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Kurzbeschreibung


Eine große Liebesgeschichte in einer magischen Welt

Auf der Suche nach der Frau, die mit ihrer Gabe sein Land vor dem Untergang bewahren kann, verschlägt es den Krieger Anschar in das Berlin des Jahres 1895. Es ist eine Stadt im Wandel, inmitten umwälzender Veränderungen und voller Gefahr für einen Besucher aus einer anderen Welt. Als Anschar auf die temperamentvolle Grazia stößt, beginnt für beide das Abenteuer ihres Lebens …

Unnachahmlich verwebt Sabine Wassermann die faszinierende Atmosphäre des 19. Jahrhunderts mit dem Zauber fantastischer Welten.

Sabine Wassermann

Die eiserne Welt


Roman

Edel Elements

1

Bilder marterten sie. Ein Garten, darin der Gott, gefangen in einer Wassersäule. Machtlos schlug er gegen die unsichtbare Barriere aus Luft, die sie geschaffen hatte. Seine Haare trieben im Wasser wie Schlingpflanzen. Das schöne Gesicht war verzerrt in verzweifelter Hilflosigkeit. Da war die rothaarige Frau, auf ihrer Gesichtshaut ein Fleckenschwarm. Kein Mensch auf der ganzen Welt sah so aus. Tränen flossen wie Sturzbäche über dieses Gesicht, schwemmten die Flecken jedoch nicht fort. Ihr Blick galt einem Mann, der, die Züge in Hass und Anstrengung verzerrt, mit seinem Schwert um sich schlug.

Ein Sklave war er. Einer, der sich herausnahm, nur dem dienen zu wollen, den er für würdig erachtete. Einer, der sich gegen seinen Herrn erhoben hatte. Ihn getötet hatte. Getötet!

»Anschar.«

Geeryu würgte den verhassten Namen zwischen den verkniffenen Lippen hervor. Sie zuckte zusammen, als sie Mallayur, ihren königlichen Geliebten, wieder sterben sah. Anschar hatte ihn in die tödliche Umarmung des Gottes geworfen. Dann hatte er auch sie töten wollen. Sie glaubte sein wirbelndes Schwert zu erblicken. Näher und näher kam Anschar, schlug ihr erst das Ohr ab und stieß die Klinge in ihre Brust.

Wie oft plagten die Erinnerungen sie in ihren Träumen? Tausende Male.

Sie warf den Kopf zurück und riss den Mund auf. Aufbäumen wollte sie sich, konnte aber nur die Schultern heben. Ihre Brust war ein Gebiet, so groß wie eine Schlucht, in der nichts als Schmerz hauste. Kraftlos sank sie zurück auf eine Matte. Unter den Fingern erspürte sie grobes Grasgeflecht.

Ein Licht flammte auf.

»Sie hat etwas gesagt«, flüsterte jemand. Ein Mensch. »Dank sei dem Götterpaar, nach all der Zeit hat sie endlich etwas gesagt. Das Vogelopfer an Inar und Hinarsya war nicht umsonst.«

Füße tappten heran, und Licht schimmerte durch Geeryus geschlossene Lider. Sie zwang sich, sie einen Spalt weit zu öffnen. Eine schwielige, dicht behaarte Hand hielt ein Öllämpchen. Ein so kleines, gänzlich schmuckloses Tongefäß besaßen nur arme Leute. Das Öl darin musste die Abende mehrerer Zehnttage erhellen. Wo, bei der Dreiheit, war sie?

Das Flämmchen zuckte dicht vor ihren Augen.

»Hab keine Angst, Frau. Wie heißt du, woher kommst du? Sag’s nur, vertrau mir, ich laufe gleich los, deinen Angehörigen zu sagen, wo du bist. Ich heiße Iriasched, bin Grasmattenflechter. Ich war in der Stadt, als eine Feuersbrunst ausbrach. Die Menschen rannten wie toll umher. Ich auch. Dabei bin ich über dich gestolpert. Hast in einem Gebüsch gelegen, es hatte schon Feuer gefangen. Ich hab dich auf meinen Karren geladen und hergeschleppt. Ich stelle die Lampe hier an deine Seite, ja? Wenn du willst, lasse ich sie die ganze Nacht brennen.«

Die Worte prasselten auf sie hernieder. Sie wünschte sich, der Mensch würde sein Geplapper mäßigen. Mühsam drehte sie den Kopf, sah durch den Lidspalt die kugelförmige Tonlampe auf einem Tischchen neben sich. Das Flämmchen erhellte schmutzige Wände, mit bröckelndem, ockerfarbenem Verputz und grob ausgeführten Malereien, als habe ein Kind sich daran versucht. Rußige Deckenbalken, darüber ein Geflecht aus Matten. »Wo ...«, hauchte sie. Was aus ihrer Kehle kam, war nur ein Krächzen, das sie alle Willenskraft kostete.

»Du bist hier in einem Dorf eine halbe Tagesreise von Heria entfernt.«

»Heria ...«

»Die Hauptstadt von Hersched. Weißt du’s nicht? Hast du dein Gedächtnis verloren?« Er hatte sich abgewandt und befingerte ein Wandbord, auf dem Krüge mit gesprungenen Rändern standen. Auch seine Unterarme waren pelzig, doch die Schultern glatt wie die eines Knaben. Den krummen Rücken bedeckte ein Hemd, das Jahrzehnte alt sein mochte. Sein Hüfttuch war am Hintern fleckig und stank.

Sie begriff das Gehörte kaum. Zu ungewohnt war ihr die Stimme eines Menschen. Und zu groß die Qual in ihrer Brust.

»Ich ... will ... ich ... will.«

»Ja? Was?«

»Ich will – atmen!«

»Du atmest doch. Merkst du das nicht? Ich seh’s ja. Dem Arzt, der dich vernähte, war es ein Rätsel, wie jemand mit so einer Verletzung atmen und überhaupt noch leben kann. Aber du tust es. Du tust es seit fünf Monaten. So lange liegst du schon hier.«

Sie gemahnte sich, nicht zu sehr auf den Schmerz zu achten. Ihre Gedanken tasteten ihren Körper ab. Glitten hinab, erspürten den Brustkorb, zwangen ihn, sich weiter zu bewegen. Was tiefer war, Becken, Beine, Füße, lag wie tot. In den Armen war Leben, die Finger beugten und streckten sich. Quälend langsam hob sie die Hand, brachte sie vor die Augen und ließ sie auf die Brust sacken. Dort lag ein Tuch. Sie schob es herunter. Dann ein weiteres Tuch, das stramm saß, als sei es fest um ihren Körper gewickelt. Es gelang ihr, es so weit zu lockern, dass sie die Finger darunterschieben konnte.

Es überraschte sie, zwischen ihren Brüsten nur eine kleine, wulstige Narbe vorzufinden. Den Schmerzen nach hatte sie geglaubt, es müsse alles offen sein, so dass sie die Finger in das Blut des schlagenden Herzens hätte tauchen können. Ihre Nägel, sauber gestutzt, kratzten über die Haut.

Wie mochte es darunter aussehen? Warum konnte sie ihren Leib von der Brust abwärts nicht bewegen? Unrettbar schien das Schwert etwas zerstört zu haben, und dass sie daran nicht gestorben war, verdankte sie gewiss ihrer Abstammung. Es musste so sein. Was sie atmen ließ, war nicht ihre beschädigte Lunge. Es war die Kraft des göttlichen Vaters in ihr. Die Kraft, die sie monatelang in den Schlaf versetzen konnte, um eine derartige Verletzung zu überstehen. Jahrelang, wenn es sein musste. Viel Zeit ihres langen Lebens hatte sie in irgendwelchen Verstecken im Dämmerschlaf zugebracht, wenn sie die Gegenwart sterblicher Menschen nicht mehr ertragen hatte. Fünf Monate waren nichts.

Geeryu tat weit den Mund auf und erkämpfte sich weitere Atemzüge. In ihrem Innern rasselte es. Weiter, ermahnte sie sich. Weiter.

»Siehst du? Du atmest«, sagte der Mann. Er nahm einen Krug vom Bord und trug ihn an den Tisch. Von der Öffnung zog er einen Papierstreifen. Saurer Weingeruch stieg herauf. »Das stärkt dich.« Er füllte einen schmalen Becher und hielt ihn ihr an die Lippen. Geeryu tat nichts, es ihm leichter zu machen, öffnete nicht den Mund, schluckte nicht. Einige Tropfen rannen über ihre Zunge, das meiste über ihre Wangen. Als der Wein ihr linkes Ohr traf, zischte sie beißenden Ärger hinaus. Den Mann schien es nicht zu kümmern.

»Du hast in all der Zeit kein einziges Mal die Augen aufgemacht«, sagte er. »Ich war in der Stadt, habe Leute gefragt, ob eine schöne, schwarzhaarige Frau vermisst wird, aber alle haben nur die Köpfe geschüttelt. Sogar im Palast wollte ich fragen, denn du siehst wie eine edle Frau aus, aber ich wurde abgewiesen. Die sind dort noch alle damit beschäftigt, dem Durcheinander Herr zu werden, das der Tod des Königs und das Feuer hinterlassen haben. Aber ich werde dir helfen, in dein Zuhause zurückzufinden, wo immer das ist. Die abwesenden Götter schauen immer noch mit Wohlgefallen herab, wenn man einem in der Not beisteht, das glaube ich ganz sicher. Aber es wäre gut, wenn du dich auf deinen Namen besinnst!«

»Schscht! Wie soll sie bei deinem Gerede einen klaren Gedanken fassen?« Eine Frau erschien an seiner Seite, mit mageren Gliedmaßen und einem breiten Rumpf, der an die Vorratsgefäße im Palastkeller erinnerte. Mit dem Ellbogen drückte sie den Mann beiseite. »So pass doch auf. Was musst du ihr gleich Wein geben? Flöße ihr wie gehabt Wasser und Suppe ein.«

»Meinst du?«

»Gewiss. Sie ist doch noch gar nicht ganz wach. Nicht einmal die Augen hat sie richtig offen.«

Der Geruch fauliger Zähne schlug Geeryu entgegen. Zwischen den Wimpern hindurch sah sie ein faltiges Gesicht sich nähern. Der Blick der Frau war misstrauisch. »Hörst du mich?«, fragte sie.

Geeryu antwortete nicht.

»Irgendwie war sie mir geheurer, als sie noch schlief ...«

»Ich glaube, wir sollten sie wach halten«, sagte der Mann. »Sonst dämmert sie uns vielleicht wieder für eine lange Zeit weg. Und stirbt dann doch?«

Die Frau schnaufte. »Mag sein. Woher sollen wir wissen, was das Richtige ist?«

Er schob sie weg und drückte einen kühlen, schmeichelnden Gegenstand in Geeryus Hand. »Hier, es hatte sich in deinem Gewand verfangen. Ich dachte mir, dass das schöne Stück dir gehört, weil ...« Er klang verlegen, als zögere er, das Unglück in Worte zu fassen. »Weil dein Ohr abgeschlagen ist.«

Ihre Nägel kratzten über die geflügelten Fabelwesen, deren Köpfe einander zugewandt waren, fuhren den geriffelten Reif entlang, der ihre Leiber einte. Sie hatte Mallayur gefragt, was für Wesen es waren, aber der hatte es auch nicht gewusst. Aber schön, ja, schön war der Ohrring. Keine Frau im Palast hatte solch fremdartigen Schmuck besessen. Sie ertastete das Kettchen, erinnerte sich daran, wie Mallayur es über ihre Ohrmuschel gehängt und den Reif gerichtet, zufrieden gegrunzt und sie geküsst hatte. Ein Beutestück.

Wie hässlich war sie jetzt ... Abgeschlagen. Abgeschlagen.

»Mallayur ...« Ihre Finger umschlossen den Ohrring so fest, dass sie schmerzten. Mallayur, der König von Hersched und Bruder des so viel mächtigeren Königs von Argad. Der kleine, schwache Mallayur, der all das nicht gewesen war, was der gewaltige Madyur verkörperte, und darunter so sehr gelitten hatte. Auf ihre Weise hatte sie ihn geliebt.

»Wir hätten das Geschmeide verkaufen sollen«, murmelte die Frau. »Es hätte uns ein paar Jahre ernähren können.«

»Und ich sage dir, dass das nicht recht wär’, Weib! Wir sind ehrliche Leute.«

»Es wäre auch ihr zugute gekommen. Der Arzt könnte sagen, was wir jetzt mit ihr machen sollen, ob sie weiterschlafen oder wach bleiben muss. Wenn wir ihn bezahlen könnten.«

»Der wird das auch nicht wissen.«

Geeryu fragte sich, wie die rothaarige Frau, Anschars Gefährtin, wohl hieß. Sie konnte sich nicht auf den Namen besinnen. Aus einer fernen Welt war sie gekommen, so hatte man es sich im Palast erzählt. Auch sie besaß eine erstaunliche, göttliche Kraft: Sie konnte Wasser aus dem Nichts erschaffen. Eine Nihaye sei sie gewesen, so wie sie, Geeryu.

Aber den Worten zufolge, die Mallayur aus ihr herausgepresst hatte, war sie keine Halbgöttin. Konnte das wahr sein? Wenn sie keine war, hatte der Wassergott ihr dennoch die Kraft gegeben. Wenn sie eine war – war es einerlei! Denn was hatte sie bewirkt, außer mit Wasser um sich zu spritzen? Ohne den Mann, den Sklaven, wäre sie gescheitert, wie Wassertropfen an einem Steinwall scheitern mussten. Anschar trug die Schuld, dachte Geeryu, bebend vor Schmach und Schmerzen. Er war die Gefahr, er hatte das Schwert in ihrer Brust versenkt. Er hatte ihre göttliche Kraft, die Beherrschung der Luft, besiegt.

Du hättest lernen sollen, damit zu kämpfen. Seine höhnischen Worte, prall mit Triumph gefüllt, steckten noch in ihrem zerschundenen Ohr. Geeryu zog die Lippen zurück und presste einen wütenden Laut durch die Zähne.

»Hast du Schmerzen?«, fragte der Mann. »Sie hat bestimmt welche. Es wäre besser für sie, wenn sie weiterschläft.«

»Sie kann doch nicht ewig hier liegen!«

»Hast du nicht eben gesagt, du sähest sie lieber wieder schlafend?«

»Ich sähe sie am liebsten endlich aus dem Haus.«

Die Frau hatte die Stimme gesenkt. Diese Menschen! Ihr Gerede war wie ein klebriger Stoff, der die Ohren verstopfte. »Haltet ... den ... Mund«, krächzte Geeryu.

»Was hast du gesagt? O Hinarsya!« Eine faltige Hand mit schwarz umrandeten Nägeln klatschte auf die Schulter des Mannes und rüttelte sie. »Ihre Augen!«

»Die sind ja wie aus Silber. So etwas habe ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen.«

»Es sieht grässlich aus. Ist das wirklich ein Mensch, den wir da im Haus haben?«

»Kein Mensch hat silberne Augen.«

»Lass sie uns hinaustragen!«

Geeryu blickte in die erschrockenen Gesichter der Menschen. Beide waren an die Wand zurückgewichen. Die Frau entblößte ihre Zähne. Sie würde weiterplappern. Sie würde niemals aufhören. Geeryu stellte sich vor, wie eine unsichtbare Faust aus Luft gegen den Schlund mit diesen scheußlichen Zähnen schlug und ihn schloss. Sie mühte sich ab, dem Gedanken Taten folgen zu lassen. Es fiel ihr schwer. Nun, ihre göttliche Gabe war geschwächt; so war es immer, wenn sie lange geschlafen hatte. Dicht neben dem Kopf der Frau schlug mit einem leisen Knall ein Stück Verputz heraus. Die Frau zuckte zusammen.

»Was war das?«, flüsterte sie wie erstarrt und tastete nach der Hand ihres Mannes. »Ihr Götter, wie sie starrt. Ach, Iriasched, hättest du es bloß bleiben lassen, sie uns ins Haus zu schaffen.«

Geeryu betrachtete einen der Krüge auf dem Wandbord. Ihre Gedanken formten eine Hand aus Luft, die ihn nach vorne schob. Beide, Mann und Frau, legten die Stirnen in Falten, als ihre Blicke sich hoben. Der Krug verlor das Gleichgewicht und schlug auf den Kopf der Frau. Sie riss die Hände hoch und kreischte. Aus einer Schnittwunde floss Blut, vermischte sich mit dem austretenden Wein. Sie taumelte, packte die Schultern des Mannes, der sie festhalten wollte, und sackte gemeinsam mit ihm auf die Knie. Endlich schwieg sie. Geeryu schlug die Handflächen auf die Pritsche unter sich. Der Ohrring fiel klirrend zu Boden. Mit aller Willensanstrengung zwang sie einen Luftkeil unter ihren Rücken, der sie wie eine steife Puppe anhob. Der Schweiß brach ihr aus allen Poren. Zu schwer, zu schwer! Mit einem Knall zerbarst der Keil, und sie sackte wieder zurück.

Wütend keuchte Geeryu. In ihrem Brustkorb rasselte es eigenartig. Sie bemerkte, dass die Frau in den Armen ihres Mannes ohnmächtig wurde. Nun, da das Weib schwieg, schien der Grasmattenflechter entschlossen, an ihrer statt weiterzureden. Seine Lippen öffneten und schlossen sich, und er brabbelte Worte der Angst.

»Bitte, tu uns nichts«, bettelte er. »Wir haben dir doch geholfen.«

Du hättest lernen sollen, damit zu kämpfen ... Die Worte schnitten in Geeryus verwundeten Stolz; sie konnte sie nicht aus dem Gedächtnis verbannen. Sie würde es lernen! Ihr Blick wanderte zur Balkendecke hinauf. »Ich werde es lernen ... lernen ...«, presste sie zwischen den zusammengepressten Zähnen hervor. Einer der Balken bewegte sich. Fingerbreit um Fingerbreit schob er sich vom Mauerwerk fort, ins Zimmer hinein. Geeryu blähte vor Anstrengung die Backen; in ihren Schläfen pochte das Blut. Der Mann hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen aufgerissen. Er zuckte, als kämpfe er verzweifelt dagegen an, dass sich seine Muskeln in Wasser verwandelten. Seine Finger kneteten die Schultern der Frau.

»Nein, bitte«, weinte er. »So lass uns doch leben!«

Der Balken schlug nieder. Sein Schädel barst.

Geeryu drehte den Kopf weg und verschnaufte. O ja, sie war imstande zu lernen. Aber das triumphale Gefühl, dieses schwere Stück Holz unter ihren Willen gezwungen zu haben, schwand schnell. Sie hustete, kämpfte gegen Übelkeit an. Was half ihr diese Macht, wenn sie hier lag, vom Brustkorb an gelähmt? Anschar trug die Schuld! Er und sein Weib!

»Vater«, flüsterte sie. »Vater, wenn du mich je geliebt hast, dann komm her. Komm her und sieh dir mein Leid an!«

Jahrzehnte mochte es her sein, dass sie Nihayem, den Beherrscher der Luft, den Dritten der Dreiheit, zuletzt gerufen hatte. Würde er sie hören?

Unentwegt erflehte sie sein Erscheinen, während der Körper des Grasmattenflechters auf ewig erschlaffte, seine Frau erwachte und sich in den Wahnsinn und zurück in die Ohnmacht schrie, während das Öl in der Lampe erlosch und Dunkelheit das schäbige Haus erfüllte. Da, ein Lufthauch. Geeryu lächelte. Wind strich um ihre Arme, ihre Brust, ihre Wangen. Vor ihren Augen verdichtete sich die Luft zu einem schleierfeinen Gesicht: das Gesicht eines jungen, schönen Mannes.

»Vater! Hilf mir.«

Die nur schwach erkennbaren Züge wirkten mitleidig. Tochter. Ich kann dir nicht helfen, dieses irdische Leben zu ertragen. Es tut mir leid.

»Du kannst mich nicht heilen?«

Hätte ich es dann nicht längst getan ? Ich beherrsche die Luft, so wie meine Brüder Wasser und Erde beherrschen. Nichts anderes. Das solltest du wissen. Ich kann dich atmen lassen. Aber nicht heilen.

Ja, sie wusste es. Die Götter der Dreiheit vermochten mit denen ihnen zugewiesenen Elementen ganze Landstriche zu verwüsten, aber darüber hinaus waren sie schwach. Mitunter schwächer als ihre sterblichen Kinder, die sie gelegentlich mit sterblichen Frauen zeugten. Hätte sie sonst den Gott des Wassers in ihre Luftsäule zwingen können? Aber dieser war der schwächste von allen; sie hatte gehofft, ihr Vater vermöge mehr.

Was ich kann, will ich tun.

»Dann töte den, der mir das angetan hat.«

Anschar ... Er ist nicht mehr in Argad, weißt du das nicht? Nein, wie könntest du es wissen? Der König hat ihn mit seiner Gefährtin und einigen Wüstenmännern ausgeschickt, das Unmögliche möglich zu machen und das Land Temenon zu finden.

»Temenon ...?«, wisperte sie.

Temenon, das Land des alten Feindes, das von Argad vor Hunderten von Jahren bekriegt worden war. Erinnere dich!

Es tat weh, all diese Gedanken aus ihrem verschütteten Innern zu holen. Aber ja, sie erinnerte sich. Inar und Hinarsya, das göttliche Paar, die Beherrscher allen Lebens, aller Götter, aller Länder, hatten die kriegerische Gewalt Argads nicht länger mit ansehen wollen und die Welt mit dem Fluch der Trockenheit überzogen. Sie hatten Nihayems Bruder, den Gott des Wassers, gefangen gesetzt und ihm seinen Namen genommen. Das Meer war gesunken, hatte sich in eine Wüste verwandelt und die Feinde voneinander getrennt. Aber Argad und Temenon hatten keinen Frieden miteinander.

»Das bedeutet«, flüsterte sie. »Es bedeutet ... ah.« Nachdenken fiel ihr noch so schwer. »Sie sind in der Wüste. Vielleicht hat der Sand sie ja schon unter sich begraben. Wenn nicht, hole das nach. Räche mich.«

Widerwillig verzog er das schemenhafte Gesicht. Aber es ist wichtig, dass sie nach Temenon gelangen und die Hand zum Frieden reichen. Das Überleben dieser Welt hängt davon ab.

»Wichtig?«, schrie sie ihm mit aller Kraft entgegen. »Ihr Götter seid in andere Welten übergewechselt! Ihr habt diese doch längst ihrem trockenen Schicksal überlassen! Was schert sie euch noch?« Sie begann zu wimmern. »Du hast gesagt, was du kannst, willst du tun.«

Unwillig senkte er den Kopf. Dies eine Mal. Aber bitte mich nie wieder.

Er verschwand, sie war allein. Allein mit sich und ihrer Qual. Ewig würde sie brauchen, um sich von hier fortzuschaffen, irgendwohin, wo sie ihre Wunden auf weicheren Lagern als diesem lecken konnte. Wo die Erinnerungen vielleicht verblassten. Wieder sah sie ihren Geliebten Mallayur tot ins Gras sinken. Wieder sah sie, wie Anschar sein Weib rettete und aus dem brennenden Palast trug. Wie war ihr Name? Geeryu konnte sich nicht auf ihn besinnen.

»Grazia!« Anschars Stimme donnerte über den Dünenkamm. »Entferne dich nicht zu weit, hier hast du dich schneller verirrt, als du dein Beinkleid wieder hochziehen kannst!«

Grazia rollte die Augen. Manchmal hatte er einfach kein Benehmen. »Ich passe schon auf«, rief sie über die Schulter zurück. Rasch rollte sie ihr vielfach geflicktes Beinkleid hinunter und ging in die Hocke. Er hatte ja Recht, von dieser Seite der Sanddüne kam sie sich vor, als sei sie allein auf der Welt. Vor ihr breitete sich eine wellenförmige, ockerfarbene Landschaft aus, in der nichts als verirrte Windböen und kräuselnder Sand zu leben schienen. Dürre Grashalme knisterten. Sie lauschte auf die Geräusche aus dem Lager. Die sechs Wüstenmenschen, allesamt Sklaven, die Anschar ausgewählt hatte, ihm auf der Suche nach Temenon zu helfen, scherzten miteinander. Die Stimmung war gelöst; auch nach dieser langen Zeit der Wanderschaft ertrugen sie gelassen Sand und Hitze, während Anschar fluchte und sie selbst jammerte. Sie, eine wohlerzogene Frau aus gutem Hause, mitten in einer endlosen Wüste! Tag um Tag verstrich; aber der Augenblick, an dem sie glauben konnte, dass dies alles wirklich geschah, dass sie dies alles wirklich tat, wollte einfach nicht kommen.

Unter ihr plätscherte es. Ein großer, schwarz glänzender Käfer bohrte sich zwischen ihren Beinen aus dem nassen Sand. Vor Schreck fiel sie hintenüber. Hastig rappelte sie sich auf, richtete ihre Kleidung, ein dünnes Wüstengewand, darüber ein Kapuzenmantel, der vor der Sonne schützte, und kämpfte sich die Düne hinauf. Im Schutz des aufgespannten Sonnensegels wirkte Anschar wie ein Schatten, wie er da stand, die Arme verschränkt, den Blick ihr zugewandt. Auch er trug einen zerschlissenen Mantel, während die Sklaven mit bloßen Schultern auf den Decken saßen. Ralaod, die Wüstenfrau, lag neben einem von ihnen, den Kopf auf seinen Schenkel gebettet. Grazia rannte storchbeinig in ihren mit Sand gefüllten Sandalen den Abhang hinunter und sackte auf eine der Decken. Als sie sich mühte, mit den Fingern den Sand aus den Schuhen zu bekommen, war Ralaod bei ihr, schnürte die Sandalen auf und entfernte sorgfältig jedes Körnchen.

»Wovor bist du denn geflohen, Herrin?«

»Vor einem Käfer.«

Parrad presste die Lippen zusammen, sichtlich darum bemüht, nicht loszulachen. Andernfalls hätte es ihm eine Rüge seines Herrn eingebracht. Der bärtige Wüstenmann steckte die Nase wieder in eine der Zeitschriften, die Grazia von daheim mitgebracht hatte. Auch die anderen reckten die Köpfe, um die Ungeheuerlichkeiten der fernen Welt zu betrachten. Eine Bö ließ die Seiten auffliegen. »Sei vorsichtig damit«, drohte Anschar hinter ihm. »Wenn du ihre Sachen beschädigst, reiße ich dir den Bart heraus.«

Parrad krümmte sich, als halte er das für möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich. »Herrin, tragen in deiner Welt die Frauen wirklich solche ... Dinge?« In seiner Stimme schwang abergläubische Furcht. So lange waren sie schon unterwegs, und nun erst hatte er es gewagt, die Zeitschriften anzufassen.

»Natürlich«, erwiderte Grazia. »Bei uns gilt das als schön.«

»Schön?« Der Wüstenmann hob den Bazar und deutete auf die Zeichnung einer Frau in einem stattlichen Ballkleid mit Puffärmeln und einem Glockenrock, den sie wie eine Schleppe hinter sich herzog. Aus jeder Naht quollen Bändchen und Volants. »Die Frauen sehen aus wie mit Zierrat versehene Tongefäße. Wenn ich mir vorstelle, meine drei Frauen trügen so etwas, ich müsste sie ja ständig herumschieben, weil sie sich nicht mehr bewegen können.«

»Waren’s nicht fünf Frauen?«, fragte Anschar, während er Grazia mit belustigt erhobenen Brauen ansah. Sie biss sich auf die lächelnden Lippen, weil sie es so sehr genoss, einen Blick mit ihm zu tauschen. »Und achtundzwanzig Kinder?«

»Drei und achtzehn! Aber, Herr, du hörst ja nie zu, wenn ich von ihnen erzähle.«

»Weil meine Ohren von deinem Gerede ständig verstopft sind. Deine Frauen dürften froh sein, dass du weit fort bist. Aber sieh dir dies an.« Anschar beugte sich vor, blätterte über Parrads Schulter hinweg und deutete auf ein Bild. Parrad schnappte nach Luft.

»Beim Atem des Herrn des Windes!« Ihm stand der Mund offen, wie auch den anderen, die ihre Körper anspannten, als wollten sie angesichts von Dämonen und Zauberei flüchten. »Herrin, in deiner Welt laufen die Frauen mit Vögeln auf den Köpfen herum?«

»Ja, durchaus«, erwiderte Grazia. Es war eine Eule, und das war ihr nun doch ein wenig peinlich. »Man kann auf einem Hut so vieles tragen. Ich fand Federn allerdings immer ausreichend.«

Ein heftiger Windstoß wehte Sand heran. Parrad beeilte sich, ihn aus der Zeitschrift zu schütteln und sie Anschar zurückzugeben. Der rollte sie zusammen und sah sich besorgt um. Überall begann der Sand in die Höhe zu stieben. Die sechs aneinandergebundenen Sturhörner schüttelten sich unruhig. »Packt alles zusammen«, befahl er und deutete voraus. »Dort vorne ist eine Felsenkette, da sollten wir sein, wenn es schlimmer wird.«

Augenblicklich waren die Sklaven auf den Füßen, der Sonnenschutz abgebaut. Ralaod half Grazia, die Sandalen überzustreifen und festzuschnüren. Grazia mühte sich, die Decken zusammenzulegen, ein schwieriges Unterfangen. Ständig hatte sie ihre Haare im Gesicht, und der Wind zerrte an ihrer Kleidung. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Anschar die Zeitschrift in eine Satteltasche zu stecken versuchte und ein besonders heftiger Windstoß sie ihm aus der Hand riss. Bedauernd sah Grazia dem davonflatternden Erinnerungsstück nach. Der düstere Horizont ließ sie die Zeitschrift jedoch vergessen. Ein ockerfarbenes Band waberte über den Dünen. Schwaden rötlichen Sandes pflügten durch den Himmel und verdüsterten die Sonne.

Anschar kämpfte mit der lebendig gewordenen Kapuze seines Mantels. »Beeilt euch!«, schrie er und streckte eine Hand nach Grazia aus. Erleichtert ergriff sie sie, denn jeder Schritt fiel ihr schwer. Halb zog er, halb schob er sie auf eines der unruhig an den Fesseln zerrenden Reittiere zu. Das Sturhorn war so groß, dass sie sich jedes Mal fragte, wie sie hinaufgelangen sollte; und jedes Mal geschah es mit Anschars Hilfe schneller, als sie es sich versah. Er hob sie an der Taille hoch und streifte ihr die herumflatternde Fußschlaufe über die Zehen. Dann war sie oben und kroch in das Grasgeflecht ihrer überdachten Sänfte. Es war ein riesiger Korb, an den sie sich in all den endlosen Tagen gewöhnt hatte und in dem auch Ralaod ihren Platz fand. Ihr Gefährte Oream schwang sich in den Sattel und ergriff eine Peitsche, die er auf den ledrigen, mit Fellbüscheln durchsetzten Hals des Sturhorns niedersausen ließ. Es warf den büffelähnlichen Kopf hoch, stieß ein Schnauben aus, das die Nüsternhaare fliegen ließ, und machte einen Satz nach vorn. Auch die anderen Tiere preschten los.

Grazia kroch tief in ihre Sänfte und klammerte die Finger ins Geflecht. Ralaod, die im Schneidersitz neben ihr hockte, glich die stürmischen Bewegungen mit geschmeidigem Schaukeln aus. »Da, wo ich herkomme, erlebt man selten einen Sandsturm«, sagte sie mit zahnlückigem Lächeln, als kümmere sie nicht, dass einer hinter ihnen war. »Oream aber«, sie nickte in Richtung ihres Gefährten, der mühelos das Tier beherrschte, »der kennt das.«

»Ja«, rief er über die Schulter. Der Wind ballte seinen rasch übergeworfenen Burnus. »Das ist nicht schlimm, man darf nur nicht den Sandgeistern verächtlich ins Gesicht lachen, sonst hat man ihren Sand zwischen den Zähnen. Ah, Parrad hat wieder Schwierigkeiten.«

Der bärtige Ältere war kein guter Reiter. Sein Sturhorn bockte, so dass all die Packen und Pakete, die an den Seiten herunterbaumelten, durcheinandergerieten.

»Bei Inar, Parrad!«, rief Anschar. Er lenkte sein Sturhorn zurück neben Parrads und ließ die Peitsche knallen, damit das Tier sich in Bewegung setzte. »Ich sollte dich in die Sänfte stecken und Grazia dein Tier fuhren lassen.«

»Ich kann das Biest nicht leiden«, schnaufte der Wüstenmann mit hochrotem Kopf.

»Und es dich verständlicherweise auch nicht.« Der Rest ihres Wortwechsels ging im Pfeifen des Windes unter. Anschar schlug ihm auf die Schulter, dann kam er näher an Oreams Tier. Als er Grazia sah, runzelte er besorgt die Stirn. Auch ihr schlug das Herz bis zum Hals, als sie daran dachte, dass der Sturm sie hätte überraschen können, als sie noch auf der anderen Seite der Düne gewesen war.

Bald darauf hatten sie die Felsenkette erreicht. Es war eine senkrecht aufragende Wand, ein paar Meter hoch und von wenigen Vorsprüngen unterbrochen.

Oream zügelte das Sturhorn. Auch die anderen drängten ihre Tiere dicht an die Wand und sprangen ab. Grazia war froh, dass die Schaukelei ein Ende hatte. Erstaunt bemerkte sie, dass auch der Wind nicht mehr an dem Geflecht rüttelte.

»Der Sturm pfeift nur noch in meinen Ohren«, sagte Ralaod. »Hat sich gelegt, als hätte er es sich anders überlegt.«

Die Männer sahen sich um. »Sandgeister waren das«, murmelte Parrad in seinen Bart. »Manchmal laufen sie hinter einem her, heißt es, und plötzlich sind sie weg.« Er deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. »Dort! Seht ihr das?«

Eine mannshohe Sandspirale tanzte über den felsigen Grund. »Das ist doch nur der Wind«, sagte Anschar.

»Es ist kein Wind mehr da«, flüsterte Parrad. »Das ist ein Sandgeist, ein Begleiter des Herrn der Winde. Er ist auf irgendetwas zornig und wird sich rächen. Und dann ...«

»Spar dir deine Schauergeschichten auf, denn wie es aussieht, kannst du sie am Feuer in einer Höhle zum Besten geben; das dürfte etwas gemütlicher sein, als hier herumzustehen.« Anschar stand in einer Öffnung, unten breit und nach oben spitz zulaufend, wie ein kleines Kirchenportal. »Den Göttern sei Dank, etwas Besseres hätten wir kaum finden können. Wir können sogar die Tiere hinunterschaffen.«

Grazia rutschte aus der Sänfte und tastete mit der Fußspitze nach der Schlaufe. Ein Sturhorn ohne Hilfe zu besteigen, war und blieb undenkbar, aber wenigstens hinab schaffte sie es. Dass dabei ihr Wüstengewand bis zu den Knien hochrutschte, hatte sie hinzunehmen gelernt. Anschar war ohnehin der Einzige, der hinsah; die Wüstenmänner fanden entblößte Unterschenkel nicht bemerkenswert. Alle machten sich daran, das Gepäck abzuladen, denn der Eingang war so eben breit genug, dass die Tiere hindurchpassten. Auch die Sänfte musste heruntergezogen werden. Grazia klemmte ihren Koffer unter den Arm, raffte Taschen und zusammengerollte Decken und Felle zusammen und tapste den Männern und den unwillig brummenden Tieren hinterher in die Höhle. Unmittelbar hinter dem Eingang entdeckte sie den Zugang zu einer weiteren Kammer. Kurzerhand trug sie ihre Sachen dort hinein, denn der kleine Raum wirkte wesentlich heimeliger als das düstere Gewölbe dort unten. An der hinteren Wand befand sich sogar ein natürliches Podest, das geradezu einlud, es als Bett zu nutzen. Im Vergleich zu den sonstigen Nachtlagern war dies ein Hotelzimmer.

»Du willst hier bleiben?«, fragte Anschar hinter ihr. Sie ließ die Sachen fallen und wandte sich zu ihm um.

»Ich fände es wirklich angenehm, mit dir allein zu sein«, murmelte sie und streifte den Mantel von seinen Schultern. Wohlig knurrte er, aber er schob sie weg und sah sich prüfend um, hob hier und da einen Stein an, fand jedoch nichts als knöcheltiefen Sand. An der Wand entdeckte Grazia einen Felsspalt. Sie zwängte sich hindurch und fand zu ihrem Entzücken eine weitere Kammer. Nadeln aus Sonnenlicht stachen durch die löchrige Wand. Eine Eidechse mit grünlich schillerndem Perlenrücken floh ins Licht. Der Boden, einen langen Schritt tiefer gelegen, war rund wie eine Schale; nur wenig Sand befand sich darin. »Anschar, das ist ja herrlich. Darin könnte man baden! Hier gehe ich nie mehr weg.«

Sie wollte hinabsteigen, aber er hielt sie mit strengem Griff zurück und schob sich an ihr vorbei. Auch hier untersuchte er jeden Winkel und spähte durch weitere Ritzen, die irgendwohin führten. »Nie mehr?«, fragte er amüsiert, als er wieder vor ihr stand.

»Ach, die Wüste ist so schrecklich. Seit vier Monaten sehe ich kaum mehr als Sand, Steine, Fels. Nach meiner Zeitrechnung sind es sogar fünf Monate, ich habe jeden Tag gezählt! Immer die gleiche Ödnis, die jeden Gedanken erstickt. Das Geschaukel auf den Sturhörnern und ihr Gestank.« Sie bohrte einen Finger in seine Brust, was ihn nicht beeindruckte. »Du stinkst. Ich stinke! Der Sand juckt, so dass ich mir die Haut aufkratze. Und dann dieses Viehzeug. Vorhin sah ich einen Käfer oder so etwas, der war so groß.« So weit sie konnte, spreizte sie Daumen und Mittelfinger. »Ich hasse die Wüste!«

»Oho, du bist ja plötzlich richtig wütend.«

Am liebsten hätte sie ihm einen Wasserschwall ins Gesicht geschüttet, aber das würde er ja genießen. »Lach mich nicht aus! Ich weiß, dass ich für eine solche Reise nicht geschaffen bin. Ich kann’s nicht ändern.«

»Lache ich denn? Alles, was du hier tust – hättest du geglaubt, dass du dazu imstande bist, als du noch behütet in deinem Elternhaus gehockt hast, ohne etwas von der Welt gesehen zu haben? Und dann ist es nicht einmal deine Welt, sondern eine fremde, durch die du dich tapfer schlägst. Selbst Ralaod hat ihre Mühe, und sie ist eine Wüstenfrau. Da darfst du ruhig ein bisschen jammern.«

»Ja, warum hat der Gott nicht Ralaod mit seiner Gabe bedacht? Es wäre so viel einfacher.«

»Nun ist’s aber gut.« Sein Zeigefinger stand dicht vor ihren Augen. »Das infrage zu stellen, steht uns nicht zu, und das war auch nicht mehr gejammert, sondern genörgelt, mein Fräulein. Und jetzt still meinen Durst.«

Sie brummelte in sich hinein. Aus einer der Taschen fischte sie einen ledernen Becher und hielt ihn gefüllt vor seine Nase. Er schlug ihn beiseite.

»Doch nicht so, Feuerköpfchen. Küss mich auf die Art, die ich so liebe.« Vor ihr ging er in die Knie, packte sie an den Hüften und zog sie dicht an sich heran. Natürlich, wie hatte sie es vergessen können? Sie neigte sich vor. In seinen Mundwinkeln klebten Sandkörnchen. Ihre Lippen berührten seine, öffneten sich und entließen einen kühlen Quell, der ihn säuberte, in seine Kehle übersprang und seinen Durst löschte. Es gefiel ihr, wie er gierig schluckte, und sie ließ das Wasser fließen, bis er den Kopf zurückwarf und aufkeuchte.

»Wie du das tust, werde ich nie begreifen. Und niemals mehr darauf verzichten wollen.«

Das musst du auch nicht, dachte sie und knetete seine Haare, dunkelbraun, im Nacken zu mehreren fingerdicken Zöpfen geflochten, die ihm weit bis auf den Rücken fielen, jetzt aber halb aufgelöst und zerzaust waren. Ihre Finger strichen über seine stoppeligen Wangen, seine Ohren mitsamt dem Sklavenhaken, der ihn auf ewig zeichnete, auch wenn er dank der Gnade seines Königs Madyur-Meya kein Sklave mehr war. Das Wasser floss aus ihren Händen. Seine Lider schlossen sich. Die Rinnsale sprangen von seinen Lippen. Müde wirkte sein Gesicht, als erhoffe er, dass sie ihm die bleischwere Last abwusch, die der König auf ihn geladen hatte. Vor vielen Jahren war Anschars Mutter Siraia aus dem fernen Land Temenon gekommen, um die Hand zum Frieden zu reichen. Madyur hatte nur eine Sklavin in ihr gesehen und sie missachtet. Längst war sie tot, er vermochte den Fehler an ihr nicht mehr gutzumachen. Anschar musste es an seiner statt tun, er musste das unbekannte Land seiner Mutter finden und mit seiner Heimat Argad versöhnen. Wenn er scheiterte, so würde der Fluch der Trockenheit, den die Götter aus Bitternis über den ewigen Krieg der Menschen in die Welt gesandt hatten, nicht mehr aufzuhalten sein. Sie würde durch das Fehlen jeglichen Wassers im Tod enden.

Nein, Grazia konnte ihm das nicht von den Schultern waschen, und närrisch kam sie sich vor, weil sie sich stattdessen daran ergötzte, wie die Tropfen über die Linien seines Gesichts sickerten, über seinen Hals rannen und unter dem Hemd verschwanden. Ihn bei sich zu wissen und ihm diese Freude geben zu können, ließ sie auflachen. Ihr war danach, in die Knie zu gehen, um sich ewig von ihm halten zu lassen.

»Die Pflicht ruft«, murmelte sie widerwillig und drückte sich von ihm weg. »Ich muss Wasser machen.«

Beim Aufstehen fuhr er sich durch die Haare. »Nimm du ruhig dein Bad. Ich sage den Männern, dass sie den Rest unseres Vorrats aufbrauchen sollen.«

Er machte auf dem Fuß kehrt und war fort. Grazia widersprach ihm nicht; sie holte den Lederbeutel mit Seifenkraut und Holzspänen zum Reinigen der Zähne aus ihrem Gepäck und stieg in die Nebenkammer hinab. Nach einem Blick ins Rund, ob auch wirklich keine Schlange hierin hauste, zog sie sich das Wüstengewand über den Kopf, knüllte es zusammen und fegte damit den Sand aus dem Becken. Dann stellte sie sich am Rand auf, atmete langsam und rief sich ein Bild in ihr Inneres: wie das Wasser emporsprudelte, das Sonnenlicht spiegelte, sich das Becken füllte. Kurz darauf gluckerte es zu ihren Füßen. Kristallklar war das Wasser, und so rein, dass es duftete.

Sie streckte eine Hand aus. Der vertraute kühle Luftzug fuhr über ihre Haut und entließ das Wasser aus einer unsichtbaren Quelle. Entzückt lauschte Grazia dem Tröpfeln, das in diesem Raum wie Gläserklirren klang. Sie streifte die Sandalen ab, stieg ins Becken, bis das Wasser ihre Knöchel umspülte, und hob die Hand. Rinnsale perlten über ihre geschlossenen Augen. Sooft sie Derartiges auch tat, erfüllte es sie doch immer wieder mit Staunen. Sie dachte an den Gott des Wassers, der sie umarmt und ihr mit einem Kuss die Gabe geschenkt hatte. War denn meine Wahlfalsch? Grazia lächelte. Noch wusste sie nicht, warum seine Wahl auf sie gefallen war, aber in einem solchen Augenblick drängte es sie nicht nach einer Antwort. Auch wenn eine Berliner Gelehrtentochter woanders sein sollte als in einer unwirtlichen Wüste, die sich nicht in Deutsch-Ostafrika, ja, nicht einmal auf der Erde befand: so wie es war, war es richtig. Um das zu wissen, musste sie nur den Mann ansehen, den sie liebte.

Sie öffnete die Augen und erschrak. Er saß am Durchgang und hatte die Arme auf den Knien verschränkt. »Lass dich nicht stören«, sagte er.

»Weißt du, wonach ich mich manchmal sehne?«

»Nach vielem, vermute ich.«

»Nach einem Regenguss.«

»Du kannst dich jederzeit erfrischen.«

»Ja, das ist wahr. Und es ist unglaublich schön. Aber nicht dasselbe.« Ihr Gesicht in den Regen zu halten und dabei zu frösteln, wann würde sie das wieder erleben? Ein Gedicht von Brentano kam ihr in den Sinn.

»Wie der Regen tropft,

An die Scheiben klopft,

Jeder Strauch ist nass bezopft.

Wie der Regen springt!

In den Blättern singt

Eine Silberuhr.

Durch das Gras hinläuft,

Wie eine Schneckenspur,

Ein Streifen weiß beträuft.

Das stürmische Wasser schießt

In die Regentonne,

Dass die überfließt,

Und in breitem Schwall

Auf den Weg bekiest

Stürzt Fall um Fall.

Und der Regenriese,

Der Blauhimmelhasser,

Silbertropfenprasser,

Niesend fasst er in der Bäume Mähnen,

Lustvoll schnaubend in dem herrlich vielen Wasser ...«

Anschars gerunzelte Stirn ließ sie verstummen. Sicher hatte er kaum ein Wort verstanden. Sie entkleidete sich vollends. Es machte ihr nichts aus, es in seiner Gegenwart zu tun, aber dass er es sich anscheinend nur deshalb auf seiner erhöhten Sitzposition gemütlich machte, um ihr dabei zuzusehen, fand sie denn doch befremdlich. Sie fragte sich, ob ihre Mutter sich dem Vater je nackt gezeigt hatte. Sicher nicht! Allein der Gedanke war so absonderlich, dass sie sich innerlich schüttelte. Um ihm zu zeigen, dass ihr sein Starren nicht passte, streifte sie das Unterkleid wieder über, hielt es an der Taille fest und hockte sich so rasch hin, dass das Wasser platschte.

»Würdest du mir bitte das Seifenkraut reichen?«, fragte sie, damit er etwas zu tun hatte, das ihn davon abhielt, ihr das Kleid mit seinen Blicken wieder herunterzureißen. Gemächlich ließ er sich ins Becken herab, löste die Bänder seines Wickelrocks und warf ihn ab. Auch das Hemd fiel auf das Kleiderbündel am Rand. Er kniete sich hin und rieb seinen Körper ein. Grazia konnte nicht anders, als gebannt seinen Bewegungen zu folgen, zuzusehen, wie seine Armmuskeln die schlangengleichen Linien seiner Tätowierung zum Leben erweckten. In ihrer Hand fanden sich ein paar Blätter; dass er sie ihr gegeben hatte, war ihr entgangen, so sehr bannte sie sein Anblick. Mit aller Willenskraft riss sie sich davon los. Sie zerrieb die Blätter und griff unter ihr Kleid.

»Jetzt zieh doch diesen Fetzen aus«, sagte er.

»Einer der Männer könnte hereinplatzen!«

»Dass sich einer von ihnen der Stelle nähert, an der du dich säuberst, hast du ihnen schon vor Monaten abgewöhnt. Und ich glaube, sie wissen ganz genau, was wir hier tun.«

Mit einem Mal schoss er hoch, warf die Haare in den Nacken und drückte das Wasser heraus. Was sie kaum in Gedanken zu benennen wagte, ragte von seinem Unterleib auf. Anschar durchschritt das Becken, dass das Wasser aufspritzte, und verschwand hinter ihr. Das Herz schlug ihr gegen die Rippen, und ohne recht zu wissen, weshalb, fühlte sie sich wie ein gefangenes Tier in der Grube.

»Anschar?«, hauchte sie. Hinter ihr geriet das Wasser in Aufruhr. Seine Hände legten sich um ihre Taille, so überraschend, dass sie leise aufschrie, und schoben sich unter ihr Kleid. Sie hörte ihn keuchen, und auch sie, kaum war der Schreck überwunden, atmete schwer. Doch als sie sich ihm zuwenden wollte, um ihn zu empfangen, ließ er es nicht zu. Sein Oberkörper presste sich gegen ihren Rücken und zwang sie nach vorn, bis ihre Hände gegen den Grund des Beckens stießen.

»Halt still«, sagte er – leise und so bestimmt, dass sie gehorchte. Nicht so, dachte sie, nicht auf diese Art. Um sie war nichts als Felsgestein, unter ihr das bewegte Wasser, kristallklar, darauf ihr tanzendes Gesicht. Ein Sandfaden wand sich auf dem Fels wie ein gründelnder Fisch. Ihr war, als sei sie fern von Anschar. Seine Unaussprechlichkeit begann ihre Scham zu teilen. Es tat nicht weh. Doch sie fühlte sich seltsam verlassen.

Nicht so! Sie sprang auf, von ihm fort. Das Wasser zerrte an ihrem Unterkleid. Sie krallte die Finger in den Fels und stieg so hastig hinauf, dass sie in die vordere Kammer stolperte und der Länge nach hinschlug. Als sich seine Hand um ihr Fußgelenk legte, rollte sie auf den Rücken und hob abwehrend die Arme. Sein Gesicht schwebte dicht über ihrem. Seine Hände umschlossen ihren Kopf.

»Ich habe dich erschreckt. Das hätte mir klar sein müssen.«

Nun war es anders. Wie es sein sollte. Aus seinen Haaren troff das Wasser, und aus seinen Augen rannen Tränen. Er wirkte so zerknirscht, dass sie lächeln musste. Was immer sie erschreckt hatte, war vergessen. Sie wischte eine Strähne hinter sein Ohr. »Du hast mir Angst gemacht.«

»Es tut mir leid. Aber du hast so verlockend ausgesehen, wie du da knietest.«

»Ich kann so etwas nicht. Wahrscheinlich findest du mich furchtbar prüde.«

Er wiegte den Kopf, so übertrieben, dass sie ihn anstieß und nun selbst beinahe lachen musste. »Das bist du«, meinte er schließlich. »Aber nicht furchtbar, denn dann würdest du dich mir überhaupt nicht hingeben. Ich weiß doch, dass sich in deiner Welt eine ehrbare Frau niemals ohne Eheschwur zu einem Mann legt. Im Übrigen hättest du dann nicht deine Hände auf meinem Hintern.«

Hatte sie das? Tatsächlich, unter ihren Fingern fühlte sie seine harten Gesäßbacken. Tastend glitt sein Mund über ihre Wange, und als er ihre Lippen traf, konnte sie nicht anders, als den gierigen Kuss zu erwidern. Mehr jedoch tat er nicht. Er hob einen sandverklebten Unterarm. »Fangen wir mit dem Waschen noch einmal von vorne an. Was hattest du da eigentlich gesagt?«

»Ein Gedicht über den Regen.« Wie sie ihn über sich sah, den Mund leicht geöffnet, das Gesicht so schön und so nah am Wasser gebaut, wie es nur bei einem Argaden möglich war, konnte sie nicht anders, als es zu beenden: »Und er lacht mit fröhlich weißen Zähnen und mit kugelrunden, nassen Freudentränen.«

Nein, Effi. Nach Mitternacht kann auch der Kaiser keine Tasse Tee mehr verlangen.

Theodor Fontane

Nein, Meya. Nicht wir klagten über dir,
wir waren untätig und hilflos.
Es war die Tochter des Feindes, die sich erbarmte.

Argadischer Grabgesang

DIE WÜSTE

DAS LAND DES ALTEN FEINDES

1

Ein Wesen, groß wie eine Faust und mit schillernder Haut bedeckt, hockte auf einem Ast, der wie aus glänzendem Stein gehauen wirkte. Das Tier war starr, nur die Augen folgten einem schwirrenden Insekt, das mit einem prachtvollen türkisfarbenen Leib lockte, als sei es sich bewusst, dass dies die Farbe Argads war, die es vor jedem Angriff schützte. Aber das Wesen scherte sich nicht darum, es ließ seine Zunge vorschnellen, und die Pracht war verschwunden. Es schluckte, kaute behäbig; dann erstarrte es. Anschar fragte sich, ob die Bewegung eine Täuschung seiner Sinne gewesen war und das, was er sah, nur eine äußerst lebensechte Skulptur. Von einem der krallenbewehrten Füße hing eine Leine und verschwand im Geäst des künstlichen Baumes. Dahinter sah er einen durchscheinenden Vorhang, der die Sonne milderte und sich in einer sanften Brise wog. Dieses Bild war so seltsam, dass ihm der Gedanke kam, in Grazias wundersamer Welt zu sein. War das Tor gekommen, um ihn, den Sterbenden, auf die Insel der Pfauen zu bringen, wie es mit seiner Mutter geschehen war? ... ein rätselvolles Eiland, eine Oase, ein Blumenteppich inmitten der Mark. Man träumte ...

Es fühlte sich nicht wie Sterben an. Grazia hatte ihm zu trinken gegeben. An mehr erinnerte er sich nicht, nur dass sie lebte. Sie musste ja leben, wenn er es tat. Wo war sie?

Die Zunge des Tieres glitt in ein Behältnis, das zwischen den Ästen steckte, und wühlte Wasser auf. Das Plätschern ließ Anschar endgültig in die Wirklichkeit zurückkehren. Unter sich fühlte er eine weiche Unterlage, wie er sie von seinen Gemächern in Argadye kannte. Er lag auf einem Bett, über dem Unterleib ein Tuch, das so zart war wie jenes, das flatternd die Sonne im Zaum hielt. Etliche solcher Tücher hingen nebeneinander und tanzten im Wind. Was war das für ein Raum? Er schob das Tuch beiseite und setzte sich auf. Sein nackter Körper roch nicht verschwitzt, sondern fruchtig; nirgends spürte er auch nur ein Sandkorn. Wo die Haut aufgescheuert und rissig war, glänzte Salbe. Er musste sein Gesicht betasten, sich die Haare zurückstreichen, seine Tätowierung betrachten, um sich zu vergewissern, dass wirklich er es war, der aufstand und einige Schritte über den glatt geschliffenen und polierten, aber unebenen Felsboden machte. Seine Bartstoppeln waren entfernt, die Haare gewaschen und gekämmt, und auch sie dufteten nach irgendeiner fruchtigen Essenz. Sogar seine Zähne fühlten sich glatt an. Lediglich dass ihn schwindelte, erinnerte ihn daran, beinahe in der Wüste verreckt zu sein.

Inmitten des Raumes stand ein dreibeiniger Tisch, darauf eine Schale aus mattem Gold. Überall fanden sich Stoffe; sie bedeckten das Bett, einen aus Felsengras geflochtenen Sessel und hingen an den Felswänden. Nach einer Seite war der Raum offen, hier tanzten die Tücher und luden ein, näher zu treten und hinauszuschauen. Zwischen zwei der Stoffbahnen trat er hindurch und fand sich an einem Abgrund wieder. Seine Benommenheit zwang ihn, äußerst bedächtig den Oberkörper zu recken. Dies hier war kein Zimmer, es war eine riesige, in den Fels gehauene Nische, und solcherlei Nischen übersäten zu Hunderten eine Felswand. Wahrhaftig musste es die Hochebene sein, die er gesehen hatte. Nur war ihre Wand nicht steil abfallend, wie jene in Argad, sondern geformt wie eine Sicheldüne. Unten auf der Ebene breiteten sich weithin Stoffdächer aus, und auf den Terrassen sah er die bunten Tücher, Kleider auch, die im Wind trockneten. Überall hockten Menschen und ließen die Beine über die abgerundeten Kanten baumeln; manche hielten Schnüre, an deren Enden kleine, auf Rahmen gespannte Tücher im Wind wehten. Das Geschnatter, das sie veranstalteten, ließ ihn glauben, in einem gewaltigen Bienenstock zu sein.

Ein kreisrunder Lichtfleck auf dem Boden fiel ihm auf, als er in den Raum zurücktrat. In die Decke war ein Loch geschlagen. Als er den Kopf hob, blickte er in neugierige Gesichter. Zwei junge Frauen knieten über ihm, offenbar im Freien, oben auf der Klippe. Kichernd stoben sie zurück und näherten sich verstohlen wieder, nur um erneut zu prusten und die Hände vor die Münder zu schlagen. Schließlich verschwand eine, und kurz darauf spitzte ein Tuch über die Kante. Handbreit um Handbreit glitt es herab, ähnlich durchscheinend und mit Bändern in allen möglichen Farben durchwebt. Pflegten Männer hier so etwas zu tragen? Er riss es herunter, was über ihm nervöses Gelächter auslöste, und schlang es sich um die Hüften.

»Habt ihr auch passende Sandalen?«, fragte er, nur um herauszufinden, wie gut man ihn verstand. Die Sprache Temenons, so hatte Henon erzählt, war dieselbe wie die von Argad, nur dass die jahrhundertelange Trennung ihre Spuren hinterlassen hatte. Die Mädchen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, was seine Frage nicht beantwortete, aber da fegte eine schneidende Stimme über sie hinweg und befahl ihnen klar und deutlich, jedoch mit einem fremdartigen Akzent, nicht herumzulungern und in anderer Leute Kammern zu spähen.

Anschar überlegte, ob er nachfragen solle, wo Grazia war, doch da entdeckte er eine zweiflügelige Tür, die sich an der hinteren Wand verbarg. Er wischte eine Stoffbahn beiseite und zog an den aus Felsengras gefertigten Schlaufen. Die Tür rührte sich nicht.