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Hardy Pundt

Strandleiche

Kriminalroman

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Zum Buch

Hohe Wellen Der Küstenentwicklungsplan der Insel Juist sorgt für großen Ärger. Der Anstieg des Meeresspiegels macht eine Erhöhung der Deiche in den Augen vieler Insulaner unvermeidbar. Doch während Klaus Andresen vom Amt für Küstenschutz gemeinsam mit der Initiative „proUmwelt“ für den Schutz der Insel und ihrer Bewohner kämpft, melden sich auch zahlreiche Gegner des Deichausbaus zu Wort. Sie fürchten um die Attraktivität der Hotels und Pensionen sowie einen Einbruch der Immobilienpreise, wenn der freie Blick aufs Wattenmeer verbaut wird. Der Streit spitzt sich zu, und eines Morgens finden zwei Jungen die Leiche eines bekannten Insulaners am Strand. Inselpolizist Wagner fordert Hilfe in Aurich an, denn auf Juist gibt es weder Kripo noch Rechtsmedizin. Die Zeit ist knapp, die kommende Flut droht alle Spuren am Tatort zu vernichten. Rechtzeitig bevor das Wasser wieder steigt, landen Kommissarin Tanja Itzenga und ihr Kollege Ulferts mit einem Helikopter am Juister Strand. Bald schon sehen sie sich zahlreichen Verdächtigen gegenüber.

Dr. Hardy Pundt wurde 1964 geboren. Er wuchs mit seinen Geschwistern auf der Insel Memmert auf, wo die Großeltern und sein Vater Inselvogte waren. Seine Schulzeit verbrachte er auf der Insel Juist sowie dem ostfriesischen Festland. Es folgten Studium, Promotion und Habilitation an der Universität Münster. Sein Lebensmittelpunkt liegt heute in Schleswig-Holstein, wo er mit seiner Familie lebt. Lehre und Forschung im Bereich Geoinformatik ziehen ihn jedoch regelmäßig an die Hochschule Harz in Wernigerode. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Beiträge in deutscher und englischer Sprache. Außerdem sind bereits fünf Kriminalromane von ihm erschienen, in vier davon ermitteln Tanja Itzenga und Ulfert Ulferts.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Wattentod (2014)

Bugschuss (2012)

Friesenwut (2010)

Deichbruch (2008)

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt/Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Romana Sandner/Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5742-5

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

»Bitte!«

»Schnauze!«

»Das wird …«, mühevoll holte er Luft, »schlimme Folgen haben.«

»Für dich hat es schlimme Folgen, ja.«

»Wir können …«

Blut quoll aus der Wunde, die der Zelthering verursacht hatte, der unterhalb des Herzens die blasse Haut mit seiner rostigen Spitze durchbohrt und daraufhin den Weg ins Körperinnere genommen hatte. Mit jeder Sekunde hauchte er ein Stück Leben aus. Hatte er jemals Angst gehabt? Jetzt fürchtete er sich, die Luft ging ihm aus, der Tod klopfte an.

»Was wird das?«, jammerte er und sah aus dem Augenwinkel, wie sein Blut an ihm hinabrann. Er lag auf dem Boden, der zur Mitte geneigt war, wo sich ein Abfluss befand. Der Kopf lag etwas tiefer als die Füße und das Blut bahnte sich den Weg dorthin. Er bog sein Haupt nach oben, denn wenn er es hinlegen müsste, weil die Nackenmuskeln schlappmachten, würde der Blutstrom sein Gesicht umfließen. Vielleicht war es dann auch schon egal. Aber noch pumpte der wichtigste Muskel.

»Halt die Fresse, du hast ausgesabbelt«, erwiderte der Mann. Sein Aussehen, mit einem schwarzen Strumpf über dem Kopf, verhieß wenig Hoffnung auf ein gutes Ende. Dem am Boden Liegenden war nicht klar, woher sein Peiniger plötzlich aufgetaucht war und wie er hatte zustechen und ihn in diese Lage bringen können.

Die Gestalt, die Stimme. Er kannte den Mann nicht erst seit gestern, die Maskerade hätte er sich sparen können. Woher hatte der Kerl gewusst, dass er hier sein würde, gerade heute, um diese Zeit? Wer zum Teufel hätte ihm das sagen können? Hatte es überhaupt jemand außer ihr gewusst? Aber wo hätten er und sie sich begegnen sollen? Und selbst wenn, sie wechselten doch nie ein Wort.

Der Blutende begann zu bereuen. Würde man sagen, er habe ihn, der jetzt im wahrsten Sinne des Wortes über ihm stand, unfair behandelt, wäre dies noch nett ausgedrückt. Natürlich war es falsch gewesen, ihn bloßzustellen. Damals, im Dorfkrug. Er hatte sich noch damit gebrüstet! Aber jetzt verreckte er, wenn nicht bald etwas geschah. Es war idiotisch gewesen, ihn schlechtzumachen, aber nach ein paar Pils und Korn konnte das passieren, dann brachen bei ihm schon mal die Dämme. Eine solche Reaktion hätte er ihm trotzdem niemals zugetraut. Dass er überhaupt reagierte, war erstaunlich, sonst war er doch so apathisch. Und jetzt stach er ihn nieder? Dabei war seit diesem Abend so viel Zeit ins Land gegangen, genug, um zu vergessen. Er musste ihn damals unsäglich gekränkt haben. Wer vor versammelter Mannschaft als Versager gebrandmarkt wird, kann nicht verzeihen. Zeit heilt nicht alle Wunden.

Die Nackenmuskeln machten schlapp. Er senkte den Kopf, langsam, wollte es nicht, aber konnte nicht verhindern, sich in eine Lache seines eigenen Bluts zu legen. Neuer Lebenssaft floss nach. Lebenssaft, ha! Solange er nicht stoßweise aus dem Körper sprudelte, hielt er einen am Leben. Was war geschehen? Er hatte die Halle betreten, sich umgesehen. Plötzlich diese völlig unvorhergesehene Begegnung. Er war in Wut geraten, und ehe er sich versah, steckte etwas in seinem Bauch, einmal, zweimal, dreimal. Ein alter, rostiger Hering! Spitz genug, die Bauchdecke zu durchdringen. Ein irrsinniger Schmerz durchfuhr ihn, er wollte losrennen, doch er schaffte kaum zwei Meter, dann fiel er. Noch im Fallen war ihm eine Gestalt aufgefallen, deutlich wahrgenommen hatte er sie nicht. Jetzt war er unsicher: Hatte es diese Gestalt tatsächlich gegeben? Einbildung? Wahnvorstellungen aufgrund einer unerwartet erlittenen tödlichen Verletzung? Oder war es ein kurzer Trip ins Jenseits gewesen, um vorzufühlen, wie es dort wohl ist? Es gab Menschen die behaupteten, schon einmal tot gewesen zu sein.

Nachdem er sie auf die schmerzende Stelle gepresst hatte, sah er sich seine Handflächen an. Blutig, tiefes Rot durchmischt mit Dreck vom Fußboden, Staub. Überall an seiner Kleidung klebten Blut, Spinnweben und Wollmäuse. In der Halle war lange nicht mehr sauber gemacht worden.

An ihm war gezerrt und ihm waren Hände und Füße zusammengebunden worden. Mit einem Stück Seil, fest und schneidend. Als wenn er noch irgendetwas hätte ausrichten können. Er wurde in einen anderen Raum geschleppt. Er protestierte, versuchte es zumindest. Ein alter Lappen wurde ihm in den Mund gesteckt. Er lag gekrümmt auf dem Boden, hilflos wie ein Hirschkäfer auf dem Rücken. Der Schlitz im Strumpf zeigte die Augen des Peinigers. Dunkle Augen. Sie wirkten unbeteiligt, nichtssagend, wie er sie all die Jahre gesehen hatte.

Er hatte alle Register gezogen, um den schwarzen Mann umzustimmen, hatte ihn dazu bewegen wollen, den Inselarzt zu holen. Hatte versichert, er würde die Klappe halten, behaupten, es sei ein Unfall gewesen. Schließlich verweigerten Nerven und Muskeln die Zusammenarbeit, die Sprache stockte, er verstummte, japste nach Luft. Er spürte, wie sich der Blutvorrat in seinem Körper minimierte, gleich den letzten Zentilitern Wassers, das durch den geöffneten Wannenstöpsel fließt. Er hätte ihm gern gut zugeredet, wollte ansetzen, doch der Knebel verhinderte es. Er bekam einen Tritt in die Seite und der Maskierte schrie:

»Endlich bist du still! Du machst keine miesen Sprüche mehr! Du stirbst, ist dir das klar?« Ja, er starb, er wollte es nicht wahrhaben, aber der Tod war unvermeidlich. Er ließ sich Zeit, aber er würde siegen.

Wiederholt begab sich der Maskenmann zu einem kleinen Fenster, schob die vergilbte Gardine davor ein winziges Stück nach links und lugte durch die Scheibe hinaus, von der er einen Schmierfilm aus Dreck und Staub gekratzt hatte. Das Gebäude, an der Straße zum Flugplatz gelegen, war lange nicht genutzt worden. Bis eine Gruppe von Jugendlichen sich beim Gemeinderat dafür eingesetzt hatte, in zwei Räumen, die früher einem Baubetrieb als Büro gedient hatten, einen Treffpunkt für ihre Aktionsgruppe proUmwelt einrichten zu dürfen. Dem Gebäude gaben sie den Namen ›Future House‹. Die Bezeichnung stand im krassen Gegensatz zu dessen Zustand, aber die Jugendlichen waren überzeugt, dass die Gemeinde demnächst Renovierungsarbeiten angehen würde. Schließlich machte ein derart vom Zahn der Zeit angefressenes Haus bei den Feriengästen alles andere als einen guten Eindruck. Im ›Future House‹ planten sie ihre Aktionen, die die Insulaner und vor allem auch die vielen Gäste, die auf Juist Urlaub machten, aufrütteln sollten.

Der Mann am Boden röchelte. Seiner Ansicht nach war proUmwelt über das Ziel hinausgeschossen. Die jungen Leute lenkten die Aufmerksamkeit der Kurgäste sehr erfolgreich auf Probleme, die er für weniger bedrohlich hielt als sie: der Klimawandel und seine Folgen, die Verschmutzung der Ozeane mit Mikroplastik, die ungewissen Folgen zunehmenden Unterwasserlärms für Fische und Meeressäuger. Hatte er nicht versucht, das Gespräch mit ihnen zu suchen? Es musste doch nicht sein, dass sie ihren Infostand direkt am Hafen aufbauten. Schließlich wollten die ankommenden Gäste nicht mit Problemen konfrontiert werden, zumindest nicht unmittelbar nach ihrer Ankunft auf dieser Trauminsel, in ihrem wohlverdienten, oft lang ersparten Urlaub. Doch seine Klärungsversuche gingen ins Leere. Er wurde wütend, schrie, dass diesen Mist niemand hören wolle, der die schönste Zeit des Jahres vor sich hatte. Die Gäste wünschten sich Sonne, Dünen, Strand und Meer, hatten wenig Lust, sich mit Umweltproblemen herumzuschlagen. Schließlich kämen sie auf die Insel, weil sie hier unberührte Natur vorfanden. Die Jugendlichen würden den Gästen Angst machen, die in der Folge den Fisch nicht mehr essen würden wegen der mikroskopisch kleinen Plastikpartikel, die die Meeresbewohner – angeblich! – tagein, tagaus aufnahmen und die am Ende über die Nahrungskette im menschlichen Körper landeten. Unvorstellbar, welche Folgen dies für die Restaurantbesitzer auf der Insel hatte. Und dazu kam jetzt die Sache mit der Deicherhöhung!

Er wusste, dass proUmwelt eine Aktion für den nächsten Tag geplant hatte: einen Infostand am Hafen, wenn die Fähre aus Norddeich anlegen würde. Sie wollten Flyer verteilen und so viele Leute wie möglich ansprechen. Angeblich hatten sie sich ein Megafon besorgt, damit man sie auch hörte! Als er davon erfahren hatte, hatte er getobt. Gerade morgen, wo 24 neue Gäste seines Hotels und seiner zwei Pensionen anreisten. Die kämen vom Schiff und sähen sich in Diskussionen über Mikroplastik in Fischen und Muscheln und den steigenden Meeresspiegel verwickelt. In seinem Restaurant hatten schon einige Gäste gefragt, wenn auch halb im Scherz, ob Fisch überhaupt noch genießbar sei. Und sie erkundigten sich, das allerdings mit ernsterem Unterton, wann Juist denn endgültig unterging angesichts des steigenden Meeresspiegels infolge des Klimawandels. Es hatte ihn geärgert. Was war denn bewiesen von alldem? Wer konnte denn zehn, 20, ja 50 Jahre in die Zukunft schauen, etwa ein Computer?

Nein, nicht mit ihm, hatte er sich gedacht, er wollte, er musste den Infostand verhindern. Von ihm aus sollten sie irgendwann anders dort stehen oder nachdem die Gäste das Schiff verlassen und im Dorf verschwunden waren. Am besten sollten sie gar nicht erst auftauchen. Diesmal hatte er dieses Verhalten nicht durchgehen lassen wollen, am Ende tanzten ihm diese jungen Gören auf der Nase herum. Und er war nicht irgendwer, verdammt noch mal!

Schnell war eine Idee geboren gewesen, wie er es anstellen konnte. Er musste den Handwagen, auf dem die jungen Leute ihre Plakate und Infoblätter, den Tapeziertisch und zwei Stühle sowie eine Plakatwand transportierten, außer Gefecht setzen. Nichts leichter als das. Ein Stich in die Reifen und fertig. Das würden sie morgens nicht schaffen: die Reifen flicken, aufpumpen, alles zum Hafen transportieren, rechtzeitig zur Ankunft des Schiffes. Niemals! So würde er die Protestaktion verhindern. Stattdessen hatte er geplant, mit einem Tablett Prosecco dort zu stehen und seine Hotelgäste zu empfangen. Auf diese Weise begrüßte man Urlauber auf Juist, nicht mit Märchen von belasteten Fischen und Deichen, welche die nächste Sturmflut nicht mehr überstehen würden.

Aber – was hatte er nur für Gedanken? Er würde sterben, da war alles andere egal. Er lag in seinem eigenen Blut, und all das, was ihm gerade noch blitzartig durch den Kopf gegangen war, war plötzlich völlig belanglos.

Sein Herz schlug nach wie vor, jedoch schwächer und zunehmend unregelmäßig. Er schloss die Augen. Der Vermummte am Fenster wollte ihn offensichtlich hier verrecken lassen.

Er wollte um Hilfe rufen, verzweifelt in seiner ausweglosen Situation. Doch es war nur ein kümmerlicher Laut zu hören durch den Stofffetzen in seinem Mund. So oder so würde ihn niemand hören. Es sei denn, Jugendliche von proUmwelt kämen früher als sonst zu ihrer Versammlung hierher. Mussten sie nicht bald eintreffen? Vielleicht bedeuteten ausgerechnet sie seine Rettung? Sollten sie doch jeden Tag am Hafen stehen! Er würde nichts mehr gegen ihre Aktionen sagen, ja, sie unterstützen! Schwache Hoffnung keimte in ihm auf.

*

Den Kopf schüttelnd kehrte der Maskierte von seinem Fensterplatz zurück. Er genoss den Moment, sah mit Genugtuung auf sein Opfer, ein, zwei lange Minuten. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen. Neben den Stühlen lagen Kartons herum. An der dem Fenster gegenüberliegenden Wand stand ein Kühlschrank, in dem Getränke lagerten, ein paar Flaschen Cola, Bionade und Bier. Gegenüber war die Tür zur Halle. Hier befanden sich mehrere alte Balken, vergessene Ytongsteine und der in die Tage gekommene Handwagen, den die jungen Leute benutzten, um ihr Info- und Protestmaterial zu transportieren.

Der Maskierte entschied, dass es nun reichte. Er hatte sein Opfer leiden sehen, hatte einmal, ein einziges Mal, Macht über ihn gehabt. Sein Gewissen meldete sich. Er würde ihm die Fesseln und den Knebel abnehmen, vielleicht sollte er ihm helfen, einen Arzt holen. Aber der würde ihn … Er war doch kein Unmensch! Er wollte das Tuch aus dem Mund des am Boden Liegenden entfernen, hatte sich schon dafür hingehockt, als er Stimmen vernahm. Er erhob sich, schlurfte erneut zum Fenster. Er spähte durch den schmalen Schlitz zwischen Fensterrahmen und Gardine und sah deutlich Lichter, dort, wo die Straße zwischen dem Dorf und dem Ostende der Insel verlief. Fahrradscheinwerfer. Gleich würden die Jugendlichen das ›Future House‹ erreichen. Jetzt bemerkte er erschrocken, dass zwei von ihnen bereits vor der Haustür standen und sich unterhielten. Die sich nähernden Lichter flackerten auf dem letzten Wegstück, weil die Fahrräder und ihre Fahrer auf der unebenen Fläche, die zwischen Straße und ›Future House‹ lag, ordentlich durchgeschüttelt wurden. Er hockte sich noch einmal neben das Opfer.

»Es … es war so nicht geplant«, flüsterte er, »ich muss weg … Vielleicht können die anderen … Ach, Mist!«

Er zog den alten Lappen aus dem Mund.

»Pe-ters ho-len«, ein letztes, kraftloses Krächzen, zu mehr war der Todgeweihte nicht mehr fähig. Schnell stopfte der Maskierte das Tuch wieder hinein, befürchtend, der Sterbende würde doch noch einen Schrei abgeben können. Er begab sich beinahe lautlos zur Tür, die zur Halle führte, öffnete sie und blickte noch einmal zurück. Er zögerte. Die Fesseln, der Knebel, sie ergaben überhaupt keinen Sinn mehr … Zu spät. Weg hier, schnell. In der Halle verharrte er noch einmal kurz, unentschlossen. Es war riskant, sie waren alle direkt vor dem Haus, und er musste verschwinden. Sie durften ihn auf keinen Fall sehen! Peters holen … ja, er hätte Dr. Peters alarmieren müssen, wenn er wirklich kein Unmensch war! Doch er hatte kein Handy, und seine Flucht musste durch die Dünen erfolgen, um unentdeckt zu bleiben. Panik befiel ihn, er trat ins Freie, schloss die Tür hinter sich und rannte in die stockfinstere Nacht. Die Dunkelheit störte ihn nicht, er kannte hier jedes Apfelrosen- und Sanddorngebüsch.

*

Die Jugendlichen betraten das Haus, unterhielten sich laut.

»Das wird eine gute Aktion!«, rief Mirko, der sein Fahrrad, ohne es abzuschließen, an die Mauer des ›Future House‹ gestellt hatte. Auf der Insel brauchte man keine Schlösser. Diebstahl auf einer Insel war kaum Erfolg versprechend, zumal auf einer, die man wegen der Tide nur ein-, maximal zweimal pro Tag mit dem Schiff erreichen konnte. Wurde ein Fahrrad im Dorf gestohlen, fand es sich deshalb im nicht weit entfernt liegenden Loog wieder – und umgekehrt.

»Der Slogan gefällt mir noch nicht. Die Juister und die Gäste müssen begreifen, dass der Klimawandel hier und jetzt stattfindet, dass Mikroplastik den Meerestieren schadet und …«, sprudelten die Worte aus Reemts Mund.

»Nicht zu viel auf einmal! Du darfst nicht alles verallgemeinern. Viele haben es längst begriffen. Und immerhin tun die Kurverwaltung und der Gemeinderat mittlerweile auch eine Menge«, gab Conny zu bedenken.

»Aber jetzt wird das Rad zurückgedreht, denkt an den neuen Bürgermeister! Es gibt immer noch Leute, die es nicht wahrhaben wollen.«

»Selbst der neue Bürgermeister kann das, was auf der Insel erreicht wurde, nicht wieder umkehren.«

»Sag das nicht!«

»Wir müssen trotzdem trennen: Der Klimawandel ist eine Sache, die Meeresverschmutzung eine andere. Und Lärm ist wieder ein anderes Thema. Wir dürfen nicht mit allem auf einmal kommen«, mahnte Carsten.

»Mikroplastik schadet auch uns, wenn wir Fisch essen«, warf Conny ein.

»Muss man ja nicht unbedingt«, fand Marina, was niemanden wunderte, schließlich war sie Vegetarierin.

»Schmeckt aber gut!«, stellte Mirko fest.

»Einige Discounter bieten inzwischen keine Plastiktüten mehr an, ich meine, das ist doch gut und …«, sagte Marina, wurde jedoch von Carsten unterbrochen.

»Weißt du, wie groß der Anteil der Plastiktüten am Gesamtaufkommen von Müll aus Kunststoff ist? Minimal! Der liegt irgendwo bei fünf, vielleicht sechs Prozent. Da bleiben noch 95 Prozent für andere Kunststoffe, vom Joghurtbecher über die Käsefolie bis hin zu Spielzeug, Kleidung, was weiß ich.«

»Immerhin ist es ein erster Schritt.«

»Ja, aber da müssen noch sehr viele folgen! Viele denken, es ist damit getan, wenn beim Einkaufen anstelle von Plastik- jetzt Papiertüten verwendet werden.«

»Kleine Schritte sind auch wichtig. Der Slogan ist not so nice, das stimmt. Das müssen wir heute Abend noch klären«, kehrte Conny zum Thema zurück. »Kommt, es ist kalt, macht die Tür zu.«

Carsten schloss die Außentür, dann warfen die jungen Leute ihre Jacken in eine Ecke des Flures und gingen in den Raum, den sie sich als Treffpunkt ein wenig freundlich gestaltet hatten.

»Ich hol uns was zu trinken. Wer will was?«, fragte Marina.

»Ich nehme ein Bier, wenn noch eins da ist«, erwiderte Mirko.

»Für mich eine Bionade«, rief Carsten.

Marina sah ihn an.

»Was ist?«, erkundigte er sich.

»Welche Bionade?«

»Holunder. Ich nehme immer Holunder.«

»Nee, neulich hast du Zitrone-Bergamotte getrunken. Sonst noch jemand etwas?«

Reemt und Conny schüttelten die Köpfe. »Vielleicht später.«

Marina öffnete die Tür und betrat den Raum, in dem der Kühlschrank stand und der auch deshalb der »Vorratsraum« genannt wurde. Sie schaltete das Licht an. Sekundenbruchteile später entfuhr ihr ein gellender Schrei.

»Was ist denn los?«, Mirko sprang auf und rannte ihr hinterher. Noch im Türrahmen blieb er wie angewurzelt stehen, stumm und bleich.

»Ach du Scheiße!«, entfuhr es Reemt, der den beiden gefolgt war und nun auf die Leiche starrte, die in einer Blutlache lag, die sich elliptisch um den Kopf herum ausgebreitet hatte.

»Ist er …?« Marina brach in Tränen aus, Carsten nahm sie in den Arm, doch auch er zitterte am ganzen Körper.

»Oh Gott! Wie …? Warum …? Das ist …« Conny war fassungslos, brachte keinen Satz heraus.

»Er sieht … noch ganz frisch aus«, stammelte Reemt.

1

Klaus und Gerda Andresen verzichteten ungern auf den abendlichen Spaziergang. In letzter Zeit hatten sie viel zu tun gehabt, er war manches Mal ausgefallen. Gerda hatte eine Menge Dinge auf dem Plan, die erledigt werden mussten. Und Klaus ging es nicht anders. An diesem Tag wollten sie aber beide unbedingt noch einmal raus, trotz oder gerade wegen des miesen Wetters. Sich durchpusten lassen, da half ein kräftiger Nordwestwind. Sie hatten sich entschlossen, die heute höher auflaufende Flut von der Deichkrone aus zu beobachten. Noch vor Kurzem war der Wind kräftig über das Meer gefegt, es mochten acht bis neun Beaufort gewesen sein. Langsam flaute er ab. Die Eheleute sprachen wenig, waren eingepackt in dicke Jacken und wärmende Mützen. Herbstwetter. Sie gingen zum Hafen, wo man am Deichdurchbruch vorsichtshalber das Schott eingesetzt hatte. Dann bestiegen sie den Deich, auf dessen Krone ein gepflasterter Weg verlief.

»Ich denke oft an die gute, alte Inselbahn«, sinnierte Klaus, nah am Ohr seiner Frau.

»Ja, ich auch«, entgegnete Gerda, »wann haben sie die Bahn abgeschafft und den neuen Deich hier vor dem Dorf gebaut?«

»Die letzte fuhr 1982, meine ich.«

»Und der Plan besagt, dass alle Deiche so wie dieser erhöht werden sollen?«

»Mindestens. Nach der Meinung einiger Forscher ist aber auch der Abschnitt hier am Hafen noch zu niedrig.«

»Dabei ist es schon so ein ungeheures Bauwerk!«, meinte Gerda und sah sich um, als sähe sie den Deich plötzlich in einem neuen Licht.

»Aber es gibt ja auch Leute, die Klimawandel und Meeresspiegelanstieg für eine Erfindung der Chinesen halten«, ergänzte Klaus voller Sarkasmus.

»Es gibt immer verschiedene Meinungen.«

»Ja, es ist ein schwieriges Thema. Dieser ausgebaggerte Schlamm«, er zeigte Richtung Osten, wo sich größere Erdmassen auftürmten, »der wird ja hier gelagert, um später für die Deicherhöhung genutzt zu werden.« Er dachte kurz nach und sprach weiter:

»Wenn man die vielen Berichte über die mögliche zukünftige Entwicklung liest, dann stößt man aber auch auf enorme Widersprüche. Die meisten Politiker sind sich ja einig und messen dem Klima insgesamt höchste Priorität bei, aber es bleiben diejenigen, die den vom Menschen beeinflussten Klimawandel ins Reich der Fabel verweisen. Und manche unter ihnen besetzen hohe Positionen.«

»Wer will auch wissen, was in Zukunft tatsächlich geschieht?«, merkte Gerda an.

»Hör mal, du schlägst dich wohl nicht auf deren Seite, oder?«

Gerda lachte und schüttelte den Kopf.

Sie erreichten die schwarze Bude, in der früher einmal die Lokomotiven der ersten motorgetriebenen Inselbahn Deutschlands gewartet worden waren.

»Heinrich und Karl …«, sagte Klaus.

»… die beiden kleinen, grünen Lokomotiven. Ob es die noch gibt?«, ergänzte Gerda.

»Keine Ahnung«, antwortete Klaus, »bevor es die beiden Dieselloks gab, haben Pferde die Waggons über die Pfahljochstrecke im Watt gezogen.«

»Lang, lang ist’s her«, kommentierte Gerda.

Ihre Blicke auf das Meer gerichtet, das wie toll toste und Gischtwolken über den Deich schickte, hingen Gerda und Klaus ihren Gedanken nach. Die Wellen kamen herangerollt und liefen am Deich aus, dabei fast die Krone des Bauwerkes erreichend. Dabei würde Hochwasser erst in einer halben Stunde eintreten.

»Woran denkst du?«, fragte Gerda. »Immer noch an die Wahl?«

»Ach …«, brummelte Klaus.

»Hätte ja niemand gedacht, dass Felthuis Bürgermeister wird.«

»Wir haben es selbst vermasselt. Entweder hätte nur ich oder nur Kramer gegen ihn kandidieren sollen. So wurden die Stimmen auf uns verteilt, und deshalb konnte Felthuis gewinnen.«

»Er hat anscheinend mehr überzeugt, als wir gedacht hatten.«

»Er hat laut und ungehobelt gepoltert, wie er es immer tut. Ich glaube, einige haben ihn nur gewählt, weil er so populistisch argumentiert. Sie ahnten nicht oder haben nicht darüber nachgedacht, dass er die Mehrheit erhalten könnte. Die Wahlbeteiligung war auch schlecht. Das hat ihm ebenfalls in die Karten gespielt.«

»Man muss Wahlen ernst nehmen.«

»Sag das denen, die nicht teilgenommen haben. Immer dasselbe: Die Jungwähler in England gehen nicht zur Wahl, und der Brexit wird beschlossen. Und nun mosern sie, weil sie doch gern in der EU geblieben wären.«

»Ja, so etwas hat Folgen.«

»Felthuis’ Sprüche gehen mir gehörig auf die Nerven. Du weißt, welchen Unsinn er manchmal redet. Es ist mir ein Rätsel, warum er überhaupt Anhänger hat.«

»Ich fürchte, es gibt Leute, die hinterfragen vieles nicht, sondern mögen markige Sprüche. Und es gibt diejenigen, die tatsächlich überzeugt sind, dass es den Klimawandel gar nicht gibt. Die sind natürlich gegen alle neuen Pläne.«

»Felthuis stellt alles Positive infrage, was wir mühsam erarbeitet haben: unsere Klimaschutzziele, den Generalplan Küste, die Regelungen des Nationalparks.«

»Er hatte eine Stimme Vorsprung, eine einzige!«

»Trotzdem ist er Bürgermeister geworden.«

Gerda sagte nichts, schien ein unsichtbares Ziel irgendwo im Wattenmeer zu suchen.

»Ich könnte der neue Bürgermeister sein. Wie stehen wir jetzt da mit dem Küstenentwicklungsplan, der Deicherhöhung, dem Ziel der klimaneutralen Insel? Wir haben so viele wichtige Grundsteine gelegt. Und dann kommt einer, der alles torpediert, was wir begonnen haben. Es wird viel schwerer werden.«

»Er kann doch nicht alles rückgängig machen«, meinte Gerda.

»Wenn er will … du siehst ja, dass er es schafft, Leute auf seine Seite zu ziehen.«

»Natürlich, er ist schließlich ein erfolgreicher Geschäftsmann und Hotelier auf unserer Insel. Besitzt außerdem noch zwei Pensionen an der Straße am Deich. Das imponiert vielen.«

»Wäre er doch nur dabei geblieben. Plötzlich geht er in die Politik und gewinnt!«

»Nur mit einer Stimme Vorsprung. Trotzdem kann er nicht alles machen, was er will.«

»Felthuis macht, was er will, glaub mir! Ihm ist es egal, wenn wir mit guten Argumenten kommen. Er erfindet einfach etwas, und seine Anhänger jubeln. Er schafft sich seine eigene Realität.«

»Er wird sicher zur Vernunft kommen«, erwiderte Gerda.

Klaus wechselte das Thema: »Zum Glück weht der Wind nicht mehr so stark, sieh mal, wie hoch das Wasser steht!«

»Ja, ist mir auch aufgefallen«, erwiderte sie.

Gerda war in letzter Zeit oft kurz angebunden. Es lag, da war er sich sicher, an der vielen Arbeit. Sie hatte alle Hände voll zu tun, damit das Café ordentlich lief. Ihr Haus befand sich in einer Seitenstraße des Dorfes, nicht an der Bill-, Wilhelm- oder Gartenstraße, wo die Gäste in Pensionen und Hotels komfortable Unterkunft mit Blick auf das Wattenmeer fanden. Sie mussten sich regelmäßig etwas einfallen lassen, um die Urlauber in ihr Café zu locken, da die Enno-Arends-Straße nicht zu der Gegend gehörte, wo man ein Café vermutete.

Klaus Andresen konnte sich ebenfalls nicht über zu wenig Arbeit beklagen. Er arbeitete für die Außenstelle des Niedersächsischen Landesbetriebes für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz, kurz NLWKN, betreute die Aktualisierung des Generalplans Küstenschutz/Inseln für den Juister Teil und vertrat diesen gegenüber der Bevölkerung. Schnell hatte sich im allgemeinen Sprachgebrauch die einfachere Bezeichnung »Küstenentwicklungsplan« etabliert, und dieser Plan nahm Klaus voll und ganz ein. Viele Jahre war er bereits in diesem Job tätig, hatte manche Sturmflut erlebt und viele Bauprojekte mitgestaltet. Der neue Küstenentwicklungsplan, der von der Landesregierung veröffentlicht worden war, führte jedoch zu Turbulenzen, wie er sie noch nicht erlebt hatte. Der Deich sollte beträchtlich erhöht werden, die Prognosen zum Anstieg des Meeresspiegels sprachen aus Sicht vieler Wissenschaftler eine eindeutige Sprache. Mit dem Tag der ersten Veröffentlichung der Planungen war Willi Felthuis unerwartet in die Lokalpolitik eingestiegen, als erbitterter Gegner der Deicherhöhung und der aus seiner Sicht total überzogenen Klimaziele.

»Mir gehen die Diskussionen um den Entwicklungsplan nicht aus dem Kopf«, versuchte Klaus erneut, ein Gespräch zu beginnen. »Vielleicht sind einige Maße doch überdimensioniert, einfach übertrieben? Und welche Prognose trifft schon zu 100 Prozent zu?«, fügte er an. Sturmfluten kamen seit Jahrhunderten. Das war nichts Neues. Hatte das Meer die norddeutsche Küstenlinie nicht immer wieder angefressen, Dünen und ganze Inseln zerstört, Festlandbereiche zerrissen und Deiche zum Brechen gebracht? War der Blanke Hans – wie die Nordsee hier genannt wurde – nicht verantwortlich für die großen Buchten im Land, für riesige Wasserflächen dort, wo einst Menschen gelebt und gewirtschaftet hatten? Waren die nordfriesischen Halligen nicht das Ergebnis katastrophaler Ereignisse, bei denen die Nordsee Tausende Menschen in den Tod gerissen hatte? Die kleine Insel Memmert, Juist im Südwesten vorgelagert, war das beste Beispiel für eine beständig von Aufbau und Zerstörung geprägte Insel. Und manchmal überwog eben die Zerstörung, die zum natürlichen Repertoire der Urgewalten des Meeres zählte. Aber während auf Memmert nur der Inselvogt lebte, hatte Juist fast 1.600 Einwohner – und in der Hochsaison gute 10.000 Gäste. Eine solche Insel überließ man nicht den Naturgewalten. Im Westteil hatte es in den vergangenen Jahren immer wieder intensive Dünenschutzmaßnahmen gegeben. Die Deicherhöhung an der Wattseite war nur eine Frage der Zeit.

»Die Leute werden schon noch kapieren, dass wir handeln, bevor der Klimawandel zuschlägt«, merkte Gerda an.

»Klimawandel gab es schon immer!«

»Du weißt, wie ich das meine.«

»Mein Vater hat mir als Kind erzählt, dass es seit jeher eine Aufgabe der Menschen an der Küste war, sich gegen das Meer zu schützen. Erst haben sie einfach so gesiedelt, dann stieg der Meeresspiegel, sie haben Warften aufgeworfen, schließlich begannen sie, Deiche zu bauen.«

»Na eben, im Grunde entwickelt sich alles kontinuierlich weiter.«

»Aber wir können doch am Ende nicht mit 15 Meter hohen Deichen leben«, wandte Klaus ein.

»Wenn es sein muss? Und 15 Meter sind ja wohl ein bisschen übertrieben. Mir wird’s kalt, lass uns heimgehen.«

Sie stiegen die Treppe an der Landseite des Deiches hinunter und traten den Rückweg an.

»Nach den Worst-Case-Szenarien wird …«

Gerda unterbrach ihn. »Das Worst-Case-Szenario muss nicht zutreffen.«

»Vater sagte immer: Dat kummt allens noch wat eischer!« Ja, sein Vater, dachte Klaus wehmütig. »Eisch« war ein Wort, dass er mal so, mal so eingesetzt hatte, in diesem Fall hatte er damit »schlimmer« gemeint. Er war vor vielen Jahren mit seinem Fischkutter täglich von der früheren Landungsbrücke raus auf See gefahren, um Schollen, Makrelen, Krabben oder Seezungen zu fangen. Vielleicht war es gut, wenn er die aktuelle Entwicklung und die Diskussionen nicht mehr mitbekam.

»Er hat recht gehabt. Es wird schlimmer. Sieh dir die Meeresverschmutzung an, erst jetzt wird deutlich, was wir bereits angerichtet haben.«

Klaus wusste, worauf Gerda anspielte. Sie war durch die Jugendlichen von der Umweltgruppe auf das Problem des Plastikmülls in den Weltmeeren aufmerksam gemacht worden. Als sie von Gästen gehört hatte, dass sie überlegten, keinen Fisch mehr zu essen, um nicht krank zu werden durch die sich in den Organen einlagernden Plastikteilchen, war ihr bewusst geworden, dass die Zukunft der Insel genauso von der Qualität des Wassers, das sie umgab, abhängig war wie vom Klima. Andresens Vater, der 93 Jahre alt geworden war, hatte die Anfänge dieser Debatten noch miterlebt.

Aber mittlerweile hatten die Diskussionen um den Küstenentwicklungsplan teils bizarre Formen angenommen. Klaus war überzeugt, dass der Nationalpark Wattenmeer mit den zugehörigen Schutzmaßnahmen eine gute Sache darstellte, gerade angesichts der vielen Menschen, die die Insel besuchten, und der vielen Skipper mit ihren Motor- und Segelbooten. Es musste Regeln geben, damit alles in geordneten Bahnen verlief.

Willi Felthuis sah die Dinge jedoch anders. Er hatte Widerspruch geerntet, nicht wenige hatten allerdings Beifall geklatscht.

»Wir wollen Plastiktüten von der Insel verbannen, Willi Felthuis ist dagegen. Aber insgesamt geht der Plastikmüll doch schon zurück. Zumindest habe ich den Eindruck, wenn ich den Strand entlanglaufe«, griff Klaus einen Aspekt der Diskussionen der letzten Woche auf.

»Der ist nicht weg. Das Plastik, das du als Kind noch in Form von Flaschen, Tüten oder sonst was am Strand gefunden hast, ist heute in winzig kleine Partikel aufgelöst, die jede noch so kleine Öffnung passieren. Genau das ist das Gefährliche: Das Zeug ist quasi unsichtbar geworden, aber es ist noch da. Es dauert Jahrzehnte, bis es so klein gemahlen ist, dass es unbemerkt von den Meerestieren aufgenommen wird und am Ende von uns. Man weiß noch gar nicht, welche Folgen das hat. Die Kids, die machen das richtig mit ihren Umweltaktionen. Sie weisen auf diese Zusammenhänge hin.«

»Mann«, fuhr Klaus sie mürrisch an, »Du redest, als seist du Mitglied bei Greenpeace.«

»Warum nicht?«, erwiderte Gerda, »die fand ich immer gut.«

»Man kann den Fortschritt nicht aufhalten.«

»Das will auch niemand. Sie argumentieren sachlich und veranstalten tolle Aktionen. Fortschritt muss im Einklang mit der Natur geschehen. Das wollen einige nicht einsehen.«

»Verbotene Aktionen sind das, zumindest teilweise! Auf Schornsteine klettern, sich an Fischtrawler hängen …«

»Weil sie sich sonst kein Gehör verschaffen können.«

»Es muss alles friedlich bleiben. Das gilt vor allem für die Diskussionen auf der Insel. Manchmal wird mir angst und bange, wenn Felthuis und seine Leute im Dorfkrug gegen den Entwicklungsplan poltern. Und die Kids mit ihren Aktionen würde Felthuis am liebsten auf den Mond schießen. Mann, der macht mir das Leben nicht eben leicht.«

»Felthuis meint das nicht so.«

»Warum nimmst du ihn in Schutz? Er ist ein Schreihals!«

»Ach, komm. Du musst zugeben, dass der Fisch in seinem Restaurant hervorragend ist. Das haben wir bereits öfter festgestellt.«

»Hör dir Leute wie Uphoff, Janssen, Saathoff und Felthuis an. Neulich habe ich mit Uphoff am Pumpwerk gestanden, er war zufällig dort und fing gleich wieder mit dem Entwicklungsplan an. Ich hatte noch keine drei Worte gesagt, da meinte er, dass ich die Dinge nur auf dem Papier vor mir sähe, dass die Existenz vieler Juister davon abhänge, dass nicht alles nur in Natur- und Umweltschutz gesteckt werde, und, und, und …«

»Uphoff sagt viel, wenn der Tag lang ist. Man muss eben gute Argumente haben, wenn alle überzeugt werden sollen.«

»Sag mal, auf wessen Seite stehst du eigentlich?«

»Darum geht es nicht, Klaus. Ich will doch auch nur, dass alle vernünftig miteinander reden und Frieden auf der Insel herrscht.«

»Schwer genug, alles unter einen Hut zu bekommen. Tagsüber Dienst, Außentermine, massenhaft Telefonate und E-Mails. Und abends muss man noch Argumente finden, um Leute zu überzeugen, dass unser Plan der richtige ist. Wir leben hier seit Jahrzehnten zusammen. Sind auf du und du. Und jetzt diese Widersprüche, ja Anfeindungen! Es verändert sich nicht nur die Umwelt, sondern auch das Gesprächsklima. Immer öfter gibt es Streit um den Plan.«

»Was du tust, ist richtig und notwendig. Haben wir das nicht gerade eben am Deich gesehen? Sobald das Wasser über die Deichkrone schwappt, werden Felthuis, Janssen, Uphoff und Konsorten verstummen.«

»Allerdings ist es dann zu spät.«

»Das müssen sie einsehen.«

»Wollen sie aber nicht. Weißt du, womit mir Uphoff kam? Der faselte neulich im Dorfkrug was von friesischer Freiheit. Daraufhin rief Janssen laut: ›Wi will’n keen neejen Diek, wi will’n free Sicht för free Lü.‹« Er sah Gerda an und fuhr fort: »Freie Sicht für freie Leute, ein Unsinn ist das! Danach schickte er noch ›Lever dood as Slav‹ hinterher. Lieber tot als Sklave! Das ist der alte Spruch der Friesen, als sie unter irgendwelchen Besatzern leiden mussten. Das ist reichlich überzogen, oder?«

Klaus Andresen brummelte noch ein paar Worte, die Gerda nicht verstand. Sie erreichten die Haustür und waren froh, bald wieder im Warmen zu sein. Gerda ging in die Küche, um einen Tee aufzubrühen. Mit einem Tablett in der Hand betrat sie das Wohnzimmer, wo ein Stövchen, eine Kanne, Kluntje, Sahne und zwei Tassen auf dem Tisch bereitstanden.

»So, Hochwasser ist gewesen, der Deich hat anscheinend gehalten«, sagte sie augenzwinkernd.

Klaus betrachtete seine Frau nachdenklich. Sie war klug, sie war schön. Er liebte sie. »Noch, sag ich dir, noch!«, ereiferte er sich. »Die Deiche sind schon immer erhöht worden. Geologisch gesehen senkt sich das Land. Vielleicht muss ich Leute wie Janssen und Felthuis mit dieser Entwicklung konfrontieren. Das Land senkt sich und der Meeresspiegel steigt, der Deich muss also beträchtlich höher werden. Hauke Haien, in Storms Schimmelreiter, hat die Leute ebenfalls mit Argumenten überzeugt, ein großes Vorbild, was Deichbau und Küstenschutz angeht.«

»Hat er? Viele der Protagonisten im ›Schimmelreiter‹ wollten nicht hören, was er sagte. Haien hatte arge Gegner, allen voran Ole Peters, wie du dich sicher erinnerst«, bemerkte Gerda und nahm einen heißen Schluck Tee.

»Ist lange her, dass ich es gelesen habe«, murmelte Klaus, »aber du siehst daran: Nichts ändert sich. Willi Felthuis ist heute das, was Ole Peters in Storms Novelle war.«

»Dein neuer Koog ist ein fressend Werk«, zitierte Gerda.

»Felthuis würde am liebsten mich fressen. Und die Umweltgruppe, Scheepker, Maier, all die Leute auf der Insel, die die Zeichen der Zeit erkannt haben, sie alle würde er gerne zum Mond schießen«, erregte sich Klaus.

»Na, du ihn doch auch«, reagierte Gerda gelassen.

2

Der Dorfkrug war gut besucht, an der Theke saßen einige Männer, die meisten Tische waren besetzt. Manche aßen eine Kleinigkeit, tranken ein Pils und einen Doppelkorn oder einen Küstennebel, die entschärfte Variante.

Willi Felthuis stand an der Theke. Es hatte sich eine heftige Diskussion entwickelt, die auch bei denjenigen auf Interesse stieß, die nichts beizutragen hatten. Felthuis hatte die Wortführung übernommen.

»Die Großkopferten schwingen Reden, machen hinter unserm Rücken Kohle, und wir gucken in die Röhre. Ich bin einer von euch, Leute. Ich mache jetzt Politik, weil wir auf Juist klare Kante zeigen müssen. Wir dürfen das Ganze nicht Leuten überlassen, die in ihrer Wissenschafts- und Technikgläubigkeit eher auf einen Computer vertrauen als den gesunden Menschenverstand! Wir haben in den vergangenen Jahren unglaublich viel, und, wie ich meine, wirklich genug für Natur- und Umweltschutz getan. Von mir aus können wir ja ›Klimainsel‹ sein. Wenn sich das nach außen gut macht, okay. Aber es müssen mal wieder andere Themen auf den Tisch!«

Einige der Anwesenden klopften auf die Tische.

Felthuis setzte wieder an: »Das Problem ist, dass die sogenannten Tatsachen, die euch die klugen Leute erzählen wollen, ausschließlich auf Vermutungen aufbauen. Und es sind vage Vermutungen. Die Macher des Generalplans Küste wollen uns suggerieren, der Meeresspiegel steige an und würde schon bald so hoch sein, dass unsere Deiche nicht mehr ausreichen. Leute, seht euch unsere Deiche an. Man kann nicht eine ganze Region verändern, nur weil ein paar Wissenschaftler mittels Computer berechnet haben wollen, dass das Klima sich verändert und unsere Insel demnächst unter Wasser steht. Für mich ist ein großer Teil dieser Diskussion um den Klimawandel gelinde gesagt Stuss. Keine Prognose tritt jemals mit 100-prozentiger Sicherheit ein. Niemand weiß, was morgen tatsächlich sein wird. Und ob der Meeresspiegelanstieg wirklich kommt, warten wir mal ab.«

Felthuis’ Unterstützer stimmten laut zu. Das beflügelte ihn. »Ich glaube, dass viele dieser Leute noch nie ein Paar Stiefel angehabt haben und raus ins Watt gelaufen sind. Die kennen nur ihre virtuelle Computerwelt, nicht die Realität. Und die wollen uns sagen, was wir zu tun und zu lassen haben? Uns, die wir seit unserer Geburt an der Küste und auf den Inseln leben?«

»So ist das!«, rief Meinhard Saathoff.

»Ich sage euch noch etwas: Den Klimawandel gab es schon immer. Vor Jahrmillionen liefen auf der Erde Dinosaurier rum. Aber das ist es eben: vor Jahrmillionen! Bis hier etwas vom Klimawandel zu spüren sein wird, gucken wir uns seit Tausenden von Jahren die Gänseblümchen von unten an. Und das Gleiche gilt auch für die hoch auflaufende See! Sturmfluten kennen wir alle. Weshalb scheuchen ein paar Wissenschaftler die Leute auf? Sie wollen mithilfe von Computermodellen herausgefunden haben, dass demnächst unsere Deiche brechen, die doch inzwischen meistens wesentlich höher sind als in den 60er-Jahren. Das klingt ja, als stünde der Untergang von Juist unmittelbar bevor. Sollen wir uns deshalb einschränken? Sollen wir alle Maßnahmen akzeptieren, von denen man uns sagt, sie müssten sein, es führe kein Weg daran vorbei? Was heißt das denn? Weniger Auto fahren, gut, das ist auf der Insel eh nicht so wichtig …«, einige lachten, »… und weniger Holz in unseren Kaminen verfeuern? Die Verwendung von Plastik ist auf einmal ein Verbrechen, wir sollen weniger Fleisch essen … Das sind alles unausgegorene Ideen! Dann kommen die noch ernsthaft mit Veggie-Tagen? Geht’s noch? Bedenkt: keine Osterfeuer mehr, weil das zu viel CO2 freisetzt. Unsere Freunde in Nordfriesland dürfen ihre Biikefeuer nicht mehr anstecken. Ach, wer weiß schon, was den Schreibtischtätern noch alles einfällt. Hat das was mit Freiheit zu tun? Es ist maßlos übertrieben.«

»Da wirfst du aber einiges durcheinander, Willi«, meldete sich Sven Scheepker zu Wort. Das war selten. Scheepker, das wussten die meisten, hielt nicht viel von Felthuis’ Reden, trotzdem schwieg er meistens und hielt sich im Hintergrund.

»Nee, nee, Sven, das hängt alles zusammen«, beharrte Felthuis, »aber denkst du nicht eigentlich auch, dass es reine Panikmache ist?« Felthuis machte eine Pause, sah fast jedem der Anwesenden tief in die Augen und verharrte bei Scheepker.

Der stand nicht gern im Rampenlicht und murmelte so leise, dass man es kaum hören konnte: »Was ich denke, musst du schon mir überlassen.«

Willi Felthuis machte eine abfällige Handbewegung und fuhr fort: »Mal ehrlich. Was hat sich groß geändert, seitdem ihr auf der Welt seid? Ich meine, in Sachen Küstenschutz? Unser Deich steht seit 50 Jahren und hält und hält und hält … Gleich nach 1962 wurde er gebaut und hält noch immer. Hamburg stand damals halb unter Wasser, wie auch Juist, die ganze Nordseeküste war bedroht. Aber seitdem steht und hält der Deich auf Juist. Ein guter Deich!«

»Den habe unsere Väter mit gebaut«, rief einer der Anwesenden.

»Und die konnten das«, bestätigte ein anderer. Felthuis lächelte und fuhr fort.

»In Hamburg, da waren die Deiche teils großer Mist. In Wilhelmsburg und Steinwerder. Ich weiß, wovon ich spreche. Mein Großvater war damals bei der Hamburger Feuerwehr. Der hat tage- und nächtelang geholfen. Der wusste, was der Grund war, dass Hamburg überflutet wurde, und hat es mir erzählt. Die Deiche waren zu niedrig, aber vor allem hatten sie noch nicht die richtige Profilierung. Sie wurden überströmt und dann von hinten angefressen, fielen schließlich in sich zusammen. Das wusste man schon seit der großen Hollandflut, aber es wurde viel zu langsam reagiert. Es ging ums Geld und die Herren Senatoren bewilligten es nur stückweise. Ich denke, die haben mal wieder lieber im Rathaus rumdiskutiert, anstatt sich selbst ein Bild zu machen …« Felthuis’ Monolog wurde unterbrochen.

»So ist das eben, wenn Leute Entscheidungen treffen, die die Situation vor Ort nicht kennen«, kam aus einer Ecke des Schankraumes.

»Dann gibt’s irgendwann die Quittung, genau«, nahm der neue Bürgermeister den Einwurf auf, »und deshalb waren die vielen dringend notwendigen Deichbaumaßnahmen damals noch längst nicht fertig, als die 62er Flut kam und Wilhelmsburg versank. Juist hat ja noch Glück gehabt, aber das Loog, der Flugplatz, Teile des Dorfes waren überschwemmt. Dann wurde recht zügig der neue Deich gebaut, mit korrektem Profil und ausreichender Kleischicht. Seitdem sind wir hier sicher. Übrigens kam das Wort Klimawandel nicht ein einziges Mal vor, wenn mein Großvater erzählte.«

»Wetter ist Wetter, so ist das nun mal«, rief jemand.

»Opa«, fuhr Felthuis fort, »sagte immer, er möge ohne das Meer nicht leben, obwohl es furchtbar grausam sein könne. Wenn ungünstige Bedingungen zusammenkommen, läuft das Wasser höher auf. Das ist so, das war immer so. Nordwestwind und Springtide – ist doch klar, dass wir dann einen höheren Wasserstand haben. Aber das hat nichts damit zu tun, dass das Weltklima in Gefahr ist.«

»Man muss es gesehen haben, sonst ist es zu theoretisch. Aber frag doch mal in Hannover in den Ministerien, was eine Springtide ist. Die kennen sich doch hier gar nicht richtig aus.« Es war wieder Saathoff, der sich äußerte.

»Ja, Meinhard, du siehst das genau richtig«, sagte Felthuis, dann spann er den Bogen von der Nord- zur sogenannten Südsee.

»Seht euch die Karibik an. Hurrikane gab es schon immer dort. Und auf einmal sind sie Folge des Klimawandels? Heute wird ja gleich alles darauf geschoben: wenn es mal zu warm, mal zu kalt ist oder mal extrem viel regnet. So etwas gab es immer, und damit werden wir fertig.«

»Na, in diesem Sommer war’s manchmal ganz schön heiß!«, rief Reiner Janssen.

»Jo, und vorgestern der Regenguss. Da konnte man froh sein, dass das eigene Haus nicht weggeschwemmt wurde«, schloss sich Eike Uphoff an.

»Verdammtes Extremwetter«, ergänzte Meinhard Saathoff, und manche der Anwesenden lachten laut.

Felthuis konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, weil er wusste, dass diese drei Insulaner hinter ihm standen und dass sie gerade versuchten, die Diskussion um die Auswirkungen des Klimawandels ins Lächerliche zu ziehen.