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Monika Felten

Die Nebelelfen

Ein Roman aus der Welt
der Saga von Thale

hockebooks

Für alle Freunde der Nebelelfen

Prolog

In der kleinen Kammer tief in den Gewölben von Nimrod war es still. Kein einziger Laut des geschäftigen Treibens, das die Hallen und Korridore der Inneren Festung erfüllte, vermochte bis hierher vorzudringen. Die Kammer befand sich in einem weit abgelegenen Teil der Gewölbe, und nur die wenigsten wussten von ihrem Vorhandensein. Hinter einem Mantel aus Magie verborgen, hatte sie die Herrschaft An-Rukhbars schadlos überstanden und ihre Schätze vor der Vernichtung bewahrt. Die dicken Wände aus nacktem Fels und die massive Tür aus Schwarzeichenholz sorgten dafür, dass nichts die Ehrfurcht gebietende Stille störte, die das Wissen vieler Generationen auf vergilbten Pergamenten bewahrte, und ein mächtiger Zauber hielt die klamme Feuchtigkeit der benachbarten Gewölbe von den empfindsamen Materialien fern.

Es geschah nicht oft, dass jemand die altehrwürdige Ruhe störte, um in den Pergamenten und dicken, ledergebundenen Büchern nach dem Wissen zu forschen, das im Lauf vieler Hundert Sommer verloren gegangen war, doch an diesem Nachmittag hatte das Licht in Form einer kleinen Öllampe Einzug in die Kammer gehalten.

Im flackernden Schein der Lampe hatte Sayen verschiedene Dokumente aus den Regalen genommen, angesehen und wieder zurückgestellt, bis er eines gefunden hatte, das Rat und Hilfe zu versprechen schien.

Jedes Mal, wenn er die spröden Seiten des dicken Buchs umblätterte, das vor ihm auf dem staubigen kleinen Tisch lag und in dem er nun schon eine kleine Ewigkeit las, beschlich ihn das Gefühl, als könne er das Raunen und Seufzen unzähliger Folianten und Pergamente hören, die sich in ihrer Ruhe gestört fühlten und empört miteinander flüsterten. Das Knistern und Rascheln des uralten Pergaments wirkte in der lastenden Stille laut und befremdlich, doch das Wissen, das sich darin verbarg, war so kostbar, dass Sayen nicht aufhören konnte zu lesen.

Unmittelbar nachdem ihm der Abner den Auftrag erteilt hatte, die Möglichkeiten zur Verteidigung der Festungsstadt zu erkunden, war er die unzähligen Treppen hinabgestiegen, um hier unten aus den Erfahrungen früherer Generationen zu lernen. Ein halbes Dutzend Bücher hatte er seither auf- und wieder zugeschlagen, bevor er auf dieses eine gestoßen war. Die uralten, verwitterten Schriftzeichen, die ein unbekannter Druide in formvollendeter Schönheit auf das Pergament gezeichnet hatte, hatten ihn sofort in ihren Bann gezogen.

Das Buch kündete von einer großen Schlacht. Einer Schlacht, die so weit zurücklag, dass Sayen noch in keinem anderen Buch davon gelesen hatte. Sie fand statt, lange bevor die ersten Menschen in Thale siedelten, zu einer Zeit, da allein das Volk der Nebelelfen über das Land zwischen den schneebedeckten Gipfeln des Ylmazur-Gebirges und der Valdor-Berge herrschte …

(aus: »Die Macht des Elfenfeuers«)

Erstes Buch

Die Verschwörung

1

Thale, viele Generationen vor »Elfenfeuer«, zu einer Zeit, da allein das Volk der Nebelelfen über das Land herrschte …

Über den schneebedeckten Gipfeln des Ylmazur-Gebirges wich das letzte Grau des Abends dem Tiefblau der Nacht, das sich wie eine samtige, mit funkelnden Edelsteinen besetzte Decke über Thale breitete. Während sich weit im Osten die schmalen Sicheln der Zwillingsmonde To und Yu anschickten, ihre nächtliche Reise zu beginnen, erhoben sich die lichtscheuen Jäger in den Sümpfen von Numark von ihren Schlafplätzen, um im Nebel auf Beutefang zu gehen.

In der Maarensiedlung am südlichen Ende des Ylmazur-Gebirges wurde es still. Die Kinder waren in die Hütten gerufen worden, die Alten hatten sich von den Bänken erhoben, auf denen sie den Tag schwatzend oder schweigend verbracht und ihre müden, altersschwachen Glieder in der Sonne gewärmt hatten. Die Jungen und Kräftigen hatten ihr Tagwerk beendet und waren an die Herdfeuer ihrer Familien zurückgekehrt, um Kraft für den kommenden Tag zu schöpfen.

Es war ein entbehrungsreiches Leben, welches das kleinwüchsige Volk der Maare führte. Zwar hatte der Bergbau in den vergangenen einhundert Sommern bescheidenen Wohlstand in die ärmlichen Hütten getragen, aber die Arbeit in den Stollen war hart und gefährlich und hatte schon etliche Opfer gefordert.

Warti Farfugel schlief tief und fest und träumte wie so oft von einem Leben ohne Staub und Steine, das er an der Seite seiner Frau Ginnir und den beiden Söhnen an einem See nahe den großen Wäldern verbrachte.

Wenn er am Morgen erwachte, wurde ihm jedes Mal schmerzlich bewusst, dass dies wohl immer nur ein Traum bleiben würde. Nicht, weil ihm der nötige Reichtum für ein solches Leben fehlte, sondern weil sich Ginnir und die Kinder seit dem Frühjahr auf seltsame Weise verändert hatten. Auch wenn er sich nach wie vor rührend um sie kümmerte und ihnen seine Liebe jeden Sonnenlauf aufs Neue bewies, konnte er sich des drückenden Gefühls nicht erwehren, dass sich die drei immer weiter von ihm zurückzogen.

Er konnte sich die Veränderung nicht erklären, denn es war nichts Ungewöhnliches zwischen ihnen vorgefallen. Und sie waren nicht die Einzigen, die in den vergangenen Sonnenläufen alle Lebensfreude verloren hatten. Fast schien es, als wären die Maare plötzlich von einer geheimnisvollen Krankheit befallen, die sich rasch immer weiter ausbreitete und eine bedrückende Schwermut über das sonst so fröhliche Volk brachte. Die plötzliche Kühle bekümmerte Warti zutiefst, denn sie drohte sein kleines Glück zu zerstören, auch wenn Ginnir wie auch die Kinder weiterhin freundlich, zuvorkommend und hilfsbereit waren und nie ein böses Wort fiel. Manchmal glaubte Warti, etwas Fremdes in ihren Augen zu sehen, das ihn ängstigte. Doch das Gefühl war so flüchtig, dass er es nicht wirklich fassen konnte, und so redete er sich jedes Mal ein, dass er sich getäuscht haben musste.

Je tiefer der Graben wurde, der ihn von seinen Lieben trennte, desto mehr sehnte er sich nach den Nächten, die ihm einen seiner wunderbaren Träume bescherten.

In dieser Nacht fuhr er im Traum mit Ginnir zum Angeln auf einen kristallklaren See hinaus. Die Sonne schien hell von einem wolkenlosen Himmel, und Ginnir wirkte so glücklich, wie er sie schon lange nicht mehr gesehen hatte.

Ein Geräusch in unmittelbarer Nähe ließ ihn jäh aus dem Schlaf aufschrecken. Gehetzt blickte er sich um, konnte im schwachen Mondlicht aber nichts Bedrohliches entdecken. Ginnir und die Kinder schliefen tief und fest und rührten sich nicht. Im Schlaf trugen ihre Gesichter nicht den abweisenden, harten Ausdruck, den Warti so sehr verabscheute, aber es war auch kein Frieden, den er darin fand.

Warti schlug die Decke zurück und trat vor das Lager seiner beiden Söhne. Jafne, sein Erstgeborener, stöhnte leise und zeigte einen Gesichtsausdruck, der auf einen furchtbaren Traum schließen ließ. Bendt, sein Jüngster, zitterte und weinte im Schlaf.

Der Anblick zerriss Warti fast das Herz. Gerade wollte er die Jungen vorsichtig wecken, um sie aus den Schrecken ihrer Traumwelten zu befreien, als ein Schatten lautlos am Fenster vorbeiglitt und seine Aufmerksamkeit erregte.

Räuber!

Diebe!

Plünderer!

Warti schlug das Herz bis zum Hals, als er sich auszumalen versuchte, wer da draußen so heimlich im Finstern herumschlich. Dass es einer der Dorfbewohner sein könnte, stand für ihn außer Frage. Maare waren ein friedliebendes Volk, das keine Waffen besaß und nie gelernt hatte, sich zu verteidigen. Sie fürchteten die Nacht und verließen ihre Hütten nach Sonnenuntergang nur im äußersten Notfall. Ein Umstand, den sich einige besonders skrupellose Abtrünnige schon zunutze gemacht hatten. Das Sternenebulit, das von den Maaren aus dem Leib der Erde gebrochen und an die Kunstschmiede der Nebelelfen verkauft wurde, besaß einen enormen Wert, der so manchen in Versuchung führte. Immer wieder kam es vor, dass ein Teil der Ernte auf geheimnisvolle Weise verschwand, aber niemals war einer der Diebe gefasst worden – bis jetzt.

Warti schnitt eine Grimasse, zog die Hände zurück und ballte sie zu Fäusten. Wenn der Dieb da draußen glaubte, dass alle Maare im Dorf Feiglinge waren, hatte er sich getäuscht. Er, Warti, würde hinausgehen und den Plünderer beobachten. Vielleicht würde es ihm allein nicht gelingen, ihn zu überwältigen, aber wenn er sein Gesicht sehen würde, konnte er ihn wiedererkennen und die bislang vergebliche Suche nach den Sternenebulitdieben ein ganzes Stück voranbringen.

Als Warti sich erhob, spürte er, dass seine Knie weich wurden. Nach wie vor war er entschlossen, dem Dieb zu folgen. Angst hatte er trotzdem. Einer plötzlichen Eingebung folgend, griff er nach dem kurzen Schürhaken, der neben dem Herdfeuer bereitlag, und steckte ihn wie ein Schwert in den Gürtel, der seine viel zu weite Hose zusammenhielt. Er hatte noch nie gekämpft oder eine Waffe gegen jemanden erhoben, aber das geschmiedete Metall gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Für einen trügerischen Augenblick fühlte er sich wie ein ruhmreicher Krieger.

Leise nahm er seinen Umhang vom Haken, schlich zur Tür und trat in die kühle Herbstnacht hinaus. Keinen Augenblick zu früh! Als er den Blick suchend durch das Dorf schweifen ließ, entdeckte er den Schatten gerade in dem Moment, da dieser den Weg zu den Minen einschlug.

»Hab ich dich!« Auf Wartis Lippen zeigte sich ein grimmiges Lächeln. Er verdrängte die leise Stimme der Vernunft, die ihm zuflüsterte, dass er im Begriff war, eine große Dummheit zu begehen, und machte sich daran, die Verfolgung aufzunehmen. Der Umhang, der ihn schützte, war so dunkel wie die Nacht, und seine nackten Füße bewegten sich nahezu lautlos über den Boden. Die Luft war feucht und von den schweren Düften des Herbstes erfüllt, während die Geräusche der Schlafenden aus den Hütten an seine Ohren drangen und irgendwo in den Sümpfen der Todesschrei einer bedauernswerten Kreatur davon kündete, dass die Nacht voller Gefahren war.

Warti hatte den breiten, ausgetretenen Pfad zu den Minen noch nicht erreicht, als er aus den Augenwinkeln erneut eine Bewegung im Schatten bemerkte. Wie angewurzelt blieb er stehen, presste sich mit dem Rücken an die dunkle Holzwand einer Hütte und hielt den Atem an.

»Der Dieb ist nicht allein«, schoss es ihm durch den Kopf, und er spürte, wie sein ohnehin spärlicher Mut weiter sank. Vielleicht war es besser, einfach umzukehren und das Sternenebulit den Dieben zu überlassen. Was kümmert es mich, dachte er bei sich. Das Sternenebulit gehört mir nicht. Die wenigen Handvoll, die sie mitnehmen werden, sind zu ersetzen. Mein Leben habe ich nur einmal.

Andererseits …

In Gedanken malte Warti sich aus, wie er als Held gefeiert wurde und mit einer stattlichen Belohnung in den Händen nach Hause zurückkehrte. Dann wäre er reich und könnte sich den Traum von einem friedlichen Leben in den Wäldern sofort erfüllen.

Nie mehr arbeiten. Nie mehr Steine schleppen.

Gewiss würden dann auch Ginnir und die Jungen ihr Lachen wiederfinden. Der Gedanke an eine mögliche Belohnung und die Folgen flutete wie eine warme Woge durch seinen Körper und nahm ihn gefangen. Dies war eine Gelegenheit, die sich ihm vermutlich niemals wieder bieten würde. Ein Glücksfall, der sein ganzes Leben verändern konnte.

Die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengepresst, beobachtete Warti, wie die Gestalt näher kam. Wie er war auch sie ganz in den dunklen Umhang der Minenarbeiter gehüllt. Die Kapuze verbarg das Gesicht. Größe und Statur ließen auf einen Angehörigen seines Volkes schließen, auch wenn die Bewegungen ein wenig seltsam anmuteten. Schleppend setzte der Fremde einen Fuß vor den anderen. Entweder war er sehr alt oder er hatte sich ein wenig zu viel Mut angetrunken, was Warti allerdings bezweifelte, denn zu beiden Vermutungen wollte die Haltung der Arme nicht so recht passen. Sie hingen schlaff herunter und pendelten bei jedem Schritt kraftlos hin und her.

Seltsam. Warti runzelte die Stirn. Einen Dieb, der Böses im Schilde führte, stellte er sich anders vor. Allerdings hatte er noch nie wirklich einen zu Gesicht bekommen.

Die vermummte Gestalt bog auf den Weg zur Mine ein. Warti zählte langsam bis zehn, dann löste er sich aus den Schatten und folgte ihr.

Wer immer dort vor ihm ging, schien sich sicher zu fühlen. Obwohl Warti mehrfach gegen einen Stein stieß, der mit verräterisch lautem Klacken davonsprang, und zweimal einen trockenen Ast zertrat, schien der Dieb ihn nicht zu bemerken. Nicht ein einziges Mal drehte er sich um, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand folgte. Nicht einmal blieb er stehen, um zu lauschen. Er trottete einfach nur dahin, fast wie ein Schlafwandler, den ein Traum mitten in der Nacht in die Minen zwang.

Wieder versuchte die Stimme der Vernunft, Warti zu warnen. »Es ist zu leicht«, wisperte sie. »Hier stimmt etwas nicht.«

Aber Warti schob alle Bedenken beiseite. Natürlich ist es leicht, dachte er bei sich. So oft, wie die Diebe hier schon unbehelligt eingedrungen sind, rechnen sie inzwischen vermutlich nicht mehr damit, dass es Schwierigkeiten geben könnte. Wie die Diebe an den beiden Wachen vorbeikommen wollten, die den Eingang zu den Stollen nachts bewachten, war ihm allerdings ein Rätsel.

Die Antwort, die er wenig später auf seine stumme Frage erhielt, war so unglaublich wie erschreckend. Obwohl die Diebe sich nicht die geringste Mühe gaben, ihr Nahen zu verbergen, machten die Wachtposten keine Anstalten, sie aufzuhalten. Und mehr noch, als hätten sie den nächtlichen Besuch bereits erwartet, nickten sie den beiden nur kurz zu und ließen sie ohne ein Wort passieren.

Hier stimmte etwas nicht! Endlich war auch Warti bereit, der wispernden Stimme der Vernunft recht zu geben. Daran, sich zurückzuziehen und Verstärkung zu holen, dachte er hingegen noch lange nicht. Er spürte, dass er etwas Großem auf der Spur war. Etwas, das sein Vorstellungsvermögen bei Weitem überstieg. Etwas, das es nun erst recht herauszufinden galt.

Wenn die Vermummten wirklich Diebe waren, mochte das halbe Dorf in deren Machenschaften verstrickt sein. Wut stieg in Warti auf, als er daran dachte, dass sich womöglich schon unzählige Dorfbewohner heimlich an dem Sternenebulit bereichert hatten, während er tagaus, tagein schuftete und sich mit dem kargen Lohn der Minenarbeiter zufriedengab.

Er musste unbedingt herausfinden, was da vor sich ging, und so fasste er einen gewagten Plan. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, die Arme nutzlos neben dem Körper pendelnd, bewegte er sich schweigend und so schleppend auf die Wachen zu, wie er es bei seinen Vorgängern gesehen hatte. Das Herz klopfte ihm dabei bis zum Hals, so laut, dass er fürchtete, die Wachen könnten es hören. Diese aber würdigten ihn kaum eines Blickes; sie nickten ihm nur kurz zu und ließen ihn passieren.

Das erste Stück des Tunnels fiel steil nach unten ab. Nach etwa fünfzig Schritten erreichte Warti die erste Wegbiegung, tauchte in den nur spärlich erhellten Tunnel dahinter ein und lehnte sich keuchend mit dem Rücken gegen die Wand. Ohne dass er es bemerkt hatte, hatte er die ganze Zeit die Luft angehalten. Nun war ihm schwindlig. Endlose Augenblicke verstrichen, bis er sich so weit gesammelt hatte, dass er sein selbst gewähltes Abenteuer fortzusetzen vermochte.

Er wollte gerade weitergehen, als sich von hinten erneut schlurfende Schritte näherten. Noch jemand? Warti stutzte. Das wurde ja immer seltsamer. Kurz entschlossen schlüpfte er in eine kleine Nische, in der ein Teil des Handwerkszeugs auf den Beginn der Frühschicht wartete, spähte in den Gang hinaus – und erlebte eine Überraschung.

»Fafla!« Der geflüsterte Name entwich seinen Lippen wie von selbst, als er erkannte, wer sich ihm dort aus dem Dunkeln näherte. Fassungslos starrte er seinem besten Freund nach, der schlaftrunken an ihm vorbeitappte, ohne ihn zu bemerken.

Fafla. Das konnte nicht sein! Warti ballte die Fäuste. Wenn es eine ehrliche Haut im Dorf gab, dann war es Fafla. Der stämmige Sohn eines Vorarbeiters galt als der Inbegriff von Rechtschaffenheit und Kameradschaft. Niemals würde er sich an dunklen Machenschaften beteiligen. Dafür hätte Warti ohne zu zögern die Hand ins Feuer gelegt. Bis zu diesem Augenblick jedenfalls.

Die ganze Sache wurde immer befremdlicher.

»Noch kannst du umkehren«, wisperte es hinter Wartis Stirn, aber seine Neugier war stärker als jede Vernunft. Entschlossen zog er sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und trat in den Gang hinaus, um Fafla zu folgen.

Die Hohlwege und Stollen, die sein Freund zielstrebig durchquerte, schienen kein Ende zu nehmen. Lange Zeit führten sie bergab, teilten und überschnitten sich und bildeten mit ihren Ausläufern einen regelrechten Irrgarten, in dem sich ein Unkundiger längst hoffnungslos verlaufen hätte.

Fafla machte niemals halt und zögerte nicht ein einziges Mal, wenn die Tunnel sich teilten. Immer tiefer drang er in die unterirdische Welt vor, bis der Boden wieder leicht anstieg.

Warti folgte ihm in angemessenem Abstand. Angst sich zu verirren hatte er keine. Auch wenn er das Ziel seines Freundes nicht kannte, wusste er doch immer, wo er sich befand. Er, der fast sein ganzes Leben in der Mine verbracht hatte, kannte die Tunnel und Stollen so gut, dass er selbst im Dunkeln mühelos hinausgefunden hätte. Noch ehe er es sehen konnte, wusste er, was er hinter der nächsten Weggabelung vorfinden würde: Die größte und schönste Höhle, auf die sie bei ihren Grabungen gestoßen waren. Von der kuppelartigen Decke hingen lange Tropfsteine wie versteinerte Eiszapfen herab und wuchsen mit unendlich anmutender Geduld den steinernen Dornen entgegen, die unter ihnen aus dem Boden sprossen. Funkelnde Adern aus Sternenebulit durchzogen die Höhlenwände wie silberne Fäden, in denen sich das Licht von einem Dutzend Fackeln brach, die irgendjemand in der Mitte der Höhle zu einem Kreis angeordnet hatte.

Warti hatte weder einen Blick für die Schönheit der Höhle übrig, noch blieb ihm Zeit, darüber nachzudenken, wer hier mitten in der Nacht so viele Fackeln entzündet hatte. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den Maaren, die sich im Kreis der Fackeln versammelt hatten. Nicht drei waren es, wie er vermutet hatte. Es waren mindestens zehn.

Zehn! Warti schluckte trocken. Angesichts der Überzahl bekam er weiche Knie und bedauerte sein waghalsiges Unternehmen. Furchtsam drängte er sich an die schattige Wand und sandte ein kurzes Gebet an einen der unzähligen Götter seines Volkes, dass man ihn nicht entdeckte.

Die Stille in der Höhle war es, die ihn davon abhielt, sogleich kehrtzumachen und die Flucht zu ergreifen. Die Stille war es aber auch, die wiederum seine Neugier weckte. Maare waren ein geschwätziges und lautes Volk. Wo immer sich zwei begegneten, wurde geredet und gelacht. Dass mehr als zehn von ihnen völlig lautlos beisammenstanden, war nicht nur ungewöhnlich, es war geradezu unheimlich.

Warti musste all seinen Mut zusammennehmen, um noch einmal in die Höhle zu sehen. Vorsichtig lugte er um die Ecke und sah, dass die Versammelten sich genau in der Mitte des Kreises zusammengestellt hatten. Die Köpfe in den Nacken gelegt, die Arme schlaff herunterhängend, starrten sie blicklos auf einen Punkt an der Höhlendecke, den Warti von seinem Versteck aus nicht sehen konnte. Erst als sich im Dunkel über den Versammelten ein grünlicher Lichtschein zeigte, erkannte er, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Im ersten Moment glaubte er sich zu täuschen. Ein Licht in dieser Höhe hatte er noch nie gesehen, schon gar kein grünes. Er blinzelte, aber das Licht blieb. Und es wurde heller. Es war, als ob dort oben ein Vorhang zur Seite gezogen wurde, der gleißendes Licht in die Höhle fluten ließ, bis die Versammelten inmitten einer grün leuchtenden Lichtsäule standen.

Warti klappte vor Staunen der Mund auf. Was hier geschah, war nicht natürlich. Und noch etwas spürte er. Das Licht war den Maaren nicht freundlich gesinnt. Es war böse. Und es war gefährlich. Warum nur hielten alle so still? Sie mussten doch auch spüren, dass sie in Gefahr waren.

Am liebsten hätte Warti gerufen und die anderen gewarnt, aber er fürchtete sich und wollte sich nicht verraten. Dann schwebte der erste Maar wie von Geisterhand getragen in die Luft und verschwand in dem Leuchten. Die anderen folgten ihm nach.

Warti war wie erstarrt. Sein Verstand weigerte sich zu glauben, was er sah. Das konnte nur ein furchtbarer Albtraum sein! Verzweifelt klammerte er sich an den Gedanken, bis der Letzte der Versammelten an der Reihe war.

Fafla!

Nicht Fafla!

Als Warti sah, wie sein bester Freund sich vom Boden löste, vergaß er alle Vorsicht. Sein einziger Gedanke war, dass er Fafla helfen musste, dass er nicht zulassen durfte, dass dieses Etwas auch ihn verschlang. So schnell ihn seine kurzen Beine trugen, stürmte er durch die Höhle auf das Licht zu, rannte mitten hinein und bekam gerade noch Faflas Beine zu fassen.

Verzweifelt klammerte er sich daran fest, in der Hoffnung, den Freund durch das zusätzliche Gewicht nach unten zu ziehen. Aber sosehr er auch strampelte und zerrte, Fafla schien nicht einmal zu merken, dass er sich an ihn klammerte, und strebte ungerührt dem Licht entgegen.

»Lass los!«, kreischte die Stimme der Vernunft in ihm. »Lass sofort los!« Diesmal wusste Warti, dass sie recht hatte. Er musste Fafla freigeben, wenn er sich nicht selbst in Gefahr bringen wollte. Der Boden war schon mehr als eine Maarenlänge unter ihm. Ein Sturz aus dieser Höhe würde schmerzhaft sein, aber nicht tödlich. Er durfte nicht länger warten.

Warti schloss die Augen und gab Fafla frei. Er spürte, wie der Freund seinen Armen entglitt, und machte sich auf einen harten Aufprall gefasst. Aber der blieb aus. Als Warti die Augen wieder öffnete, sah er den Höhlenboden unter sich entschwinden, während er selbst auf ein gleißendes, kreisrundes Tor in der Höhlendecke zuschwebte.

Nein!

Panik stieg in ihm auf, sein Puls raste. Er wusste, dass er einen furchtbaren Fehler gemacht hatte. Aber das Unheil nahm seinen Lauf, und es gab nichts, was er jetzt noch dagegen tun konnte.

»Artair!«

Die Art, wie Brinnah in Gedanken nach ihm rief, verriet, dass etwas vorgefallen sein musste. Blinzelnd hob Artair den Kopf und ließ den Blick über die nebelverhangene Ebene schweifen, die seinen Schlafplatz – eine Gruppe grauer Felsblöcke in den westlichen Ausläufern des Ylmazur-Gebirges – von den dichten Wäldern im Süden trennte.

Die Sonne ging gerade auf und tauchte den Himmel im Osten in ein leuchtendes Farbenspiel aus Rot- und Violetttönen, wie es nur im späten Sommer über Thale zu sehen war. Der Wald im Westen lag noch im Dunkeln, aber der Riesenalp hatte gute Augen und konnte die helle Gestalt, die auf die grasbewachsene Ebene hinauslief, vor dem Hintergrund der Bäume mühelos ausmachen.

»Artair, wach auf!«

Wieder erreichte ihn ein Gedankenruf von Brinnah, und wieder spürte er, wie aufgeregt sie war.

»Ich bin wach«, gab er kurz Antwort. »Warte auf dem Hügel. Ich komme.«

Der Hügel erhob sich nahe dem Wald über der Ebene. Seine Flanken fielen sanft zur Ebene hin ab, aber ein Erdrutsch vor vielen Hundert Sommern hatte einen Teil davon auf mehr als zwanzig Längen abbrechen lassen und so einen hervorragenden Start- und Landeplatz geschaffen.

In der Nähe von Brinnahs Heimatdorf zu landen, war ihm nicht möglich. Für die enorme Spannweite seiner Flügel standen die Bäume dort viel zu dicht beisammen. So leistete der Hügel nicht nur Artair gute Dienste; auch seine Brüder und Schwestern, die als Kuriervögel im Dienst der Nebelelfen standen, schätzten den Hügel als Landeplatz.

Artair erhob sich und schüttelte sein Gefieder. Vorsichtig trat er an den Rand der Felsen, die sich nur wenig mehr als zehn Längen über dem Boden erhoben, und kniff die Augen fest zusammen. Nach einem kurzen Innehalten breitete er die Flügel aus, stieß sich ab und schwang sich in die Lüfte.

Er erreichte die Hügelkuppe fast zeitgleich mit Brinnah, die sich noch den schmalen Pfad hinaufkämpfte, der zum Landeplatz führte. Die junge Nebelelfe war eine ausdauernde Läuferin, die auch weite Strecken ohne Anzeichen von Erschöpfung zurücklegen konnte, aber diesmal wirkten ihre Bewegungen kraftlos. Artair legte den Kopf schief und beobachtete mit einer Mischung aus Sorge und Verwunderung, wie seine Gefährtin näher kam.

»Cyrill ist gegangen.«

Die Worte trafen Artair wie Fausthiebe. Er spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte und ein heißer Schmerz durch seinen Körper jagte. Sein Atem stockte, und er zitterte so sehr, dass sein Gefieder raschelte.

»Nicht Cyrill«, schoss es ihm durch den Kopf. »Nicht Cyrill.«

Dem Schrecken folgte Unglauben.

Das konnte nicht sein. Brinnah musste sich täuschen. Cyrill hätte es ihm gesagt. Er würde sich niemals ohne ein Wort des Abschieds davonstehlen. Er würde ihn niemals im Stich lassen, ohne …

»Es ist wahr, Artair.« Zum ersten Mal, seit er Brinnah kannte, sah der Riesenalp Tränen in ihren Augen. »Er ist gegangen. Heute Nacht. Ferwyned hat es im Traum gesehen. Als er Cyrill rief, erhielt er keine Antwort. Den Schlafplatz fand er verlassen vor.«

»Nein! Nein, das glaube ich nicht.« Artair schüttete den massigen Kopf so heftig, als könne er die Wahrheit damit aus seinen Gedanken vertreiben. »Er ist sicher nur zur Jagd ausgeflogen oder …«

»Es ist schwer für uns alle, aber wir dürfen die Augen nicht vor dem verschließen, was uns traurig macht.« Brinnah trat neben ihn und strich ihm sanft über das Gefieder. »Glaub mir, auch ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass er zurückkommt«, sagte sie mitfühlend. »Aber das wird er nicht. Niemals mehr. Er hat gespürt, dass sich seine Zeit dem Ende zuneigt, und seine letzte Reise angetreten. Ferwyned fand eine weiße Feder auf Cyrills Schlafplatz.«

»Der weiße Riesenalp!« Artair gab einen keuchenden Laut von sich. Eine Weile schwieg er, dann sandte er Brinnah erneut einen Gedanken: »Dann ist es also wahr.«

Brinnah nickte. Tränen liefen über ihre Wangen, als sie die Arme um Artairs Hals schlang, den Kopf gegen sein weiches Gefieder lehnte und schweigend nach einem Trost suchte, den es nicht gab.

So standen sie beisammen, der junge Riesenalp und seine Reiterin, die Gesichter der aufgehenden Sonne zugewandt, doch ohne jeden Blick für die Schönheit des Morgens. Die prächtigen Herbstfarben des Waldes, die im Sonnenlicht aufflammten, konnten die Düsternis ihrer Gedanken ebenso wenig durchdringen wie der Gesang eines kleinen Vogels, der mit raschem Flügelschlag über dem Hügel aufstieg und sein Lied so stimmgewaltig in den Morgen schmetterte, als hielte der Frühling schon wieder Einzug in Thale.

»Cyrill war alt«, sagte Brinnah schließlich wie zu sich selbst. »Die weiten Flüge haben ihm immer mehr zugesetzt. Erst von ein paar Sonnenläufen sagte Ferwyned zu mir, dass er sich große Sorgen um seinen Riesenalp mache. Cyrill hat nie geklagt. Er hat Ferwyned beharrlich verschwiegen, wie es wirklich um ihn stand, aber ich glaube, Ferwyned hat sehr wohl gespürt, dass es mit seinem Gefährten zu Ende ging.«

»Cyrill war immer sehr verschlossen«, antwortete Artair. »Aber das hätte er mir sagen müssen.«

»Vielleicht kam es am Ende auch für ihn überraschend.«

»Du findest wohl für alles eine Entschuldigung, wie?« Artair ließ den wuchtigen Schnabel geräuschvoll zuklappen. Nach dem ersten Schrecken und der Trauer über den Verlust des Freundes spürte er Wut in sich aufsteigen und ärgerte sich, dass Brinnah Cyrills Verhalten in Schutz nahm. »Es ist wenig ehrenhaft, sich heimlich davonzustehlen und den Nachfolger seinem Schicksal zu überlassen.«

»Aber er wusste es doch nicht.« Brinnah löste sich von ihm und stellte sich so, dass sie ihn ansehen konnte. »Er wusste es nicht«, wiederholte sie noch einmal eindringlich. »Wie kannst du da erwarten, dass er auf dich Rücksicht nimmt? Für ihn war alles geregelt. Warum hätte er anders handeln sollen? Du wirst seinen Platz als Kuriervogel einnehmen und ich werde Ferwyned als Kurier nachfolgen. So wurde es vor fünf Sommern bestimmt, und so wird es sein. Wir beide haben immer gewusst, dass es für uns nicht leicht werden würde, aber wir haben eingewilligt. Gemeinsam haben wir uns entschlossen, diesen Weg zu gehen, obwohl wir um die Schwierigkeiten wussten. Nun müssen wir uns der Herausforderung stellen.«

Artair schwieg lange. Er wusste, dass Brinnah recht hatte, aber es war ihm kein Trost. Fünf Sommer zuvor waren sie beide ausgewählt worden, Cyrills und Ferwyneds Nachfolge anzutreten. Für Brinnah, die sich schon immer gewünscht hatte, eine Kurierreiterin zu werden, war es die Erfüllung ihrer Träume gewesen, für ihn der Beginn einer Ausbildung, die er nur mithilfe jener Täuschungen und Lügen hatte beenden können, die sein Leben bestimmt hatten, seit er das Nest verlassen hatte.

Er hatte der Wahl zugestimmt, obwohl er gewusst hatte, dass er nicht zum Kuriervogel taugte. Allerdings hatte er damals noch gehofft, seine Ängste überwinden zu können. Cyrill war kräftig gewesen, und der Zeitpunkt, da er dessen Platz würde einnehmen müssen, war ihm unendlich weit entfernt erschienen.

Artair seufzte.

In Wirklichkeit hatte er nie eine Wahl gehabt. Solange er zurückdenken konnte, waren seine Vorfahren Kuriervögel gewesen. Nie hatte auch nur ein Riesenalp daran gezweifelt, dass er diesen Brauch fortsetzen würde. Auch Brinnah, die als Einzige um seine Sorgen und Nöte wusste, hatte ihm unermüdlich Mut zugesprochen. »Du schaffst das«, hatte sie ihm immer wieder gesagt. »Irgendwann wirst du erkennen, dass deine Ängste unbegründet sind, und dich davon freimachen. Dann bist du wie alle anderen und musst dich nicht mehr hinter Lügen und Ausflüchten verstecken.«

Allein ihr hatte er es zu verdanken, dass er die üblicherweise einen Sommer währende Ausbildung zum Kuriervogel nach drei Sommern doch noch erfolgreich hatte abschließen können. Gemeinsam hatten sie immer einen Weg gefunden, die geforderten Übungen und Aufgaben zu lösen, ohne dass jemand von seinen Ängsten erfahren hatte. Als sie schließlich in Brinnahs Heimat zurückgekehrt waren, hatte Artair gehofft, das Schlimmste sei vorbei. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass Cyrill sie schon so früh verlassen würde. Der Gedanke daran, was nun auf ihn zukam, ließ Übelkeit in ihm aufsteigen.

Gern hätte er Brinnahs Zuversicht geteilt, aber er konnte es nicht. Was, wenn er versagte?

Kuriervögel waren kraftvoll, unerschrocken und vor allem eines: ehrlich. Versager und Betrüger wurden in der eingeschworenen Gemeinschaft nicht geduldet. Niemand würde ihm seine Täuschungen verzeihen, und niemand würde Mitleid mit ihm haben, wenn sie sein Geheimnis – seine tiefe Angst – entdeckten.

2

Warti fürchtete sich wie nie zuvor in seinem Leben.

Tosender Wind, beißende Kälte und allgegenwärtiges, frostig grünes Licht empfingen ihn, als er durch die kreisrunde Öffnung gezogen wurde. Über ihm schwebten in einer Reihe Fafla und die anderen so ruhig, als ob sie schliefen. Warti schaute nach unten, wo die Fackeln auf dem Höhlenboden und die Öffnung in der Decke rasch kleiner wurden.

»Zurück! Ich muss zurück!«

Wartis Herz raste. Todesangst löste die Starre, mit der der Schrecken seine Glieder umfangen hielt, und verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Wild mit den Armen rudernd, versuchte er, sich umzudrehen und gegen den Sog anzuschwimmen, der ihn beharrlich nach oben zerrte – vergeblich. Sosehr er sich auch mühte, der Weg zurück war ihm verwehrt. Verzweiflung schnürte ihm die Kehle zu und trieb ihm die Tränen in die Augen. Was hatte er nur getan? Warum war er nicht umgekehrt, als noch Zeit dazu gewesen war? Warum hatte er nicht auf seine innere Stimme gehört, die ihn immer wieder gewarnt hatte?

Jetzt war es zu spät.

Warti schluchzte innerlich auf, als ihm klar wurde, dass er seine Familie wohl niemals wiedersehen würde. Er wusste nicht, was hier geschah und was ihn am Ende der Reise erwartete. Ihm war nur klar, dass er es eigentlich gar nicht wissen wollte, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass alles nur ein furchtbarer Albtraum wäre, aus dem er bald erwachen würde.

Als er wieder nach unten schaute, war die Öffnung verschwunden. Unter ihm gab es nur noch das grüne Leuchten, sonst nichts. Dafür hatte sich über ihm etwas verändert. Als er nach oben sah, erkannte er, dass sich dort eine Öffnung aufgetan hatte. Schon glitt der Erste der Gruppe hindurch und verschwand jenseits davon.

Warti zwang sich zur Ruhe. Der Gedanke, dass die unheimliche Reise ein Ziel hatte, hatte etwas Tröstliches an sich, war jedoch nicht dazu geeignet, ihm die Furcht zu nehmen. Bangen Herzens fragte er sich, was sich hinter der Öffnung befand, und wenn sich auch ein Teil von ihm insgeheim an den Gedanken klammerte, dass er sich vielleicht in der vertrauten Höhle wiederfinden würde, wusste der andere Teil längst, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllen würde.

Was immer hier vor sich ging, geschah nicht zufällig. Die Reaktion der Wachtposten an der Mine und die Art, wie die Fackeln inmitten der Höhle aufgestellt waren, ließen darauf schließen, dass jemand oder mehrere aus seinem Heimatdorf die Entführung vorbereitet hatten. Warti war überzeugt, dass weder Fafla noch die anderen freiwillig in die Höhle gegangen waren. Zwar hatten sie sich nicht gegen den Sog des Lichts gewehrt und keine Anstalten gemacht zu fliehen, aber das hatte gewiss nichts zu bedeuten.

Obwohl sie sich bewegten, schienen sie immer noch zu schlafen und gar nicht mitzubekommen, was mit ihnen geschah, so als würde ein anderer über ihren Körper bestimmen und ihren Geist im Schlaf gefangen halten. Warti hatte so etwas schon einmal erlebt und erinnerte sich noch gut daran.

Damals, vor vielen Wintern, war ein fahrender Gaukler in die Siedlung der Maare gekommen. Während er eine Kupfermünze vor dem Gesicht der alten Brenni Nafugl hatte hin und her pendeln lassen, hatte er sie dazu gebracht, Dinge zu tun, über die alle herzhaft gelacht hatten. Sie war auf einem Bein über den Platz gehüpft, hatte mit den Armen geschlagen, als wären es Flügel, und dabei gackernde Geräusche von sich gegeben wie ein Huhn. Der Vorarbeiter Jol Masfugl hatte sich sogar wie ein Schwein im Dreck gewälzt. Keiner der beiden konnte sich anschließend daran erinnern, was sie getan hatten, und vor allem Jol war sehr wütend geworden, weil man ihn viele Sommer später noch damit aufzog, dass er sich wie ein Schwein benommen hatte.

Die leeren Blicke derer, die sich in der Höhle versammelt hatten, ähnelten denen der Verzauberten von damals auf erschreckende Weise, und so gelangte Warti zu der Überzeugung, dass er der Einzige hier war, dessen Sinne nicht umnachtet waren.

Inzwischen waren es nur noch fünf, die dem Licht zustrebten, vier, bis er an der Reihe war. Wenn er genau hinsah, glaubte er, hinter der Öffnung Gestalten zu erkennen, die sich bewegten und die Maare in Empfang nahmen. Ein weiterer Beweis dafür, dass alles wohlgeplant sein musste.

»Was soll ich tun?« Hinter Wartis Stirn überschlugen sich die Gedanken, und er erkannte, dass er nur eine Möglichkeit hatte: Solange er nicht wusste, was ihn hinter der Öffnung erwartete, musste er sich ebenfalls schlafend stellen. Wer immer dort auf die Maare wartete, rechnete vermutlich nicht damit, dass jemand den Weg bei vollem Bewusstsein angetreten hatte. Vielleicht befand sich ja etwas Verbotenes oder Geheimes hinter der Öffnung. Etwas, das niemand sehen durfte …

Als Fafla über ihm durch die Öffnung glitt, machte er sich bereit. Die Arme schlaff herunterhängend, ließ er das Kinn auf die Brust sinken, unterdrückte das Zittern in seinen Händen und bemühte sich um eine lockere Haltung. Er war nie ein guter Mime gewesen und betete darum, dass ihm die Täuschung gelang.

Auf der anderen Seite des Tors packten ihn zwei in dunkle Umhänge gewandete Gestalten und führten ihn durch eine Höhle zu den anderen Maaren, die mit dem Rücken zur Wand teilnahmslos ihrem Schicksal harrten. Sie waren weder gefesselt noch wurden sie bewacht. Offensichtlich ging hier niemand davon aus, dass die Gefangenen einen Fluchtversuch wagen würden.

Die beiden Dunkelgewandeten geleiteten Warti an seinen Platz am Ende der Reihe und verschwanden aus seinem Blickfeld. Er sah nicht auf, hörte aber, wie sie davonschlurften. Als er sicher war, dass sie ihn nicht mehr beobachteten, hob er den Kopf ein wenig an und wagte zum ersten Mal einen längeren Blick durch die Höhle.

Sie ähnelte von der Ausdehnung her der großen Höhle in der Mine. Das war aber auch schon die einzige Gemeinsamkeit, wie Warti verstohlen feststellen konnte. Die Tropfsteine und die steinernen Dornen, die aus dem Höhlenboden wuchsen, fehlten hier völlig. Dafür war der Boden so ebenmäßig, als wäre er bearbeitet worden. Überall an den Wänden gab es wundersame Lichtquellen, die den gewaltigen Hohlraum bis in den hintersten Winkel erhellten. Der größte Unterschied aber lag in der Vielzahl der verhaltenen Stimmen und Geräusche, die den Raum erfüllten wie das Summen in einem Bienenstock. Hier herrschte eine rege Betriebsamkeit. Da er sich schlafend geben musste, gelang es Warti nur schwerlich, sich ein Bild von denen zu machen, die ihn am Ende des Tors in Empfang genommen hatten.

Hochgewachsen waren sie wie die Nebelelfen in Thale, die die Maare um mehr als eine halbe Länge überragten. Sie gingen aufrecht und unterhielten sich miteinander in einer unbekannten kehligen Sprache. Die Kutten aus dunklem Stoff verbargen ihre Körper vollständig, und die Gesichter blieben in den Schatten unter den weiten Kapuzen verborgen.

Etwa drei Dutzend der seltsamen Geschöpfe hielten sich in der Höhle auf. Einige eilten geschäftig hin und her, während andere an Tischen Dinge taten, deren Sinn Warti verborgen blieb.

Als sich zwei von ihnen zu ihm umdrehten, senkte er hastig den Blick und nahm seine teilnahmslose Haltung wieder ein. Die beiden kamen näher, gingen an ihm vorbei, wählten den Ersten aus der Reihe aus und führten ihn zu einem kleinen Tisch, auf dem eine einzelne Schale stand. Ein Befehl wurde gerufen, worauf sich das Licht in der Höhle so sehr verfinsterte, dass die beiden Dunkelgewandeten nur noch schemenhaft zu erkennen waren.

Und noch etwas geschah.

Warti konnte spüren, wie sich in der Höhle Kräfte zusammenballten, die weit über das hinausgingen, was die Nebelelfen an Magie vollbrachten. Die ungeheure Bosheit, die in diesen Kräften mitschwang, jagte ihm einen eisigen Schauder über den Rücken. Furcht schnürte ihm die Kehle zu, und der Gedanke, dass alles noch viel schlimmer sein könnte, als er es sich ausgemalt hatte, trieb seinen Pulsschlag in die Höhe.

»Ich muss hier weg.« Der Gedanke blitzte kurz hinter seiner Stirn auf, verlosch jedoch sogleich, als er dessen Unsinnigkeit erkannte. Selbst wenn es ihm im Halbdunkel gelingen sollte, sich von der Gruppe zu entfernen, wo sollte er hin? Soweit er es erkennen konnte, gab es weit und breit keine Möglichkeit, sich irgendwo zu verstecken. Seine Flucht würde enden, ehe sie begonnen hatte.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Dunkelgewandeten von allen Seiten zusammenkamen und einen Kreis um den Maar und die beiden anderen bildeten. Ein sonorer Summton aus vielen Dutzend Kehlen erfüllte die Höhle wie eine Beschwörung, während über der Mitte des Kreises funkelnder Silberstaub in der Luft aufstieg. Endlose Herzschläge lang geschah nichts. Dann verstummte der Ton wie abgeschnitten, und ein gleißender Blitz, dem ein dumpfer Schlag folgte, zwang Warti, die Augen zu schließen. Als er sie wieder öffnete, hatte sich die Reihe der Dunkelgewandeten geöffnet. Zwei der hochgewachsenen Gestalten schleiften den ausgewählten Maar an den Armen wie tot hinter sich her. Nur ein paar Schritte von Warti entfernt legten sie ihn achtlos auf den Boden und kehrten zurück, um den Nächsten in die Mitte des Kreises zu führen.

Wieder ertönte der Summton, und wieder sah Warti den Silberstaub in der Luft, aber diesmal war er gewarnt und schloss die Augen, ehe der Blitz ihn blendete. Ein Schlurfen ertönte, und ehe Warti sich versah, lag ein weiterer Maar neben dem ersten am Boden.

Warti klopfte das Herz bis zum Hals. Auf keinen Fall wollte er das Schicksal seiner Stammesgefährten teilen, die sich einer nach dem anderen wie die Zicklein zur Schlachtbank führen ließen. Er musste handeln, aber ihm fehlte ein Plan.

Verzweifelt nutzte er die kurzen Momente der Helligkeit, um nach einem Versteck Ausschau zu halten – und wurde fündig.

Hinter ihm, keine fünf Schritte entfernt, stand ein kleiner Karren an der Wand. Er bestand aus zwei großen Speichenrädern, einer einfachen Ladefläche, die knapp über der Achse zwischen der Rädern befestigt war, und hatte vorn zwei lange Streben, die offenbar dazu dienten, dass das Gefährt gezogen werden konnte. Auf der Ladefläche lag, unordentlich zu einem Haufen zusammengeschoben, eine Plane. Ob sich etwas darunter befand, konnte Warti nicht erkennen, aber die Zeit drängte, und er durfte nicht wählerisch sein.

Als der nächste Silberstaub in die Höhe stieg und die Aufmerksamkeit der Dunkelgewandeten allein dem Geschehen in der Kreismitte galt, nahm er allen Mut zusammen, huschte zum Karren und schlüpfte unter die Plane, während der Donnerschlag, der dem Blitz folgte, die verräterischen Geräusche übertönte, die das steife Gewebe verursachte. Flach auf dem Bauch liegend, verharrte Warti in seinem Versteck und rührte sich nicht, während er durch einen Faltenwurf der Plane beobachtete, was draußen vor sich ging.

Die Dunkelgewandeten schienen seine Flucht nicht bemerkt zu haben. Wie schon zuvor holten sie einen Maar nach dem anderen ab und legten ihn nach dem Ritual neben die anderen auf den Boden. Fafla war als Letzter an der Reihe. Warti spürte einen schmerzhaften Stich, als die Dunkelgewandeten seinen Freund holen kamen. In hilfloser Wut ballte er die Fäuste, biss sich fest auf die Unterlippe und spähte weiter durch den Spalt, um zu sehen, was draußen vor sich ging.

Diesmal standen die Dunkelgewandeten nicht so dicht gedrängt, und zum ersten Mal erhaschte Warti einen Blick auf das, was innerhalb des Kreises vor sich ging. Fafla stand inmitten des Rings aus düsteren Gestalten. Er wirkte verloren und irgendwie mitleiderregend, aber selbst jetzt schien er nicht zu spüren, in welcher Gefahr er sich befand. Ihm zur Rechten hatte sich einer der Dunkelgewandeten vor dem Tisch mit der Schale aufgebaut. Er hatte die Arme erhoben und bewegte sie auf eine Weise, die darauf schließen ließ, dass er eine Beschwörungsformel rezitierte, während die Umstehenden wieder den unheimlichen Summton anstimmten.

Während er die letzten Worte sprach, griff der Dunkelgewandete in die Schale und warf eine Handvoll glitzernden Staubes in die Luft. Ein gleißender Blitz zuckte durch die Höhle, und Warti schloss hastig die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er ein hünenhaftes Geschöpf aus funkelndem Nebel, das Fafla gegenüberstand.

Die Zeit war zu kurz, um es zu betrachten, aber die wenigen Herzschläge, die es in der Luft zu schweben schien, genügten, um Warti erschrocken aufkeuchen zu lassen. Magie!

Was immer die Dunkelgewandeten beschworen hatten, war weder ein Maar noch Tier. Es war eine muskulöse Kreatur, doppelt so groß wie Fafla, mit breitem Kreuz, wuchtigem Schädel und Pranken, so groß, dass sie einen Maar mühelos zerquetschen konnten. Ein Wesen, zum Kämpfen geschaffen …

Plötzlich kam Bewegung in die albtraumhafte Kreatur. Auf das Zeichen eines Magiers hin verschwamm das Abbild und ballte sich zu einer faustgroßen Nebelkugel zusammen. Für Bruchteile eines Wimpernschlags verharrte die Kugel in der Luft und schoss dann pfeilschnell auf Fafla zu. Der Aufprall war hart und traf Fafla mitten in die Magengrube. Mit einem dumpfen Keuchen entwich die Luft aus seinen Lungen. Er krümmte sich wie unter Schmerzen und sank besinnungslos zu Boden.

Warti hielt entsetzt die Luft an. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Gruppe der Magier sich auflöste. Offenbar vermisste ihn niemand.

Niemand?

Ein Magier eilte auf die Gruppe der Maare zu, zählte die Gefangenen durch und winkte die anderen herbei. Mit bangem Herzen beobachtete Warti, wie auch sie nachzählten. Anders als ihr Kamerad schienen sie jedoch zu dem Schluss zu kommen, dass die Maare nach wie vor vollzählig waren. Nach einem kurzen, heftig geführten Wortwechsel drehten sie sich um und ließen den Magier allein.

Warti konnte sein Gesicht nicht sehen, seine Bewegungen ließen jedoch keinen Zweifel daran, dass er wütend war. Langsam hob er den Kopf und ließ den schattenverhüllten Blick durch die Höhle schweifen. An der Plane, unter der Warti sich versteckte, hielt er abrupt inne.

»Jetzt ist es aus«, dachte Warti. »Er spürt, dass ich hier bin.«

Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn, während er vergeblich versuchte, das Zittern seiner Glieder zu unterdrücken.

»Ich will nicht sterben …«

Mit angehaltenem Atem beobachtete er, wie der Magier langsam auf den Karren zukam. Als ihn nur noch wenige Schritte davon trennten, kniff Warti die Augen so fest zusammen, als könne er das Unvermeidliche damit aufhalten. In Gedanken hörte er schon das Scharren des harten Gewebes und malte sich aus, wie der Magier ihn triumphierend unter der Plane hervorzerrte …

Die Zeit tröpfelte dahin, aber nichts geschah. Weder wurde die Plane angehoben, noch wurde er darunter hervorgezerrt. Als er nach einer gefühlten Ewigkeit wieder einen Blick in die Höhle wagte, sah er den Magier in ein Gespräch vertieft. Ein dürres, spärlich behaartes Wesen, mit überlangen Armen und Beinen und einem für den hageren Körper viel zu großen Schädel, von dem ein Paar großer Ohren abstanden, hatte ihn aufgehalten und schien ihm Bericht zu erstatten.

Die Körpersprache des Wesens deutete darauf hin, dass etwas wenig Erfreuliches vorgefallen sein musste. Geduckt und demütig stand es vor dem Magier, schaute ihn mit großen, hervorquellenden Augen ängstlich von unten her an und zuckte beim Sprechen immer wieder zusammen, als fürchte es, geschlagen zu werden.

Der Magier lauschte dem Bericht schweigend und mit ernster Miene. Als das Wesen geendet hatte, nickte er knapp und folgte ihm.

Warti atmete auf. Die Gefahr schien gebannt.

Aber die Erleichterung währte nicht lange. Kaum dass der Magier aus seinem Blickfeld verschwunden war, kamen zwei andere herbei, die sich an den besinnungslosen Maaren zu schaffen machten.

Warti sah, wie einer der beiden sich über Fafla beugte, ihm mit dem Finger an die Stirn tippte und ein kurzes Wort sprach. Das Wort war noch nicht verklungen, als Fafla die Augen aufschlug und sich mit ungelenken Bewegungen aufrichtete.

Der Magier trat vor ihn, hob beschwörend die Arme und sagte wieder nur ein einziges Wort, worauf Fafla sich zu verändern begann. Der kleinwüchsige und gedrungene Körper schwoll an, wurde größer und kräftiger, die Arme länger und die Beine stämmiger. Aus Händen und Füßen sprossen lange, gebogene Klauen, während sich aus der Nase eine kurze, eberähnliche Schnauze mit zwei gebogenen Hauern formte.

Namenloses Entsetzen ergriff Warti, als er mit ansah, wie sich sein Freund in ein monströses Ungeheuer verwandelte, das der Nebelgestalt zum Verwechseln ähnlich sah und nur für eines geschaffen schien – zum Töten.

Ein zorniges, grauenerregendes Brüllen hallte durch die Höhle, als sich das Untier gegen die unsichtbaren Fesseln zu wehren begann, mit denen die Magier es offenbar gefangen hielten. Schaumiger Geifer troff von den gebogenen Hauern, als die Kreatur den Kopf wild hin und her warf und sich unter der Geißelung wand, als könne sie es nicht erwarten, endlich freigelassen zu werden.

Die beiden Magier schienen mit der Verwandlung überaus zufrieden zu sein. Wie ein Schmied sein Schwert nach dem Abkühlen, begutachteten sie die tobende Kreatur, um sie dann mit einem Fingerzeig in den harmlosen Maar zurück zu verwandeln, dessen Antlitz Warti so vertraut war.