Joe Ide

Stille Feinde

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Für Diane

Prolog

Isaiah war siebzehn Jahre alt, als sein großer Bruder Marcus bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Er brach die Schule ab und verbrachte Monate mit der Suche nach dem flüchtigen Fahrer des Honda Accord, der Marcus völlig zerschunden auf dem Gehweg hatte liegen lassen, während seine Lebenskraft in den Gully rann. Marcus war Isaiahs Mentor, Freund und Vorbild gewesen, die einzige Familie, die er jemals hatte. Sein Alles.

Acht Jahre später entdeckte Isaiah zufällig bei TK auf dem Schrottplatz einen Accord. Es war schon fast dunkel. Er ging zu Fuß die alte Rennstrecke zwischen den Schrottwagen ab, sie erinnerten ihn an die Fotos vom Bürgerkrieg, die er in der Bibliothek gesehen hatte. Tote Soldaten auf einem Schlachtfeld. Verzerrte Leichen mit Chromzahnfratzen, die aus kaputten Augen auf Hunderttausende von Meilen zurückstarrten. Kein Lüftchen wehte im schwindenden Licht, nur eine einsame Krähe saß auf einem Reifenberg und krächzte traurig. Als wäre sie die letzte auf Erden. Isaiah kam um eine Ecke gebogen, und da war er. Der Anblick der Mordwaffe löste eine lähmende Flut von Schmerz und Erinnerungen aus; Marcus’ Lächeln, das ihn gewärmt und getröstet hatte, seine zuversichtliche Stimme, sein liebevoller Blick eine strahlende und vielversprechende Zukunft für Isaiah voraussahen. Als die Erinnerungen endlich wieder verebbten, putzte Isaiah sich die Nase, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und spürte eine weitere Welle von Emotionen anrollen, Wut und Entschlossenheit verschmolzen darin. Er überlegte, warum er die Suche aufgegeben hatte, und stellte sich den Fahrer vor, der irgendwo da draußen lebte und nicht einmal mehr daran dachte, dass er den besten Menschen der Welt auf dem Gewissen hatte.

Isaiah verließ den Schrottplatz und sagte sich, dass das alles lange her war und er es hinter sich lassen sollte. Die Suche hatte ihn schon einmal beinahe das Leben gekostet und völlig aus der Bahn geworfen.

Kummer und Leid von damals waren inzwischen vernarbt, und es hatte keinen Sinn, mit einem Messer in der alten Wunde zu wühlen.

In jener Nacht setzte Isaiah sich auf die Stufen vor dem Haus und teilte sich einen Energieriegel mit seinem Hund. Als Welpe hatte der reinrassige Pitbull einem Auftragskiller gehört. Nachdem Isaiah den Kerl ins Gefängnis gebracht hatte, nahm er den Hund zu sich und nannte ihn Ruffin nach David Ruffin, Marcus’ Lieblingssänger. Mit zehn Wochen war Ruffin süß, witzig und zwölf Pfund schwer. Neun Monate später wog er schon stolze siebenundfünfzig Pfund und war ein schiefergrauer Halbstarker mit bernsteinfarbenen Augen, die ihm ein sehr wildes Aussehen verliehen. Niemand fand ihn mehr süß oder witzig. An der Leine konnte er sein Herrchen wie einen Bollerwagen die Straße entlangziehen. Isaiah wurde bewusst, dass er sich etwas vorgemacht hatte. Er war nie über Marcus’ Tod hinweggekommen. Wenn es jemals eine bedeutungslose Formulierung gegeben hatte, dann war das die vom »darüber hinwegkommen«. Trauer ist kein Ort, den man hinter sich lässt. Sie wird Teil von dir. Sie verändert die Art, wie du siehst, fühlst und denkst, und immer mal wieder passiert es, dass du dich nicht an den Schmerz erinnerst, sondern ihn erneut durchlebst; der Kummer ist so real und herzzerreißend, als würde alles noch einmal geschehen.

Ruffin folgte Isaiah ins Haus, durch den Flur und in das zweite Zimmer, das er als Büro nutzte. Eine Hitzewelle war über Long Beach hereingebrochen, und drinnen war es stickig und heiß. Der Raum war spartanisch eingerichtet, wirkte wie vergessen, obwohl Isaiah ihn ständig benutzte. Darin befanden sich ein altes Lehrerpult, ein quietschender Drehstuhl, zwei Aktenschränke, auf dem Boden stapelten sich Kisten mit Platten, und ein zwei Meter langer Klapptisch ohne was drauf stand in der Mitte. Kein Schnickschnack, nichts Persönliches, abgesehen von zwei Schnappschüssen an der Wand. Einer zeigte Marcus und Isaiah, wie sie vor der Kamera Grimassen schnitten. Auf dem anderen war Mrs Marquez zu sehen, die ein Huhn an den Füßen hielt, während das arme Ding hilflos flatterte. Isaiah hatte den Vogel als Bezahlung für seine Dienste akzeptiert, nur um ihn aus ihren Fängen zu befreien. Sie hatte ihn Alejandro genannt, nach ihrem pendejo von einem Ex-Mann. Als der Auftragskiller kam, um Isaiah abzuknallen, erwischte er den Vogel, und es blieb nur eine Wolke aus Federn von ihm übrig.

Isaiah stellte eine der Kisten auf den Tisch, legte eine Mappe mit bereits gesammelten Informationen daneben. Über die Fahrzeugidentifizierungsnummer hatte er einen Fred Bellows als den Besitzer des Wagens ermitteln können. Auf dessen Facebookseite war ein dicker, weißer Mittvierziger zu sehen, mit einem Gesicht wie ein nicht durchgebackener Keks und einer Hose, die ihm bis zum dritten Knopf seines blau, braun und gelb karierten Hemds reichte. Seine Frau sah aus wie seine Zwillingsschwester, und auch die drei Kinder hatten bereits deutliche Bauchansätze. Fred wohnte in Wrigley Heights, einer hübschen Gegend im Norden von Hurston, wo Marcus und Isaiah früher gelebt hatten.

Isaiah nahm ein paar Fotos aus dem Ordner und verteilte sie auf dem Tisch. Es waren Bilder von dem Accord, die er auf dem Schrottplatz aufgenommen hatte. Die Scheinwerfer vorne waren zertrümmert, über dem Stoßdämpfer befanden sich ein paar Dellen, und an ein paar Stellen war die Farbe ab. Es wirkte falsch und unmöglich, dass Marcus tot, aber der Wagen kaum beschädigt war. Ein riesiger Bombenkrater oder ein von einem Blitz gespaltener Mammutbaum wären überzeugender gewesen.

Die Sitze und das Armaturenbrett waren aus dem Wageninneren herausgerissen worden, aber Isaiah hatte alles Mögliche auf dem Boden gefunden. Da waren vier ausgedrückte Zigarettenstummel, Marlboros, vier leere Dosen Carta Blanca, eine zerknitterte weiße Tüte und zerknülltes Sandwichpapier. Isaiah legte alles auf den Tisch. Das Sandwichpapier strich er glatt. Sogar ein Stück vom Sandwich war noch da, verschrumpelt und mumifiziert, einige wenige verhutzelte Jalapeñoringe, die Knitterfalten voller Krümel. Das Papier stammte von Kayos Subway. Das Logo war draufgedruckt: eine regenbogenfarbene Zielscheibe, die von einer Faust mit einem Sandwich durchschlagen wird.

Isaiah hatte die Google Earth-Karte von East Long Beach auswendig im Kopf, kannte in der Gegend sämtliche Bandenreviere, Crackhäuser, Puffs, Bars, Clubs, Billardsäle, Drogenecken, Straßenstriche, Tatorte, Sexualstraftäter, leerstehenden Gebäude, Schnapsläden und Parks. Alle Orte, an denen Kriminelle sich aufhielten und Straftaten verübten. Isaiah suchte Kayo auf seiner Karte. Vom McLarin Park aus gesehen befand sich der Laden direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Markus und er hatten unmittelbar vor dem Unfall noch Basketball im Park gespielt. Isaiah hörte das leise ping seines inneren Echolots.

Die weiße Tüte war genau wie alle anderen Imbisstüten. Unbenutzte Servietten, ein Tütchen Senf und eine Quittung für ein dreißig Zentimeter langes Sub-Sandwich mit Pommes. Das Datum war das des Unfalls, Uhrzeit 17:02. Marcus war um zirka 18 Uhr überfahren worden. Ping ping. Fred wäre zweifelsohne in der Lage gewesen, sich vier Carta Blanca hinter die Binde zu kippen, aber er sah eher nach Budweiser oder Coors aus und auch nicht so, als würde er die leeren Dosen einfach in den Wagen schmeißen, er hatte immerhin Familie. Sie stammten von dem, der Marcus überfahren hatte. Zwei Häuser weiter von Kayo war ein A&J Liquor. Der Fahrer hatte sich also ein Sandwich und ein paar Bier geholt, sich in den Wagen gesetzt, getrunken und geraucht – aber eine Stunde lang? Mit einem Grand Slam Breakfast bei Denny’s konnte man sich so lange beschäftigen, aber der Typ hier hatte sein Sandwich ja nicht mal aufgegessen. Wahrscheinlich hatte er auf etwas gewartet und nur gegessen, weil Kayo nun mal da war. Nach ein paar Bissen hatte er den Rest liegenlassen, lieber Zigaretten geraucht und alle fünfzehn Minuten ein Bier getrunken, was bedeutete, dass er entweder kettenrauchender Alkoholiker oder nervös war. Sehr nervös. Ping ping ping.

Nachdem Isaiah und Marcus Basketball gespielt hatten, waren sie auf der McLarin in nördlicher Richtung zur Bethesda gegangen, in die Baldwin abgebogen und dann zwei Straßenecken weiter in die Anaheim, wo Marcus in dem Moment, in dem er den Bordstein verließ, von dem Accord überfahren wurde. Isaiahs Echolot schlug Alarm, als käme ein Torpedo aus nicht einmal mehr fünfzehn Metern Entfernung auf ihn zugerast. Zum Unfallzeitpunkt war der Accord von Westen nach Osten gefahren. Um aus dieser Richtung zu kommen, hatte der Fahrer nach seinem Besuch bei Kayo einen Umweg fahren müssen, er hatte einen Bogen um Isaiah und Marcus gemacht, sich erst mal von ihnen entfernt. Weshalb hätte er das tun sollen, hätte er Marcus nicht absichtlich überfahren wollen?

Das war kein Unfall, das war Mord.

1

Gnadenfrist

Die Tanzfläche war eine Straßenschlacht unter einer Discokugel, Hände ragten aus der Masse empor, schwenkten grüne Leuchtstäbe und sechshundert Dollar teure Flaschen Ciroc, Go-go-Tänzerinnen in Plüschbikinis und Netz-Bodystockings wanden sich wie Tentakel aus Rauch, die Luft war warm und stickig, triefte vor Alkohol, und es stank nach moschuslastigem Parfüm und anderen Sexuallockstoffen.

Es war Samstagnacht im Seven Sevens. Der DJ legte Dubstep auf, der Bass pochte tief wie der Puls der Erde, ein nasales Heulen schlängelte sich durch die abgehackten Beats, während ein buddhistischer Mönch auf Speed the world is mine the world is mine the world is mine intonierte, die Musik an Tempo zulegte, Streicher aus dem Synthesizer sich in die Höhe schraubten, zu dem aufschwangen, was man unter Trance versteht, der rauchige Rhythmus drängte schneller und schneller voran, die Tänzer tummelten sich wie kriegerische Ameisen, die Energie war so extrem, dass die Wände einzustürzen drohten, doch dann, zum Glück, kam eine Pause, das Heulen nahm ab, der Beat reduzierte sich auf ein Stampfen, dann blieb nur noch ein wummerndes Kopfnicken.

Eine junge Asiatin stand am DJ-Pult in einer Dunstsäule aus Licht, als hätte Scotty sie heruntergebeamt, damit sie die Turntables bediente. Sie warf ihr glänzendes schwarzes Haar hin und her wie einen Pferdeschweif, auf ihrem bauchfreien roten T-Shirt prangte ein gelber Stern, und ihre Jeans-Shorts waren so kurz, dass Benny behauptete, er könne ihren Arschansatz sehen. Sie schrie ins Mikro, triumphierend und wild: »Leute, was geht? Hier spricht Queen Kamikaze, das Scharfe im Wasabi, die beste Wette in der Nahrungskette, der Schaumwein im Chow-Mein, ich bin’s, DJ Dama, Baby, das war mein Set, und jetzt hau ich ab, PEACE

Janine Van kam aus der DJ-Box und schob sich durch die Menge. Die Leute liebten sie, jubelten, pfiffen, klatschten, gaben ihr High Fives. Eine Gruppe von betrunkenen College Boys jaulte sie an wie liebeskranke Kojoten, die Brothers checkten sie, musterten sie, standen da, den Oberkörper leicht zurückgeneigt, eine Hand am Kinn. Hey, so heiß auszusehen, schadete niemandem. Als Nächstes war DJ Young Suicide dran, der sie im Vorbeigehen keines Blickes würdigte. Arsch. Als wäre sie eine Anfängerin, die zu grüßen sich nicht lohnt. Aber was soll’s … eines Tages wird er aufwachen, dann ist er Old Suicide, und sie der Star im Marquee Club.

Janine hatte sich für Dama als DJ-Namen entschieden, weil das mal was anderes war und auf Chinesisch »Pot« bedeutete. In LA und San Francisco hatte sie auch ein paar Fans, aber vor allem hier in Vegas, ihrer Heimatstadt. Im Seven Sevens bekam sie immer das erste Set, heizte das Publikum an für Suicide, DJ Twista und DJ Gone Viral, aber nicht mehr lange. Chinesische Touristen entdeckten sie. Sie fanden es toll, dass eine von ihnen was anderes konnte als Pingpong spielen und Mathe-Aufgaben lösen. Man hätte glauben können, Jeremy Lin hätte die Nudel erfunden, so wie die aufdrehten.

Die Bezahlung war gut, siebenhundertfünfzig Dollar pro Set, nicht schlecht für eine Einundzwanzigjährige, die erst seit elf Monaten professionell auflegte. Sie spielte zwei Sets die Woche, was den meisten dicke zum Leben gereicht hätte, aber an den Glücksspielautomaten und Blackjack-Tischen verschwanden ihre Honorarschecks genauso schnell, wie sie sie verdiente, und jetzt hatte Leo auch noch Benny und sie an den Lustkugeln gepackt. Sie hatten sich nur fünftausend geliehen, aber inzwischen seit vier Wochen keine Raten mehr gezahlt, und aus den fünf waren schon fast neun geworden; tausendvierhundert Dollar nur für die Zinsen.

Immer mal wieder versuchten sie, sich von den Spieltischen fernzuhalten; die Sucht abzuschütteln, die ihnen wie ein Affe im Nacken saß, und sich auf ihre beruflichen Karrieren zu konzentrieren. Janine als DJ, Benny als aufstrebender Motocross-Star. Zwei oder drei Tage lang hatten sie dann ununterbrochen Sex und rauchten Unmengen Pot, bis der Affe wie ein alter Silberrücken zurückkam und sie in die Casinos zogen, sich schworen, dieses Mal professioneller mit ihren Einsätzen umzugehen, was aber sinnlos war, wenn man sowieso alles ausgab, egal wie viel man gewann oder wie schnell man verlor. Vor wenigen Monaten war Bennys Sponsor abgesprungen, weil er zu einigen Treffen nicht erschienen war. Alleine konnte er sich Unterhalt und Pflege eines anspruchsvollen Renn-Bikes nicht leisten, und um das Problem zu lösen, hatten Janine und er noch mehr gespielt und überhaupt nicht mehr ans Aufhören gedacht. Kaum hatten sie Geld, spielten sie. An Weihnachten hatten beide eine Lungenentzündung und zusammen nur noch siebenundzwanzig Dollar gehabt, aber trotzdem im Rio Nickels gespielt, bis die Security sie rauswarf, weil sie Rotzklumpen fett wie Nacktschnecken in ihre Plastikbecher gespuckt hatten.

Janine liebte Benny. O Gott, wie sie ihn liebte. Er war lustig und lieb und ein Olympiasieger in der Kiste. Vielleicht war er nicht besonders schlau, aber er hörte ihr zu und war nett zu ihr – Qualitäten, die man heutzutage nur noch selten fand. Aber er war ein erbärmlicher Zocker, und über die Hälfte der Schulden ging auf ihn. Janine hasste es, dass Leo sie beide für ein einziges Versager-Team hielt. In dieser Hinsicht war er ein Teufel, wusste genau, dass Benny Vegas niemals verlassen würde, und wenn Janine auf die Idee käme, würde sie ihn auf den Schulden sitzen lassen und ihrer beider Herzen brechen. Sie hoffte einfach, dass Benny den Ball flach hielt. Aber Leo war ein fieses Stück Scheiße. Wenn der einen erst mal am Boden hatte, würde er einem wehtun und dabei lächeln.

Leo hatte Spitzel in der ganzen Stadt verteilt. Viele Leute schuldeten ihm Geld und waren gerne bereit, ihre Freunde zu verpfeifen, nur um ein bisschen Zeit für sich zu schinden. Leo erwischte Benny, als dieser gerade im Siesta Vegas Motel an den Automaten gehen und sich eine Dose Mountain Dew ziehen wollte. Er nahm ihm den Schlüssel ab und ging mit ihm aufs Zimmer, Balthazar kam auch, damit Benny ganz sicher nicht abhaute.

»Hast du meine Zinsen, oder nicht?«, fragte Leo. »Und erzähl mir keinen Scheiß.«

»Bald, Leo, ich schwör’s, ganz bald«, sagte Benny, schüttelte den Kopf. »Das Testament meiner Großmutter wurde jetzt geprüft und bestätigt, und der Anwalt sagt, in ein paar Tagen hat er einen Scheck für mich, höchstens eine Woche noch.«

»Das hast du mir schon einmal erzählt«, sagte Leo. Er hätte nichts anderes werden können als Kredithai: Er hatte ein selbstgefälliges Grinsen im Wieselgesicht, trug eine riesige, rosa getönte Pilotenbrille, die fettigen Haare hinter die Ohren gekämmt. Sein Modegeschmack ging in Richtung Paisley Discohemd mit Riesenkragen; niemand erklärte ihm, dass sein Siebziger-Retrolook weder jetzt noch sonst irgendwann angesagt war. Leo war ein Arschloch erster Güte, der anderen Stress machte, auch wenn sie bezahlten. Anscheinend war es ihm aber egal, dass alle, einschließlich der Menschen, die er als seine Freunde bezeichnete, lieber im Leichenschauhaus abhängen würden, als freiwillig was mit ihm trinken zu gehen.

»Ich brauche nur noch ein bisschen Zeit«, sagte Benny. »Eine Gnadenfrist.«

»Gnadenfrist?«, fragte Leo. »Was glaubst du, mit wem du’s zu tun hast, der Dumme-Idioten-Kreditgenossenschaft? Eine Gnadenfrist? Den Begriff gibt es in meinem Alltagswortschatz nicht, und falls es dir noch nicht aufgefallen ist, ich bin ein Krimineller. Ein engagierter, reueloser und gesetzesferner Motherfucker. Ich halte mich an niemandes Regeln außer meinen eigenen, und meine Regel Nummer eins lautet: Zahl mir mein scheiß Geld

»Du weißt, dass ich es nicht habe«, sagte Benny. »Sieh dich um.« Das Motelzimmer, das Benny und Janine für den Monat gemietet hatten, war ein Loch und mit den ganzen feuchten, ungewaschenen Klamotten, die die beiden überall herumliegen ließen, kaum bewohnbar. Normalerweise parkte Benny sein Motocross-Bike darin, nur jetzt hatte er’s vorsichtshalber bei Ray gelassen, damit Leo es ihm nicht abnahm. Was Janine fürs Auflegen brauchte, stand bei Sal in der Garage.

»Gib her, was du einstecken hast«, sagte Leo.

»Ach, komm schon, Leo«, sagte Benny, »das ist das Geld für die Miete.«

»Gib’s her«, sagte Balthazar, »sonst brech ich dir dein scheiß Genick, okay?«

Balthazar kam aus Saskatchewan, von Montana aus auf der anderen Seite der Grenze zu Kanada – der Unterschied war nur, dass in Montana Forellen und Büffel gediehen, keine furchterregenden Freakozoiden. Balthazar war zwei Meter zehn, hatte ein vorspringendes Kinn und komatöse Augen, dazu eine Frankensteinstirn; sein Körper schien aus den Einzelteilen eines Orang-Utans und einem Bürohochhaus zusammengeflickt zu sein. Benny fragte sich, woher er seine Klamotten bekam. Er hatte Witze gerissen, sich bei Balthazar erkundigt, ob der Typ, der ihm die Hosen nähte, auch Zirkuszelte baute. Daraufhin hatte Balthazar ihm eine gescheuert mit einer Hand, die eigentlich eher ein Fuß hätte sein können. »Markier bloß nicht den Klugscheißer.«

Benny gab ihm die Brieftasche mit seinen letzten dreiundachtzig Dollar, die er im Lucky Streak gewonnen hatte, einer Kneipe drüben in Henderson. Wenn er deprimiert oder gestresst war, spielte er ganz gerne dort. Das Casino war verqualmt wie ein Waldbrand, der Filz auf den Blackjack-Tischen zerschlissen, und ältere Mitbürger in Hawaiihemden schlurften an Gehhilfen durchs Bild. Werde kostenlos Mitglied im Club und hol dir einen Sechserträger Pepsi gratis, aber man konnte für einen Dollar Craps spielen, sogar schon morgens früh, und für 3,99 Dollar bekam man zwei Eier, zwei Scheiben Speck, zwei Würstchen, Toast und eine belgische Waffel.

»Zieh die Klamotten aus«, sagte Leo.

»Was?«

»Du hast mich verstanden. Tu, was ich dir sage, oder Zar hilft dir dabei.«

»Hey, warte mal, ihr werdet doch nicht – das willst du nicht wirklich, Leo, ich hab Durchfall!«

»Ist das widerlich! Dann lass die Boxershorts an. Nicht, dass du mir mit deinem verkackten Sack die Karre vollstinkst.«

»Ich schulde dir zwar Geld, aber du musst mich nicht demütigen.«

»Schon klar, ich mach’s ja auch nur zum Spaß.«

Während Benny sich auszog, sagte Leo: »Guck dich doch an, du scheiß Loser. Was hast du dagegen, Wäsche zu waschen? Deine Socken passen nicht zusammen. Du mit deiner Plastikbrieftasche, dem vermurksten Haarschnitt und dem bescheuerten Muschelarmband. Wieso Janine was mit einem Blindgänger wie dir angefangen hat, ist mir ein Rätsel. Eines Tages, in nicht mehr allzu ferner Zukunft, wird sie merken, dass sie sich bei jeder x-beliebigen Gegenüberstellung einen besseren Freund aussuchen kann, und dich sitzen lassen.«

»Meine Brieftasche ist nicht aus Plastik«, sagte Benny.

Benny saß auf dem Rücksitz von Leos weißem Mercedes, eher eine Limousine als ein Auto, und leiser als das Motelzimmer um vier Uhr früh. Sie fuhren ganz raus aus Vegas und durch den Norden der Stadt, durch billige Pralinenschachteln von Wohnsiedlungen, alle unterschiedlich, aber doch gleich. Jetzt waren sie in der Wüste, wo es so dunkel war, dass man gerade so weit sehen konnte, wie die Scheinwerfer reichten, nicht mal eine Tankstelle gab’s da draußen.

»Wohin fahren wir, Leo?«, fragte Benny zum fünften Mal.

»Ich hab’s dir schon fünf Mal nicht gesagt«, erwiderte Leo. »Wirst es sehen, wenn wir da sind. Wo ist Janine?«

»Legt im War Room auf.«

»Kannst du nicht ein einziges Mal den Mund aufmachen ohne zu lügen? Sie ist im Seven Sevens, ihr Name steht auf dem scheiß Schild draußen.«

»Komm schon, Leo, sei vernünftig. Wenn du mich fertigmachst, kann ich dir dein Geld erst recht nicht zurückgeben.«

»Von dem, was du an den Tischen verdienst, jedenfalls nicht, so schlecht, wie du spielst. Ich hab dir gesagt, du musst es dir woanders besorgen.«

»Mach ich, Leo, ich schwör’s bei meiner kleinen Schwester. Hab ich dir schon erzählt, dass sie Krebs hat?«

»Deine Schwester ist älter als du und an Krebs gestorben. Weißt du nicht mehr, dass wir zu ihr ins Krankenhaus gefahren sind und sie wegen Geld angehaun haben?«

Sie bogen ab und fuhren über einen Parkplatz, riesig und leer, unheilvoll im gelben Licht der Laternen; hier dreht sich das Mädchen um, entdeckt ihren Killer und rennt um ihr Leben. Sie hielten ganz hinten am Ende.

»Steig aus«, sagte Leo.

»Geh ruhig, ich warte hier«, erwiderte Benny.

Balthazar holte mit seinem Orang-Utan-Arm aus und haute ihm eine runter. »Steig aus, okay?«

Als Benny den Müll roch, wusste er, wo er war. Bei einem Schulausflug war er schon mal hier gewesen, mit elf Jahren. Ein Idiot, der in seinem orangefarbenen Overall wie Sponge Bob aussah, hatte sie herumgeführt. »Die Apex-Mülldeponie ist weltweit eine der größten«, hatte er erklärt, als wär’s der Grand Canyon. »Die Grube erstreckt sich über knapp hundertfünfzig Hektar, sie ist sechzig Meter tief, und bislang liegen fünfhundert Millionen Tonnen Abfall darin. Wenn sie randvoll ist, wird es eine Millarde sein! Ja, genau, Kinder. Eine Millarde Tonnen Abfall! Was sagst du dazu, junger Mann?«

»Ich sage, hier stinkt’s«, hatte Benny erwidert.

Balthazar stieß Benny Richtung Müllkippe, Leo ging mit der Taschenlampe voran. Benny spürte, wie sich der Luftdruck änderte; Gase von faulendem Abfall ließen eine eigene Atmosphäre aus Hitze und Verwesung entstehen.

»Leo, mach das nicht, bitte nicht«, sagte Benny. »Ich besorg das Geld irgendwoher, ich schwör’s bei mein …«

»Schwör’s bei was?«, fragte Leo. »Deiner zweijährigen Nichte, die Syphilis hat? Deiner Mom, die an einem Arschtumor krepiert? Halt die Fresse, verdammt.«

Benny fielen wieder die riesigen Pyramiden aus Abfall und Müll ein, die Täler so tief, dass sie einen verschlucken konnten, Möwen hatten alles vollgekackt, und eine Million Ratten tummelten sich dort.

»Ich kann da unten sterben, Leo.«

»Wenn du Glück hast.«

»Bitte, tu das nicht«, sagte Benny. Er sah den Rand der Grube, der Gestank war heftig, fast schon zähflüssig. Jetzt heulte er, wollte zurück, aber Balthazar packte ihn am Nacken und zog ihn hoch, als wollte er ihn an einen Garderobenhaken hängen, dann ließ er ihn weiter vorwärtsmarschieren. »Tu das nicht, ich flehe dich an«, sagte Benny. »Ich raub eine Bank aus, ich stell mich an den Busbahnhof und lutsche Schwänze auf dem Männerklo.« Er blubberte wie ein Kind, die Worte waren so feucht, dass es kaum noch welche waren. »Nein, bitte, Leo, bitte, bitteeeee!«

»Bis Freitag hab ich meine nächste Rate«, sagte Leo, »sonst kannst du Janine sagen, dass sie die Nächste ist.«

»Okay, aber jetzt sind wir über die Absperrung …«

Leo nickte und Balthazar stieß Benny in die schwarze Dunkelheit, sein Schrei hallte mal leiser, mal lauter durch die Nacht, während er den langen Hang hinunterkugelte. Nur beim Aufkommen unten machte er kaum noch ein Geräusch, wo auch immer er war. Leo rechnete damit, Benny stöhnen oder um Hilfe rufen zu hören, aber außer dem Flattern der Mülltüten im Wind war alles still. Leo fragte sich, ob Benny sich das Genick gebrochen hatte.

»Ich hab ihn gewarnt, oder?«, sagte er mit einem Stecknadelkopf voller Gewissensbisse in der Stimme.

»Der hatte doch Glück«, sagte Balthazar. »Wir hätten ihn auch zuerst erschießen können.«