Ein fast perfekter Urlaub

Die Autorin

Adèle Bréau – Foto © Francesca Mantovani

Adèle Bréau ist Journalistin, erstellt Psycho-Tests für Frauenmagazine, hat die Website Terrafemina.‌com mitgegründet und unterhält einen Blog, auf dem sich Frauen untereinander austauschen (adeledebrief.wordpress.‌com). 2017 erschienen bei Ullstein die ersten beiden Bände ihrer Erfolgsserie um vier Pariser Freundinnen: »Fast perfekte Heldinnen« und »Männer von fast perfekten Heldinnen«.

Das Buch

Nach einem Jahr voller Veränderungen beschließen Ma­thilde, Lucie, Alice und Éva die Hektik der Großstadt sowie alle Probleme mit Männern, Kindern, Kollegen einmal hinter sich zu lassen. Sie planen einen herrlichen gemeinsamen Urlaub in der Bretagne. Doch ihre Erholung währt nicht lange, denn schon bald holt die lästige Wirklichkeit sie wieder ein.
Adrien, Alices Exmann, fliegt mit seiner neuen Freundin nach Thailand und erleidet dort einen tödlichen Herzinfarkt. In dieser Krisensituation enthüllt die 15‑jährige Laura, gemeinsame Tochter von Alice und Adrien, dass sie ein Verhältnis mit ihrem doppelt so alten Klavierlehrer hat. Kurz darauf erfährt Alice von Lucies geheimer Komplizenschaft, die ihre Freundschaft auf eine harte Belastungsprobe stellt. Mathilde und Éva versuchen indes, ihre veränderten Le­bens­umstände in den Griff zu bekommen. Keine leichte Aufgabe, wie sie feststellen müssen.

Adèle Bréau

Ein fast perfekter Urlaub

Vier Heldinnen, die Bretagne und das übliche Beziehungschaos

Roman

Aus dem Französischen
von Stefanie Schäfer

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein-buchverlage.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Juli 2018 (1)
© für die deutsche Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Copyright © 2016 by Éditions Jean-Claude Lattès
Titel der französischen Originalausgabe: Les Devoirs de vacances
(Editions Jean-Claude Lattès, Paris)
Umschlaggestaltung: bürosüd˚ GmbH, München
Titelabbildung: www.buerosued.de
E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com
Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978‑3-8437-1834‑9

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.


Für Tao und Kim, meine kleinen Chinesen


Kommst du in den Ferien?
Ich wohne immer noch am selben Ort
Bin vielleicht ein wenig früher dort
Wo wir versprochen haben, uns zu sehen.
David et Jonathan, 1988

Die Kulissen

Paris, die Bretagne, Saint-Tropez, Thailand, die Malediven, Landhäuser unter der Sommersonne.

Die Besetzung

Mathilde (getrennt von Max): berufstätige, leicht überforderte Mutter. Genießt ihr Single-Dasein nach den letzten problematischen Ehejahren. Inzwischen in einer Beziehung mit Antoine, den sie aus dem Kindergarten kennt. Nutzt ihre neue Freiheit und plant, ihr Leben jenseits der vierzig in vollen Zügen zu genießen.


Alice (getrennt von Adrien, in einer Beziehung mit Fred): auch mit vierzig noch schön, inzwischen berühmte Fernsehköchin. Erwartet fünfzehn Jahre nach Lauras Geburt ihr zweites Kind.


Lucie (verheiratet mit Christophe): Kontrolle ist alles, in jeder Hinsicht (Ehe, Figur, Kindererziehung), lautet ihr Motto. Kommt aus gutem Hause. Durchlebt gerade eine schwierige Phase, da ihr Mann sich in den Kopf gesetzt hat, sich selbst zu verwirklichen, und dadurch das wohlgeordnete Leben der Familie aus dem Gleichgewicht bringt.


Éva (in einer Beziehung mit Jacques, getrennt von Vincent): befreit von einem Job und einer Ehe, die sie beide nicht mehr erfüllten, genießt Éva das Glück, endlich Mutter zu sein und Jacques wiedergefunden zu haben, den Unbekannten, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hat.


Max (getrennt von Mathilde): wird bald wieder Vater. Nach einer schwierigen Phase der Trennung von Mathilde und der Arbeitslosigkeit kommt er dank seiner neuen Partnerin Ariane und ihrem gemeinsamen beruflichen Projekt wieder auf die Beine.


Christophe (verheiratet mit Lucie): Nachdem er lange disziplinierter Geschäftsmann sowie konservativer Vater und Ehemann war, nimmt er sich mit vierzig die Freiheit, sich endlich selbst zu verwirklichen.


Vincent (getrennt von Éva und bester Freund von Adrien): frischgebackener Single-Vater des kleinen Jef, richtet sich nach fünfzehn Jahren lauwarmer Ehe wieder im Junggesellendasein ein.


Fred (in einer Beziehung mit Alice): raue Schale, weicher Kern, starke Persönlichkeit, berühmter Koch und Besitzer eines der besten Restaurants von Paris. Hat das Herz der schönen Alice erobert, seiner Stellvertreterin, die inzwischen von ihm schwanger ist.


Jacques (in einer Beziehung mit Éva): der Jüngste im Bunde und Neuzugang, bis über beide Ohren verliebt in Éva, bei der er inzwischen wohnt. Hat mit Freuden die Vaterrolle für den kleinen Jef übernommen.

Vor den Ferien …

Ein Jahr zuvor, im Sommer, segelten Mathilde, Lucie, Alice und Éva noch nichts ahnend auf ihrem vorgezeichneten Kurs als Mütter und Ehefrauen, teils seit über zehn Jahren. In guten wie in schlechten Zeiten an ihre Männer gebunden. Ohne recht zu wissen, warum, strebte jede von ihnen tapfer und ohne sich Fragen zu stellen einer Zukunft entgegen, über die sie gar nicht mehr nachdachte. Sie akzeptierten dieses Leben, von dem sie glaubten, es sich ausgesucht zu haben. Doch dann begann wieder der Alltag und mit ihm Qualen, neue Begegnungen und überraschende Wendungen, die jede von ihnen dazu brachte, sich selbst infrage zu stellen und manchmal sogar alles hinzuschmeißen, oder auch sich als Frau mit Ende dreißig noch einmal ganz neu zu erfinden.

Mathilde und Max, bei denen es schon länger gekriselt hatte und die sich umso mehr zerfleischten, je mehr Kinder und Beruf ihnen die Kraft für ihr Beziehungsleben raubten, konnten ihre Ehe nicht retten. Besonders die Wintermonate waren hart. Max verlor seine Arbeit und verbitterte zusehends. Zugleich hackte Mathilde ständig auf ihm herum, weil er so antriebslos war und sich nicht genug um die Kinder Théo und Martin kümmerte. Dies führte zu einer schmerzhaften Trennung, nach der Mathilde wie betäubt zurückblieb, allein, nach so vielen Jahren. Als der Frühling kam, hatte sich Max bereits mit seinem Schicksal abgefunden – zu schnell für den Geschmack seiner Noch-Ehefrau. Ariane, seine neue Freundin, die er in der Kneipe kennengelernt hatte, erwartete ein Kind von ihm. Gemeinsam stürzten sie sich auf das Projekt, ein eigenes Restaurant zu eröffnen, wovon Max schon seit vielen Jahren träumte. Mathilde verfluchte ihr Schicksal. Doch dann erholte sie sich allmählich wieder und sah plötzlich die Welt mit ganz anderen Augen. Sie erkannte, dass sie zu lange mit Scheuklappen herumgelaufen war und neben Beruf und Kindern kaum noch etwas wahrgenommen hatte.

Alice war gleich nach Weihnachten wieder mit ihrem geliebten Adrien zusammengekommen. Dieser hatte sie ein paar Monate vorher zur allgemeinen Überraschung für eine blutjunge Frau verlassen, die er auf Facebook kennengelernt hatte, obwohl er und Alice lange als das Traumpaar unter ihren Freunden galten. Zusammen mit Tochter Laura hatten sie ein unzertrennliches, harmonisches Trio gebildet, von dem niemand gedacht hätte, dass es eines Tages zerbrechen könnte. Nach einem kurzen zweiten Frühling war der übermütige Zahnarzt schließlich nach Hause zurückgekehrt, zum großen Kummer von Frédéric, Alices Chef im Restaurant, der schon lange heimlich in seine Stellvertreterin verliebt war. Inzwischen war Alice eine berühmte Fernsehköchin geworden. Adrien verkraftete weder ihren Erfolg noch seine Trennung von seiner schönen Juliette, zu der er schließlich wieder zurückkehrte. Fred und Alice dagegen ließen endlich ihren Gefühlen freien Lauf.

Auch die hoch elegante Lucie Chevreux, die man für unerschütterlich gehalten hatte, wurde in jenen turbulenten Monaten nicht verschont. Ihr geliebter Ehemann, der schöne Christophe, dessen Einfluss und finanzieller Erfolg ganz Paris beeindruckten, hatte abrupt das Ruder herumgerissen, um ein neues Leben zu beginnen. Die zwanghaft eifersüchtige Lucie befürchtete wieder einmal, ihn zu verlieren. Auch dieses Paar hatte seine Stürme hinter sich, liebte sich aber zu sehr, um an eine Trennung überhaupt zu denken. Dennoch hatte Christophe mit Raph, seinem Personal Trainer, ein Tabu gebrochen, ohne zu ahnen, wohin ihn diese beunruhigende und vollkommen unerwartete Erfahrung bringen würde.

Éva schließlich hatte einen Job aufgegeben, den sie hasste und über den sie sich jeden Tag beklagte. Sie verzehrte sich vor Sehnsucht nach einem Kind, das einfach nicht kommen wollte. Sie war so vollkommen fixiert auf ihren Kinderwunsch, dass es nicht einmal ihren Freundinnen gelang, sie davon abzulenken. Vincent, ihr Mann, flüchtete sich in die Arbeit, für die er viel unterwegs war. Das Paar begegnete sich praktisch immer nur auf der Durchreise. Ihre Liebe köchelte auf Sparflamme, und die Leidenschaft von einst war schon lange erloschen. Eines Tages ging Éva in eine Kneipe, um ihren Kummer zu ersäufen, den sie nicht zeigen durfte. Dabei traf sie Jacques. Sie hatten sich geliebt und anschließend aus den Augen verloren. Jef wurde geboren, nur wenige Wochen, bevor seine Eltern das Handtuch warfen, obwohl sie nun endlich das Ziel erreicht hatten, das ihnen für ihre Partnerschaft vorgeschwebt hatte. Dann tauchte eines Abends im Frühling nicht ganz zufällig Jacques wieder auf, und Éva und er fielen sich sofort in die Arme.

Allmählich war die Natur wieder erwacht, genau wie die Akteure dieses kleinen Theaters der Vierzigjährigen, die von den vielen Veränderungen nach Jahren der Gleichförmigkeit überrascht worden waren. Die Pariser begannen ernsthaft, an den kommenden Urlaub zu denken, und strömten früher hinaus auf die Straßen. Die Berufstätigen drängten sich auf den Bürgersteigen, um nach der Arbeit noch etwas zu trinken, spazieren zu gehen oder sich den Kindern zu widmen, die man schließlich sonst das ganze Jahr über kaum sah. Es war Sommer. Alle erzählten von ihren Plänen, die Meetings wurden seltener, und man fand seine gute Laune wieder, je länger sich die Sonne am Himmel zeigte. Bald würden die Freunde gemeinsam in das schöne bretonische Haus reisen, das sie schließlich gemietet hatten, nach monatelangem Zögern und unzähligen Abendessen, bei denen sie tausend Ziele erwogen hatten.

Bald würden sie ihre Koffer schließen und ihre winterlichen Sorgen mit Strandtüchern und Sandburgen bedecken, um endlich wieder die Ruhe zu genießen. Denn die großen Ferien standen vor der Tür, und so bald würde der Alltag sie nicht wieder einholen. Ja, es wurde höchste Zeit, sich endlich zu erholen …

1.

9 Uhr. Schon seit einer ganzen Weile schickte die Sonne ihre Strahlen durch die fadenscheinigen Vorhänge im Schlafzimmer von Antoine, aber Mathilde konnte sich nicht dazu aufraffen zu gehen. Nicht, dass sie weniger Arbeit gehabt hätte als sonst, obwohl jetzt im Juli bereits einige Kolleginnen und Kollegen im Urlaub waren – ganz im Gegenteil. Die meisten hatten ihr ganz nebenbei alles aufgebürdet, dem Arbeitstier, das schlecht Nein sagen konnte – obwohl sie in dieser Hinsicht in letzter Zeit Fortschritte gemacht hatte. An diesem Morgen jedoch hatte sie keine Lust, zuverlässig und pünktlich zu sein. Schließlich hatten die anderen auch keine Hemmungen, Bauchschmerzen oder ein krankes Kind vorzuschützen, um seelenruhig erst am späten Vormittag im Büro zu erscheinen. Neben ihr schlief friedlich der schöne Antoine, die geschwungenen Lippen zu seinem typischen Halblächeln verzogen. Dieser Mann war zweifellos ein selten gelungenes Exemplar, und ausgerechnet sie, die farblose Mathilde, hatte ihn ins Bett bekommen, ja, mehr noch: Er schien absolut verrückt nach ihr zu sein.

Während sie sich an seine starke beschützende Schulter schmiegte, dachte sie wieder an das schwierige Jahr, das hinter ihr lag, und an den letzten Sommer, der ihr zugleich so nah und doch so fern erschien. Noch bis vor wenigen Monaten war sie eine durchschnittliche Mutter gewesen, die vollauf damit beschäftigt war, dafür zu sorgen, dass alles rundlief, und sich abmühte, Beruf und Ehe in Einklang zu bringen. Nie hätte sie sich – trotz aller Reibereien und unübersehbaren Alarmsignale – vorgestellt, dass sie sich ein Jahr später als alleinerziehende Mutter wiederfinden würde, die überdies ziemlich glücklich war, jedenfalls glücklicher als früher. Wenn sie ehrlich war, glücklicher als jemals zuvor.

»Woran denkt Ihr, schöne Prinzessin?«

Antoine war offenbar wach, obwohl er die Lider geschlossen hatte.

»In meinem Fall müsste es Königinmutter heißen. Ich bin aus dem Alter raus, in dem man Prinzessin spielt.«

»Papperlapapp. Mach dich nicht immer schlechter, als du bist«, erwiderte er zärtlich, wonach er sich ohne Vorwarnung auf sie stürzte.

Er bedeckte ihren Hals mit jenen tausend kleinen Küssen, mit denen er sie so gern überschüttete, was sie manchmal irritierte – obwohl sie das natürlich nie offen zugegeben hätte. Denn welche normale Frau hätte sich schon darüber beklagt, von einem derart perfekten Mann wie Antoine angebetet zu werden? Sie natürlich. Mathilde, die niemals zufrieden war.

Aber was willst du denn noch, Mathilde?

Sie hörte die vorwurfsvolle Stimme von Max im Ohr, während Antoine versuchte, sie weiter aufzuhalten. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett.

»Ich muss los! Ich habe ein Meeting.«

Sie eilte ins Bad, wo mehrere fast leere Flaschen Duschgel herumlagen. Auch das war etwas, was sie umso mehr störte, je ernster ihre Beziehung zu Antoine wurde. Was sollte das bloß? Während sie aufpasste, ihr etwas schlaffes Brushing – aber ein Brushing nichtsdestoweniger – nicht nass zu machen, füllte Mathilde eine der alten Flaschen mit Wasser, schüttelte sie, spritzte die obskure Mischung auf sich und versuchte, nicht daran zu denken, dass der Inhalt möglicherweise älter war als ihre Söhne Martin oder sogar Théo. Geschiedene Väter, obwohl sehr praktisch für eine Frau in ihrer Situation, hatten Macken, die man sonst nur von Jugendlichen kannte, und sie schienen ganz glücklich darüber zu sein, ihre schlampigen Gewohnheiten von früher wieder aufnehmen zu können. Im Kühlschrank von Antoine fand man außer dem absolut Notwendigen, ohne das sein Sohn nicht existieren konnte, lediglich ein paar Flaschen Bier, eine Flasche Ketchup aus der Steinzeit und ein vertrocknetes Wurstende, von dem Mathilde hoffte, dass es nicht von der letzten Korsika-Reise ihres Besitzers stammte. Einmal mit dem Kamm durch die Haare, ein Blick in den Spiegel – nanu, ausnahmsweise fand sie sich gar nicht so übel. Tatsächlich schien ihr Gesicht seit ihrer Trennung von Max jene Unschuld und Frische wiedergefunden zu haben, die es im Laufe des vergangenen Jahres verloren hatte, auch wenn sie natürlich nicht mehr aussah wie zwanzig. Da sie auch abgenommen hatte, wie bei Trennungen typisch, zog Mathilde wieder die Blicke der Männer auf sich, es sei denn, dieses wiedererwachte Interesse war nicht nur, wie Alice ihr gegenüber angedeutet hatte, das Resultat ihrer neuen Verfügbarkeit. Männer seien wie Hunde, hatte Lucie hinzugefügt, wie immer ganz rational. Sie erschnüffeln alles. Nicht verfügbar? Kein Interesse. Bedürftig? Ähnlich. Und es stimmte, jetzt, wo Antoine sie anhimmelte, ohne dass sie seine Liebe gleichermaßen erwiderte, und nachdem sie sich von ihren Eheproblemen erholt hatte, sandte Mathilde gewiss jene entspannten, positiven, selbstsicheren Wellen aus, die die Exemplare des anderen Geschlechts anzogen. Sogar ihr Kollege Roman, den sie früher als den asexuellsten Typen überhaupt betrachtet hatte, hatte sein Verhalten ihr gegenüber verändert. Und diese zweite Jugend, die ihr wunderbarerweise beschert worden war, bezauberte Mathilde viel mehr, als sie geglaubt hätte.

Im unordentlichen Wohnzimmer, die Füße auf den Tisch zwischen die Reste ihres Abendessens gelegt, träumte Antoine vor sich hin, eine Tasse Kaffee in der Hand. Eine weitere Tasse wartete auf seine Schöne, direkt neben dem überquellenden Aschenbecher. Mathilde rauchte zu viel, so viel war sicher. Im Geiste nahm sie sich vor, ihren Zigarettenkonsum zu reduzieren, vor allem weil sie einen üblen Kater hatte, der noch schlimmer wurde, als sie die leere Pflaumenschnapsflasche auf dem Boden entdeckte. Sie nahm ihre dampfende Tasse, wich dabei den grapschenden Händen ihres Gastgebers aus und ging ins Schlafzimmer, um unter der Bettdecke nach ihrem Spitzenslip zu fahnden – auch auf diesem Gebiet hatte sie Fortschritte gemacht. Nachdem sie ihn in ihrer Handtasche versenkt hatte, ganz erregt bei der Vorstellung, sich mit vollkommen befreitem Schritt ins Büro zu begeben, hob sie ihr Handy vom Boden auf, überprüfte, dass sie keine Nachricht von Max wegen der Kinder erhalten hatte, drückte Antoine einen schnellen Kuss auf die Schläfe, tat so, als bemerke sie seine Enttäuschung nicht, stürmte hinaus und knallte die Tür hinter sich zu, die Tasse Kaffee noch in der Hand. Und während die alte Mathilde vor Scham errötet wäre, an der Tür geklingelt hätte, die Korsika-Tasse ihrem Eigentümer zurückgebracht, sie gespült, abgetrocknet und in den Schrank gestellt hätte, trank die neue in einem Zug ihren Kaffee aus, suchte in ihrer Tasche umsonst nach einem Taschentuch, fand ihre Unterhose und steckte sie in die Tasse, wonach sie beides wieder in die Tasche tat – das Ganze, ohne es zu merken, unter den weit aufgerissenen Augen der Flurnachbarin namens Martha, der göttlichen und äußerst beeindruckenden Exfrau des Mannes, mit dem sie letzte Nacht das Bett geteilt hatte.

9 Uhr 32. Es wurde Zeit, diesen Tag zu beginnen.

2.

»Kommt ihr zum Essen, Mädchen?«

Lucie erhob sich gerade von ihrem Mittagsschlaf. Winnie hatte ihr Bescheid gegeben, dass der Nachmittagssnack für die Kinder fertig sei, während sie die blauen Gardinen des weitläufigen Hauses in Saint-Tropez aufzog, das ihre Eltern in diesem Sommer gemietet hatten und Christophe und ihr im Juli überließen, da es sicher erschien, dass das Paar von nun an den Gürtel würde enger schnallen müssen. Letzteres ängstigte Lucie mit einer Intensität, die sie sich nicht eingestand, obwohl ihre eigene Familie keineswegs bedürftig war und sie, wie dieses Anwesen bewies, in jener Zeit unterstützen konnte, in der Christophe Chevreux seine Midlife-Crisis durchmachte, sich als Unternehmer versuchte und die Männerfreundschaft genoss. Sie fühlte sich ausgeruht und glücklich, während sie in diesem nach Lavendel duftenden Gebäude den zweiwöchigen Urlaub vorbereitete, der vor ihnen lag und den sie diesmal mit ihren Freunden verbringen würden. Außerdem war sie nicht allein: Éva, noch immer in Elternzeit, war ihre Nachbarin – ihre Eltern besaßen ein herrliches Anwesen in der Gegend – und würde ihr für einige Tage Gesellschaft leisten. Voller Glück hatte sie die Freuden der ununterbrochenen, mit Wein begossenen Gespräche unter den sonnensatten Olivenbäumen wiederentdeckt, während die Kinder in jenem tiefen Schlaf lagen, der auf ganze Tage im Schwimmbad folgte.

Lucie ging ins Badezimmer, zog einen der schicken Bikinis an, die sie sich gerade gekauft hatte, und überprüfte im Spiegel, ob die Sonne auch nicht ihr schönes, diskret mit Behandlungen jugendlich erhaltenes Gesicht ruiniert hatte. Dann legte sie eine neue Schicht Sunblocker auf. Die Zeit, in der sie noch kokette Sommersprossen hatte und sich keine Gedanken um die Hautalterung machte, war definitiv vorüber. Augenschutzschild, Hut und Schutzfaktor 50 – Lucie war gewappnet. Voller Entsetzen hatte sie mit angesehen, wie Éva sich in der heißen Sonne grillen ließ, während der kleine Jef sein langes Mittagsschläfchen hielt. Vor allem, weil Jacques, so verliebt er auch in sie sein mochte, fünf Jahre jünger war als sie und sich der Altersunterschied zwangsläufig irgendwann zeigen würde. Es war kein Zufall, dass Lucies Bekannte größtenteils Männer geheiratet hatten, die zehn bis zwanzig Jahre älter waren als sie, weil sie glaubten, neben ihnen mit relativ wenig Aufwand relativ lange jung wirken und die optische Illusion ewiger Jugend aufrechterhalten zu können. Dein Ehemann ist so jung, Liebes, und so begehrt, flüsterten sie ihr boshaft zu, selbst mit einem Auge auf Christophe. Und obwohl es so gut wie sicher war, dass er Lucie trotz aller Versuchungen nie betrogen hatte, hatte Lucie zugegebenermaßen ihre Schwierigkeiten mit den jüngsten Veränderungen, die ihr Mann in seinem Leben vorgenommen hatte. Wenn er früh nach Hause kam, störte er sie oft und brachte ihre Routinen und ihren Alltag durcheinander, den sie mit der Akribie eines Uhrmachers durchorganisiert hatte. In Turnschuhen, den Laptop aufgeklappt auf dem Schoß, konnte Christophe jederzeit anwesend sein, manchmal in Begleitung von Jacques und ihrem gemeinsamen Sklaventreiber Raph. Inzwischen bedauerte Lucie, zugestimmt zu haben, ihn mit ihrem Ehemann zu teilen, da sie Raph mittlerweile förmlich anflehen musste, einen Termin für sie zu finden.

»Madame, dürfen die Mädchen Schokocreme essen?«, rief ihr durch das Fenster Winnie zu, ihre Kinderfrau, die schon ewig bei ihnen war und sie wie jeden Sommer an ihren Urlaubsort begleitet hatte.

»Aber Winnie, was fällt Ihnen ein? Sie wissen ganz genau, dass es so etwas bei mir nicht gibt! Als Zwischenmahlzeit erlaube ich nur Kompott und Honigbrot.«

»Aber Madame Éva hat heute Morgen extra für sie diesen Schokoaufstrich gekauft.«

Mist! Das war das Problem im Urlaub: Es war schier unmöglich, seinen Erziehungsprinzipien treu zu bleiben. Die anderen wollten einfach nicht verstehen, dass sie sich da gefälligst nicht einzumischen hatten. Schokocreme! Ihre Mädchen würden niemals dick werden, auf gar keinen Fall! Nicht so ein Pummel, wie sie als Kind gewesen war. Wie hatte ihre in jeder Hinsicht perfekte Mutter Catherine sie gequält und ihr die Zukunft in den düstersten Farben ausgemalt, wenn es ihr nicht gelänge, diesen unförmigen Körper in den Griff zu kriegen, für den sie sich schämte. Bei anständigen Leuten ist man nicht dick. Man isst bei Tisch, ordentlich gekleidet, die Kinder reden nicht beim Essen, und die Mädchen sind hübsch. Bei der Erinnerung an diese dunklen Jahre schüttelte Lucie ihre elegante, perfekt gekämmte Frisur, spannte die Bauchmuskeln an, band sich einen hübschen, zum Bikini passenden Pareo um, wölbte ihre für eine astronomische Summe neu modellierten Brüste heraus und ging hinunter, um das teuflische Schokozeug aus dem Feriendomizil zu verbannen.


»Und dann hat eure Mutter dem Mann die ganze Schüssel über den Kopf gestülpt, das hättet ihr mal sehen sollen!«

»Nein! Unsere Mutter? Mit Tomatensauce und allem?«

»Genau! Und Hackfleisch! Sodass der Inhalt überall runtergetropft ist, auf seine Haare, auf sein Hemd. Alle haben ihn angestarrt.«

»Igitt!«, kreischten Charlotte und Marguerite ganz außer sich, gefesselt von Évas Geschichten, von denen sie immer zu viele erzählte.

Sie wird sich noch umgucken, dachte Lucie, wenn ihr Sohn mal groß ist. Es gibt Anekdoten für alle Altersstufen.

»Was erzählst du ihnen denn jetzt schon wieder für dummes Zeug?«

»Mama!«

Die beiden Mädchen, zart gebräunt und beide in der gleichen eleganten Rüschenbluse, klatschten in die Hände bei der Ankunft ihrer Mutter, die sie sichtlich anhimmelten – genau wie Lucie Catherine angebetet hatte, die autoritäre Matriarchin, die sie im Übrigen an diesem Abend besuchen kommen würde. Sie zitterte bereits wie ein kleines Mädchen bei der Vorstellung an dieses seltsame Wiedersehen unter ungewohnten Umständen. Sie würden ausnahmsweise einmal unter sich sein anstatt in großer Runde an einem Tisch mit mehr oder weniger bekannten Gästen, die kaum etwas gemeinsam hatten außer ihrem finanziellen Wohlstand.

»Allez hopp, in den Mülleimer mit dem süßen Zeug!«

»Oh nein, Mama! Bitte nicht! Éva hat es uns mitgebracht!«, flehte Marguerite mit schokoverschmiertem Mund.

»Wir sind im Urlaub, Lucie. Da können sie sich doch ruhig mal was gönnen«, entgegnete Éva, die dabei war, eine dicke Scheibe Brot mit der teuflischen Substanz zu bestreichen.

Also ehrlich, in ihrem Alter und mit dieser dicken Wampe, die ihr heute Morgen auf dem Markt einige gerührte Glückwünsche der Händler eingetragen hatte, sollte sie sich lieber etwas zusammenreißen, sagte sich Lucie.

»Ich verstehe nicht, was Urlaub damit zu tun hat, sich mit Palmöl, Zucker und Fett vollzustopfen. Das lagert sich bei den Mädchen auf den Hüften ab und geht nie wieder weg. Und was dich angeht, meine Liebe, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf …«

»Nein, darfst du nicht.«

Éva sah sie mit einem festen Blick an, der unmissverständlich verriet, dass sie ihre Figur, so unmöglich sie momentan sein mochte, überhaupt nicht interessierte. Sie war durch und durch glücklich. Zum ersten Mal seit langer Zeit kam es für sie nicht infrage, dass sie sich auch nur im Mindesten dieses berückende Gefühl der inneren Ruhe verderben lassen würde, das sie jeden Morgen erfüllte, wenn sie allmählich aus ihrem – wenn auch oft unterbrochenen – Schlaf erwachte und über die Veränderungen in ihrem Leben nachdachte: ihre Trennung von Vincent und ihre wunderbare Begegnung mit Jacques, diesem Mann, der so unverhofft ihren Weg gekreuzt hatte und den sie inzwischen so sehr liebte, dass ihr schon diese wenigen Tage der erzwungenen Trennung fast den Atem raubten. Sein Duft, seine mit hunderten von Sommersprossen gesprenkelte Haut, seine dichten Locken, seine für ihn typische etwas brüchige Stimme … Alles an ihm faszinierte sie. Seine Küsse, seine feurigen Liebeserklärungen, seine mit jedem Mal leidenschaftlicheren Umarmungen. Und dann die Art, wie er sie ansah, als sei sie eine Göttin. Natürlich trug sie immer noch etwas Schwangerschaftsspeck mit sich herum, aber sie hatte sich noch nie so wohl in ihrer Haut gefühlt. Und seit Jef auf die Welt gekommen war, waren mit einem Schlag die vielen leidvollen Monate hinweggefegt, in denen sie auf dieses Kind gewartet hatte, das sich einfach nicht ankündigen wollte.

»Éva! Er weint!«

Na schön, nicht alles war idyllisch, und die ersten Wochen nach der Geburt waren eine größere Herausforderung gewesen, als sie es sich vorgestellt hatte. Alle drei Stunden verlangte der Kleine seine Milch, manchmal noch viel öfter, und nachts wachte er in vollkommen unregelmäßigen Abständen auf, was sich bisher immer noch nicht gebessert hatte. Dabei hatte er inzwischen das magische Alter von drei Monaten erreicht, in dem sich angeblich alles einrenken würde, wie ihr ihre Freundinnen, der Gynäkologe, die Frau von der Rückbildungsgymnastik und all die anderen wohlmeinenden Menschen versprochen hatten, die sie ungefragt mit ihren Ratschlägen bombardierten. Denn falls Éva geglaubt hatte, dass sie nach Jefs Geburt endlich diese aufdringlichen Besserwisser los gewesen wäre, die zu allem ihren Senf gaben – ihr als Person, ihrer Figur und dem werdenden Kind –, so hatte sie sich getäuscht. Ganz im Gegenteil: Stillen Sie? Ach, Sie geben auch Fläschchen? Warum? Muttermilch ist doch das Beste für ihn. Unersetzlich. Haben Sie etwa Angst, Ihren Busen zu ruinieren? Ach, diese modernen Frauen, die denken eher an ihre Figur als an das Wohlergehen ihrer Kinder. Na ja, jeder, wie er will. Sie lassen ihn schreien? Das ist nicht gut, wissen Sie. Das frustriert ihn. Das macht ihm Angst. Und bloß nie auf den Bauch legen! Man muss die Babys auf den Rücken legen! Was, du legst ihn auf den Rücken? Also, zu meiner Zeit … Mehr als einmal hätte Éva nicht übel Lust gehabt, diesen wohlmeinenden Plagegeistern eine Kackwindel ins Gesicht zu werfen. Jede Mutter machte doch alles, so gut sie es konnte, oder nicht? Lucie zum Beispiel, die den Schlüssel zu einer perfekten Erziehung in der Hand zu halten schien. Ihre Mädchen sagten Guten Tag und Auf Wiedersehen zu den Erwachsenen, gingen ohne Fisimatenten pünktlich zu Bett und erschienen ohne Murren zu ihren zahllosen Kursen im Schwimmen, Tennis, Tanzen oder Chinesisch. Doch erzog Lucie ihre Sprösslinge besser als Mathilde? Wer konnte mit Sicherheit behaupten, dass diese Paradepferdchen ausgeglichener waren als Théo und Martin, die ganze Vormittage lang Süßigkeiten vor dem Fernseher futterten und sich mit ihrer Mutter fröhliche Kissenschlachten auf dem Ehebett lieferten? Sie gingen ihr wirklich alle auf die Nerven mit ihren Predigten! Also sah Éva weiterhin Lucie tapfer in die Augen, nahm das Glas mit dem Schokoaufstrich, schraubte es zu und marschierte, mit hoch erhobenem Kopf und das Gesicht mit Schokocreme verschmiert, ihrem Schicksal der erschöpften Mutter entgegen.


Madame war mit den Nerven fertig, weil ihre Mutter heute Abend im Feriendomizil vorbeischauen würde und bis dahin alles perfekt sein musste. Ihre Mutter war die Einzige, die Madame Chevreux noch in Angst und Schrecken versetzen konnte. Doch Winnie hatte Verständnis für sie, da sie selbst ihr Handwerk bei Catherine de Magny gelernt hatte, die von ihrem gesamten Personal wegen ihrer übertriebenen Ansprüche gefürchtet wurde. Einmal diskret mit dem Finger über ein vergessenes Regal – ein Reflex, den Madame Magny von ihrer eigenen Mutter übernommen hatte – bedeutete die garantierte Entlassung. Alles musste perfekt sein. Und zu Recht, da Madame und Monsieur die Elite der Gesellschaft empfingen. Es war schließlich undenkbar, einem Minister auf einer fleckigen Tischdecke das Abendessen zu servieren oder ihm zuzumuten, sich auf einem nicht korrekt abgesaugten Sofa niederzulassen. Dennoch, dieses Gebäude in Saint-Tropez, das für Winnie unbekanntes Terrain war, verlangte Herkulesarbeit von ihr. Die Besitzer waren keine anständigen Leute, das sah man dem Haus an. Sie stapelten alte Zeitschriften auf der Treppe, hatten schlecht gefaltete Kleidungsstücke in die Schränke gelegt, obwohl sie die Räumlichkeiten an Madame vermietet hatten, und sie hatten ihren Mietern ein Geschirr zugemutet, das Winnie als minderwertig betrachtete. Nein, eines war sicher, bei diesem Haus hatte sich Madame übers Ohr hauen lassen. Aber Winnie hatte einen Ruf als Hauptangestellte der Familie zu verteidigen, und sie würde der Mutter keine Gelegenheit geben anzunehmen, sie würde diese Stellung nicht mehr verdienen. Daher mistete sie seit dem Morgengrauen dieses Drecknest aus und nahm sich die Freiheit, alles wegzuwerfen, was ihr alt, schmutzig oder von den Besitzern seit vielen Jahren unbenutzt erschien. Daran konnte man die wirklich feinen Leute von Krethi und Plethi unterscheiden. Die konnten noch so aufgebrezelt auf feinen Partys herumstolzieren, es reichte ein Blick in den Wäschekorb, um festzustellen, was das für Ferkel waren. Die gaben ein Vermögen für Abendkleider aus und trugen dafür zwei Tage hintereinander denselben Slip und kümmerten sich nicht um die maroden Stromleitungen ihres Familiensitzes. Aber Winnie hatte sie durchschaut, dank ihrer Bekannten, die in anderen Häusern arbeiteten, oben hui, unten pfui, und auf die konnte sie verzichten. Aus diesem Grund war sie lieber bei der Familie Chevreux, trotz der hohen Arbeitsbelastung, da sich Madame und Monsieur vermehrten wie die Karnickel. Sie hatte jedenfalls vor, dort ihr ganzes Berufsleben zu verbringen, und sie war sich auch nicht zu schade, die Putzfrau zu spielen. Als Hilfe für sie hatte Madame Chevreux ein junges Mädchen engagiert, eine Kinderfrau für die Kleinen, für die eigentlich Winnie im Sommer verantwortlich war. Das junge Ding war zwar nicht frech, aber man konnte auch nicht behaupten, dass sie sich besonders anstrengte, und außerdem hatte sie die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen. Daher teilte sie nicht ihre Pausen mit ihr. Außerdem verbrachte Fanny, das Kindermädchen, ihre Pausen lieber mit dem Handy, verschickte SMS, spielte idiotische Spiele oder chattete mit ihrem Freund. Falls sie nur einen hatte. Gott sei Dank hatte Madame ihr verboten, ihr Handy in Gegenwart der Kinder zu benutzen. Was würde sie für ein Beispiel geben! Und wenn der kleine Jef weinte, wie er es zum Beispiel jetzt gerade tat, gab Fanny vor, ihn nicht zu hören, da in ihrem Arbeitsvertrag kein viertes Kind erwähnt wurde, schon gar nicht ein Baby, um das sie sich einige Tage hätte kümmern sollen. Sie überließ es der armen Éva, sich ganz allein durchzuschlagen. Diese jungen Leute besaßen einfach keine Berufsehre. Man musste sich fragen, ob sie ihren Beruf überhaupt mochten. Also war Winnie ins Zimmer von Jef gegangen, hatte das schreiende tomatenrote Baby in die Arme genommen und es an ihren üppigen Busen gedrückt, genau wie sie es bei Charlotte, Marguerite und dann mit Lou getan hatte, die sie ein bisschen zu sehr verwöhnte, weil es gewiss ihr letztes Baby sein würde – obwohl man es bei Madame nie wissen konnte. Sie hatte dem Säugling in die Augen geschaut, der von diesem fremden Trost beruhigt war, diesen leisen geflüsterten Worten, der frischen Luft, die ihm sanft ins Gesicht gepustet wurde, und hatte sich allmählich beruhigt und unwillkürlich seine schweren Lider wieder geschlossen und mit seinen kleinen Fingern den Zeigefinger dieser Unbekannten umklammert, die schon mit anstrengenderen Kindern fertig geworden war. Ja, Kinderfrau zu sein, das konnte nicht jede aus dem Stegreif.

Durch das Fenster des beengten, zum Kinderzimmer umgewandelten Büros sah Winnie die Mädchen, die fröhlich lachend in den Pool sprangen, während Lucie nebenan unter dem Sonnenschirm lag – sie ließ nie vor achtzehn Uhr Sonne an ihre Haut – auf ihrem Handy herumtippte und entnervte Blicke um sich warf. Was war denn nun schon wieder los? Und diese Fanny, die gähnend in der Ecke saß, was machte die? Hoffentlich schlief der Kleine schnell wieder ein, damit Winnie hinausgehen konnte, bevor sich Madame von dem Stress durch die baldige Ankunft ihrer allmächtigen Mutter überwältigen ließ.

Zart legte sie das Baby wieder in sein Tragekörbchen auf Évas Bett und ließ den Blick über den Nachttisch voller Schnuller, Feuchttücher und zerknüllter Taschentücher wandern. Die Papiere, die darunterlagen, mussten wichtig sein, wie der Briefkopf in auffälligen Lettern verriet: zugelassen bei der Pariser Anwaltskammer. Scheidung. Madame Éva Lopez und Monsieur Vincent Lopez.

»Alles in Ordnung, Winnie?«

Winnie zuckte zusammen und schämte sich, bei diesem Akt der Neugier erwischt worden zu sein wie eine vulgäre Hotelangestellte. Man durfte die Nase nicht in das Leben seiner Arbeitgeber stecken, das gab nur Ärger. Selbst wenn eine Scheidung doch sehr tragisch war mit einem so kleinen Baby.