschlagen und grimmig werden konnte, nichts entgegenzusetzen. Elisabeth wollte das Kleid ausziehen und im Schrank nach alten Sachen suchen.

Gerade als sie hineinging, tauchte Alexander Beh­ringer auf der Hügelkuppe auf. Er stieg über den Draht, der die Behringerwiese von der Kohlbrenner­wiese trennte. Der Draht führte Strom, Elisabeth hatte seine Kühe drüben auf der Weide schon gesehen, schöne braunweiße Kühe, die so lange draußen bleiben würden, bis mit dem ersten Frost die Zeit der Sommerweide vorbei war. Sie hätte nun rasch hineinlaufen und sich umziehen können, doch das wäre ihr wie eine Flucht erschienen. Vor den Behringers lief Elisabeth nicht davon. So wie sie war, blieb sie im Hauseingang stehen.

Alexander Behringer war zwei Jahre älter als sie. Ein schwarzhaariger Kerl, das Grau an den Schläfen stand ihm, er war braungebrannt und trug zur Arbeitshose nur sein Unterhemd. Die raue Gegend, die schwere Arbeit, hier oben sahen die Menschen oft ­älter aus. Alexander widerlegte das. Er hatte bald Geburtstag, fiel ihr ein, Skorpion, während Elisabeth im Krebs geboren war. Dann würde hier also bald der fünfzigste Geburtstag des Königs vom Dachsberg gefeiert werden, dachte sie, während er den Hügel herunterkam. Bestimmt würde er alles aufbieten, um seine Königswürde weithin sichtbar zu machen.

Jahrzehnte hatten sie einander nicht gesehen, und ausgerechnet heute musste sie ihm in diesem Kleid begegnen. Elisabeth war schwerer geworden, das Kleid saß nicht mehr so leicht wie früher. Für Dietrich hatte sie es angezogen, weil ihre Beine darin zur Geltung kamen. Wenn die Elisabeth nicht so schöne Beine hätt, hatte er gesungen. Für Dietrich hatte sie schön sein wollen, vor Alexander schämte sie sich.

»Grüß dich, Kohlbrennerin.« Er trat unter den alten Apfelbaum, der sich vor dem Westwind in all den Jahrzehnten immer tiefer gebeugt hatte.

»Grüß dich, Alex.« Um ihre Aufmachung zu verbergen, setzte sie sich an den ausgebleichten Gartentisch.

Er stemmte den Arm in die Hüfte. »Die feine Dame aus der Stadt gibt uns die Ehre.«

»Das war ich nie.«

»Da habe ich etwas anderes gehört.«

»Was man auf dem Dachsberg schon so hört.« Sie wollte lächeln, die Sonne blendete sie, es wurde ein Blinzeln daraus.

»Du kennst immerhin unseren früheren Bundeskanzler.«

»Ich war eine kleine Sekretärin.« Elisabeth hatte schwarze Johannisbeeren geerntet und zog den Topf heran. »Ich habe den Kanzler nur ein paar Mal gesehen.«

»Immerhin. Bei uns hier oben kriegt man bestenfalls den Bürgermeister zu sehen.« Er hatte gute Falten gekriegt, wie das bei den Männern eben war.

»Wer ist denn zurzeit Bürgermeister vom Dachsberg?«

»Er steht vor dir.« Alexander lächelte sein verschmitztes Lächeln, das er schon als Junge gehabt hatte. Seit frühester Kindheit war er Elisabeths Quälgeist gewesen. Weil er älter und stärker war, hatte sie sich gegen ihn kaum wehren können. Er hatte ihr Schlangen ins Bett gesetzt, Harz in die Haare geschmiert und sie im Kleiderschrank eingesperrt, bis Elisabeth so panisch geworden war, dass sie die Schranktür gewaltsam aufgetreten hatte. Das Schloss war nie repariert worden. Alex und Elisabeth hatten einander mit kindlicher Inbrunst gehasst. Vor ihrer Schwester Adele hatte er allerdings immer eine unerklärliche Scheu gehabt.

»Respekt, Herr Bürgermeister.« Als er sich neben sie auf die Bank setzte, rückte Elisabeth ein wenig zur Seite. Sie schämte sich für ihre weißen Schenkel. Während der Monate vor Dietrichs Tod war sie kaum an die Sonne gegangen. Wie eine bleiche Lilie kam sie sich neben dem wettergegerbten Alex vor.

»Wie lange bleibst du?« Er aß von den Johannisbeeren.

Die Frage machte sie ratlos. Die erste Nacht im Elternhaus war unheimlich gewesen. Der Wind, der einen Ast gegen die Hauswand schlug, die knarrenden Dielen, als Elisabeth aufs Klo gegangen war, der kalte Mond, der das Anwesen in sein totes Licht tauchte, und ihr eigenes ängstliches einsames Herz. Nie während der Kindheit hatte sie sich auf dem Dachsberg gefürchtet, heute Nacht aber war sie hinuntergegangen, hatte das Tor zweimal zugesperrt und den Riegel vor die Stalltür gelegt.

Der Abschied von Dietrich fühlte sich hier anders an als in Bonn. Elisabeths Trauer war auf seltsame Weise zu Stein geworden, sie fand keinen anderen Ausdruck dafür. Dietrich war tot, und sie hatte nicht an seinem Grab geweint. Nicht einmal die letzte Ehre hatte sie ihm erweisen dürfen, während die anderen, denen er nicht so viel bedeutete, eine Schaufel Erde auf seinen Sarg geworfen hatten. Er war zu prominent, als dass seine Geliebte auf dem Begräbnis erwünscht gewesen wäre. Weit im Hintergrund hatte Elisabeth auf dem Friedhof gestanden, rund um sie marmorne Engel mit den Inschriften, dass einer auf ewig unvergessen sei. Sie würde Dietrich nie vergessen, ihr halbes Leben hatte sie mit ihm verbracht. Seine Frau war sie gewesen, immer nur im Verborgenen, stets auf Abruf. Die andere, seine Gattin, hatte die Hände der Trauergäste geschüttelt. Als der Männer­chor So nimm denn meine Hände angestimmt hatte, war Elisabeth gegangen. Es war Liebe, was half es denn? Die Liebe ihres Lebens. Nach seinem Tod hatte sie nicht gewusst, wohin mit sich. In Bonn, diesem aufgeblasenen Provinznest, wollte sie nicht länger leben.

»Wie lange? Das kann ich noch nicht sagen«, antwortete sie und begann die Johannisbeeren von den Stielen zu streifen.

»Ich dachte, du kommst nur her, um das Haus zu verkaufen.«

»Wer behauptet das?«

»Niemand. Aber wäre es nicht höchste Zeit, die Bruchbude loszuwerden? Noch einen Winter übersteht der Hof bestimmt nicht.«

Sie zeigte nach oben. »Schau dir den Dachfirst an. Zweihundert Jahre alt und immer noch gerade wie ein Lineal.«

»Überall nagt der Wurm, von unten drängt das Wasser hoch. In den Balken sitzt der Schwamm.«

»Das ist mein Zuhause«, antwortete Elisabeth mit wachsender Ratlosigkeit.

»Was willst du denn sonst hier oben, wenn du nicht verkaufen möchtest?«

Es gab Menschen auf dem Dachsberg, denen Elisabeth sich anvertraut und gesagt hätte, dass sie allein war und richtungslos, dass sie die Einsamkeit fürchtete und die provinzielle Bundeshauptstadt hasste. Doch Alexander würde sie das nicht sagen, nicht Beh­ringer, dem alten Feind.

»Adele kommt mich bald besuchen«, antwortete sie stattdessen.

»Die feine Adele in dieser Bruchbude?« Er lachte ein Lachen, das nur in seinen Bernsteinaugen lag. »Keine Nacht steht die Prinzessin hier oben durch. Das Wetter hält sich nicht mehr lange, und wenn die Herbststürme kommen, bläst es bei euch durch jede Ritze.« Er machte eine Geste, als ob das Kohlbrennerhaus davonfliegen würde.

Sie sah den kantigen Kerl an, den arroganten König vom Dachsberg. Seine Art machte Elisabeth immer noch wütend. Zuerst waren die Behringers auf dem Dachsberg gewesen, die Viehbauern, sie bewirtschafteten die Hügel und die freien Flächen zwischen den Wäldern. Das Gras wuchs in den Sommermonaten reich und üppig, das Heu der ersten Maht reichte für das Vieh den ganzen Winter über. Das Heu der zweiten Maht verkaufte Behringer ins Tal. Zweimal die Woche hielt der Tankwagen vor seinem Haus und brachte Behringers Milch in die Molkerei.

Die Kohlbrenners waren erst nach den Behringers auf den Dachsberg gekommen, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie hatten die Wälder, die den kleinen Höfen angegliedert gewesen waren, nach und nach aufgekauft. Irgendwann hatten alle Wälder den Kohlbrenners und alle Wiesen den Behringers gehört. Seitdem gab es zwei Ansprüche, zwei Gesetze, zwei Welten hier oben, die des Waldes und die der Wiesen.

Bald nachdem Elisabeth und Adele den Dachsberg in den sechziger Jahren verlassen hatten, war ihr ­Vater, der alte Kohlbrenner, vom Schlag gestreift worden. Alexanders Vater, der alte Behringer, hatte triumphiert. Seitdem beanspruchten die Behringers die Königswürde für sich.

»Du bist allein gekommen?«

»Ja, allein.«

»Kein Mann?«

Sie sah ihn an. Bei einer Frau ihres Alters war die Frage verständlich. Auf dem Dachsberg war man nicht allein, man lebte nicht jahrelang als Geliebte von irgendjemandem. Hier gab es entweder Paare oder Witwen.

»Nein, kein Mann.« Elisabeth fühlte, dass Dietrichs Tod für sie noch keine Wirklichkeit besaß. Sie betrachtete ihre Finger, die dunkelrot vom Saft der Beeren waren. »Und du? Du hast Familie, nehme ich an.«

»So ist es.«

»Wie viele Kinder?«

»Zwei. Nadine und Gregor.«

»Und deine Frau?«

»Der geht es gut.«

»Wann lerne ich sie kennen?«

»Sie kommt bald zurück.«

»Wo ist sie denn?«

»Sie macht eine Fortbildung in Stuttgart.«

Plötzlich stand Alex auf. Sein Blick wanderte nach Norden. Elisabeth wusste, wohin er schaute. Im Norden, hinter den dunklen Tannen, lag der Schandfleck, die Ödnis, die Sünde, die dem Dachsberg angetan worden war.

»Bist du gekommen, um wiedergutzumachen, was deine Familie verbrochen hat?«

Elisabeth weigerte sich, hinzusehen. »Willst du etwas trinken, Alex?«

Ein anderer als er hätte sich nun ereifert und von einer Schuld gesprochen, die nie verjährte. Aber Beh­ringer war zur Begrüßung gekommen, nicht als Ankläger.

»Hast du was zu trinken da?«

»Birnenmost.«

»Der von damals? Der muss längst schlecht geworden sein.«

»Ich habe ihn gestern gekostet. Trink ein Glas mit mir.«

»Ich muss weiter.«

»Dann bis zum nächsten Mal, Herr Bürgermeister.«

Während Behringer das Grundstück auf dem gleichen Weg verließ, schob Elisabeth ein paar Johan­nisbeeren in den Mund. Sie war hungrig, hatte aber nichts im Haus. Sie hätte ins Auto steigen und zum Supermarkt fahren können. Unschlüssig saß sie in der Septembersonne, als ihr Blick auf den Erdkeller fiel. Der Abgang war mit Gerümpel verrammelt. Elisabeth stand auf und hob den ersten Balken hoch, dann ein paar Bretter, leere Milchkannen, zerbrochene Sensen, Strohbündel, Bierkisten in großer Zahl. Alles hob sie beiseite, bis die Treppe frei war. Sie stieg hinunter, schob den verrosteten Riegel zurück und stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. Seit Jahren hatte sie niemand geöffnet, knarrend gab sie nach.

Kühl war es hier und trocken, sie roch weder Moder noch Schwamm. Drei Meter unter der Erde blieb es das ganze Jahr über kalt, zugleich frostfrei. Bis auf ein einziges Regal war der Keller leer. Dort fand sie einen Sack Kartoffeln. Sie waren weich und übersät mit Trieben, aber sie waren nicht verschimmelt. Elisabeth trug den Sack ins Freie. In der Sonne schnitt sie eine Kartoffel entzwei und schnupperte daran. Es roch, wie Kartoffeln riechen sollten. Elisabeth brachte den Sack in die Küche und setzte Wasser auf. Heute würde sie nicht mehr zum Supermarkt fahren.

3
DIE PRINZESSIN

Es war für Elisabeth selbstverständlich, das Westzimmer für ihre Schwester herzurichten. Nirgends sonst im Haus gab es ein Fenster mit Abendsonne. Der Westen war die Wetterseite, von dort kam der Sturm, der Hagel peitschte von Westen heran und der Schnee. In diesem Raum waren die Möbel nicht schlicht, sondern anmutig, sie waren nicht abgenutzt, sondern antik. Das Bett stand im Alkoven, der Schreibtisch war aus dunklem Holz, so wie die Wände. Die Dielenbohlen hatten eine Breite, wie man sie heute nirgends mehr hätte kaufen können. Sechzig Zentimeter breite Dielen, zweihundert Jahre alt, das Holz honiggelb und von unglaublicher Schönheit.

Auf Stöckelschuhen lief Adele darüber. »Was ist da gegenüber los?«

»Der Schlegelhof wird verkauft.«

»Wieso?«

»Schlegel ist tot.«

»Tot? Aber der kann doch höchstens …«

»Dreiundvierzig ist er gewesen. Beim Heumachen saß er auf dem Traktor und hatte einen Herzinfarkt.«

»Und die alte Kathi?«

»Die hat danach allein in dem riesigen Haus gelebt. Sie war aber praktisch den ganzen Tag in der Kirche. Vorigen Winter ist sie ihrem Sohn gefolgt.«

Adele trat auf das andere Bein, durch die Bewegung changierte der Stoff ihres Kostüms. »Und was sind das da drüben für Leute?«

»Der im Anzug ist der Makler. Er zeigt der Familie das Haus.«

»Drei Kinder und ein Baby, was wollen die denn in der Einöde?«

»Wir waren damals fünf Kinder.«

»Weil wir keine Wahl hatten, wir sind hier geboren.« Adele rieb sich die Arme. »Kalt ist das bei dir. Brennt der Ofen nicht?«

»Stell dich an die Kaminwand. Dann spürst du es.«

Adele zeigte aus dem Fenster. »Jemand sollte die Birnen ernten.«

Die Zweige des Baumes reichten bis ans Haus. Das war der Ast, der nachts das schabende Geräusch verursachte.

»Wollen wir sie zusammen ernten?« Elisabeth freute sich, weil die Schwester Interesse zeigte. »Sie schmecken aber nicht besonders.«

»Die haben nie geschmeckt. Der Vater hat sie zum Schnapsbrenner gebracht.« Sie zog ihre Jacke glatt.

Von hinten betrachtet hätte man Adele für zwanzig halten können. Die sportlichen Schultern, die langen Beine, die in Schuhen steckten, die nach Rom oder ­Paris gepasst hätten. Adele wusste, was sie tat, wenn sie in solchen Schuhen in den Schwarzwald kam, sie wollte zeigen, dass sie nur einen Besuch machte. Sie hatte woanders ein Leben, das zu diesen Schuhen passte.

Elisabeth trug Hosen, die Schuhe hatte sie beim Hereinkommen abgestreift, denn das Zimmer war frisch gewischt. Früher hatte sie ihr Haar gefärbt, es aber aufgegeben, als Dietrich sagte, er fände es nett, wenn sie vom Alter her ein bisschen besser zu ihm passen würde. Heute erinnerte Elisabeths Kopf an ein Zebra. Adele dagegen wollte offenbar für immer blond bleiben. Ihr Haar war pures Gold. Die Jean Harlow vom Dachsberg hatte man sie damals genannt.

»Hast du Hunger?« Elisabeth stellte Adeles Taschen in den Alkoven.

»Ich habe im Zug gegessen. – Nein, diese Kälte!« Sie nahm ein violettes Wolltuch aus der Tasche und warf einen Blick ins Bad. »Hier wird das Badewasser immer sofort kalt, weil man den Raum nicht richtig heizen kann.« Adele schlang das Tuch zweimal um die Schultern und ging hinaus.

Elisabeth hörte ihre harten Absätze auf der Treppe. Sie atmete tief durch. Wie befürchtet ließ die Prinzessin kein gutes Haar an ihrem alten Schloss. Sie nörgelte und quengelte und ließ keinen Zweifel daran, dass sie es in ihrer Hamburger Wohnung viel bequemer hatte. Vielleicht hätte ich auch nicht zurück­kehren dürfen, dachte Elisabeth. Es gab Orte der Vergangenheit, die man nicht zu neuem Leben erwecken konnte. Die alten Mauern, der Garten, der Wald, das alles hatte nur noch einen Wert, wenn man es verkaufte. Hier zu leben war der Einfall einer verzweifelten Frau gewesen, die in ihrer Lebensmitte nicht wusste, wohin mit sich. So sehr sich Elisabeth mit dem Putzen auch bemüht hatte, es blieb ein uraltes Haus, das seine guten Tage lange hinter sich hatte. Verzagt ließ sie den Kopf sinken. Alexanders Vorschlag war richtig gewesen: verkaufen. Dann wäre ein wenig Geld da, aber mit Geld allein kaufte man keine Idee für die Zukunft.

Jetzt wollte Elisabeth erst einmal kochen, mit ihrer Schwester essen und sich von ihr erzählen lassen. Elisabeth hoffte, selbst wenig reden zu müssen. Ihre Lebensgeschichte ließ sich in einem Satz zusammenfassen: Einsame Sekretärin verlor ihr Herz an Wirtschaftsboss und führte jahrzehntelang ein Satelliten­dasein in seinem Schatten.

Nachdenklich folgte sie Adele ins Erdgeschoss. Es war September im Schwarzwald, der Winter stand bevor. Das war die wahre Perspektive. Bevor Elisabeth in die Küche trat, bückte sie sich, der Türstock war gefährlich niedrig.

»Es gefällt mir.«

»Wie meinst du?«

»Du hast alles so hübsch gemacht. Das ganze Haus.«

»Meinst du das ehrlich?«

Adele schenkte ihrer Schwester ein Prinzessinnenlächeln. Selbst als sie noch ganz klein gewesen war, hatte sie die Menschen mit diesem Lächeln verzaubert. »Ich weiß, wie der Vater das Haus hat verwahrlosen lassen. Ich war damals noch einmal hier, kurz nachdem Hans …«

Das Thema stand im Raum. Man konnte eine Weile über die schöne Kindheit im Schwarzwald plaudern, ohne das dunkle Thema zu streifen. Aber früher oder später musste man auf Hans zu sprechen kommen. Hier oben zerfiel die Welt in zwei Zeiten. Es gab die goldene Ära der Kohlbrenners, in der das Leben als Schwarzwaldidyll ablief, mit rauschenden Wäldern und Wolken, die plötzlich vor der Sonne aufrissen, mit Wiesen und Feldern, die zu glänzen anfingen, als ob pures Gold über den Dachsberg ausgeschüttet wurde. Und es gab die Zeit danach, als Hans die Dinge gelenkt hatte, die Zeit, als der Name Kohlbrenner zum Schimpfwort geworden war. Hans war ins Gefängnis gekommen und vor zwei Jahren dort gestorben. Er würde nie wiedergutmachen können, was er angerichtet hatte, und doch waren die Dachsberger irgendwie mit der himmlischen Gerechtigkeit zufrieden. Im Gefängnis an Magenkrebs zu sterben, schien ihnen eine passende Strafe für den üblen Hans.

Elisabeth wollte nicht über ihren Bruder sprechen, nicht schon heute Abend. Sie war einkaufen gewesen und hatte gekocht. Roastbeef mit Fenchel und Kar­toffelgratin zauberte sie auf den Tisch, dazu gab es einen erstklassigen Rotwein. Sie hatte sich gegen eine Schwarzwaldspezialität entschieden, Adele sollte sehen, dass auch Elisabeth ein Stadtmensch geworden war.

»Fein schmeckt das.« Adele hatte sich ihren gesunden Appetit bewahrt. Sie hatte immer essen können, was und wie viel ihr schmeckte. Ihre Figur hatte nie darunter gelitten. Elisabeth dagegen hatte irgendwann weite Blusen zu tragen begonnen, die einiges kaschierten, aber auch offenbarten, dass ihre Taille nicht mehr vorzeigbar war.

»Freut mich, dass es dir schmeckt.« Elisabeth stützte sich auf die Ellbogen. »Ich habe noch gar nicht gefragt, wie es dir mit der Arbeit geht.«

»Gut, wirklich gut.« Adele schenkte sich das dritte Glas ein. Ihre Wangen waren gerötet. »Doktor Seyfferth kann sich vor Patientinnen kaum retten. Wir machen jetzt schon Termine für Februar.«

»Ein halbes Jahr im Voraus?«

»Seyfferth ist eben der Beste, nicht nur in Hamburg.«

»Hast du selbst schon einmal daran gedacht …« Elisabeth lachte verstohlen. »Ich meine, die Dienste deines Doktors in Anspruch zu nehmen?«

»Findest du, ich habe es nötig?«

»Im Gegenteil«, beeilte sich Elisabeth zu sagen.

Adele strich sich mit der Hand von den Augen über ihre Wangen bis zum Kinn. »Ich habe nichts machen lassen, weder am Hals, noch an der Nase.«

»Du weißt, dass du fantastisch aussiehst, für eine Frau unseres Alters … für eine Frau jeden Alters.« Elisabeth erwartete, dass die Schwester nun auch ein nettes Wort über ihr Aussehen verlieren würde, aber Adele plauderte weiter.

»Der Terminstress bei Seyfferth wird mir zu viel. Ich werde in Zukunft ein bisschen kürzertreten.«

»Kürzertreten, du?« Elisabeth wurde hellhörig.

»Ich kümmere mich nicht nur um seine Buchhaltung, sondern auch um alle Steuerangelegenheiten. Ich finde, die Terminplanung sollte jemand anderes übernehmen. Darum habe ich ihn gebeten, eine weitere Kraft einzustellen.«

»Ist Seyfferth darauf eingegangen?«

Adele spießte ein Fenchelstück auf. »Es war sogar seine Idee, dass ich mal ausspannen soll.«

»Ausspannen?« Elisabeths Staunen wuchs mit jedem Satz.

»Ich dachte, ich bleibe ein bisschen bei dir. Natürlich nur, wenn du mich hier auch haben willst.«

»Adele, aber … Wie kannst du überhaupt fragen?«

Hätte man Elisabeth vorausgesagt, dass Adele von sich aus anbieten würde, länger als zwei Tage zu bleiben, sie hätte es für unmöglich gehalten. Sie kannte die Prinzessinnenattitüden ihrer Schwester. Wenn Adele etwas nicht passte, wechselte sie sofort das ­Hotel, manchmal sogar die Stadt. Wenn es ihr zu laut war, zu heiß, zu kalt, zu einsam, zu regnerisch, bestieg sie das nächste Flugzeug und war verschwunden. Sie war die rechte Hand eines angesagten Schönheits­chirurgen und verdiente ausgezeichnet. Adele hatte ihre Schwester schon zu kurzen Trips nach Amsterdam und Nizza mitgenommen und ihr demonstriert, wie man die Welt des Reichtums genießen konnte. Dass Adele ihren kostbaren Urlaub nun ausgerechnet auf dem unbequemen alten Hof verbringen wollte, glich einem Wunder.

»Gerne, ja, ich freue mich, wenn du bleibst.« Elisabeth lachte, weil ihr so froh ums Herz war. »Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich freue. Willst du Nachtisch?«

»Nein. Aber Holz nachlegen könntest du. Es wird schon wieder kühl.«

Elisabeth sprang auf. »Das mache ich gleich.«

»Ist vom Birnenschnaps noch etwas da?«

»Warte, ich glaube …« Überwältigt, weil Elisabeths Herzenswunsch in Erfüllung gehen sollte, ohne dass sie viel dazu getan hatte, huschte sie in die Stube, wo im Herrgottswinkel die geistigen Getränke standen.

»Du hast Glück!« Mit erhobener Flasche kam sie zurück. »Gepresst aus unseren eigenen Birnen.« Sie schenkte ihnen die Gläschen randvoll. Die Kohlbrenner-Schwestern stießen an.