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Kurzbeschreibung


Das Tor in eine phantastische Welt


Es geschehen seltsame Dinge am Ausgrabungsort des jungen Berliner Archäologen Friedrich. Nicht datierbare Schmuckstücke tauchen auf, und eines Nachts stößt seine Verlobte Gracia auf einen dunklen Fremden, der vor ihren Augen im Wasser verschwindet. Wenig später zieht es auch Gracia in den See, doch sie findet sich nicht am Grund des Sees wieder, sondern in einer fremden Welt voller Magie, Zauber und Gefahr. Während Friedrich in Berlin verzweifelt nach Gracia sucht, wird sie von Kriegern gefangen genommen und vor deren despotischen Herrscher geführt. Als ihr ein mysteriöser Sklave zur Flucht verhilft, beginnt für die junge Frau das Abenteuer ihres Lebens ...

Sabine Wassermann

Das gläserne Tor


Roman

Edel Elements

1

Das Wasser leuchtete, als seien Lampen darin versenkt. Langsam begann das kreisförmige Licht zu pulsieren, es schien im niederprasselnden Regen zu tanzen. Grazia traute ihren Augen nicht. Ein Licht in der Havel? Sie reckte den Kopf, um über das Schilf hinwegzublicken. Vielleicht spiegelte sich etwas von der gegenüberliegenden Seite? Aber dort erstreckte sich nur der dicht bewachsene Ufersaum.

»Friedrich?«

Sie drehte sich nach ihrem Verlobten um. Auf der kleinen Lichtung, zwischen Kiefern und Eichen, sah sie ihn bei der Grube stehen, gemeinsam mit dem Meier, der sie vorgestern ausgehoben hatte, als er zufällig auf einen menschlichen Knochen gestoßen war – und dabei möglicherweise einen der erstaunlichsten Funde in der Geschichte der Archäologie gemacht hatte. Die beiden Männer wirkten gehetzt, während sie sich im Wind plagten, eine Plane über die Grube zu breiten, damit möglichst wenig Wasser eindrang. Regen konnte so viel zunichte machen! Grazia biss sich ungeduldig auf die Lippe. Es war kein guter Augenblick, Friedrich zu stören.

Sie beschloss, der Sache allein auf den Grund zu gehen. Also rückte sie nach einem Blick in den steingrauen Himmel ihren Schirm zurecht und machte sich auf den Weg zum Ufer. Ihre Stiefeletten versanken im Schlamm, und sie musste mit einer Hand das knöchellange cremefarbene Kleid raffen. Am Steg, der hinaus auf die Havel führte, blieb sie stehen. Die hölzernen Bohlen waren morsch und glitschig vom Regen. Vorsichtig setzte Grazia einen Fuß vor den anderen. Der Wind riss an ihrem Kleid, peitschte den Regen trotz des Schirms in ihr Gesicht und ließ sie frösteln. Nein, das war zu viel des Guten, am Ende würde sie noch ausrutschen und ins Wasser fallen. Das seltsame Leuchten war immer noch da, dicht neben dem Steg, doch schwächer als eben noch. Großer Gott, was war das? Tatsächlich Lampen? Unter Wasser? Sie wusste ja, dass man jetzt, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, mit elektrischem Licht die unmöglichsten Dinge anstellen konnte, gar die Nacht zum Tage machen. Sogar der Kronleuchter im Salon ihrer Eltern war ans Stromnetz angeschlossen. Aber Glühlampen im Wasser? Oder was mochte es sonst sein? Die Insel war voller wunderlicher Geschichten. Einst hatte hier ein Glasgießer im Auftrag des Großen Kurfürsten geheime Experimente durchgeführt, wohl auch mit Phosphor. Aber das lag mehr als zweihundert Jahre zurück.

Friedrich musste davon wissen. Sie kehrte zur Grabungsstätte zurück, wo die Männer Steine auf die Ränder der Ölplane legten. »Friedrich!«, rief sie gegen den Regen an. »Bitte komm, ich muss dir etwas zeigen!«

Ungeduldig winkte er ab, als habe er sie nicht richtig gehört. »Wir sind hier für heute fertig. Bei diesem Mistwetter kann man ja nichts machen. Regen ist der Feind des Archäologen, er kann so viele wichtige Spuren zunichte machen.«

Er ärgerte sich, das wusste sie. Kaum hatte der alte Meier, der auf der Insel wohnte, das Erdgrab entdeckt, hatte es nach all den sonnigen Spätsommerwochen angefangen, Schusterjungen zu regnen. Heute hatte Grazia ihren Verlobten begleitet, um sich die Grube anzusehen, aber kaum waren sie von der Fähre gestiegen, war wieder der schönste Wolkenguss im Gange. Friedrich warf einen ärgerlichen Blick zum Himmel. Dann zu ihr.

»Geh zum Fährhaus, du wirst dich noch erkälten. Ich komme gleich nach.«

Grazia wollte protestieren. Aber vielleicht war das Licht ja gar nicht mehr da? Oder sie hatte sich getäuscht? Besser, sie sah selbst noch einmal nach; nicht, dass sie ihn noch mehr verärgerte, weil sie ihn zum Ufer lockte, wo es nichts zu sehen gab. Sie lief zum Steg zurück. Das Licht war fort. Nein, ganz leicht schimmerte das Wasser noch. Eilig setzte sie einen Fuß auf das morsche Holz, um einen letzten Blick zu erhaschen, bevor es möglicherweise ganz schwand. Doch dann hielt sie inne.

Auf dem Steg lag ein Mann. Und er war nackt.

Unwillkürlich kniff sie die Augen zu. Dann sah sie wieder hin, weil sie es nicht glauben konnte. Er presste seine Hand auf den Brustkorb, der sich heftig hob und senkte. Ein Havelfischer, der sein Boot verloren und dann im Wasser die Kleider ausgezogen hatte? Grazia warf einen raschen Blick zurück. Von Friedrich war nichts zu sehen. Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte sich doch unmöglich einem nackten Mann nähern? Aber er schien in Not zu sein, vollkommen erschöpft, also schritt sie allein über den Steg. Am Ende angelangt, hoffte sie, dass Friedrich nicht kam. Was würde er denken, wenn er sah, wie sie sich zu dem Fremden hinabbeugte? Noch nie hatte sie einen nackten Mann leibhaftig vor Augen gehabt. Zögerlich ließ sie den Blick über seinen Körper gleiten und streckte die Hand aus. Sie wollte ihn an der Schulter berühren, nur ganz leicht, und fragen, wer er war und was ihn plagte.

Kaum trafen ihre Fingerspitzen auf seine Haut, schlug ihr ein gewaltiger Wasserschwall ins Gesicht. Vor Schreck ließ sie den Schirm fallen und fuhr hoch.

Nach Luft schnappend wischte sie sich über die Augen. Als sie wieder sehen konnte, war der Mann fort, offenbar in Windeseile zurück in die Havel gesprungen. Grazia zupfte an ihrem nassen Kleid und blickte ins Wasser. Nur wenige Meter entfernt pulsierte unvermindert, wenn auch schwach, das Licht.

Die Sache war ihr längst nicht mehr geheuer. Sie wollte zum Ufer zurück, drehte sich um – und erstarrte. Der Fremde stand unmittelbar vor ihr.

Sie schluckte. Er war mehr als zwei Meter groß und vollkommen wie Apoll. Das braune Haar verlor sich hinter seinen Schultern. Sein Blick bohrte sich beinahe schmerzhaft in ihren Kopf. Diese Augen! Silbern glänzende Regenbogenhäute – so etwas gab es? Sie drehte sich weg, nestelte an ihrem durchnässten Hut und räusperte sich.

»Würden Sie mich bitte ans Ufer lassen?«

Verstand er sie überhaupt? Er sah nicht so aus, als sei er aus dieser Gegend. Eher wirkte er südländisch, mit seinem dunklen Haar und der sonnengebräunten Haut.

»Wer sind Sie?«, fragte sie und wagte dabei einen zögerlichen Blick, jedoch vermied sie es, tiefer als bis zu seiner Taille zu schauen. Was für eine entsetzliche Situation. Schlimmer noch, sie verspürte den Wunsch, ihn zu berühren. Das durfte nicht sein. Aber vielleicht löste er sich ja wieder auf, diesmal endgültig, wenn sie es tat? Als spüre er ihre Verwirrung, streckte er eine Hand aus. Langsam trat sie näher, betete darum, dass niemand sie sah, und berührte seine Hand. Diesmal geschah nichts. Der Fremde schien den Atem anzuhalten und schloss die Augen, als sei er erschöpft. Das Regenwasser perlte von seinen Wimpern, lief an seinen Wangen herunter und aus seinen durchnässten Haarsträhnen.

Er war schön.

Und er hatte Angst.

Fast vergaß sie, dass sie an ihm vorbeiwollte. Seine Lider hoben sich ein wenig, sein Blick, der wieder auf ihr lag, wurde starr. Sie wollte ihm die Hand entziehen. Mit einem Satz war er bei ihr, packte ihre Schultern. Rücklings drückte er sie auf den Steg und warf sich auf sie. Entsetzt versuchte sie sich gegen ihn zu stemmen, aber er war schwer, und bevor sie schreien konnte, hatte er seine Lippen auf ihre gepresst.

Wasser ergoss sich in ihre Kehle. Die weit aufgerissenen – und immer noch ängstlichen – Silberaugen dicht vor den ihren, begann er Unmengen von Wasser in sie hineinzupumpen. Sie glaubte zu ersticken, versuchte zu schlucken, doch es war so viel, dass sie einfach nur den Mund aufsperren konnte. Das Wasser durchflutete ihren ganzen Körper und floss aus ihrem Unterleib. Sie hing in den Armen des Fremden, der sie aus sich heraus mit Wasser füllte, und fühlte sich dennoch nicht bedroht, nur grenzenlos verwundert. Irgendwann schloss sie die Augen, bereit, in dieser Umarmung zu ertrinken. Da hörte es auf. Sie spuckte, schluckte ein letztes Mal und sah auf.

Er stand über ihr. Sein Kopf war leicht vorgebeugt, die Brauen gerunzelt. Schuldbewusst sah er sie an. Ich wollte dich nicht erschrecken, schien er sagen zu wollen. Aber es war notwendig.

Mit einer Hand an der geschwollenen Kehle, die andere das besudelte Kleid raffend, stemmte sie sich hoch. »Warum?«, flüsterte sie. Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie zuckte nicht zurück, als er ihre Wange berührte, mit einer Zärtlichkeit, die sie nicht erwartet hätte. Nicht nach dem, was er mit ihr getan hatte.

Es war notwendig ...

Waren es seine Gedanken, die ihr da durch den Kopf gingen? Oder deutete sie nur seinen Blick?

Verzeih mir.

Warum? Er hatte sie nicht verletzt, nur zu Tode erschreckt. Jäh wandelte sich sein Blick. Die schönen Züge verzerrten sich vor Furcht. Er warf den Kopf zurück, als fahre ihm schmerzhaft etwas in den Körper, und verwandelte sich in Wasser, das nach allen Seiten stob und sie erneut überschüttete. Sie riss die Hände hoch; zwischen den gespreizten Fingern sah sie ihn menschlich werden und dann zu Wasser, wieder und wieder, bis sie es nicht mehr ertrug und das Gesicht bedeckte.

Er schrie in ihrem Kopf. Keuchend nahm sie die Hände fort. Und sah nur noch seine Finger, die sich an die Kante des Stegs klammerten, so fest, dass Holzsplitter herausbrachen. Ohne nachzudenken, warf sie sich nach vorn und versuchte seine Hände zu greifen. Das leuchtende Wasser umspülte seine Schultern, das Licht pulsierte stärker als zuvor und schien an ihm zu zerren. Blankes Entsetzen stand in seinen Augen, der Regen prasselte auf sein Gesicht. Sie umklammerte seine Handgelenke, wohl wissend, dass sie nichts gegen das ausrichten konnte, was ihn in die Tiefe zog.

Verzeih mir!

Seine Finger lösten sich vom Steg, glitten durch ihre Hände. Er versank im Wasser.

Das Licht erlosch. Es blieb nur ein kaum wahrnehmbarer Schimmer.

»So schnell wird man durch einen Grabfund nicht zu einem zweiten Schliemann, und die Pfaueninsel ist nicht Troja. Eine kleine Sensation haben wir hier allerdings.«

Die kraftvolle Stimme ihres Vaters, die durch das geöffnete Fenster drang, schreckte Grazia aus dem Schlaf. Sie warf einen Blick zum Wecker, der auf dem Nachttisch stand. Fünfzehn Uhr! Abrupt setzte sie sich auf und warf die Bettdecke zurück. Dann atmete sie tief durch, tapste zum Fenster und lehnte sich hinaus. Auf dem Balkon des Nebenzimmers stand Carl Philipp Zimmermann, ihr Herr Vater, und klappte sein Zigarrenetui auf. Mit Bedacht wählte er eine Zigarre, knipste das Ende ab und warf es hinunter auf die Straße. Als Nächstes holte er aus der Westentasche das Streichholzetui, dessen Inhalt er sich ebenso sorgfältig widmete. Derweil lehnte Friedrich am schmiedeeisernen Geländer und strich sich zufrieden lächelnd den Schnurrbart glatt. Er sah gut aus mit seinem dunkelblonden Haar und den kräftigen Schultern, aber fremd war ihr der zehn Jahre ältere Mann immer noch, obwohl er ihr schon vor einem Jahr vorgestellt worden war, als Sohn eines befreundeten Professors. Ihr Vater hatte geglaubt, ihr eine Freude zu machen, da er Archäologie studiert hatte. Nicht nur das, Friedrich hatte sogar Heinrich Schliemann kennen gelernt. Er war in dessen Haus in Athen gewesen, wo goldene homerische Verse an den Wänden prangten und die Hausdiener auf die Namen von Sagengestalten hörten. So etwas wollte sie auch: einen Mann, der verrückt genug war, einen ganzen Salon mit einem Mosaik auslegen zu lassen, das den Zweikampf zwischen Achilleus und Hektor zeigte. Einer, der sie bei seiner Arbeit um sich haben wollte, so wie Schliemann seine Sophia. Der ihr beim Frühstück zuhörte, wenn sie aus dem erstmals übersetzten Gilgamesch-Epos vorlas. Oder aus den eher trockenen Schriften ihres Vaters. Die Gelehrtentochter würde einen Gelehrten ehelichen und stets Verständnis für das aufbringen, was er tat. Eine ideale Verbindung, mit der beide glücklich sein sollten.

»Eine kleine Sensation?«, rief Friedrich. »Sie könnte eine große werden, je nachdem, was die Gegend um das Grab noch birgt! Bisher wissen wir ja wenig. Das Grab könnte Teil einer größeren Siedlung sein.«

»Einer havelländischen Hochkultur?« Ihr Vater wiegte zweifelnd den Kopf. »Genauso gut könnte es von Reisenden aus dem Schwarzmeergebiet angelegt worden sein.«

»Mit Verlaub, ich halte das Grab nicht für skythisch. Wie auch immer, was es zu finden gibt, will ich finden, und wenn ich die halbe Insel auf den Kopf stellen muss.«

»Bei allem wohlwollenden Interesse der Öffentlichkeit für Geschichte, dafür bekommen Sie keine Genehmigung. Die Pfaueninsel kann man nicht auf den Kopf stellen.«

Die buschigen Brauen des Vaters hatten sich streng zusammengeschoben. Grazia lächelte in sich hinein. Als klassischer Philologe war er eben ein Mann der Bücher, nicht der Hacken, Spaten und Pinsel. Gern wäre sie auf der Stelle hinübergelaufen, um ihm die Stirn glatt zu küssen. Ihre Blicke trafen sich, und bevor er ärgerlich werden konnte, dass sie im Nachthemd an ihrem Fenster stand, wich sie ins Zimmer zurück, wo es an der Tür klopfte. Ihr kleiner Bruder stürzte herein und blieb wie angewurzelt stehen, als besinne er sich jetzt erst darauf, dass man nicht in das Zimmer einer Dame stürmte.

»Justus!«, tadelte sie ihn und sank zurück aufs Bett. »Was ist denn?«

»Ich hab’s gesehen!« Er trat zu ihr und flüsterte aufgeregt: »Was der Friedrich in seinem Kasten hat.«

»Für dich Herr Mittenzwey. Von welchem Kasten redest du?«

»Ach, das kannst du ja gar nicht wissen. Also, der Herr Mittenzwey hat ihn vorhin gebracht, um ihn Papa zu zeigen. Da drin hat’s geblitzt und geblinkt, so was hast du noch nicht gesehen. Wie geht’s dir eigentlich?«

»Gut.«

»Siehst aber nicht so aus.«

Sie blinzelte in das Spiegelbild über ihrer Frisierkommode: ein vom Schlaf aufgequollenes Gesicht, über und über mit Sommersprossen übersät, die es jetzt zu dieser Jahreszeit besonders schlimm trieben. Darum herum eine Korona flammend roten Haares, lockig, zerzaust und sich gegen jedes Bemühen, es in Form zu bringen, zur Wehr setzend. Der Zopf, in den Grazia es zu bändigen versucht hatte, war schon wieder halb aufgelöst. Schrecklich.

»Hau ab, du Lausejunge.«

Der zehnjährige Bengel grinste von einem Ohr zum andern und rannte wieder hinaus. Grazia rieb sich die Augen. Vor drei Tagen hatte Friedrich sie vollkommen durchnässt auf dem Steg gefunden und nach Hause gebracht, hier in die Stadtwohnung ihrer Eltern. Soweit sie wusste, hatte er seitdem weiter am Grab gearbeitet, während sie in ihrem Zimmer lag, umsorgt von den Eltern, dem Bruder, dem Dienstmädchen. Sogar ein Arzt war gekommen, hatte sie untersucht und nichts festgestellt. Sie fühlte sich nicht krank, auch nicht im Kopf, wenngleich ihre Erzählung verrückt geklungen hatte. Der Arzt hatte die Vermutung geäußert, sie sei ausgerutscht und in den Fluss gefallen. Und obwohl sie nicht schwimmen konnte, hatte sie es irgendwie wieder zurück auf den Steg geschafft. Die Meinung ihrer Mutter war, dass sie das Ganze vergessen sollte.

Den Fremden vergessen? Grazia sah ihn vor sich. Die seidig glänzenden Haare. Der Blick, der sie an sich gezogen hatte. Sein Körper. So vollkommen. Als sei er gar kein Mensch, sondern das fleischgewordene Idealbild eines Menschen.

Sie läutete das Glöckchen auf ihrem Nachttisch. Im Salon hörte sie die Mutter, wie sie Justus zurechtwies, die Nase nicht zu dicht an den Kasten zu halten. Erneut klopfte es, diesmal verhaltener. Das Dienstmädchen kam herein, ein Tablett mit Tee, Honig und zwei gebutterten Stullen in der Hand. »Guten Morgen, Fräulein Grazia! Wie geht es Ihnen heute?«

Grazia seufzte. Anfangs hatte sie es ja noch angenehm gefunden, den Tag im Bett zu verbringen, aber jetzt hatte sie wirklich genug davon. »Gut, Adele, wirklich. Bitte bring mir Waschwasser, ich will aufstehen. Mir tun vom ewigen Herumliegen ja schon die Knochen weh.«

»Ob das Ihrer Frau Mutter gefällt?« Adele stellte das Tablett auf dem Nachttisch ab und sah Grazia prüfend an. »Ein bisschen frische Luft täte Ihnen sicher gut. Außerdem haben die Herren im Salon ... Also, das müssen Sie sich ansehen!«

Jetzt war Grazia wirklich neugierig, was Friedrich so Wundersames in seinem Kästchen hatte. Sie wartete, bis Adele die Waschschüssel gefüllt hatte, entledigte sich ihres Nachthemds und wusch sich mit dem lauwarmen Wasser. Rasch schlüpfte sie in ihren Unterrock, nahm das Korsett vom Stuhl und rief Adele herein, die vor der Tür gewartet hatte, damit sie ihr beim Schnüren half. »Mach hinne, Adele«, trieb sie das Mädchen an. »Bald ist Kaffeezeit, und dann muss ich ewig warten.«

»Keine Sorge«, erwiderte Adele gut gelaunt. »Ihr Herr Vater hat gesagt, dass er seinen Nachmittagskaffee heute später möchte. Er hat einen Photographen bestellt. Wahrscheinlich wegen dieses Fundstücks.«

Ein Grabfund! Grazia ließ sich in die Kleider helfen, schlüpfte in die Pantoffeln und eilte hinüber in den Salon, wo sich ihr Vater und Friedrich inzwischen in den Sesseln vor der Bibliothek niedergelassen hatten. Auf dem Teetisch lag ein glänzendes Mahagonikästchen, das in der Tat geheimnisvoll aussah. Der Vater, der soeben seine Taschenuhr zuklappte und in die Westentasche steckte, sah auf.

»Wo bleibt nur der Photograph? Kindchen, lass nicht deine Mutter sehen, dass du mit zerzausten Haaren herumläufst. Was soll denn Friedrich denken, hm?«

»Ich denke, dass sie aussieht wie Daphne, die vor Apoll flieht«, murmelte Friedrich, der sich erhob und einen Diener machte. »Wäre ich ein Maler, würde mir dieses Motiv jedenfalls vorschweben. Guten Tag, Grazia.«

»Guten Tag, Friedrich.« Das Kompliment war steif geäußert, dennoch errötete sie. Er konnte ja nicht ahnen, wie sehr er die Wirklichkeit damit getroffen hatte. Sie trat an den Tisch, streckte die Hand vor und ließ sie sich küssen, wobei sie den Kasten beäugte. Friedrich schob ihr den Sessel zurecht, während sie sich setzte. Schon wollte sie nach dem Kasten greifen, da kam Adele mit dem Tablett. Schnell nahm Friedrich ihn an sich, als das Dienstmädchen Anstalten machte, sich mit dem Ellbogen Platz zu verschaffen.

Grazia griff nach dem Honigtöpfchen und betupfte ungeduldig eine Brotscheibe. Derweil setzte sich Friedrich an die andere Seite des Tisches und legte den Kasten auf die Knie.

»Bitte lass mich doch hineinsehen«, drängte sie ihn, aber er schien entschlossen, sie warten zu lassen, bis sie gegessen hatte.

»Kind, iss anständig!«, ermahnte sie ihr Vater. Errötend zupfte sie ein Haar vom Brot, das sich im Honig verfangen hatte, und versuchte es von der Hand zu schütteln. Er hielt die Hände vor dem Bauch verschränkt, über dem sich deutlich die Weste spannte, und musterte sie wohlwollend. Dann nahm er wieder sein Zigarrenetui zur Hand und spielte damit herum, während Friedrich auf ihre Hände starrte. Sie machte eine Faust, damit er nicht ihre angeknabberten Nägel sah. Hastig spülte sie mit einem Schluck Tee den letzten Bissen hinunter und leckte sich die Finger. Schon wollte sie fragen, ob sie den Inhalt des Kastens endlich sehen durfte, als Justus durch die Balkontür gesprungen kam.

»Der Photograph kommt! Er steigt gerade aus dem Kremser!«

»Dann nichts wie hinunter, Junge, und hilf ihm beim Tragen.« Der Vater nestelte eine Münze aus der Hosentasche und gab sie ihm. »Hier, für den Kutscher.«

Justus’ Wangen glühten vor Aufregung, und auch Friedrich schien vergessen zu haben, dass er Grazia etwas zeigen wollte. Sie neigte sich vor, um bittend seine Hand zu berühren, aber da erschien die Mutter, mahnte den Jungen mit erhobenem Finger, nicht so laut zu sein, und winkte sie zu sich. Grazia wollte protestieren, aber sie wusste schon, das hatte keinen Zweck. Innerlich tief aufseufzend, folgte sie ihrer Mutter zurück in ihr Zimmer.

»So weit kommt es noch, dass dich sogar der Herr Photograph mit offenen Haaren sieht«, sagte die Mutter. »Willst du dich nicht lieber wieder ins Bett legen?«

»Bloß nicht!«

Die Mutter schloss die Tür und schob einen Stuhl vor die Frisierkommode. Ergeben ließ sich Grazia darauf nieder. Draußen hörte sie Schritte und den Photographen, der sich über das anhaltend trübe Wetter beklagte. Die Mutter füllte einen Porzellanbecher mit dem Rest aus dem Waschwasserkrug und drückte ihn Grazia in die Hand.

»Was soll eigentlich Friedrich von dir denken?« Schwungvoll legte sie ihr einen Frisierumhang um die Schultern. »Früher hätte es das nicht gegeben, dass eine Frau so unordentlich vor ihrem Zukünftigen erscheint. Dein Vater ist viel zu nachsichtig mit dir.«

Grazia unterließ es, mit den Schultern zu zucken, und hielt den Becher hoch, damit ihre Mutter den Kamm eintauchen konnte. »Hast du mich je gefragt, was ich über Friedrich denke?«

»Mit achtzehn Jahren kann man noch gar nicht wissen, was man da denken soll. Aber gut! Sprich dich aus.«

»Oh ... nun, er ist nett.« Sie musste überlegen, schließlich hatte ihre Mutter sie noch nie dazu aufgefordert. »Ich mag ihn ja. Aber er ist irgendwie ein bisschen zu streng für meinen Geschmack.«

»Das kommt dir so vor, weil er um einiges älter ist. Das gibt sich mit der Zeit.«

Aus den Augenwinkeln beobachtete Grazia, wie die Tropfen vom Kamm fielen, sobald die Mutter ihn aus dem Wasser nahm. Was sieht er in mir?, fragte sie sich und betrachtete den Verlobungsring an ihrer linken Hand. Wenn er von dem Grab sprach, war Feuer in seinen Augen. Wenn er sie ansah, loderte es auch, aber nicht immer und schon gar nicht so stark.

»Dass sich Braudeute lieben müssen, sind neumodische Flausen«, unterbrach die Mutter ihre Gedanken. »Das kommt von dem ganzen romantischen Schund in den Buchläden. Liebe entsteht mit der Ehe und wächst langsam. Was die jungen Leute heutzutage Liebe nennen, ist doch nur flüchtige Tändelei, die dem Alltag nicht standhält. Sei froh, dass du so einen ernsten und fleißigen Mann bekommst. Obwohl es ja durchaus anspruchsvollere Tätigkeiten gäbe, als in der Erde zu wühlen.«

Der Kamm fiel zurück in den Becher. Nun wurde Grazias Kopf mit Nadeln traktiert. Mit einem starren Blick in den Spiegel wartete sie auf das Ende der Prozedur. Sie fand, dass eine toupierte Stirn und ein Knoten auf dem Hinterkopf mühelos die zehn Jahre überbrücken halfen, die sie von Friedrich trennten. Als die Mutter ihr auf die Schulter klopfte, schrak sie zusammen, stand auf- und schüttete einen Schwall Wasser auf den Boden.

»Kind! Was machst du denn da?«

Grazia starrte nach unten, wo der Kamm in einer Wasserlache lag. Hätte der Becher nicht halb leer sein müssen? Er schien bis zum Rand gefüllt gewesen zu sein, als habe ihre Mutter nie den Kamm eingetaucht. »Verstehe ich nicht«, murmelte sie und wollte ihn aufheben, was in Korsett und Tageskleid nicht einfach war, doch die Mutter nahm ihr den jetzt leeren Becher ab und stellte ihn auf die Frisierkommode.

»Darum soll sich Adele kümmern. Eine Dame bückt sich nicht. Dreh dich um.«

Grazia gehorchte und ließ sich Puder auf die sommersprossige Haut auftragen. Dann durfte sie endlich zurück in den Salon. Hier hatte der Photograph inzwischen seine Apparatur aufgebaut und befestigte an der Rückseite ein schwarzes Tuch. Der Vater und Friedrich saßen immer noch am Teetisch, und immer noch war das Kästchen geschlossen.

»Du wunderst dich sicherlich, dass ich damit nicht einfach ins Photographenatelier gegangen bin«, wandte sich Friedrich an sie.

»Na, mir wundert det ooch«, warf der Photograph ein. »Det Ding wäre leichter zu tragen jewesen wie die janze Ausrüstung. Aber wat ditte kostet, soll mir nich jucken, Herr Mittenzwey.«

Friedrich stand auf und winkte sie herbei. Da war plötzlich wieder das Feuer in seinem Blick, doch Grazia wusste nicht, ob es nun an ihr lag oder jenem ominösen Fund. »Grazia, du kennst gewiss das Bild von Sophia Schliemann, wie sie das Geschmeide aus Troja trägt?«

Das kannte sie natürlich, sie hatte ja Schliemanns Biographie gelesen, darin war die Photographie seiner Frau abgedruckt: eine ernste griechische Schönheit, mit glänzendem Goldschmuck behängt, von dem man nur vermuten konnte, wie er ursprünglich getragen worden war. Erst dann ging ihr auf, was Friedrich da gesagt hatte. »Geschmeide? Du hast ...«

»Ja, ich habe in der Grube Schmuck gefunden. Sieh her.« Er hob den Deckel.

»Donnerlittchen!«, entfuhr es dem Photographen. »Na, nu versteh ick det. So wat kann man nich einfach durch die Jejend schleppen.«

Auf einem schwarzen Samtpolster lag eine Art Kollier. Es bestand aus einer Goldkette, an der dicht an dicht Schnüre hingen, ebenfalls aus Gold. Längliche Perlen aus blau schimmernden Steinen waren an ihnen aufgereiht, unterbrochen von Goldperlen, in die fremdartige Muster eingraviert waren. Die Schnüre endeten in goldenen Tierköpfen. Daneben lag ein kleiner Reif mit zwei geflügelten Wesen, die an Sphingen erinnerten und sich anstarrten. Der Schmuck wirkte schlicht, archaisch und unendlich kostbar.

»Ich hab dir’s doch gesagt!«, triumphierte Justus, der herangelaufen kam und Anstalten machte, sich über das Kästchen zu beugen.

»Justus!« Grazia packte ihn am Matrosenkragen und zog ihn beiseite. »Darf ich es anfassen?«, fragte sie Friedrich mit ehrfürchtiger Stimme.

»Natürlich, du sollst es sogar tragen. Ist es nicht wundervoll? Sieh dir die Steine an. Kannst du dir vorstellen, was das ist?«

»Nein.« Ganz vorsichtig berührte sie die Steine. Sie fühlten sich samtig an. »Es sieht ein wenig nach Lapislazuli aus, es ist aber keiner, oder?«

»Wir wissen nicht, was es ist«, erwiderte der Vater an Friedrichs statt. »Das muss ein Geologe herausfinden. Die Herkunft dieser Kette wird das jedoch auch nicht klären. Stilistisch würde ich den Schmuck ja eher den Skythen zuordnen, aber Herr Mittenzwey sieht das anders.«

»Ich glaube, es handelt sich um ein Fürstinnengrab einer Kultur, die es noch gänzlich neu zu entdecken gilt. Der Schmuck sieht ganz und gar nicht slawisch aus. Skythische Einflüsse hingegen sind durchaus vorhanden.«

»Eine Fürstin?« Das war neu für Grazia.

»Die Knochen stammen zweifelsfrei von einer Frau. Das Geschmeide selbst deutet ja darauf hin. Mehr Kopfzerbrechen bereitet mir das Alter. Wenn ich wüsste, wie die Tote gelegen hat, könnte das ein Hinweis sein, aber leider hatte der Meier sämtliche Knochen schon herausgeholt. Und dann der Regen ...«

»Der Brauch, Dinge mit ins Grab zu geben, ist doch heidnisch? Es müsste also mehr als tausend Jahre alt sein.«

Sein Bart zitterte, als er unwillig die Lippen schürzte. »So einfach ist das nicht.«

Verlegen senkte sie den Blick. Er hatte natürlich recht. Auch christliche Gräber konnten Schmuck aufweisen, denn so leicht hatten alte Völker ihre heidnischen Bräuche nicht vergessen. Vor ihrem inneren Auge sah sie eine Frau in antikem Gewand, die Kette auf der Brust, an den Händen weitere Kleinodien, wie sie durch die Hallen eines Palastes schritt. Welche Kultur mochte sich hinter diesem Fund verbergen? Wie waren diese Menschen dereinst auf die Pfaueninsel gekommen? Hatten sie wirklich dort gelebt? Gab es ein Gräberfeld? Oder hatte ihr Vater recht, und dort war außer diesem einen Grab nichts zu finden? Unendlich viele Fragen warf dieser Schmuck auf, und unendlich viele Träume.

»Grazia, du hörst ja gar nicht zu. Ich sagte, ich sähe dich gerne damit photographiert. Deshalb habe ich den Photographen herbestellt. Dich in sein Atelier zu begeben, wäre dir derzeit nicht zuzumuten. Deinen Vater habe ich schon gefragt. Er erlaubt es.«

Die Mutter schürzte die Lippen. »Damit behängt, wirst du aussehen wie ein Mädchen vom Varieté. Aber gut, dein Vater hat ja offensichtlich nichts dagegen.«

Dieser hob nur die Brauen. Ein wenig ärgerte es Grazia, dass man ihr nicht zutraute, den Weg ins Atelier zurückzulegen. Weder war sie bettlägerig noch unfähig zu laufen. Und gefragt, ob sie sich überhaupt mit diesem Schmuck ablichten lassen wollte, hatte Friedrich sie auch nicht. Ihr war danach zu schmollen.

Aber dann überwog der Stolz, als er ihr das Geschmeide um den Hals legte. Die Perlenschnüre reichten bis zum Ansatz ihrer unter dem weißen Sommerkleid wohlverschnürten Brüste. Ob die Frau, die einstmals Besitzerin dieses Schmucks gewesen war, ihn auf die gleiche Art getragen hatte? Oder ganz anders? Dies würde wohl für immer ein Rätsel bleiben.

An dem Reif hing ein schmales Kettchen. Wofür es gut war, begriff sie erst, als Friedrich es ihr um die Ohrmuschel legte. Der Reif pendelte gegen ihren Hals – uraltes Gold berührte sie, voller Geheimnisse.

»Sie werden hier doch nicht mit diesem schrecklichen Blitzlichtpulver arbeiten?«, wandte sich die Mutter an den Photographen.

»Gnä’ Frau, det jibt bloß harte Schatten, nee, nee. Det Fräulein Tochter möge sich ant Fenster stellen. Wird zwar nich so jut wie in mein Atelier, aber det jeht schon. Wenn Se so freundlich wären und een Betttuch holen täten?«

Sie sog pikiert den Atem ein. »Ein Bettlaken? Du lieber Himmel. Justus, sag Adele, sie soll eins bringen.«

Sofort stob der Junge aus dem Salon. Der Photograph richtete seine Kamera zum Fenster hin aus, wo eine mannshohe Geigenfeige stand. »Det Kolonienjewächs im Hinterjrund sieht schön exotisch aus. Wissense, det ick als Lehrbub noch det Palmenhaus auf der Pfaueninsel abjelichtet hab? Da jab et Pflanzen, die warn viermal so hoch wie det hier.«

»Die Pfaueninsel ist in jeder Hinsicht ein kleines Wunder«, sagte Friedrich und nahm Adele, die herangelaufen kam, das Laken aus der Hand. Der Photograph wies Friedrich an, sich gegenüber dem Fenster hinzustellen und das Laken hochzuhalten. Grazia lehnte sich ans Fensterbrett, legte eine Hand darauf und ließ die andere herabhängen. In diesem Moment kam sie sich sehr mondän vor, und mit jeder Aufnahme wurde sie mutiger, bis sie gar mit halb geschlossenen Lidern aus dem Fenster blickte, während sie die Brust herausdrückte und den Rock mit beiden Händen raffte, sodass ihre Fesseln hervorblitzten. Gut nur, dachte sie, dass das Laken mich vor Mutters Blick schützt. Ob diese Photographien auch in einem Buch erscheinen würden? Oder in einer Zeitschrift? Das hielt sie für unwahrscheinlich, dennoch genoss sie die Aufmerksamkeit. In diesem Augenblick fühlte sie sich schön.

Schließlich nahm der Photograph das Tuch ab und verstaute Kamera, Stativ und die belichteten Magazine in seinen Koffern.

»Na, so een hübschet Motiv möchte man öfter vor de Linse kriejen. Da werd ick mir jleich dransetzen und de Bilder entwickeln, Herr Mittenzwey. Werte Damen?« Er schlug die Hacken zusammen, machte einen Diener und setzte schwungvoll die Mütze auf. Der Salon leerte sich, als die Eltern ihn hinausbegleiteten und Justus und Adele anwiesen, beim Tragen zu helfen. Friedrich ging zu Grazia, um ihr den Schmuck abzunehmen. Seine warmen Finger nestelten lange in ihrem Nacken, bis es ihm gelang, den Haken zu öffnen.

»Morgen sehe ich auf der Insel nach dem Rechten.« Sorgfältig verstaute er das Collier in seinem Kasten. »Eventuell ist der Boden ja wieder etwas abgetrocknet und ich finde das Gegenstück hierzu.« Er nahm ihr den Ohrring ab und legte ihn dazu.

»Darf ich mit?«

»Nein, mein Fräulein. Du brauchst noch Ruhe.«

»Ach, Friedrich. Es geht mir gut. Ich möchte doch so gerne wissen, wie das Grab inzwischen aussieht.«

»Nein.«

»Aber ich ...«

»Nein.« Hart schlug er den Deckel herunter. Die plötzliche Strenge in seiner Stimme überraschte sie. »Ich will nicht, dass so etwas ... so etwas Skandalöses noch einmal passiert. Meine Braut, durchnässt am See liegend und von einem nackten Mann plappernd! Du kannst Gott dafür danken, dass keine Ausflügler in der Nähe waren. Sie hätten sich die Mäuler zerrissen!«

Sie schluckte. »Das stimmt wohl, aber es war doch nicht meine Schuld. Es ist ja auch gar nicht nötig, dass ich ans Ufer gehe. Du hattest doch bisher nichts dagegen, wenn ich deiner Arbeit zusah?«

»Dich aufs Betteln zu verlegen, wird dir nichts nützen. Und diskutieren will ich mit dir auch nicht.«

»Heißt das, ich darf gar nicht mehr zur Ausgrabungsstätte?«

Mit verkniffener Miene wandte er sich ihr wieder zu. »Vorerst nicht. Ich möchte, dass du das akzeptierst. Und bitte, Grazia ...«

»Ja?«

»Versuch nicht, deinen Vater zu beschwatzen, dass er mich umstimmt. Du würdest damit meine Autorität untergraben. Versprich mir das.«

Sie schluckte wieder. So ein Gnatzkopp, dachte sie. Wollte er wirklich, dass sie als ordentliche Tochter und Braut ihren Platz ausschließlich zu Hause einnahm und nicht dort draußen bei seiner Arbeit? Tränen traten ihr in die Augen. Nicht wegen seines strengen Auftretens, sondern weil sie plötzlich befürchtete, dass er das immer von ihr verlangen würde. Ihr Vater war wirklich zu nachsichtig mit ihr gewesen, sonst würde sie nicht anders als ihre Mutter darüber denken.

»Ist gut«, presste sie heraus.

»Schön, das freut mich. Setz dich ein wenig an die frische Luft. Das tut dir gut.« Er schenkte ihr ein Lächeln, das wohl versöhnlich wirken sollte, und gesellte sich zu ihrem Vater. Dieser steuerte seinen Sessel vor der Bibliothek an, um endlich seinen Nachmittagskaffee einzunehmen. Da die beiden Männer sicherlich keinen Wert auf ihre Gesellschaft legten, setzte sich Grazia auf den Balkon. Sie bemerkte kaum, wie Adele eine Karaffe mit Wasser brachte, ein Kristallglas füllte und es ihr in die Hand drückte. Ihre Gedanken kehrten zur Insel zurück, die ihr jetzt verwehrt war. Zurück zu dem geheimnisvollen Mann. Nie würde sie erfahren, wer er gewesen war – wenn er wahrhaftig existiert hatte.

Als sie das Glas abstellte, bemerkte sie, dass es noch bis zum Rand gefüllt war. Aber sie hatte davon getrunken. Sie war sich sicher, es fast leer getrunken zu haben.

Gott, was ist Glück!
Eine Grießsuppe, eine Schlafstelle und keine körperlichen Schmerzen, das ist schon viel.

Theodor Fontane

Ihr Götter, was ist Glück!
Der Mann geht dorthin, wo es stürmt; die Frau begleitet ihn.
Den Atem dazu, mehr braucht es nicht.

Argadische Weisheit

DER ERSTE KRIEGER

DER LETZTE GOTT

1

Grazias Lunge schrie nach Luft. Ihre Hände reckten sich nach oben. Friedrichs Arm lag noch immer um ihre Taille. Doch sie sah ihn nicht, sie sah nichts als das kleine helle Rund weit oben – so weit entfernt. Sie presste die Augen zusammen und konzentrierte sich nur noch darauf, es zu ertragen. Ihre Finger glitten durch Wasserpflanzen.

Dann ein Windhauch. Grazia warf den Kopf zurück und sog rasselnd die kalte Berliner Luft ein.

»Weg! Weg von dem Licht, bevor es uns wieder hinunterzieht!«, schrie Friedrich neben ihr. Er stieß sie nach vorn, hin zum Steg. Fast blind tastete sie nach der Kante. Mehr konnte sie nicht tun, es war genug; die Anstrengung der Flucht machte sich bemerkbar. Der Steg knarrte, als Friedrich sich hochwuchtete. Er brauchte ewig, sie hinaufzuziehen. Ihre vollgesogenen Kleider waren wie Gewichte an ihren Füßen. Dann war es geschafft, sie lag auf dem Steg.

»Bist du in Ordnung?«

Ihre Zähne schlugen aufeinander, so sehr fror sie. Nur langsam gelang es ihr, die Umgebung genauer zu betrachten. Das Holz unter ihr fühlte sich vertraut an, auch die Eichen, die über ihr rauschten, erkannte sie wieder. Friedrich, der neben ihr kniete, wischte sich das Wasser aus dem Bart und sah sich um.

»Scheint so, als hätten wir Glück gehabt. Die Frage ist nur, welche Zeit haben wir jetzt?«

Seine Worte brachten Grazia zur Besinnung. Die Furcht, sie könnten weit abseits ihrer Zeit zurückgekehrt sein, ließ sie alles andere für den Moment vergessen. »Das Grab! Schau nach, ob das Grab da ist.«

Er stand auf und zog sie auf die Füße. Vorsichtig tasteten sie sich über die morschen Planken. Sobald sie festen Boden unter sich hatten, ließ er sie los und rannte durchs Schilf. »Es ist da!«, hörte sie ihn rufen. Erleichtert atmete sie auf und stapfte schweren Schrittes über das Gras.

Die Hände in den Seiten, stand Friedrich an der Grube. Nichts hatte sich verändert. Da war die Plane, da waren die Steine, die sie beschwerten. Er stieg über die Umzäunung, schob ein paar Steine beiseite und hob die Plane an. »Sieht unverändert aus. Wäre viel Zeit vergangen, hätte man es wenigstens mit Brettern abgedeckt.«

»Bitte, Friedrich, lass es gut sein. Es war Anschars Mutter.«

Er stutzte, nickte und verteilte wieder die Plane auf dem Rand. »Du hast recht. Das hier ist leider keine archäologische Sensation. Das Grab ist siebzehn Jahre alt. Oder sind es zweiundzwanzig? Was soll ich mit diesem Wissen jetzt anfangen? Ich bin gespannt, was dein Vater dazu meint. Aber wird er das alles überhaupt glauben?«

»Weiß ich nicht.« Ihr war nach Herumjammern zumute. Sie presste die Tasche an sich, aus der es troff. »Mir ist kalt. Ich will nach Hause!«

Friedrich nahm sie an die Hand. Schlotternd und zähneklappernd hastete sie neben ihm her. Für die Insel hatte sie keinen Blick. Das, was sie sah, kam ihr fremd vor. Die Wege, die welken Rosenbüsche, die Schlossruine, selbst der Geruch. Die Sonne schien, aber das Licht war irgendwie anders. Und es war kalt, viel kälter als bei ihrem Aufbruch. Oder kam ihr das nach einem Jahr Hitze, die ihr schier den Schweiß aus allen Poren getrieben und die sie oft verwünscht hatte, nur so vor?

Sie begegneten ein paar Spaziergängern, die sie verdutzt anstarrten. Am Fährhaus stand ein Mann, der im Begriff war, sich eine Zigarre anzustecken. Sie fiel ihm aus dem Mundwinkel.

»Herr Mittenzwey!«, rief der Fährmann. »Wusste ja janisch, dat Se hier sind. Und det Frollein ooch? Und alle beede patschnass!«

»Den Wievielten haben wir heute?«, fragte Friedrich.

»Den Achtzehnten.«

»Welcher Monat?«

Der Mann kratzte sich sichtlich verwirrt unter der Mütze. »Na, September.«

»Bringen Sie uns bitte hinüber. Und wenn Sie eine Decke für die Dame hätten?«

»Na ja, na sicher«, murmelte der Fährmann, verschwand kopfschüttelnd im Fährhaus und kehrte mit einer Decke zurück, die Friedrich ihm aus den Händen nahm, um sie Grazia um die Schultern zu legen. Er stützte sie, als sie auf die Fähre stieg, die ihr so schwankend wie nie vorkam. Bald waren sie auf der anderen Uferseite angelangt, aber inzwischen war ihr so kalt geworden, dass sie darüber fast das Zittern vergaß. Eine Droschke rollte heran. Friedrich holte aus seiner nassen Hosentasche ein paar Groschen.

»Ich würde uns gern die Zugfahrt ersparen. Aber nicht einmal dafür reicht es.«

Grazia holte den Zehnmarkschein aus ihrem Portemonnaie. Als Friedrich ihn entgegennahm, hätte sie das Geld fast wieder an sich gerissen.

»Was ist denn?«, fragte er.

»Stell dir vor, der Kaiser hätte den Schein in der Hand gehabt. Würdest du ihn dann einfach ausgeben wollen?«

»Wovon redest du nur?« Er nannte dem Kutscher das Ziel. Dann half er ihr in die Droschke, setzte sich an ihre Seite und schloss den Schlag. Das Klappern der Hufe, das Rattern der Räder, es war so vertraut und doch so unwirklich. Wann hatte sie zuletzt schmutzige Jungs beim Bolzen gesehen, wie jetzt am Straßenrand? Eine Spreewaldamme mit ihrer ausladenden weißen Haube? Oder einen Mann im zerschlissenen Frack, der Drehorgel spielte? Die Polizisten mit ihren Pickelhauben, die soeben einen Motorwagen angehalten hatten und ratlos dreinschauten, als überlegten sie, ob so ein Gefährt hier überhaupt fahren durfte? Ich war viel länger weg, dachte Grazia und packte Friedrichs Arm.

»Er hat gesagt, es gibt hier keine Zeitabweichungen. Aber so genau kann er es doch gar nicht gewusst haben.«

»Der Mönch? Das weiß ich doch nicht.«

Sie ließ ihn wieder los. »Wir müssen eine Zeitung kaufen. Ich habe gerade einen Zeitungsjungen gesehen.«

»Grazia, wir sind doch gleich da. Deine Eltern werden schon bestätigen, dass wir den achtzehnten September haben.«

»Aber vielleicht ein Jahr später!«

Friedrich brummte etwas in seinen Bart und klopfte gegen das Sichtfenster. Sobald die Droschke stand, stieß er den Verschlag auf und sprang hinaus. Nur wenige Augenblicke später kehrte er zurück, befahl die Weiterfahrt und legte Grazia eine Zeitung auf den Schoß.

»18. September 1895«, murmelte sie, erleichtert das Papier betastend. Sie waren nach hiesiger Zeitrechnung tatsächlich nur einen Tag fort gewesen. »Weißt du, dass sich das argadische Papier ganz ähnlich anfühlt? Es ist aber nicht grau, eher grünlich. Das liegt an den Felsengrasfasern. Es gibt aber auch weißes, das ist fast schon wie Buchdruckpapier. Und auf Ton schreibt man dort nur wichtige Sachen, weil Ton dauerhafter ist. Es ist genau andersherum als beispielsweise in Ägypten, wo Tonscherben als wertloses Schreibmaterial galten. Ist das nicht erstaunlich?«

»Woher weißt du das?«

»Ich war doch länger dort als du.«

»Ach ja, richtig. Das werde ich wohl nie begreifen.«

»Außerdem hat Anschar mir das mit dem Papier erklärt. Er hatte ...«

»Es wäre mir recht, wenn du nicht über ihn sprechen würdest«, unterbrach er sie barsch.

Grazia schluckte ihre Worte herunter. Ihr wollten vor Ärger die Tränen kommen. Verlangte er allen Ernstes, dass sie Anschar nie wieder erwähnte?

»Nur eines will ich von ihm wissen«, sagte Friedrich. »Hat dieser Barbar sich dir aufgedrängt?«

»Aufgedrängt?«

»Du weißt, was ich meine. Er hat deinetwegen geflennt wie ein Kind. Hast du mit ihm irgendwelche Dummheiten gemacht?«

Dummheiten? Meinte er etwa das, was sie in der Nacht vor der Flucht beinahe mit Anschar getan hätte? Friedrichs Blick bohrte sich in sie. Sicherlich konnte er sehen, wie ihr Herz gegen ihren Hals schlug. »Nein«, brachte sie endlich heraus. Es war nur ein Flüstern. »Nein, ich schwöre es. Die Argaden haben bloß nah am Wasser gebaut.«

»Na schön. Dann wollen wir ihn vergessen.«

Ihre Finger bohrten Löcher in die Zeitung. Friedrichs Aufforderung war durchaus als großzügiges Angebot zu werten, dennoch! Wie konnte sie den Mann vergessen, den sie liebte?

Sie erschrak vor sich selbst. Nun hatte sie es sich eingestanden. Sie liebte Anschar. Begriff sie das wirklich erst jetzt? War sie so blind gewesen? Hatte sie es nicht wahrhaben wollen? Nun war sie da, die Erkenntnis, und sie war ebenso schmerzhaft wie berauschend. Mit aller Kraft presste sie die bebenden Lippen aufeinander, um nicht loszuheulen. Anschar. Anschar ... Ewig würde sich der Name in ihr Herz brennen. Ihn vergessen? Wie oft hatte man das nun schon von ihr verlangt? Und war es ihr je gelungen? Nein, niemals. Niemals.

Die Droschke brauchte bis zum Abend, bis sie vor der Bel Etage ihrer Eltern hielt. Grazia stieg aus und betrachtete die Hausfassade mit ihrer klassizistischen Front. Fünf Stockwerke. Der argadische Palast war fast ebenso hoch gewesen, aber ohne all die Erker, Dreiecksgiebel über den Fenstern, Pilaster und Medusenhäupter, die ihr jetzt so fremd vorkamen. Über das schmiedeeiserne Balkongitter beugte sich das Dienstmädchen.

»Fräulein Grazia!«, schrie Adele, wedelte wild mit der Gießkanne, sodass Wasser herunterspritzte, und stürzte durch die Balkontür, die in den Salon führte. Kurz darauf öffnete sich die Haustür, und sie flog ihr entgegen. »Was ist denn nur passiert? Sind Sie in die Havel gefallen? Wo waren Sie denn bloß?«

»Alles zu seiner Zeit«, antwortete Friedrich an Grazias statt. »Wenn wir nicht gleich in trockene Sachen kommen, holen wir uns noch eine Erkältung.«

Justus kam die marmorne Treppe heruntergesprungen. Skeptisch beäugte er seine Schwester, aber nicht lange, denn sie stürzte auf ihn zu und riss ihn in die Arme. Er ließ es über sich ergehen. Erst als sie ihn abküssen wollte, wehrte er sich.

»Du tust ja grade so, als wärst du ...«

»... ein Jahr fort gewesen«, nahm sie ihm die Worte aus dem Mund. Eigenartig, dachte sie. Erst Justus erinnerte sie daran, dass sie die ganze Zeit unter Heimweh gelitten hatte. Sie fuhr mit den Fingern durch seinen Schopf. »Und, haste Senge gekriegt?«

»Na klar. Hab ich doch gleich gewusst.«

»Ich wollte nicht, dass das so passiert, ehrlich. Justus, ich habe deine Uhr verschenkt.«

»An wen denn?«

Sie warf einen vorsichtigen Seitenblick zu Friedrich, aber der drängte schon die Treppe hinauf. »An einen Mann, den du mögen würdest. Einer wie ... wie Michael Strogoff.«

»Du redest ja komisches Zeug.« Er hüpfte die Stufen hinauf. »Vielleicht krieg ich ja zu Weihnachten ’ne neue.«

»Du glaubst mir nicht?« Sie hastete ihm nach. »Na warte, du wirst staunen, das verspreche ich dir!«

»Grazia!« Ihre Mutter stand in der Wohnungstür, die Hand vor den aufgerissenen Mund geschlagen. »Du bist ja ...«

»Nass, ja.« Grazia gab ein Niesen von sich, das sie fast von den Füßen hob.

»Deine Haut ist ja so anders. Und ganz klamm.« Die Mutter umfasste ihre Wangen mit Fingern, die selbst nicht warm waren. »Du musst sofort aus den Sachen heraus. Was hast du da?« Sie machte Anstalten, ihr die Tasche wegzunehmen. »Das sieht ja ganz schäbig aus.«

»Lass sie mir.« Grazia klammerte sich an der Tasche fest. Wo war Friedrich? Sie sah ihn im Salon stehen und mit ihrem Vater sprechen. Auch wenn es schön war, die Mutter wiederzusehen – der Anblick des Vaters ließ sie vor Freude jubeln. Sie gab ihr einen Kuss, schob sich an ihr vorbei und eilte ihm entgegen. So sehr hatte sie sich danach gesehnt, nach seiner breiten Brust, dem Geruch nach Zigarren und Rasierwasser und dem, was ihn unvergleichlich machte. Sie ließ die Tasche fallen, um die Arme um seinen Leib legen zu können. Er drückte sie an sich und streichelte ihr Haar. Über ihren Kopf hinweg redete er irgendetwas von einem nötigen, aber nicht allzu dringlichen Anruf bei der Polizei. Anscheinend hatte er sie als vermisst gemeldet. Welche ehrbare Tochter verschwand auch spurlos und blieb über Nacht fort? Im Hintergrund hörte sie ihre Mutter, wie sie Adele anwies, für ein heißes Bad zu sorgen.

»Hat dir jemand irgendetwas angetan?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist mir nichts passiert. Aber es ist eine lange Geschichte. Viel länger, als du denkst. Bist du mir böse?«

»Gestern war ich das noch. Jetzt bin ich nur erleichtert. Wenn es für diese Geschichte keine Kurzfassung gibt, müssen wir uns wohl in Geduld üben. Das heißt, Herr Mittenzwey ist ja da und kann hoffentlich für Abhilfe sorgen. Du begibst dich jetzt erst einmal in die Hände deiner Mutter.«

Er schob sie von sich und tätschelte ihre Wange. Friedrich sah angesichts der Aufgabe, die vor ihm lag, regelrecht verzweifelt aus. Grazia nahm hastig die Tasche an sich und folgte ihrer Mutter in ihr Zimmer. Im Vergleich zu dem Schlafzimmer, das sie noch bis vor Kurzem bewohnt hatte, kam es ihr klein und muffig vor. Die holzvertäfelten Wände wirkten erdrückend. Das Fenster – so klein! Und erst das Bett. Es war das Bett eines Mädchens.

»Ich brauche keine Hilfe«, sagte sie zu ihrer wartenden Mutter, die langsam nickte und das Zimmer verließ. Grazia drehte den Schlüssel um. Dann machte sie, dass sie aus den Kleidern kam, die ihr am Leib klebten. Sowie sie das geschafft hatte, war ihr gar nicht mehr so kalt. Aus dem Schrank holte sie ihren Morgenmantel und schlüpfte hinein. Von der Frisierkommode nahm sie ihren Schildpattkamm und fing an, die Haare zu entwirren. Der Mantel sprang auf und offenbarte einen weißen Körper, der einen seltsamen Gegensatz zu ihrem sonnengebräunten Gesicht bildete. Sie betrachtete ihre Brust und legte eine Hand darauf. Wäre jetzt irgendetwas anders, wenn sie sich Anschar hingegeben hätte? Sie schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, dass er es war, der sie streichelte.

Hör auf damit, ermahnte sie sich. Er ist so weit weg, wie du es dir nicht vorstellen kannst. Es ist, als existiere er nicht.

Sie schluckte schwer und machte sich daran, die Tasche zu leeren. Den blauen Mantel hängte sie auf einem Kleiderbügel an ihren Schrank. Aus der Frisierkommode holte sie eine Schere und schnitt die Lederrolle auf. Dort, wo die Papiere die Naht berührt hatten, waren sie aufgeweicht, aber im Großen und Ganzen waren sie trocken geblieben. Sie breitete sie auf ihrem Damenschreibtisch aus und beschwerte die Ecken. Als ihr die silberne Blume von Heria in die Hände fiel, hätte sie wieder weinen mögen. Auch wenn es sein verhasstes Sklavenzeichen gewesen war, so war es doch der einzige Gegenstand, den sie von ihm besaß. Sie drückte die Blume an die Lippen und legte sie auf den Nachttisch. Dann klopfte Adele auch schon an die Tür und rief, dass das Bad bereit sei. Grazia schlang den Morgenmantel fest um sich und begab sich in die Küche, wo es aus dem Blechzuber dampfte.

Adele trug dicke Handtücher und Kernseife heran. »Ich kümmere mich um Ihre nassen Sachen.«

»Aber nur um meine Kleider, Adele. Sonst rührst du in meinem Zimmer nichts an. Nichts! Hast du verstanden?«