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Friederike Schmöe

Drauß’ vom Walde

Bitterböse Weihnachten

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Zum Buch

Brandgefährlich Hella und Christian sind ein Vorbild für viele Paare: Seit etlichen Jahren verheiratet, scheint in ihrer Beziehung jeder auf seine Kosten zu kommen. Dies glaubt auch Christians Bruder Torsten, der eine Weihnachtsüberraschung in petto hat: Der Vater will endlich das Busunternehmen an die Söhne überschreiben, sofern beide verheiratet sind. Torsten braucht also eine Frau und findet sie in Hellas Freundin Viviane. Die allerdings ist nicht gerade glücklich, als ihr schwant, dass sie nur Mittel zum Zweck ist. Christian seinerseits hat längst mit Hella abgeschlossen, findet nur nicht die Traute, ihr seinen Entschluss mitzuteilen. Und Torsten muss seine beständigen Geldprobleme durch halbseidene Geschäfte in den Griff kriegen, die ihn auch am Heiligen Abend nicht loslassen. Nach und nach entschlüsseln die vier Menschen die wahren Pläne der anderen und kommen nicht umhin, ihre eigenen Bedürfnisse trotz allem durchzufechten. Ein brandgefährliches Spiel mit vielen Facetten.

Geboren und aufgewachsen in Coburg, wurde Friederike Schmöe früh zur Büchernärrin – eine Leidenschaft, der die Universitätsdozentin heute beruflich nachgeht. In ihrer Schreibwerkstatt in der Weltkulturerbestadt Bamberg verfasst sie seit 2000 Kriminalromane und Kurzgeschichten; sie gibt Kreativitätskurse für Kinder und Erwachsene und veranstaltet Literaturevents, auf denen sie in Begleitung von Musikern aus ihren Werken liest. Ihr literarisches Universum umfasst u. a. die Krimireihe um die Bamberger Privatdetektivin Katinka Palfy und eine Krimiserie mit der Münchner Ghostwriterin Kea Laverde als Hauptfigur.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Angeschwärzt (2019), Kurbäder im Herzen Europas (2019), Geisterflug (2018), Mörderische Prachtbäder (Hrsg. mit Petra Steps) (2018), Kreidekreis (2018), Falsche Versprechen (2017), Dohlenhatz (2017), Von Zimtsternen und Zimtzicken (Hrsg.) (2016), Stille Nacht, grausige Nacht (2015), Kirchweihleichen (2015), Zuträger (2015), Ein Toter, der nicht sterben darf (2014), Wer mordet schon in Franken (2014), Schaurige Weihnacht überall (2013), Du bist fort und ich lebe (2013), Still und starr ruht der Tod (2012), Rosenfolter (2012), Lasst uns froh und grausig sein (2011), Wasdunkelbleibt (2011), Wernievergibt (2011), Süßer der Punsch nie tötet (2010), Wieweitdugehst (2010), Bisduvergisst (2010), Fliehganzleis (2009), Schweigfeinstill (2009), Spinnefeind (2008), Pfeilgift (2008), Januskopf (2007), Schockstarre (2007), Käfersterben (2006), Fratzenmond (2006), Kirchweihmord (2005), Maskenspiel (2005)

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Alle Rechte vorbehalten

3. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Swen Burkhardt / photocase.de

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-5784-5

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog – der Brand

Neue Dinge beginnen, weil eine Weiche anders gestellt wurde als erwartet. Schäbiges findet seinen Anfang im Detail.

Brände werden ausgelöst durch Unvorsichtigkeit, Albernheiten, sie werden herausgefordert durch misslungene Streiche und großmäulige Listen. Heimtextilien spielen dabei eine Rolle.

Die Kerze setzte den Haufen aus zusammengeknülltem Geschenkpapier in Brand, eine grüne Stichflamme schoss empor, der Vorhang fing Feuer. Das Haus war nicht nach dem neuesten Standard eingerichtet, die verwendeten Materialien waren leicht entflammbar. Die Beteiligten beschäftigten sich zunächst mit einer verletzten Person, sodass sie den angerichteten Schaden zu spät bemerkten, in einer Phase, in der sie ohne professionelle Hilfe nichts mehr gegen den Zimmerbrand ausrichten konnten, zumal es im ganzen Haus keinen Feuerlöscher gab. Das Feuer breitete sich rasant in dem alten Gebäude aus.

Am Ende blieb keine andere Möglichkeit mehr als die Flucht.

Heiligabend. Fenja.

Sie erwachte, weil Lermontov auf ihre Bettdecke sprang.

»Verdammt!« Sie war gerade erst eingeschlafen. »Mistvieh!«

Der Kater maunzte. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Halb drei.

»Was ist denn los?«

Fenja stemmte sich hoch. Nichts wirkte auf den ersten Blick anders als sonst. Das Regal mit den Klassikern neben dem Bett hatte sie schon zur Hälfte ausgeräumt. Die leeren Bretter verhöhnten sie. Ich will das nicht, dachte Fenja, aber mir bleibt keine Wahl. Und wem blieb letztlich eine Wahl, wenn man es genau nahm. Alle unterwarfen sich dem Diktat dessen, was sie zu bewältigen hatten. Das Leben ließ nur scheinbar mehrere Optionen offen, letztendlich reduzierte sich alles auf das Durchhaltevermögen seiner Protagonisten. Sie warf die Bettdecke zurück. Über Nacht hatte sie den Ölofen auf unterste Stufe gestellt; jetzt fröstelte sie, während sie einen dicken Pullover über den Pyjama zog.

Lermontov kratzte an der Schlafzimmertür.

»Musst du raus oder was?«

Sie riss die Tür auf. Der Kater peste davon.

»Spinner!«

Trotzdem fühlte sie sich unruhig. Irgendetwas stimmte nicht, sie konnte nicht sagen, was. Die Nacht war zu ihrer schwärzesten Hochform aufgelaufen. Fenja stieß sich den Fuß an einem Bücherkarton.

»Autsch!«

Sie folgte Lermontov. Der führte nun vor der Haustür einen Tanz auf.

»Mein lieber haariger Idiot, was soll ich mit dir machen?« Sie drehte den Schlüssel zweimal und zog die Tür auf. Eisige Luft strömte herein. In den letzten Stunden war eine Menge Schnee gefallen. Ein Windstoß wirbelte ein paar Flocken ins Haus. Der Kater drückte sich durch den Spalt und verschmolz mit der Schwärze der Nacht.

Kopfschüttelnd schob Fenja die Tür wieder zu. Ihr war kalt. Trotz des warmen Pullis. Sie kam mit dem Winter nicht klar. Nieste.

Wenn sie schon einmal wach war, weil der Kater sich plötzlich wie ein Geistesgestörter benommen hatte, konnte sie sich einen Tee aufgießen. Mit irgendwas Warmem im Magen ließe sich bestimmt leichter einschlafen …

Sie stand in der winzigen Küche, wartete darauf, dass das Wasser kochte. Lermontov war sonst eher einer von den gleichgültigen Katern. Der jagte nicht mal mehr den Mäusen nach, entweder, weil er in seinen Jahren als Bibliothekskater keinen begegnet war, oder aus Altersgründen. Es war Weihnachten, Heilige Nacht, womöglich wollte er sich ein Geschenk machen …

Was für einen Blödsinn sie zusammendachte! Wirklich abstruse Gedanken. Katzen wussten nichts von Weihnachten, und wenn sie selbst auf Melancholie aus war, die Tristesse dieses einsamen Weihnachtsfestes so richtig auszukosten gedachte, brauchte sie das nicht auch dem Kater unterstellen. Andererseits: Er war so unruhig gewesen. Sagte man nicht, Tiere spürten Erdbeben viel früher als Menschen?

Der Wasserkocher schaltete sich mit einem Klacken ab. Fenja hob den Kopf. Unsinn. Im Frankenwald hatte, soweit sie wusste, noch nie die Erde gebebt. Außerdem befand sie sich in einem alten Haus, das mehr als hundert Jahre auf dem Buckel hatte, das würde nicht gleich wegknicken wie …

Sie goss das dampfende Wasser über einen Teebeutel.

Irgendwas fühlte sich eigenartig an. Instinkt. Obwohl sie mit dem Verstand gegen das mulmige Gefühl anarbeitete, konnte sie sich der Erkenntnis nicht erwehren, dass sich gerade etwas änderte. Sie schob den Vorhang zur Seite. Eine mondlose, bewölkte, tintenschwarze Nacht. Mochte der Schnee auch ein zartes Glimmen auslösen, die Finsternis schien alles zu schlucken. Die Welt. Das Universum.

Fenja zögerte, die Außenbeleuchtung einzuschalten. Sie kam sich ausgesetzt vor. Das Haus unten am Hang, in dem die beiden Paare eingezogen waren, vermochte sie nur zu erahnen. Aber …

Konnte das wahr sein? Fenja presste die Stirn an die kalte Scheibe. Irgendetwas tat sich da. Sie war zu müde, völlig unkonzentriert; wenn sie so ruckartig aus dem Schlaf gerissen wurde, stellte sich ihre Fähigkeit zu denken erst nach und nach ein.

Sie öffnete das Fenster und rief leise nach dem Kater.

»Lermontov?«

Absurd, den Namen eines russischen Dichters in die Nacht zu rufen.

»Wo bist du?«

Er käme, wenn er selbst es wollte, nicht, wenn sie ihn rief. Wieder einmal fragte sie sich, was sie mit dem Kater tun sollte, sobald sie das Haus ausgeräumt hatte. Mitnehmen? In ihr Apartment? Die Vorstellung, er könnte im fünften Stock in einer Einzimmerwohnung umherstreifen, kam ihr geradezu lächerlich vor. Sie brauchte mehr Geduld. Es würde sich alles weisen. Der Kater war das geringste Problem, mit Sicherheit fände sich ein Tierfreund, der Lermontov übernahm, immerhin war er pflegeleicht, wenngleich ein Vielfraß …

Etwas roch seltsam. Hier draußen in der Einsamkeit des Mittelgebirges gab es keine Dunstglocke aus Autoabgasen. Der fortwährende Wind sorgte für frische Luft. Fenja schnupperte. Kälte. Gemischt mit … Rauch.

Nicht wirklich ungewöhnlich. Sie heizte mit Öl, und Nachbar Kroneck hatte sein ganzes Haus auf Holz umgerüstet. Was bei ihm aus dem Schlot stieg, roch definitiv nach Kamin.

War Kroneck nicht bis übermorgen verreist?

Sie rieb sich das Gesicht. Schloss das Fenster. Fischte den Teebeutel aus der Tasse und warf ihn in die Spüle. Starrte auf den Hängeschrank darüber. Alles billig, alt, zu nichts mehr zu gebrauchen. Ihrem Vater war es scheinbar egal gewesen. Er hatte nie viel auf Äußerlichkeiten gegeben. Ein Küchenbuffet vom Sperrmüll taugte für ihn genauso wie ein selbstgezimmertes Bettgestell.

Sie nippte am Tee.

Zeit, wieder in die Federn zu krabbeln. Lermontov würde hoffentlich nicht gleich neuerlich Einlass begehren.

Sie schaltete das Licht aus und tappte ins Schlafzimmer.

Heilige Nacht. Verblüffend, wie sehr ein Mensch ein Bild von dieser einen, besonderen Nacht abgespeichert hatte. Fenjas Vorstellung war nicht unbedingt romantisch, der frisch gefallene Schnee konnte keine Begeisterung in ihr auslösen, sie hing keinem Familienideal an, aber diese Nacht bewirkte doch etwas in ihr. Lermontov hatte am Abend eine Extraportion Wild aus der Dose bekommen, sie selbst hatte sich mit Pasta begnügt. Es ging nicht ums Essen, nicht um Geschenke, vielmehr hatte sie das Gefühl, dass jene, die ihr fehlten, heute näher waren als sonst.

Ihr Vater.

Rosa.

Sie zog den Vorhang beiseite.

Ein paar Sterne wären schön.

Sie trank vom Tee.

Fenja setzte sich auf die Bettkante. Und dann sah sie, was Lermontov längst gespürt hatte.

20.12. Fenja.

Mit Lermontov auf der Fensterbank wirkte das Zimmer gleich freundlicher. Man merkte dem Haus an, dass es mehrere Wochen nicht bewohnt gewesen war. Nur von den Bücherregalen, die so gut wie jede Wand in jedem Raum okkupierten, ging ein Hauch Leben aus. Fenja fuhr mit dem Finger über die Buchrücken. Zwei Zimmer, Küche, Bad, letzteres vorsintflutlich, ein enger Flur und eine winzige Diele. Wie sollte ein Büchermensch wie ihr Vater hier auch ausreichend Platz für seine Schätze finden! Sie spürte Tränen hinter ihren Augen kitzeln.

Aus. Ein Menschenleben war einfach so vorbei. Ausgelöscht in einem Augenblick, in dem etwas nicht so lief, wie es sollte. In dem ein Organ versagte, dem man tagein, tagaus vertraute, weil man es nicht anders kannte und sich seinetwegen keine Gedanken machte.

Sein Herz hatte gestreikt. Der Nachbar hatte ihn vor dem Bücherregal hier im Schlafzimmer gefunden. Lermontovs Werke lagen neben ihm. Auf dem CD-Player hatte er zuletzt von seiner Lieblingssängerin interpretierte Händel-Arien gehört. Die Scheibe lag noch im Gerät. Fenja fühlte sich außerstande, den Player einzuschalten.

Der Tag verabschiedete sich mit einem orangefarbenen Streifen, dessen Glanz wie Feuerschein über den Bergen lag, während die Täler sich bereits verdunkelten. Wie Straßenschluchten in einer totenstillen Stadt, dachte Fenja, das Gesicht dem warmen Schein am westlichen Horizont zugewandt. Warum ihr Vater sich in diese abgelegene Gegend zurückgezogen hatte, blieb ihr ein Rätsel, wenngleich sie hoffte, in den nächsten Tagen mehr über seine letzten Jahre im Frankenwald herauszufinden. Vielleicht würden Lermontovs gesammelte Werke ihr dabei helfen? Sie musste lächeln. Typisch für sie, wie ihr Vater die Rettung in der Literatur zu suchen!

Sie legte das Buch auf das Bett. Bis Mitte Januar musste sie das Haus an den Vermieter zurückgeben – leergeräumt, aller Lebensspuren beraubt. Leute aus Berlin interessierten sich dafür, als Wochenendhaus, hatte der Eigentümer zu verstehen gegeben, so wie früher, als die Berliner, kaum hatten sie die DDR durchquert, im Norden Bayerns ihre Ferien verbrachten. Fenjas Vater dagegen hatte das Haus zu seiner Heimat gemacht, nachdem er vor fünf Jahren in den Ruhestand gegangen war.

Warum hatte er sich für ein Doppelbett entschieden? Er war doch längst alleinstehend gewesen! Schmerzlich wurde sich Fenja bewusst, wie wenig sie über ihren Vater und seine Entscheidungen wusste. Sie hatte ihn hier besucht – ab und zu, meistens im Sommer, wenn man in der Hitze des Hochsommers in den Frankenwaldtälern Abkühlung fand. Jetzt sah die Welt da draußen natürlich ganz anders aus. Statt smaragdgrüner bewaldeter Berge im nachmittäglichen Dunst, lauerten leblose schwarze Fichten vor den Fenstern. In vier Tagen war Heiligabend. Es sollte noch heute Nacht zu schneien anfangen. Fenja hatte extra Schneeketten gekauft.

Die dunkelroten Überbleibsel des Sonnenuntergangs lösten sich in Schwärze auf. Wie Tinte würde die lange Nacht in wenigen Minuten vor den Fenstern kleben.

Lermontov schlug mit dem Schwanz und sprang vom Fenstersims. Offenbar hatte auch er das Lichtschauspiel der Natur bewundert.

»Hunger, alter Knabe?«

Der Kater rieb sich an Fenjas Beinen.

»Also ja?«

Er folgte ihr in die Küche, wo sie nach einer Dose Thunfisch griff. Lermontov sprang auf den Küchentisch, richtete sich auf den Hinterfüßen auf und schlug mit der Tatze nach der Dose.

»Armer Kerl!« Fenja war bislang davon ausgegangen, dass Nachbar Kroneck den Kater gefüttert hatte. Oder war er einfach nur verfressen? Hätte sie darauf bestanden, den Doseninhalt in seinen Napf umzufüllen, Lermontov wäre wahrscheinlich Amok gelaufen. Fauchend stürzte er sich auf den Fisch und trieb beim Fressen die Dose vor sich her über den Tisch, bis sie am hinteren Ende der Schwerkraft gehorchte und auf den Boden knallte. Lermontov hüpfte mit allen vier Füßen voran hinterher. Ein schwarzer Derwisch. Der weiße Fleck an seiner Kehle blitzte auf wie der Lichtfleck einer rotierenden Diskokugel.

Als Kroneck die Leiche ihres Vaters entdeckt hatte, war dieser bereits ein paar Tage tot gewesen. Die Kälte im Haus hatte dafür gesorgt, dass er gut aussah, wie Kroneck sich ausdrückte. Nur eben sehr blass. Mit bläulichen Lippen. Fenjas Handynummer hatte Kroneck mit einem Magneten an die Kühlschranktür geheftet gefunden. Sie selbst hatte sie ihrem Vater aufgeschrieben. Bei ihrem letzten Besuch im September.

Niemand wusste, wann das letzte Mal war. Das letzte Mal mit ihm ein Glas Cabernet trinken. Einen Zwetschgenkuchen backen. Er liebte Süßes und backte leidenschaftlich gern. Ihn an der Einmündung zu der engen Staatsstraße nach Nordwald stehen und winken sehen. Theoretisch, dachte Fenja jetzt, während sie Wasser für Tee aufsetzte, war einem genau das klar: Es würde – irgendwann – ein letztes Mal geben, und es schien opportun, jeden Moment zu genießen, auch wenn man sich nicht als Misanthropen betrachtete, der zuerst an das Ende dachte.

Lermontov hatte seine Mahlzeit beendet und kehrte ins Schlafzimmer zurück, wo er sich häuslich auf der Fensterbank niederließ.

»Wie wäre es mit einem kurzen Jagdausflug zwecks Nachspeise?«, rief Fenja ihm hinterher.

Lermontov war nicht mehr der Jüngste. Sein Reich war die Universitätsbibliothek in Bamberg gewesen, wo Fenjas Vater gearbeitet hatte. Mit dem Tag seiner Verrentung hatte auch Lermontov den Wohnort gewechselt. Er war eine echte Bücherkatze, benannt nach dem berühmten russischen Poeten, und machte sich wenig aus Spaziergängen, brach selten zu Streifzügen in die umliegenden Wälder auf.

Kroneck hatte Fenja vorgewarnt: »Die verderblichen Sachen habe ich aus dem Kühlschrank geräumt. Sehr viel mehr als ein bisschen angetrockneter Senf ist da nicht drin.« Dem fürsorglichen Nachbarn war das Tiefkühlfach entgangen, in dem Fenja nun eine Reihe von kleinen Ein-Portionen-Behältern fand, säuberlich beschriftet. Nudeln mit Gemüse und Käsesoße. Risotto vegetarisch. Hatte er vorgekocht? Oder hatte jemand das für ihn getan?

Ich weiß nichts über ihn, dachte Fenja traurig. Ihre Einkäufe würden für die nächsten zwei Wochen reichen, doch so lange konnte sie gar nicht bleiben. Musste sie auch nicht. Es würde höchstens ein paar Tage dauern, den Besitz ihres Vaters durchzusehen und die Dinge, die sie behalten wollte, in Kisten zu packen, um den Rest einem Entrümpelungsunternehmen zu überlassen. Blieb die Frage, was mit Lermontov – dem haarigen – zu geschehen hatte.

21.12. Christian.

Na gut. Er würde das machen.

Um Hella einen Gefallen zu tun. Und seinem Bruder.

Christian streifte durch den Getränkemarkt und lud einen Bierkasten nach dem anderen in den Einkaufswagen. Torsten konnte ganz schön saufen. Er selbst begnügte sich mit einem Bierchen am Abend, aber es war ja Weihnachten. Was hatte Hella noch aufgeschrieben? Rotwein für Glühwein … Die Frauen standen scheinbar auf das pappsüße Zeug. Er würde sich fügen, es war das letzte Mal, wenngleich Hella das bislang nicht ahnte. Womöglich machte er es sich zu leicht? Er neigte zu Selbstkritik. Hella trieb ihn dazu. Eigentlich war er nie so ein mutloser Typ gewesen. Im Studium, meine Güte, damals war er der Typ zum Pferdestehlen, und hatte nicht gerade das Hella so besonders gut gefallen?

Aus den Lautsprechern piepte Weihnachtsmusik. Allmählich wurde es ernst mit den Geschenken und Vorräten, jedes Jahr die gleiche Hatz, Christian ignorierte die grellen Werbetafeln mit Last-minute-Geschenkideen. Präsentkörbe standen bereit für die ganz Fantasielosen. Thunfischdosen, Knackwurst, Boxbeutel im Miniformat. Frohes Fest.

Beinahe hätte er den Rotwein vergessen. Rotwein für Glühwein. Er konnte sich nicht erinnern, dass Hella je mit Genuss Glühwein getrunken hätte. In ihren Augen musste eben alles perfekt sein, und es war nur perfekt, wenn man genau dem Bild entsprach. Plätzchen, Lebkuchen, Glühwein. Er wählte einen billigen trockenen Tropfen und hievte den Karton in seinen Einkaufswagen. Neugierig ließ er den Blick an dem Regal mit den Rotweinen entlangwandern. Da waren feine Sachen dabei. Kurz vertiefte er sich in das Etikett eines 2014er Chianti Classico mit dem Schwarzen Hahn drauf. Seufzend stellte er die Flasche zurück. Zu schade für Glühwein.

Christian navigierte mit seinem bis obenhin vollgepackten Wagen zur Kasse. Die Schlange vermittelte den Eindruck, als stünde ein Tropensturm bevor. Jeder einzelne Wartende verströmte Eile und Gereiztheit. Wollte schnell weg. Verdrossen zog Christian sein Handy aus der Tasche und scrollte durch den Nachrichteneingang. Torsten. Gleich drei WhatsApps! Die Liebe schien sein Bruderherz gesprächig zu machen. Witzig, dass er sich ausgerechnet in Hellas Freundin verguckt hatte. Torsten galt bis vor Kurzem als Schwerenöter, der von Rock zu Rock hüpfte, nichts anbrennen ließ, dessen Libido jedoch schnell abkühlte, wenn die noch hübschere Version eines Frauenhinterns in Reichweite wackelte. Viviane, die glückliche Auserwählte, war tatsächlich eine Beauty-Queen! Torsten, der Glückspilz …

Ich bin so nicht, dachte Christian, so auf Äußerlichkeiten versessen. So spontan in Sachen Sex. Inzwischen beneide ich ihn manchmal um seine Sorglosigkeit.

Mit dem Trip in den Frankenwald tat er also nicht nur seiner Frau einen Gefallen, sondern auch seinem Bruder. Er selbst blieb mal wieder auf der Strecke. Sein Leben bestand aus Pflichten, die er abhakte. Der Job. Betriebswirt in einer Möbelfirma. Dienst nach Vorschrift. Seit Jahren hatte er den Plan aufgegeben, in das Busunternehmen seines Vaters einzusteigen. Eine eigene Firma würde ihm durchaus taugen, das wäre eine Herausforderung. Er hatte Betriebswirtschaft studiert, weil ihn das Kaufmännische reizte, das Abwägen von Aufwand und Ertrag, und weil er es spannend fände, allein ein Geschäft zu gestalten. Im großen Stil. Selbst das Risiko zu tragen, ohne sich nach oben absichern zu müssen. Aber wie es aussah, gab es für seinen Vater keinen Grund, das Unternehmen seinen Söhnen zu überschreiben. Der Alte war fit wie ein Turnschuh, selbstherrlich bis auf die Knochen.

Freu mich auch auf die Tage mit euch, tippte Christian und schickte die Nachricht ab. Eine weiße Lüge. Er freute sich nicht die Bohne auf Weihnachtstage im Frankenwald, mit seiner verkniffenen Ehefrau und seinem trinkfreudigen Bruder, mit dem im Zustand akuter Hormonschwemme nicht vernünftig zu reden war, das kannte Christian. Er konnte nur hoffen, dass sie alle ohne Kollateralschäden durch die Weihnachtsfeiertage kamen. Wenn das Pflichtprogramm überstanden war, würde er Hella reinen Wein einschenken.

Jemand rammte ihm von hinten den Einkaufswagen in die Fersen. Er drehte sich um, eher erschöpft als genervt.

»Können Sie nicht aufpassen?«

»Tut mir leid.« Die Frau grinste gehetzt.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, scherte Christian aus der Schlange aus. Stieß seinen Wagen in die Richtung des Weinregals. Er nahm sechs Flaschen von dem Chianti Classico aus dem Regal.

Die würde er extra abrechnen. Sein Weihnachtsgeschenk. Für sich allein.

21.12. Hella.

Hella legte die Liste vor sich ab. Sie beschloss, systematisch vorzugehen. Die verderblichen Lebensmittel in den Kühlschrank; kurz vor Abreise würde sie die in eine Kühlbox packen; zwar war Winter, aber sie befand sich gern auf der sicheren Seite. Wäre schade um die teuren Filetsteaks, die sie für den ersten Feiertag vorgesehen hatte. Die anderen Sachen kamen in die Klappkisten. Vollkornbrot, Senf, Ketchup, Salz, Pfeffer. Ihre persönlichen Dinge konnte sie morgen packen. Sie musste nachher noch für ein Stündchen ins Büro, schlimm genug, dass die Hauptarbeit in Sachen Vorbereitungen mal wieder an ihr hing. Auf Christian war nur insofern Verlass, als er Anweisungen exakt ausführte. Sobald es ums Planen ging, musste sie selber ran. Wenn nur irgendjemand mitdenken würde! Oder sie nicht alles dreimal sagen und aufschreiben müsste. Wenn Christian zum Beispiel von selbst merken würde, dass die Butter zur Neige ging. Das hatte sie seit Beginn ihrer Ehe gestört. Dass sie diejenige war, die den Überblick behalten musste. Heimkommen von der Arbeit bedeutete für Christian Entspannung. Für Hella ging der Stress erst richtig los.

Dass Viviane sich ausgerechnet Torsten ausgesucht hatte, diesen Dandy! Sie hoffte, ihre Freundin würde keinen Reinfall erleben, obwohl der ehrlich gesagt nicht allzu unwahrscheinlich war. Alle kannten Torsten als Lebemann. Hella wählte ein Set scharfe Messer aus und wickelte sie in Zeitung, bevor sie sie in einen Korb packte. Christian und Torsten, zwei Brüder, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Christian verhielt sich vorhersehbar, an der Grenze zur Langeweile. Torsten entschied sich garantiert für die Option, mit der keiner rechnete. Als der jüngere der beiden Brüder musste er sich absetzen, seine eigene Linie finden. Hella war prinzipiell gern bereit, Zugeständnisse zu machen. Bei Torsten allerdings war die Toleranzschwelle wirklich erreicht.

Okay, Konzentration: Jetzt noch die Weingläser ausgesucht und eingepackt!

Es klingelte an der Tür. Ausgerechnet. Hella griff sich den Hörer der Sprechanlage.

»Hallo?«

»Ich bin’s. Viviane.«

Hella drückte auf den Öffner.

»Grüß dich!« Viviane stürmte in den ersten Stock, die Wangen gerötet. »Es sieht so aus, als ob es bald schneit, wir kriegen eine weiße Weihnacht, Hella!«