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Sabine Wassermann

Herrin zweier Länder



Historischer Roman


Edel Elements

Kurzbeschreibung


Die Pharaonin und Priesterin der Löwengöttin im Kampf um die Macht über das Ägyptische Reich – das aufregende Schicksal einer Frau, die eiskalte Herrscherin und leidenschaftlich Liebende zugleich ist.


Ägypten um 2200 vor Christus: Nach dem Tod des Pharaos Pepi erringt dessen Neben-Sohn Merenre mit Hilfe fremdländischer Truppen die Macht. Zu seiner Frau macht er Neith, eine Tochter des Pharao und Priesterin der Löwengöttin Sachmet. Ihre leidenschaftliche Liebe steht unter keinem glücklichen Stern: Neith kann keine Kinder bekommen, und Merenre wird nach nur einem Jahr der Herrschaft von seinen einstigen Verbündeten ermordet. Neith reißt den Thron an sich und regiert gemeinsam mit ihrem Wesir und Geliebten Ankhmahor das gewaltige Nil-Reich. Doch die Fürsten Ägyptens dulden keine Frau auf dem Pharaonenthron. Als Verrat droht, bereitet Neith einen Racheplan vor, wie ihn nur die Priesterin der Löwengöttin ersinnen kann.


I.

DIE PRIESTERIN

Glossar

Anubis: schakal- oder hundeköpfiger Totengott, der die Balsamierung der Mumie und die Bestattungsriten überwacht. Er wiegt das Herz des Menschen beim Totengericht.

Anuket: Herrin von Elephantine (Abu), Göttin der Nilschwemme, Tochter des Widdergottes Chnum.

Apis: heiliger Stier, Verkörperung des Gottes Ptah.

Apophis: finstere Schlangengottheit der Unterwelt, die jeden Tag gegen Re kämpft, während er die Unterwelt durchfährt, und unterliegt.

Atum: Schöpfergott von Heliopolis (Iunu), der aus sich selbst entstanden ist. Ahnherr der Erde und des Himmels.

Bastet: löwenköpfige, später katzenköpfige Göttin, die oft mit Sachmet gleichgesetzt wird und ihre sanften Eigenschaften verkörpert.

Chnum: der widderköpfige Wächter der Nilquellen bringt die Überschwemmung hervor und wacht über sie. Als Schöpfergott bildet er auf seiner Töpferscheibe die Menschen.

Geb: Erdgott, Bruder und Gemahl der Himmelsgöttin Nut. Sein Vater Schu riss Nut und Geb auseinander, sodass er zur Erde wurde und sie zum Himmel.

Hah: Gott der Unendlichkeit, der für ein langes Leben des Königs sorgt.

Hapi: Gott des Nils und der Nilschwemme. Seine herabhängenden Brüste symbolisieren die Fruchtbarkeit des Flusses.

Hathor. Göttin der Liebe und Fruchtbarkeit, des Tanzes und der Musik, als Kuh oder mit Kuhohren dargestellt. Schutzgöttin der Sterbenden, da sie die Herrin des Westens ist, wo die Toten hingehen müssen. Sie ist die Mutter des Horus.

Hatmehit: lokale Göttin des Deltas, mit einem Fisch oder Delphin auf dem Kopf dargestellt.

Horus: der Falke mit ausgebreiteten Flügeln ist ein uralter Himmelsgott. Auch die Sonne ist der Falke. Er wird mit dem König gleichgesetzt, der als irdische Verkörperung des Gottes gilt.

Maat: die Weltordnung, die Wahrheit und das Recht. Die Göttin Maat ist die Personifizierung all dessen. Beim Totengericht wird ihre Feder gegen das Herz des Verstorbenen aufgewogen.

Min: Gott der Fruchtbarkeit, zunächst auf das Ackerland bezogen, später auf die männliche Zeugungskraft.

Nechbet: die Geiergöttin symbolisiert Oberägypten. Sie schützt gemeinsam mit Wadjet den König.

Nefertem: in alter Zeit Gott des Wohlgeruchs, »die Blume an der Nase des Re«, gilt in Memphis als Sohn der Sachmet.

Neith: Kriegsgöttin und Schöpfergöttin, Gefährtin des Seth.

Neunheit: die Gesamtheit der Götter eines Ortes, die jeweils die Urkräfte der Welt umfassen. Die ursprüngliche Götterneunheit ist die von Heliopolis (Iunu): der Schöpfergott Atum, seine Kinder Schu und Tefnut, deren Kinder Nut und Geb, und die Kinder der Nut: Osiris, Seth, Nephthys, Isis. Andere Orte umfassen andere Götter zur Neunheit, auch wenn die Zahl nicht unbedingt neun ist.

Nut: Tochter des Luftgottes Schu und Gemahlin des Erdgottes Geb. Ihr Körper bildet das Himmelsgewölbe. Als Mutter des Re verschlingt sie die Sonne am Abend und gebiert sie am Morgen.

Osiris: Sohn der Himmelsgöttin Nut und des Erdgottes Geb, gilt als der erste König Ägyptens. Als Fruchtbarkeitsgott ist er zugleich der Gott der Unterwelt: das Korn wird in die Erde/Unterwelt gegeben, und das Keimen der Saat ist mit der Auferstehung gleichzusetzen. Er verkörpert die nächtliche Sonne; und so, wie der lebende König die Inkarnation des Horus ist, ist er als Verstorbener die des Osiris.

Ptah: Schöpfergott, Gott der Handwerker, Stadtgott von Memphis. Bildet gemeinsam mit seiner Gemahlin Sachmet und Nefertem die Göttertriade von Memphis.

Re: der Sonnengott, im Alten Reich die wichtigste Gottheit. Hauptkultort war Heliopolis (Iunu). Könige galten als Söhne des Re. Chepri – in der Gestalt des Skarabäus – ist die Sonne am Morgen, und Atum-Re – der alte Mann – die untergehende Sonne.

Sachmet: Kriegsgöttin, Göttin der Zauberei. Sie wird als Löwin oder löwenköpfige Frau dargestellt und verkörpert das Auge ihres Vaters Re. Sie verbreitet Schrecken und Seuchen, kann aber auch heilen und Seuchen bekämpfen.

Satet: Gemahlin des Schöpfergottes Chnum, Herrin von Elephantine (Abu).

Schu: der Luftgott, der den Raum zwischen Himmelsgewölbe und Erde symbolisiert. Er ging als Atem aus der Nase seines Vaters Atum hervor und ist auch der Gott des lebensnotwendigen Atems.

Selket: die Schutzgöttin der Kanopen, die gemeinsam mit Isis, Neith und Nephthys den Sarkophag des Königs bewacht. Sie wird mit einem Skorpion auf dem Kopf dargestellt.

Seth: Gott des Chaos und der Wüste. Ermordete seinen Onkel Osiris, um die Herrschaft über Ägypten zu erlangen. Er muss sie aber mit seinem Bruder Horus teilen, und so verkörpert Seth Oberägypten, während Horus die Herrschaft über Unterägypten gehört.

Sobek: der krokodilköpfige Sohn der Göttin Neith, der Gott der Krokodile.

Tefnut: die Schwester des Luftgottes Schu. Gemeinsam sind sie Kinder des Sonnengottes und bilden seine Augen.

Thot: ibisköpfiger Gott des Mondes, der Schreibkunst und der Zeitrechnung. Er ist die Zunge des Ptah und das Herz des Re und somit auch der Gott der Zauberkunde. Er führt die Verstorbenen durch das Totenreich und schreibt das Ergebnis des Totengerichts auf.

Toeris: Nilpferdgöttin, die den Frauen bei der Entbindung hilft.

Wadjet (Uto): die Kobragöttin symbolisiert Unterägypten und schützt als Kronengöttin den König.

1.

Als die Pyramide vor vielen Jahren fertiggestellt worden war, hatte niemand daran gedacht, dass der Wasserstand des Nils einmal so niedrig sein könnte. Zwischen den beiden Rampen des Taltempels und dem Wasser war ein breiter Streifen nackten, feuchten Bodens, den die Tempeldiener mit Bastmatten belegt hatten, damit sich die Begleiter des verstorbenen Pharaos nicht die Füße beschmutzten. Zehn Männer trugen die Kultbarke mit dem hölzernen Sarkophag hinauf in den Tempel. Dahinter folgten die Priester und die königliche Familie. In ihrer Mitte schritt der zukünftige Herrscher, ein zehnjähriger Junge mit erhaben gerecktem Kinn und verkrampften Schultern. Neith, seine um neun Jahre ältere Schwester, schickte ihm ein aufmunterndes Lächeln, das er hilflos erwiderte. Er hat Angst, dachte sie, aber das sollte er nicht. Wie gerne wäre ich an seiner Stelle.

Die Rampe war schmal, und so musste sie sich ein Stück zurückfallen lassen, um den ranghöheren Mitgliedern der Königsfamilie Platz zu machen. Ihr kleiner Bruder betrat die Halle des Tempels, aus dem der Weihrauch stieg und sich mit dem Morgennebel mischte. In der Ferne, verborgen vom Dunst, erhob sich die Pyramide Neferkare ist standhaft im Leben. Mit ihrer Höhe von hundert Königsellen hatte sie nichts gemein mit den drei Pyramiden weiter nördlich, diesen herrlichen weißen Sternen, die zu einer längst vergangenen, einer für Ägypten weitaus glücklicheren Zeit gehörten.

Ob ihr kleiner Bruder fähig sein würde, den beiden Ländern wieder jene Gunst zu verschaffen, welche die Götter ihnen seit vielen Jahren verweigerten? Neith glaubte es nicht. Neferkare-Tereru wurde nicht aufgrund seiner Befähigung Pharao. Sondern weil es niemand anderen gab.

Ein leiser Ruf erklang. Unten am schlammigen Ufer hatte zwischen den Schiffen ein winziges Papyrusboot festgemacht. Ein Mann sprang heraus und zog es ein Stück herauf. Neith blieb auf dem untersten Stein der Rampe stehen, während die königliche Familie bereits über die Terrasse schritt und in den Totentempel drängte. Niemand hatte bemerkt, dass sie zurückblieb. Der Mann hastete mit schlammverschmierten Füßen über die Bastmatten und blieb vor ihr stehen.

»Warum bist du hier?« Atemlos wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

»Weil mein Vater, der göttliche Neferkare-Pepi, zu Grabe getragen wird«, antwortete sie ungeduldig. »Sollte ich, seine Tochter, nicht dabei sein?«

Er war nicht weniger ungeduldig. »Du bist die Tochter irgendeiner seiner Nebenfrauen; du hast ihn in deinem Leben drei oder viermal zu Gesicht bekommen. Niemand wird dich vermissen, wenn du jetzt mit mir gehst.« Er deutete auf den Nachen. »Wir könnten nach Iunu fahren. In den Häusern der Sonnenpriester wird man uns aufnehmen.«

Zweifelnd betrachtete Neith das schmale Gefährt. Iunu, die heilige Stadt des Sonnengottes Re, war nicht weit, aber in diesen armseligen Nachen würde sie keinen Fuß setzen. Überhaupt begriff sie nicht ganz, wovon Ipui sprach. O ja, von der Bedrohung durch die Aamu, ein Volk von Nomaden jenseits des Türkislandes, das brandschatzend durch die Lande zog, das wusste sie durchaus. Aber war es nötig, augenblicklich in dieses Boot zu steigen?

»Ach, Ipui.« Sie legte eine Hand auf seine schweißglänzende Brust. »Mein Vater war der Lebende Horus auf Erden, und er wird jetzt zum Sternbild des Osiris geschickt, um ihm gleich zu sein. Ich kann doch nicht einfach weglaufen.«

Ipui hielt ihre Hand fest. »Aber das ist dumm!«, beharrte er. Sie runzelte die Stirn und wollte ihm die Hand entziehen, aber er hielt sie entschlossen fest. »Wenn fünftausend aamuritische Krieger auf die Stadt zumarschieren, ist es einfach nur dumm, hierzubleiben. Wundere dich nicht, wenn fremde Eindringlinge den Palast besetzt haben, wenn du und die königliche Familie zurückkehren.«

Er sprach in letzter Zeit ständig von der Bedrohung durch die Aamu. Angeblich redeten die Leute in den Straßen der Stadt von nichts anderem. Ipui hatte damit sogar den Wesir belästigen wollen. Aber er war nun einmal nur ein Tempeldiener, der zu einem solch hohen Mann nicht vordringen konnte, und so war Neith die einzige aus dem Hofstaat, der er seine Warnung vor den Aamu ins Ohr träufeln konnte. Aber allmählich hatte sie genug davon.

»Das ist doch nur eine Bande von Sandbewohnern«, sagte sie ärgerlich. »Sie sind bestimmt keine Krieger, und sie werden niemals die Stadt bedrohen können.«

»Wirklich nicht? Immerhin haben sie vor zehn Tagen die größte unserer Grenzfestungen mitsamt ihren fünfhundert Soldaten einfach überrannt. Überrannt! Fast alle ägyptischen Soldaten sind getötet worden, so sagt man.« Plötzlich packte er Neith so fest an den Schultern, dass sie erschrocken den Atem anhielt. »Sie sind schon fast hier! Begreifst du das nicht?«

Sein Griff schmerzte, und das machte sie wütend. Sie versuchte ihn zu ohrfeigen, aber ihre Fingerspitzen streiften nur sein Kinn. Er machte einen Schritt zurück und ließ die Arme hängen. Seine Sorge um sie hatte etwas Rührendes. Ipui war ein aufrichtiger Mensch, der es nicht verdient hatte, von so hoffnungsloser Liebe erfüllt zu sein.

»Wer könnte Ta-Meri, unserem geliebten Land, gefährlich werden?« Sie machte einen Schritt die Rampe hinauf. Die königliche Familie befand sich sicher schon im überdachten Aufweg, der den Taltempel mit dem Totentempel am Fuß der Pyramide verband. »Es hat sicherlich Neider. Aber keine Feinde. Es hat noch nie Feinde gehabt. Warum vertraust du nicht der Macht des Pharaos?«

»Weil es derzeit keinen gibt! Bitte, Neith, so höre mir doch zu. Die Aamu haben in ihren Reihen einen Mann, der behauptet, Anspruch auf die Doppelkrone zu haben …«

»Ein Aamu?«, rief sie verächtlich.

»Er soll ein Ägypter sein.« Seine Stimme wurde so eindringlich, dass sie schwieg und abwartend in seine dunklen Augen blickte. »Er behauptet, ein Sohn des Pharaos zu sein. Ich weiß«, er hob rasch die Hand, obwohl sie nichts hatte einwenden wollen, »er dürfte nur ein Lügner sein, der versucht, die Gunst der Stunde zu nutzen. Aber er ist auf dem Weg hierher — hierher, verstehst du?«

Ja, allmählich verstand sie. Ein wenig hilflos blickte sie zum Taltempel hinauf. Die Pyramide war von hier aus nicht zu sehen, aber sie war trotz ihrer geringen Größe mächtig und Ehrfurcht gebietend. Dort in ihrem Totentempel würde das Ritual durchgeführt werden, das dem Ka des verstorbenen Herrschers den Weg zu den Sternen ermöglichte, um auf ewig auf die Welt herabzublicken. Niemand anderer als der Thronfolger sollte dieses Ritual, die Mundöffnung, durchführen.

»Du meinst«, sagte sie langsam, »dass dieser Fremde zur Pyramide kommen wird, weil er den Mund von Osiris Neferkare eigenhändig öffnen will?«

Ipui stieß hart den Atem aus. »Ja. Ich weiß nicht, ob er wirklich ein Ägypter ist oder doch nur ein Aamu. Aber eines ist gewiss: dass er ein Barbar ist, der nicht sanft mit der Trauergesellschaft umspringen wird. Und auch nicht mit dir.«

»Ich bin eine Tochter von Osiris Neferkare-Pepi!«

»Vor allem bist du eine Frau! Neith, du bringst dich nur unnötig in Gefahr, wenn du jetzt bleibst. Was, glaubst du, werden diese aamuritischen Sandbewohner mit dir tun?«

Sie wollte sich nicht von seiner Besorgnis anstecken lassen, doch unwillkürlich verspürte sie Furcht. Nein, dachte sie, das darf ich nicht.

»Wenn es wirklich so ist«, sagte sie zögernd, »dann darfst du nicht nur mich warnen. Ich bin nicht allein hier.« Sowie sie es ausgesprochen hatte, wusste sie, dass es sinnlos wäre. Niemals würden die Priester und die königliche Familie den Totentempel verlassen, nur weil irgendein Diener aus dem Tempel des Gottes Ptah auf seinem schmutzigen Nachen dahergerudert kam. Sie würden ihm erst gar nicht zu sprechen gestatten. Und auch ihr würden sie nicht glauben.

Ipui schüttelte den Kopf und nahm ihre Hand. Noch sträubte sie sich, aber da deutete er flussabwärts. »Ihre Schiffe, die sie auf ihrem Plünderzug gestohlen haben, könnten schon hinter der nächsten Flussbiegung sein oder im Morgendunst verborgen.«

Neiths Blick folgte seinem Fingerzeig. Die aufgehende Sonne hatte den Nebel, der über dem Fluss hing, noch nicht vertrieben. Nichts war zu sehen. Ihre Gedanken huschten zu Neferkare-Tereru. Der Aufweg war lang, aber die Familie dürfte den Totentempel am Fuß der Pyramide jetzt erreichen. Hier im Taltempel brannte noch immer der Weihrauch; der Duft hing in der Luft und vermischte sich mit dem erdigen Geruch des Flusses. Am anderen Ufer standen nur drei, vier neugierige Bauern und schauten herüber. Früher, überlegte Neith, hatte das Volk die beiden Ufer gesäumt, um Zeuge der Nachtfahrt des Osiris zu werden. Heute hockten die Menschen in ihren Hütten und beklagten ihre Armut.

»Damals, noch zu Beginn der Herrschaft meines Vaters, hätte so etwas nicht geschehen können«, sagte sie mit aufwallender Verzweiflung. »Damals besaß Ägypten eine starke Armee, und die Sandbewohner waren nichts als hungrige Nomaden, die sich nur auf Sichtweite an die Grenzfestungen heranwagten.«

»Ich weiß. Aber du musst dich jetzt entscheiden.«

Neith fühlte unbändigen Zorn, so heftig, dass Tränen in ihre Augen traten. Sie wischte sie mit einer ärgerlichen Geste fort. Ihr war der Gedanke unerträglich, vor diesen Aamu einfach fortzulaufen. Aber die Vernunft riet ihr, Ipui zu folgen. Zögernd verließ sie die Rampe, und Ipui hob eine Hand, um ihr über die verschmutzten Matten zu helfen, als Schritte auf der Terrasse erklangen. Neith wandte sich um und erblickte einen der Priester, der die Rampe herunterhastete, die Arme kreuzte und eine rasche Verbeugung andeutete.

»Herrin Neith! Ich glaubte schon, du seist fort. Verzeih mir, Herrin, Priesterin der Sachmet, du musst kommen, sonst kann das Ritual nicht durchgeführt werden!«

Ipuis Griff um ihren Arm wurde drängender. »Was hat Neith mit dem Mundöffnungsritual zu tun?«

Der Priester antwortete, ohne ihm einen Blick zu widmen. »Die Göttin Hathor muss zugegen sein, um den Verstorbenen mit Speise und Milch zu versorgen. Teti – jene Frau, die die Göttin darstellt – kann es nicht mehr tun. Es ist etwas Schlimmes geschehen.«

Neith riss sich los, stieß den Priester beiseite und eilte hinauf. Auf der Terrasse drehte sie sich noch einmal um: »Du musst ohne mich nach Iunu fliehen, Ipui.«

Er schüttelte den Kopf, sodass seine schwarzen Haare flogen. »Niemals. Dann bleibe ich hier und kämpfe. Ich habe im Boot eine Streitaxt.«

Sie stieß einen ärgerlichen Laut aus. Ipui war nur ein Tempeldiener, kein Kämpfer. Er war klug, aber seine Zuneigung zu ihr war manchmal als stärker als seine Vernunft. Sie warf einen letzten Blick den Fluss hinunter. Wie lange würden die Eroberer brauchen, um hier anzulegen? Vielleicht würde die Zeit genügen, die erforderlichen Rituale durchzuführen, die der tote Pharao benötigte, damit sein Ka zu den Sternen gelang. Doch was war mit Teti geschehen?

Neith rannte durch den dunklen Taltempel, und dann lag der Aufweg vor ihr. Die Reliefs an den Wänden wurden vom Licht der aufgehenden Sonne erhellt, das durch die regelmäßigen Durchbrüche in der Decke fiel. Neith sah ihren Vater, wie er Gefangene tötete, die Feinde Ägyptens, doch es war keine Zeit zum Schauen. Mit gerafftem Kleid hastete sie durch den Korridor, das Tappen der priesterlichen Sandalen stets im Ohr. Endlich lag der Totentempel vor ihr; Licht schimmerte durch den Eingang, und leise Stimmen waren zu hören. Doch sowie sie den Vorraum betreten hatte, hielt sie der Priester zurück.

»Dorthin«, sagte er leise und schob sie in eine kleine Seitenkammer, wo Teti auf dem Boden hockte, das Gesicht in den Knien vergraben. Zwei Muu-Tänzer standen neugierig über sie gebeugt. Der Priester rüttelte an ihrer Schulter, und Teti blickte auf. Tränen hatten ihre Augenschminke verwischt.

Neith trat zu ihr. »Was, um Res willen, ist mit dir?«

Teti schniefte so laut auf, dass Neith befürchtete, es müsse in der Säulenhalle zu hören sein. »Sieh doch«, jammerte Teti und hob ihr Kleid. Ein großer dunkler Fleck prangte auf dem weißen Stoff. »Ich habe meine Mondblutung bekommen. Zwei Tage zu früh! Jetzt wird der Ka des großen Horus im Wüstenwind zerschlagen, und ich ende in Schande.«

Unwillkürlich erschauderte Neith, und sie legte die Hände auf die Arme. Vielleicht, dachte sie, enden wir wegen der Aamu alle in Schande. »Es gibt weitaus Schlimmeres«, murmelte sie.

»Was sollte das wohl sein?«

»Zum Beispiel der Feind vor den Toren der Stadt.«

»Jetzt fängst du auch davon an.« Teti schnaufte verächtlich. »Getuschel von Bauern, weiter nichts. Ipui hat dich sicher mit diesem Unsinn angesteckt. Sag mir, was soll ich jetzt tun? Ich habe nichts bei mir, um mich zu reinigen, und Zeit haben wir auch nicht!«

Neith blickte den Priester fragend an, der sich nach einem riesigen Kopfschmuck bückte, den Teti offenbar achtlos auf den Boden gelegt hatte.

»Du musst die Göttin Hathor darstellen, die den Pharao mit Milch besprengt und in den Westen geleitet.« Er hielt ihr die wuchtige Perücke hin, auf der das Kuhgehörn und die Sonnenscheibe der Göttin befestigt waren. Im fahlen Morgenlicht glänzte die vergoldete Scheibe wie ein gefangener Sonnenstrahl. Neith wollte abwehren, aber sie begriff, dass es keine andere Möglichkeit gab. Sie blickte an sich hinunter und zupfte an ihrem Trägerkleid. Es schien sauber zu sein, nur an ihren Sandalen klebte ein wenig Nilschlamm. Neith streifte sie ab, während der Priester ihr die Perücke auf den kurzen Haarschopf setzte und mit Klammern befestigte. Vorsichtig bewegte Neith den Kopf, aber das schwere Gebilde über ihr geriet nicht ins Rutschen.

»Weißt du denn, was du tun musst?«, fragte Teti mit weinerlicher Stimme. Ihre Enttäuschung war deutlich herauszuhören. Die Göttin darzustellen, noch dazu in einem so wichtigen Ritual, war eine Ehre, die ihr vermutlich nie mehr widerfahren würde. Neith erinnerte sich an das Wenige, das Teti ihr erzählt hatte. Sie musste die Mumie mit Milch aus einem Krug besprengen, und was noch?

»Schlimme Zeiten wie diese erfordern die Kraft der Götter«, sagte der Priester. »Es ist der Wille Hathors, in Gestalt einer Frau zugegen zu sein; das haben die Re-Priester in Iunu im Stand der Sterne gelesen. Pharao war ein alter Mann, so alt, wie sonst kein Mensch wird, und er wollte nicht sterben. Und er hat für seine Pyramide einen schlechten Namen gewählt, denn sie bindet seinen Ka an die Erde. Hathor wird ihn mit deinen Händen lösen.« Er tippte an seine Schläfe. »Dein Kohelstrich ist nicht ganz sauber. Aber daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Komm.«

Er führte sie durch den Vorraum zum Säulenhof, wo sich die Familie und die Würdenträger an den Pfeilern drängten. Hier war es bereits heller; der Morgendunst lichtete sich, und die ersten Sonnenstrahlen brachen herein. Neben dem Eingang zur Kapelle stand der Sarkophag in seiner Barke, daneben die Schlitten mit den Kanopen und dem Tekenu-Priester, der unter seinem Stierfell kauerte. Und in der Mitte des Hofes stand die Bahre mit der Mumie. Ein Priester ordnete die Mundöffnungswerkzeuge am Kopfende der Bahre. Ein zweiter hielt ein Weihrauchpfännchen in den erhobenen Händen. Ein dritter rief nach den Muu, und die Tänzer huschten an Neith vorbei und begannen ihren Tanz. Ihre Kronen aus Papyrusstängeln knisterten in der Stille der Halle. Neith achtete weder auf den Tanz noch auf die anschließende Reinigung und Räucherung. Tausend Gedanken jagten durch ihr Herz: die sich nähernden Aamu; Ipui, der draußen auf sie wartete und nutzlos sein Leben wagte; ihre Furcht, als Hathor zu versagen. Als einer der Priester sie herbeiwinkte und ihr eine Tonkanne in die Hände drückte, atmete sie tief durch und schritt in die Halle.

Von den Zuschauern schien allein Neferkare-Tereru zu bemerken, wer sie war. Er lächelte verstohlen, beinahe frech, als ahnte er, wie unwohl sie sich fühlte. Die Königswitwe Ipwet umkrampfte die Hand ihres Sohnes, mit der anderen tupfte sie sich den Schweiß von den Lippen. Sie war nicht mehr jung, auch nicht mehr schlank, und das lange Stehen machte ihr zu schaffen. Neben ihr stand der feiste Wesir Biu und starrte gelangweilt zu Boden.

»Hathor, Herrin des Westens, nähre den Ka des Königs …«, sprach der Priester. Der Schmuck um seine Handgelenke klirrte, während er die Weihrauchpfanne hob. Als er, für Neith völlig unvermittelt, schwieg und auf die Mumie deutete, erschrak sie so sehr, dass das Gehörn auf ihrem Kopf wackelte. Langsam ging sie zur Bahre und hob die Milchkanne. Eine bunte hölzerne Maske lag auf dem Kopf der Mumie. Ihr Glied war gesondert gewickelt, sodass es steil nach oben zeigte. Neith entschied sich, einen Tropfen der Milch auf den Mund der Mumie zu gießen. Der Priester nickte unmerklich, griff nach einem der Instrumente, der vergoldeten Deichsel, und wandte sich zu Neferkare-Tereru um. Der Prinz trat vor. Mit zittriger Hand nahm er die Deichsel entgegen. Noch andere Dinge lagen hinter dem Kopf der Mumie: die Netjeri-Klinge, das Fischbeinmesser und der Unterschenkel eines Ochsen.

Neferkare-Tereru starrte auf die Deichsel in seiner Hand. Er musste jetzt die Ritualworte sprechen; seine Lippen bewegten sich vorsichtig, als müsse er sich mühsam auf die Worte besinnen. Da erklangen schwere Schritte und das Klirren von Waffen vom Aufweg her. Alle starrten zum Eingang, und plötzlich quollen zehn oder zwölf wild aussehende Männer in den Hof. Aufschreiend drängten sich die Tänzer und die königliche Familie hinter die Pfeiler, nur die Priester rührten sich nicht. Neith ließ den Krug fallen. Neferkare-Tereru stand wie erstarrt neben der Bahre.

»Aamu!«, schrie entsetzt ein Priester. Einer der Eindringlinge hob seine Lanze und schlug ihm den Schaft gegen die Stirn, sodass er die Hände auf das Gesicht presste und rückwärts stolperte. Die anderen Aamu verteilten sich mit erhobenen Lanzen; einer von ihnen stieß Teti in den Hof. Dabei warfen sie sich in ihrer Sprache Worte zu, die so seltsam barbarisch waren wie ihr Aussehen. Sie hatten die Haare zu mehreren ölglänzenden Zöpfen geflochten. Ihre Körper steckten in knielangen Lederhemden, und die bloßen Füße waren bis zu den Knöcheln hinauf verdreckt.

Ipui hatte recht, dachte Neith. Ob er noch am Leben war?

Aber sie war die Göttin Hathor, und sie war hier, um ihren Vater zu schützen. Sie raffte ihr Kleid und warf sich auf die Mumie; den Kopf hielt sie in den Nacken gepresst, damit das Kuhgehörn nicht hinunterfiel. Die trockenen, vom Harz gehärteten Binden des Gliedes drückten unangenehm gegen ihren Bauch. Schweiß rann ihr den Rücken hinunter. Noch hatten diese Männer ihr keine Beachtung geschenkt. Zuletzt trat ein Mann ein, den sie für den von Ipui erwähnten Ägypter hielt. Er unterschied sich in nichts von seinen Leuten, besaß aber eindeutig ägyptische Züge.

Neith starrte ihn an. Er war schön. Sein Gesicht wirkte makellos, jung, obwohl in seinen Augen Härte lag. Es wollte nicht recht zu seinem wuchtigen Körper passen. Er besaß schmale Hüften und muskulöse Schultern, und seine Arme sahen aus, als könnten sie mühelos das Genick eines Menschen brechen. Wie alt mochte er sein? Fünfundzwanzig Jahre vielleicht.

Er blickte sich rasch um und trat zu der Bahre. Zuerst betrachtete er die Totenmaske, dann wanderte sein Blick zu Neith. Es war ihm unschwer anzusehen, dass ihn das, was er da sah, verwirrte. Unwillkürlich richtete sie den Oberkörper auf; ihre Brust hob und senkte sich heftig.

Einer der Aamu sagte etwas und deutete auf den Prinzen. Die Hand des Fremden schoss vor und umklammerte Neferkare-Tererus Jugendlocke.

»Ich bin Merenre, der zukünftige Herrscher Ägyptens«, erklärte er mit dunkler, heiserer Stimme. »Und wer bist du?«

Neferkare-Tereru blickte furchterfüllt zu ihm hoch. Tränen glitzerten in seinen Augenwinkeln. »Pharao Neferkare-Tereru.«

»Wie?« Der Fremde hob die Hand, sodass der Prinz nur noch auf den Zehen stehen konnte. Neferkare-Tereru begann zu weinen, und Neith sah, wie sein Stolz mit seiner Angst kämpfte. »Ich bin Pharao Neferkare-Tereru!«, stieß er aufschluchzend hervor.

Der Mann, der sich Merenre nannte, entwand ihm mit der freien Hand die Deichsel und stieß ihn zurück. Neferkare-Tereru machte einen Satz nach hinten und rieb sich den Haaransatz seines Jugendzopfes. Merenre wandte sich mit der Deichsel der Totenmaske zu, aber er schien nicht zu wissen, was er damit tun sollte. Schließlich nahm er die Maske herunter und legte sie auf die Brust des Toten. Einer der Priester machte einen entschlossenen Schritt vorwärts.

»Wer bist du?«, fragte er; seine Lippen bebten vor Furcht. »Wie kommst du dazu, das Ritual zu stören?«

Merenre drehte das Werkzeug zwischen den Fingern. »Weißt du es wirklich nicht? Ich bin ein Sohn von Osiris Neferkare-Pepi.«

»Selbst wenn … wenn das wahr ist, so bist du doch nicht der Thronfolger.«

Die Menschen hielten den Atem an, sogar die Aamu. Kein Laut war zu hören, nur das verhaltene Schluchzen Neferkare-Tererus. Der Priester deutete auf ihn. »Er ist der zukünftige Pharao.«

»Ja«, erwiderte Merenre sichtlich ungeduldig, »das hat er mir eben gesagt. Besaß Neferkare-Pepi keine erwachsenen Söhne, sodass er sein Reich einem Kind anvertrauen muss?«

Was war daran so befremdlich?, fragte sich Neith. Der Priester dachte wohl ähnlich, denn er erinnerte den Fremden mit zitternder Stimme daran, dass Osiris Neferkare bereits mit sechs Jahren die Doppelkrone getragen und bekanntermaßen sechsundneunzig Jahre geherrscht hatte.

Merenre warf den Kopf zurück, und seine schwarzen, nach Art der Aamu geflochtenen Zöpfe flogen. Seine dick mit Kohel umrahmten Augen funkelten gefährlich. Neith musste sich eingestehen, dass sie ihn auf eine seltsame Art anziehend fand.

»Ja, fast ein Jahrhundert!«, dröhnte er zur Antwort. »Er hatte Zeit genug, Ägypten zu Boden zu ringen, es von einer geschlossenen Allmacht, die in aller Welt gefürchtet und geachtet war, zu einem zerrissenen Land zu machen, in dem jeder winzige Gaufürst die Macht eines Herrschers anstrebt. Ägyptens Feinden läuft der Geifer aus dem Maul; sie zögern nur deshalb, es zu verschlingen, weil sie misstrauisch auf ihre Nachbarn schielen, die ihnen die fettesten Brocken wegschnappen könnten.«

»Aber die Aamu …«

»Die Aamu sind Ägyptens Freunde. Sie sind gekommen, um diesem elenden Zustand ein Ende zu bereiten. Ich bin gekommen.« Merenre legte die Deichsel beiseite und betrachtete die anderen Werkzeuge. Aber er schien tatsächlich nicht zu wissen, wie sie zu gebrauchen waren. Endlich griff er sich das Fischbeinmesser und setzte die Spitze auf die Binden, dort wo sich der Mund der Mumie befand. Und plötzlich, mit einer jähen Bewegung, stieß er zu. Die Kieferknochen knackten, und der Griff des Messers ragte in die Höhe wie eine überlange Zunge.

»Hier hast du dein zweites Leben, Vater.« Er trat einen Schritt zurück. »Dein Sohn, Pharao Merenre, der zurückgekehrt ist, hat es dir gegeben. Du weißt, nur ich bin fähig, Ägypten aus der Gosse zu holen. Und nicht irgendein Bengel oder sonst einer deiner Söhne, falls es noch welche geben sollte. Ich habe lange Jahre im Fremdland zugebracht, aber stets ein sorgenvolles Auge auf Ägypten geworfen. Merenre hat es nicht vergessen. Pharao Merenre.«

Er wandte sich dem Priester zu, dem wie allen anderen der Mund offenstand. »Nun, worauf wartet ihr? Bringt die Opfergaben und die Grabgegenstände, und geleitet den Sarg in sein steinernes Grab. Und du«, er wandte sich an Neith. »Mach, dass du da herunterkommst.«

Neith machte sich unwillkürlich steif, da sie befürchtete, er werde sie hinunterstoßen. Neferkare-Tereru wischte sich die Augen trocken und sah erst zu ihr, dann zu Merenre. Ihr entging nicht der trotzige Ärger in seinem Blick.

»Hörst du nicht? Du sollst herunterkommen!«

Neith bemerkte, wie Neferkare-Tereru die Hände sinken ließ und einen langsamen Schritt nach vorne machte. Ein Schreck durchfuhr sie, als sie sah, dass er den Blick auf das Messer geheftet hielt. Tu das nicht, dachte sie. Tu das nicht! Warnend versuchte sie den Kopf zu schütteln, und das Kuhgehörn auf ihrem Kopf folgte schwerfällig der Bewegung. Da sprang der Junge vor und packte mit beiden Händen den Griff des Messers. Er schob es hin und her, und mit einem wilden Aufschrei gelang es ihm, es zu lösen.

Merenre wirbelte zu ihm herum, aber er schien nicht beeindruckt. Seine mächtige Hand schoss vor und packte den Jungen an der Kehle, die andere entwand ihm das Messer. Er presste ihn an sich und drückte das Messer an seinen Hals. Neferkare-Tereru brüllte vor Entsetzen. Merenre bewegte die Klinge schnell. Dass er Neferkare-Tereru tötete, begriff Neith erst, als der Junge am Boden lag. Aus der Kehle schoss ein Blutstrahl; Neferkare-Tererus Füße zuckten wild, dann lag er still. Ipwets Augen drehten sich nach innen, und sie sank in sich zusammen.

Der Mörder streckte die Hand aus, jemand aus seinem Gefolge reichte ihm ein Tuch. Er säuberte das Messer und schob es zurück in den Mund der Mumie. Dann schickte er einen drohenden Blick in die Runde. Alle waren schreckensbleich geworden, nur nicht die wilden Aamu-Krieger. »Du«, sagte er wieder und deutete auf Neith, »warum sitzt du immer noch da oben?«

»Weil ich Hathor bin!«, rief Neith mit aufflackernder Verzweiflung. Sie gab dem Drang nicht nach, rasch von der Mumie herunterzugleiten und sich in Sicherheit zu bringen.

»Dummes Geschwätz. Wer bist du wirklich?«

Diese Frage empörte sie. »Du dringst hier ein und tötest den Prinzen und fragst mich, wer ich bin? Wer bist du?«

»Habe ich das nicht gesagt?« Grob umfasste er ihren Arm. Der Druck seiner Finger schmerzte. »Ich bin Neferkare-Pepis Sohn!«

»Und welche seiner Frauen ist deine Mutter? Und wer ist deine Königin?«

Merenre schnappte nach Luft. Er holte aus und klatschte mit dem Handrücken auf ihr Gesicht, sodass ihr für einen Augenblick schwarz vor Augen wurde. Dieser Mann besaß unbändige Kraft. Sie konnte kaum glauben, dass sie noch immer aufrecht saß. Gütige Hathor, dachte sie, es ist dein Wille, dass ich dies hier zu Ende bringe.

»Komm herunter!«, schrie er.

»Ich denke nicht daran!«

Er presste die Lippen aufeinander. Eine steile Zornesfalte erschien auf seiner Stirn. Würde er sie jetzt töten? Doch sein Blick wanderte nur langsam über ihren schweißglänzenden Körper. Wie konnte ein Mann dermaßen schamlos starren, und wie kam es, dass es ihr nicht unangenehm war? Er beobachtete ausgiebig, wie sich ihre Brust hob und senkte; so lange, bis das Gold ihres Halskragens auf der Haut zu glühen schien. Plötzlich drehte er sich um und stapfte zu den Mitgliedern der Familie.

»Welche Frau war für Neferkare-Tereru vorgesehen?« Er stieß Ipwet mit dem Fuß an, schob zwei weitere Frauen – Klagefrauen – beiseite. Ein Mann trat vor; seine blaue Kappe wies ihn als Hohenpriester des Ptah aus. Er antwortete mit ruhiger Stimme.

»Seine Schwester: Itriri, die Tochter Ipwets.«

Merenre ging zurück zur Bahre und stieg über Neferkare-Tererus leblosen Körper. »Wo ist sie? Ich sehe sie nicht.«

»Sie ist nicht hier«, erwiderte der Hohepriester ruhig. Merenre stieß ein höhnisches Lachen hervor.

»Vermutlich ist sie ein junges Gör, nicht älter als ihr Bruder. Wie auch immer, darum werde ich mich kümmern, wenn Zeit dazu ist.« Er wandte sich wieder Neith zu und starrte sie an. Aber er schien sich entschieden zu haben, zu warten. Schweiß lief ihm unter dem Lederzeug hervor, während er mit den Händen an den Seiten dastand. Ipwet lag keuchend in ihrer Ecke; niemand wagte es, sie zu beachten. Die Aamu-Krieger rührten keinen Muskel. Die Höflinge standen schweigend, und ihre Augen huschten zwischen dem selbsternannten Pharao und Neferkare-Tererus Leichnam hin und her. Endlich erhob sich Neith vorsichtig; das Kleid rutschte an ihren Beinen hinunter. Dann stand sie auf der Bahre, die Beine über der Mumie gespreizt, den Kopf mit den Kuhhörnern und der Sonnenscheibe hoch erhoben. Sie blickte auf Merenre hinab, und er zu ihr herauf. Sie ahnte, dass sie ein beeindruckendes Bild bot; dennoch dachte sie: Ich bin eine Tochter Pharaos. Gütige Hathor, geliebte Sachmet, ich bete darum, dass er es nicht weiß.

2.

Die Priester hatten Neferkare-Tereru in ein Tuch gewickelt, noch immer lag er im Pfeilerhof des Totentempels. Die Rituale der Opferung und Grablegung waren in ungebührlicher Hast vollzogen worden. Neith hatte das Kuhgehörn mit der Sonnenscheibe auf den Boden gelegt und den Tempel verlassen, mit einem letzten Blick auf ihren toten Bruder.

»Gütige Sachmet«, murmelte Teti, während sie hinter der Trauergesellschaft den Aufweg hinuntereilten. Merenre und seine Aamu-Krieger waren bereits fort, unten am Fluss. »Ich hätte niemals gewagt, diesem Mann solche Worte an den Kopf zu werfen. Du hast ihn beeindruckt. Ist dir klar, dass er dein Bruder ist?«

»Ja. Und er hat Neferkare-Tereru getötet.« Die Worte schmeckten schal. Neith hatte ihren zehnjährigen Bruder gemocht, aber wirklich vertraut war er ihr nie gewesen. Neferkare-Tereru hatte sie wegen ihres Könnens im Bogenschießen bewundert, aber er war ein Kind des Palastes gewesen; und wenn er in den Tempel gekommen war, dann hatte sie mit ihm nur wenige Blicke gewechselt, nicht anders als heute.

»Ich weiß, ich sah es ja. Wie es scheint, hast du einen Bruder verloren und einen anderen gewonnen.«

Was er getan hat, dachte Neith, war abscheulich, und die Götter werden es nicht vergessen. Ihres Segens dürfte er sich nicht sicher sein.

Der Taltempel war bereits leer, der Weihrauchduft verflogen. Auf der Terrasse hielt sie nach Ipui Ausschau, aber er war nicht mehr da. Hatten die Aamu ihn getötet und in den Fluss geworfen? Vielleicht war er ja doch geflohen, obwohl sie das nicht glaubte. Unwillkürlich ärgerte sie sich über seine Anhänglichkeit. Aber sie mochte ihn, und der Gedanke, er könne jetzt ebenfalls tot sein, schmerzte sie zutiefst.

Soeben wurde die Königin Ipwet in ihrer Sänfte auf die königliche Barke getragen. Der feiste Wesir Biu stolperte hinter ihr über die Laufplanke und suchte sich mit noch immer bleichem Gesicht einen Platz. Neith war froh, dass sie mit der Barke gekommen war, die dem Hohenpriester des Ptah gehörte. Er schritt sehr viel würdiger über das Deck und verschwand in seiner kleinen Kajüte. Auf dem Schiff des fremden Eroberers saßen Ägypter an den Rudern. Also war Merenre zuvor, ohne dass sie alle es gemerkt hatten, in der Stadt gewesen und hatte den Palast im Handstreich genommen. Hatten diese Ruderer sich ihm und den Aamu vorbehaltlos unterworfen?

Dies war nicht mehr das Ägypten der alten ruhmreichen Pharaonen. Es war ein geschundenes Land, das glaubte, einem aus dem Nichts erschienenen Retter huldigen zu müssen.

Sie bestieg die Tempelbarke, Teti dicht hinter ihr. Während sie über die Laufplanke schritt, spürte sie Merenres Blick auf sich. Er stand an der Bordwand seines Schiffes, das gerade ablegte und sich den anderen drei, die in der Flussmitte gewartet hatten, anschloss. Er hatte die Hände auf den Handlauf gestützt; seine eingeölten Zöpfe bewegten sich im einsetzenden Fahrtwind. Einen Bart nach aamuritischer Art trug er nicht. Jetzt, da er entspannt dastand, wirkte sein hübsches, glattes Gesicht so unerfahren wie das eines Kindes, und es passte nicht zu seinen muskelbepackten Schultern.

Als ihre Augen sich trafen, lächelte er. Neith zuckte zurück und schlüpfte in die Kajüte. Das war ungehörig, denn die Kajüte gehörte allein dem Hohenpriester, aber sie konnte Merenres besitzergreifenden Blick nicht ertragen. Sabu-Tjeti, der auf einem Sessel ruhte, lächelte wissend.

»Bleib nur hier und setz dich zu mir, Herrin Neith«, sagte er. »Eigentlich sollten wir jetzt alle beisammensitzen, das Leichenmahl einnehmen und von den Taten des Verstorbenen erzählen. Aber jeder will nur so schnell wie möglich in sein Haus. Das alles ist demütigend, aber wir können nichts dagegen tun.«

»Wirklich nicht?« Sie warf einen verstohlenen Blick durch den Spalt des Vorhangs, aber sie sah nur Teti, die eher neugierig als ängstlich zu dem fremden Schiff hinüberstarrte. Neith setzte sich auf den Boden. Die ruhige Gegenwart des Priesters flößte ihr ein wenig Zuversicht ein. Er langte nach einem Weinkelch auf einem Tischchen und reichte ihn ihr. Sie trank hastig und stellte den leeren Kelch zurück. »Ob er die Wahrheit gesprochen hat?«, fragte sie schließlich. »In seinem aamuritischen Lederzeug sieht er aus wie ein Barbar. Und diese Zöpfe! Sie rochen ranzig.«

»Als eine Tochter des Pharaos hast du dich stets für die Geschehnisse der beiden Länder interessiert«, sagte er freundlich, obwohl sie ahnte, dass ein Tadel folgen würde. »Aber du hast wie jeder Ägypter verächtlich auf das herabgeblickt, was sich jenseits der Grenzen tat. Du hast nicht zugehört, wenn Reisende den Tempel besuchten und Nachrichten brachten.«

»Doch, ich habe Ipui zugehört.«

»Ipui? Ach ja, du meinst diesen Tempeldiener, der es liebt, dir hinterherzulaufen, und der es anscheinend niemals zu einem höheren Priesterrang bringen wird. Dabei scheint er mir gar nicht so dumm zu sein. Wahrscheinlich fehlt ihm nur der Ehrgeiz.«

Neith wollte einwenden, dass Ipui vermutlich tot war, aber sie schwieg und wartete. Sabu-Tjeti lehnte sich zurück und legte die Hände auf die Armlehnen. Der Vorhang blähte sich im Fahrtwind und schickte einen erfrischenden Lufthauch. Sie erhaschte einen Blick auf Teti, die sich auf einer Matte ausgestreckt hatte und von den beiden Muu-Tänzern, die neben ihr knieten, bedienen ließ. Teti, die den üppigen und sinnlichen Körper einer Tempeltänzerin besaß, fand immer jemanden, der nur darauf lauerte, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. In der Ferne war Merenres Barke zu sehen.

»Hm, Merenre …« Der Hohepriester stützte das Kinn auf die Faust. »Sein eigentlicher Name ist das nicht. Er heißt Nemtiemsaf. Merenre – der von Re Geliebte – ist vermutlich sein zukünftiger Thronname, in Anlehnung an Osiris Merenre, der vor hundert Jahren herrschte und ebenfalls Nemtiemsaf hieß. Würde Merenre seinen Geburtsnamen gebrauchen, könnten sich am Hof wohl einige an ihn erinnern. Sein Vater, der auch dein Vater war, schickte ihn vor vielen Jahren ins südliche Syrien, in das Land der Aamu, damit er bei einigen Grenzscharmützeln das Kriegshandwerk lernte. Damals war er fast noch ein Kind. Ich hörte früher davon, dass es ihm nicht gefiel, in der Sonne zu schwitzen, ledriges Fleisch zu essen und auf dem Boden zu schlafen. Aber er soll mit der Streitaxt und der Lanze einer der Besten sein.«

»Mir scheint, er ist im Innern das Kind geblieben, das über die harte Behandlung zornig war. Aber weshalb ist er in Syrien geblieben? Warum ist er bei den Sandbewohnern untergekrochen?«

»Sich mit den Aamu zu verbünden, schien ihm vermutlich der leichtere Weg. Aber er war und blieb Ägypter, und das wussten wohl auch die fleischfressenden Blutsauger, die sich an ihn klammerten, weil sie ahnten, dass er sich eines Tages an seine Bestimmung erinnern und zurückkehren würde, zurück hinter die weiße Mauer der Residenz. Ihnen geht es nur um Macht und Gold. Sie sind wie Jagdhunde, die ihrem Herrn das Wild anschleppen, um dann hechelnd unterm Tisch auf ein paar Brocken zu warten. Was gibt es denn schon in der syrischen Wüste, weswegen sie dort bleiben sollten? Ägypten leidet unter dieser furchtbaren Trockenheit, die schon seit Jahren anhält, aber im Vergleich zu jenem Landstrich ist es immer noch reich und schön.«

Jetzt sprach Sabu-Tjeti so verächtlich, wie es jeder Ägypter tun würde. Neith musste lächeln. »Und woher weißt du das alles?«

»Osiris Neferkare-Pepi sprach manchmal von ihm.« Er nahm seine blaue Kappe ab und strich sich den Schweiß von der Stirn. »Er sprach auch manchmal über dich.«

»Über mich?«, rief sie erstaunt. Sie war überzeugt davon, dass ihr Vater, der bei ihrer Geburt vor neunzehn Jahren bereits ein alter Mann gewesen war, ihr Leben im Tempel kaum wahrgenommen hatte.

»Ja. Er sagte, wärest du nicht eine Frau, so hätte er dich zum Thronfolger ernannt, nicht diesen unbedarften Jungen, den einzigen Überlebenden seiner in langen Jahren gezeugten Söhne.«

Neith war verwirrt. Osiris Neferkare-Pepi hatte während seiner langen Herrschaft nicht viele Kinder gezeugt, und die wenigen waren allesamt gestorben: an Krankheiten, in den immerwährenden Kämpfen an den Grenzen … oder aber mit einem zum Ritual der Mundöffnung bestimmten Fischbeinmesser. Mit der ständig wechselnden Rangfolge der Thronanwärter hatte sie nichts zu tun, nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch, weil ihre Mutter nur eine unbedeutende Nebenfrau gewesen war.

Sabu-Tjeti schloss aufseufzend die Augen. »Herrin Neith, bitte lass mich jetzt allein. Ich möchte ein wenig ruhen.«

Sie sprang auf, kreuzte die Arme vor der Brust und verneigte sich.

»Du weißt, dass du als eine Tochter des Pharaos den Kopf nicht vor mir beugen musst.«

»Aber du bist der Erste Gottesdiener des Ptah, der Herr des Tempels, und du hast dich noch niemals darüber beklagt.«

Er lächelte. »Ja. Ich habe deine Huldigung stets genossen, aber ich will nicht mehr, dass du das tust, hörst du?«

Neith runzelte die Stirn. Jetzt erst fiel ihr auf, dass er sie Herrin genannt hatte. Warum besann er sich mit einem Mal auf ihre Herkunft? Sie war doch zuallererst eine Priesterin im Tempel des Ptah, die in der Kapelle der Löwengöttin Sachmet diente. Sie trat hinaus in die beginnende Hitze des Vormittags. Die Barke hielt sich in der Flussmitte, und der Lotse am Bug beobachtete das braune Wasser. Es versprach ein heißer Frühlingstag zu werden. Noch zwei Monate, dann würde der Sepdet-Stern erscheinen und die neue Überschwemmung ankündigen, die sicherlich so schwach ausfallen würde wie all die Jahre zuvor. Merenres Schiff war inzwischen weit voraus.

Sie sehnte sich nach der Kühle des Tempels. Dort lungerten sicher auch keine Aamu herum. Wie viele mochten es sein? Ipui hatte von fünftausend gesprochen. Die weißen Mauern der Residenz flimmerten in weiter Entfernung. Sie sah Männer in den Gärten und am Flussufer herumstreifen, aber sie waren zu weit entfernt, als dass sie hätte erkennen können, ob es Aamu waren. Mit unerträglicher Langsamkeit glitt die Barke am königlichen Hafen vorbei. Die Schiffe der Aamu hatten am Kai festgemacht, ebenso Merenres Schiff. Aber er war nicht mehr zu sehen.

»Was willst du jetzt tun?«, rief Teti ihr zu. »Dich im Tempel vor diesem Emporkömmling verstecken?«

Neith drehte sich zu ihr um. »Verstecken? Warum sollte ich das tun?«

Teti entblößte die weißen Zähne zu einem anzüglichen Grinsen. »Er hat ein Auge auf dich geworfen, das war nicht zu übersehen. Bereitet dir der Gedanke Furcht?«

Neith verschränkte empört die Arme. Die Barke näherte sich dem Kanal Re ist schön, der zum Tempel führte. Viele Jahre lag es zurück, dass die Barken diesen Weg zum Tempel benutzen konnten. Heute war der Kanal nur noch ein Rinnsal, und die Schiffe mussten an seiner Einmündung anlegen. Ein kleiner Kai war errichtet worden, zu dem ein hölzerner Steg führte. Neith und Teti schritten als erste über die Laufplanke.

»Ich habe keine Furcht«, sagte sie schließlich zu Teti, die missmutig den sandigen Weg musterte, der zum Tempel führte. »Er hat mich längst vergessen. Ein Eroberer und selbsternannter Herrscher muss sich doch jetzt um tausend andere Dinge kümmern als um eine Priesterin, von der er nicht einmal weiß, dass sie eine Tochter seines Vaters ist. Komm, lass uns den Weg hinter uns bringen.« Sie hob einen Schal über den Kopf, um die gröbste Hitze abzuhalten. Den Trägern mit ihren Sänften, die erschienen waren, um die ranghöchsten Priester abzuholen, warf sie einen sehnsüchtigen Blick zu. Ihrem königlichen Rang entsprechend hätte sie sich ebenfalls eine Sänfte herbestellen können, aber sie hatte es vergessen.

Eine der Sänften, von vier kräftigen Nubiern getragen, blieb vor ihr stehen. »Bist du die Hathor?«, fragte einer der Träger. »Jene Frau, die die Göttin darstellte? Unser Herr sagte, du musst eine Priesterin sein, also schickte er uns hierher.«

»Ja, ich bin Priesterin der Göttin Sachmet und eine Hofdame«, sagte Neith verwirrt. »Wer ist denn dein Herr?«

»Pharao Merenre. Er sagt, du hast es verdient, dich auf dem Rückweg auszuruhen.«

Teti kicherte. Neith warf ihr einen scharfen Blick zu. Sollte sie sich über dieses unverhoffte Geschenk nun freuen oder ärgern? Die Nubier setzten die Sänfte ab, damit sie einsteigen konnte.

Es war eine prunkvolle Sänfte, goldfarben bemalt und mit Kissen belegt. Ein Sonnendach spendete Schatten. Ihre eigene Sänfte, die irgendwo im Tempelhof herumstand, war nicht annähernd so prunkvoll. Kaum saß sie, wurde sie in die Höhe gehoben, und die Nubier marschierten los. »Wohin geht ihr denn?«, rief sie und blickte Teti nach, die lachend hinterherwinkte.

»Zum Pharao, in den Palast«, war die Antwort. Neith unterdrückte einen Aufschrei.

»Ich will aber nicht. Vom Rückweg in den Tempel war die Rede, also bringt mich dorthin.«

»Aber der Horusfalke …«, sagte der Kuschit verwirrt. Offenbar konnte er nicht glauben, dass jemand dem Ruf des Horus nicht folgen wollte.

»Er mag sich schon so nennen, aber noch ist er es nicht. Außerdem bin ich müde und hungrig. Und habe obendrein schmutzige Füße. Und überhaupt bin ich allein meiner Göttin Rechenschaft schuldig. Hast du verstanden?«

»Ja, Herrin.«

Das würde dem armen Kerl ein paar Stockhiebe einbringen. Aber weshalb soll ich eilen, nur weil irgendein Störenfried, an dem noch Aamu-Zöpfe hängen, mit den Fingern schnippt?, dachte sie erbost. Ich denke nicht daran!

Ein Gefühl bemächtigte sich ihrer, von dem sie nicht wusste, ob es freudige Erregung oder Angst war. Seufzend lehnte sie sich zurück.

Das Gewimmel um sie herum nahm sie nicht wahr, auch nicht die gleichförmigen Schritte ihrer Träger, die die Sänfte zielsicher in Richtung des Hut-Ka-Ptah, der großen Tempelanlage des Stadtgottes, lenkten. Sie mochte das Gewimmel der Stadt nicht – sie war laut und stank. Man nannte sie Men-nefer – ewig und schön war ein edler Name für den Ort, wo der Pharao residierte. Ihr eigentlicher Name war allmählich in Vergessenheit geraten, seitdem Osiris Neferkare-Pepi der Erste seine Pyramide ewig und schön ist Neferkare genannt hatte. Für ihre Bewohner war sie jedoch nur »die Stadt«, und angesichts ihres Ausmaßes verblasste jede andere Stadt zu einem bedeutungslosen Dorf. Neith war sie beinahe so fremd wie eine der Küstenstädte Syriens.