1
Die Ranch am Ende der Welt
F. R. David „Words“ (1982)

Wir waren Helden. Das stand außer Frage.

Wir hatten lineare Algebra überlebt, auf totem Latein herumgekaut und den Großteil der Zeit überstanden, in der uns uralte Eltern uralte Lebensweisheiten zwischen die Synapsen kippten. Wir Mädchen hatten Brüste bekommen und die Jungs ihre ersten Mofas, manche sogar schon den abgelegten Kadett des großen Bruders. Viel mehr brauchst du nicht, um ein Held zu sein.

Vor allem aber wussten wir ganz genau, wo es langging.

Wie wir werden wollten.

Ach was! Wie wir schon längst waren!

Und dass wir dieses Leben niemals zur flachatmenden Existenz der Alten verrotten lassen würden. Mehr war nicht zu tun. Das lag uns im Blut, das konnte gar nicht schiefgehen.

Und bis es endgültig so weit war, hieß es einfach durchhalten. Und notwendige Weichen stellen.

Eine enorm wichtige Weichenstellanlage befand sich am Rande vom heimatlichen Arsch der Welt. Ganz außen, am Ende der Dorfstraße, nach der nur noch Felder und Wald folgten. Dort, wo im Mai stechend gelb der Raps blühte und im Winter karge Einsamkeit. Und dazwischen Pickel- und Pokerfaces, mitten drin in der Ranch. Dem coolsten Ort von allen. Dem einzigen zumindest, der mit stolzen Brüsten und ersten Mofas zu erreichen war.

Ein verlottertes Abbruchhaus, das der Bürgermeister heimlich vergessen und wir ebenso heimlich gefunden hatten. Und das irgendwann tatsächlich wieder bewirtschaftet wurde. Mit einem speckigen Tresen, abgewetzten Barhockern, billigen Eichenfurnier-Tischen, umrundet von Herzchenrücken-Holzstühlen mit ausgestellten Beinen. Die kleinen Fenster guckten hinter verräucherten Gardinen blind nach draußen, auf den winzigen Biergarten hinaus. Den wir selten nutzten, da Helden bekanntlich stets im Schummerlicht trinken. Neben der Musikbox, die ausgerechnet bei „Wild Thing“ oftmals hängen blieb und mit einem beherzten Fußtritt wieder auf Spur gebracht werden musste. Oder lässig an den raumfüllenden Billardtisch gelehnt, den Queue mit abgenudelter Spitze in der Hand. Aber immer frisch gekreidet und die schwarze Acht ins gegenüberliegende Loch, Profis wissen um das richtige Equipment.

Hinterm dunklen Tresen stand Emmi.

Das Leben hatte sie in undefinierbarem Alter noch einmal in eine Gastronomie gespuckt. Und deshalb stand sie da im fleckigen Landfrauenkittel, das lange, strähnige, graue Haar zu einem Dutt auf den Kopf gezwirbelt, die braunen Reste einer ehemals weißen Zahnlandschaft im Gesicht, und machte uns glücklich. Reichte Asbach-Cola in schlecht gespülten Gläsern herüber, mit faltigem Arm am ordentlich ausgehängten, wenn auch vergilbten Jugendschutzgesetz vorbei.

Für ganz Mutige hatte sie in der Rumpelküche stets etwas vorbereitet. Einen strammen Max, nie ausgehenden Kartoffelsalat aus der Fünf-Kilo-Schüssel oder eine Frikadelle auf die Hand, mit viel scharfem Senf direkt aus der Tube. Irgendwo stand immer ein Putzeimer mit grauem Wischwasser herum, der allerdings nur zum Auffeudeln umgekippter Getränke genutzt wurde. Hätte sich jemals ein Typ vom Gesundheitsamt an den Arsch der Welt verlaufen, er hätte unser aller Glück direkt an denselben bekommen und den Laden mit Mann und Maus dichtgemacht.

Aber hey! Wir hatten lineare Algebra überlebt, wir wussten genau, wo es langging, wie sollten uns die coolsten Salmonellen des Universums etwas anhaben können? Haltbar geräuchert von Lord und Peter Stuyvesant: erste Fluppen, zu Hause einzeln heimlich geklaut oder von denen mit erstem Lehrgeld zusammengeschnorrt. Das Leben meinte es gut mit uns. Außerdem war das ja erst der Beginn. Der Beginn von etwas unbeschreiblich Großem, das wir nur noch unterwegs einsammeln mussten. Wenn man uns denn endlich einmal ließe.

Jahrelang waren wir auf Rollschuhen die schmale Straße vor dem Haus abgefahren. Erst auf zittrigen Beinen, quer rüber von Gartenzaun zu Gartenzaun, die Arme weit nach vorne gestreckt, um die Entfernung zu verkürzen. Hatten uns die Blutkrusten in möglichst großen Stücken von den Knien gepult, wieder das Wässrige unter dem Schorf freigelegt, dann die frische zartrosa Haut hervorgeholt, lachend aufs gute Heilfleisch gespuckt.

Bis die gerollten Strecken länger wurden und aus der Geraden viele Kurven und Kreise. Agnetha und Anni-Frid im Ohr, „Dancing Queen“, nie sicher, ob wir nun lieber die starke Dunkle oder die süße Blonde werden wollten, aber ahnend, dass wir vermutlich wir selbst bleiben mussten, auch wenn davon nicht allzu viel zu erwarten war. Zumindest kein „Bravo“-Starschnitt, keine Kostüme mit Pailletten-Stirnband und metallen glänzenden Schlaghosen und schon recht keine zum Heulen schönen Songs, die sich irgendwer so wie wir Freitagabend um sechs aus der aktuellen Hot-Twenty-Songlist auf Kassetten archivierte.

Wie besessen. Das war die wichtigste Stunde der Woche gewesen, wenn wir zu Hause im Schneidersitz vor dem Radio saßen, ehrfürchtig Record- und Play-Tasten drückten und mit Glück nach 3:20 kein vernichtender Verkehrsfunk den Lieblingssong unterbrochen hatte. Den besten von allen, der jetzt immer wieder anzuhören war. Immer wieder aus dem gewaltig großen Kassettenplayer, der die lange Auffahrt hinuntergeschleppt und auf die kleine Mauer gestellt wurde. Und dann Kreise auf Rollschuhen, „Dancing Queen“ auf Teer mit Stopper unter der rechten Fußspitze.

Wir Mädchen hatten im Reitstall ein paar Dörfer weiter gemistet, was das Zeug hielt. In den Ferien frühmorgens in den vielen Boxen, Hauptsache, in den hohen Gummireitstiefeln stecken, schnaubende, warme Pferdekörper striegeln, wichtig an Weidezäunen hängen, ein Halfter lässig über die Schulter geworfen. Um dann die verdienten Hallen-Reitstunden einzusacken, jeden Sonnabend rauf aufs mannshohe Glück, das Versprechen von Freiheit und Abenteuer zwischen den Beinen, im Winter mit Frostbeulen an den Zehen, aber das war tatsächlich egal gewesen.

Von Sonntag bis Freitag mussten dafür wieder die Fahrräder herhalten. Wir hatten ihnen Zaumzeug und Zügel aus Gurten an den Lenker gebastelt, führten sie auf die weiten Wiesen hinterm Haus, fütterten Vorderräder, klopften beruhigend auf Gepäckträger und kratzten Pedalen die Hufe aus. Um dann wieder aufzusteigen, hoch in den Sattel, die Lenkerzügel in der Hand, wild durchs Dorf galoppierend. Imaginäre stolze Amazonen auf imaginierten wilden Hengsten, die Welt war magic, wenn wir sie dazu machten.

Inzwischen war das mit den Pferden längst vorbei. Das war lächerlicher Zeitvertreib gewesen, Zeitfüller, Zeitfresser, Zeit war genau das, was wir nun nicht mehr hatten. Jetzt mussten wir raus, jetzt hieß es endlich selbst galoppieren. Schließlich war die Kinderhaut längst aufgeplatzt und hing uns in Fetzen an den noch unentschiedenen Körpern. Die einen zu lang und schlaksig, die anderen gestaucht und pummelig und ganz und gar nicht Abba-like. Aber ganz ohne Frage standen wir jetzt am Beginn von etwas unbeschreiblich Großem, wenn man uns nur endlich laufen ließe.

Wer mit Mitte, Ende zwanzig hier noch herumhing, der hatte das mit den Weichen nicht richtig kapiert. Das war uns durchaus klar. Der würde bleiben und nach kurzem sinnlosem Aufbäumen das Leben der Alten fristen. Die Söhne der Bauern gehörten dazu, auch die Schwestern Sonja und Gabi. Beide schon um die zwanzig, die eine flach wie Schneewittchen, die andere unglaublich dick wie Frau Holle. Irgendwas mit den Drüsen. Oder mit eimerweise Chips. Beide mit Schlafzimmerblick unterm Dauerwellenpony und ständig im verdreckten Klo, um sich den fetten schwarzen Lidstrich oder die Lippen nachzuziehen. Oder einen der Kerle herein, auch das kam vor, dass die engen, schlecht gefliesten Räume das Stöhnen lernten.

Dass sich die dicke Gabi allerdings so lange auf dem Waschbecken ficken ließ, bis das olle Ding aus der Wand brach und sich Toni gemeinsam mit einem Wasserrohrbruch ergoss, das fand Emmi gar nicht witzig. Da wurde tatsächlich mal lautstark gezetert und großräumig gefeudelt, nachmittags um vier, als die meisten von uns noch an der Drehbank standen oder über Hausaufgaben gebeugt waren und Englischverben konjugierten. Oder auch, es ist nicht auszuschließen, frustriert mit F.R. David im Schmalztopf saßen und „Words don’t come easy“ in Endlosschleife seufzten.

Nein, nicht alle würden es schaffen.

Aber wir jungen Zugezogenen, die sich in Kürze zumindest zum miesen Abitur fighten würden, wir hatten eine Chance. Und diejenigen, die begriffen hatten, dass sie dem Arsch der Welt irgendwann selbst den Blanken zeigen mussten. Damit das endlich mal aufhörte mit den stagnierten Träumen und der wortlosen Ergebenheit. Mit all den nicht gelebten Existenzen, die das Wort Leben gar nicht verdienten. In all ihrer furchtbaren Langweiligkeit, ohne Schnaps und Sex und Liebe.

Und ohne Sehnen nach mehr und Meer, immer nur den stinkenden Kuhfladen auf der Hauptstraße ausweichend, ohne Aufbäumen den scheißgelben Raps idyllisch findend.

Als würde es nichts Eigenes geben, nichts, was dort draußen irgendwo steht, so groß wie ein gewaltig blinkender Neonpfeil am Firmament, der genau auf deine Bestimmung zeigt. Wenn man ihn halt suchen und sehen will und nicht schon längst so blind ist wie die verdreckten Fenster der Glücksranch am Ende der Stichstraße.

Die seltsamerweise wie in einem kleinen Bermudadreieck lag. Erziehungsberechtigt wusste man wohl von ihr, aber die Kraft zu endlosen Diskussionen schien allseitig durch Lern- und Schulaufforderungen verbraucht zu sein. Irgendwann musste so ein Teenager ja auch mal raus, an die frische Luft. Und weit kommen konnte er hier ja nicht. Aber vom besonderen Glück der alten Ranch geahnt, geahnt hatten sie es. Gottergeben, vermutlich.

Meine Oma hat sich damals verraten. Die es mit den erzieherischen Herausforderungen aus der zweiten Reihe noch etwas genauer nahm. Sie kam tatsächlich einmal kugelrund im Stechschritt die lange Straße heruntermarschiert. Meinen aufrechten Opa im Schlepptau, der in der braunen Einkaufstasche ein Nudelholz für alle denkbaren Eventualitäten am Mann trug.

Plötzlich standen sie da, mittendrin im schummrigen Gastraum. Wie echte Überzeugungstäter. Der Plan ihres Lebens: mich, in Abwesenheit meiner Eltern, pünktlich nach Hause zu bugsieren, trotz offensichtlicher Sorge um Leib und Leben. Opa mit der lederumwickelten Küchenwaffe in der Hand, Oma mit der kühnen Entschlossenheit eines ganzen Gebirgsjägerbataillons.

Die Ansage war klar: „dass nun Feierabend wäre, junge Dame! Und die Herren sicherlich Verständnis hätten für außergewöhnliche Mittel, an einem Tag wie diesem, an dem sie schließlich die ganze Verantwortung trügen.“– Was unter den halbstarken Jungs um mich herum für großes Gejohle und eine spontane Einladung auf einen Kurzen sorgte. In Grund und Boden wollte ich sinken.

Ja, an diesem Abend hätte mir meine Familie beinahe mein junges Heldenleben versaut.

Aus der Ranch abgeführt, von den eigenen Großeltern. Peinlicher geht’s nicht. Dass sie aber auch niemals, wirklich niemals verstanden, dass das alles hier keine Einbahnstraße war.

Sondern ein Highway.

Der erste wichtige Zubringer in ein wirklich großes Leben.

Was für Banausen!

2
Ein Punk fällt vom Himmel
Phil Collins „You can’t hurry love“ (1983)

Trotz der peinlichen Familienverhaftung blieb die Ranch am Ende der Welt natürlich unangefochtener Anlaufpunkt für uns. Schließlich kann die Landjugend nicht täglich Feuerwehrübungen ausrufen, um eine Dorfgemeinschaft auf Kurs zu halten. Wobei man natürlich schon ein gesamtes Wochenende sinnvoll mit der aufwendigen Bierbankbestuhlung eines Spritzenhauses füllen kann. Um sich schließlich für eine halbe Stunde in die schwere Wehrausstattung zu werfen, ein paar absichtlich angekokelte Strohballen zu löschen und dann endlich wieder ans frisch Gezapfte zurückzukehren.

Die Eventmanager der Arschregionen arbeiteten in den 90ern mit äußerst profanen Mitteln. Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals im Ort gebrannt hätte. Aber Gnade Gott dem Feuer, das sich hierher gewagt hätte! Es wäre bezwungen worden. Mit aller Macht des Durstes, der nach befriedigtem Aktionismus konditioniert wurde.

Es war ein seltsamer Ort mit seltsamen Menschen.

Vielleicht auch einfach nur ein langweiliger Ort mit langweiligen Menschen.

Ihn jemals als „normal“ zu bezeichnen käme mir nicht in den Sinn. Obwohl fehlender Intellekt, ja oft nahe an der Normalität liegt. Und dies ziemlich genau das war, was uns Helden in Ausbildung am meisten anpisste. Nichts gegen Bauernschläue. Aber wenn der Gesamt-IQ eines personell gut gefüllten Spritzenhauses die Hundertzwanzig nicht zu übersteigen vermag, darf man zumindest ins Zweifeln kommen, ob Abtrünnigkeit gegenüber gepredigter Normalität nicht ein Spitzenbekenntnis wäre.

Der erste wirklich normale Mensch, der mir am Ende der Welt begegnete, trug knallenge Jeans über langen Männerbeinen und eine taillenkurze Lederjacke über dem äußerst definierten V. Die knallrot gefärbten Haare standen ihm vom Kopf ab, als würde er alle überstrahlen wollen. Ein Punk im Geist, ein Punk in Musik, ein fleischgewordenes Fabelwesen für mich, und so klar und gelassen, dass er verschenkt war an diesen seltsamen Ort. Und geschenkt an mich.

Ja, da kann man die Augen verdrehen und schicksalsgläubige Eso-Tucken verteufeln, ich bin trotzdem überzeugt davon. Dass sich manche Wege kreuzen, weil es keine Alternativen gibt. Weil sonst nichts gut und schon gar nicht richtig werden könnte. Dass man manchmal der eine für einen anderen sein muss, selbst wenn der andere nicht der eine für einen wird. Und dass Zufall ein allzu beleidigender Begriff für eine Wendung ist, der die Götter in Wahrheit applaudieren.

Ich zumindest sah ihn damals das erste Mal deutlich blinken, den Neonpfeil am Firmament, der auf den roten Campino in den Springerstiefeln deutete. Und ich schwöre, es war nicht nur das V, das mir die weichen Mädchenbeine in den faden Ballerinas schwach werden ließ. Nun gut, ein wenig vielleicht. Ziemlich sicher sogar. Aber das war es nicht alleine, nicht ausschließlich. Denn er stand da einfach, auf der ansonsten menschenleeren Dorfkreuzung, wie vom Himmel gefallen.

Per göttlichem Fingerzeig in mein Leben geschnippt, und stand aufrecht. Innen wie außen. Völlig unaufgeregt und sicher, während ich dumm an meinem weißen Popper-Overall herumnestelte, weil mir noch nie zuvor Helden vom Himmel gefallen waren.

Ein Mann schon, kein Babyface mehr. Aber eben ein junger Wilder, der ziemlich genau so war, wie ich gerne gewesen wäre. Und der mich fremdes, pubertierendes Wesen, trotz seines offenen Lächelns, an der nächsten Ecke schon vergessen haben würde. Was auch sonst?

„Hey! Nicht nur gucken, sprechen! Ich beiße ja nicht.“

„Was denn?“

„Na, was du hier machst zum Beispiel.“

„Ich warte auf den Bus.“

„Okay, das liegt nahe an einer Haltestelle. Denk größer. Was machst du hier?“

„Weiß nicht …“

Er blieb einfach stehen und grinste mich weiter an.

„Na und du? Was machst du?“

„Nun, ich lebe hier jetzt mal eine Weile.“

„Hier kann man nicht leben. Wo überhaupt?“

„Das wollen wir doch mal sehen. Unten, am Ende der Straße. Die alte Emmi hat mir die obere Etage der Ranch vermietet.“

„Da muss sie dir ja jeden Monat noch etwas drauflegen.“

Er lachte.

„Hey, wie sprichst du von meiner neuen Villenetage? Mal nicht so negativ. Zumindest wird sie der Sound nicht stören.“

„Du machst Musik?“

„Klar. Was sonst. Wie heißt du?“

„Candy. Und du?“

„Pete, aber alle nennen mich Buffy.“

„Wenn dich alle Buffy nennen, nenne ich dich Pete.“

„Okay, Sugar.“

In einem amerikanischen Roadmovie wäre an dieser Stelle ein klappernder GMC-Bus vorgefahren. Die Kamera hätte –Jonny Cash im Hintergrund – von der anderen Seite draufgehalten und nach seiner Abfahrt den Blick auf die gleichen zwei Personen freigegeben, die nun schicksalsträchtig in dieselbe Richtung schauten.

Aber so war es natürlich nicht. So ist es nie.

Keine Kamera weit und breit. Und ich habe den Bus des Tages auch nicht verpasst, sondern ihn brav genommen. Alles andere wäre überspannter Hollywoodkitsch. Aber ab diesem Tag lauerte ich ihm fast täglich schüchtern auf und er nahm es, wie es kam, und lächelte mir entgegen. Als wäre er nur deswegen gekommen.

Das war das Seltsame damals. Ich hätte ihm alles gegeben. Auch das eine.

Und er gab mir alles, außer dem einen.

Er wäre nicht der Erste gewesen, aber ich eine unter vielen. Zumindest mehreren. Damit ich das begriff, nannte er mich hin und wieder lächelnd seine Schwester und legte mir dabei ganz harmlos den starken Arm um die Schulter. Und ich begriff es, mit bis hoch zum Hals zugeschnürtem Herz, während ich ganz langsam lernte, über die eigene Nasenspitze hinauszuschauen.

Er war mein Lehrer, mein großer Bruder, mein Leuchtturm, mein Mentor. Er lehrte mich Freiheit zu leben, anstatt sie einfach nur einzufordern oder ihr Fehlen wie ein trotziges Kind zu bemaulen.

Pete hatte Zeit.

Das war das Erste, das Offensichtlichste nach seinem verwegenen Aussehen, das zu seiner beständigen, aber schnörkellosen Freundlichkeit so gar nicht passen wollte.

Er hatte Zeit, weil er nichts hinterherlief. Keinem Job, keinem Muss, keinem Alltag und somit auch keiner Auszeit davon. Pete war immer in Ist-Zeit, im totalen Jetzt, und nahm mich Schritt für Schritt mit.

Er schmiss sich lässig auf Sommerwiesen, während ich mich verkrampft neben ihn setzte und versuchte dabei gut auszusehen. Bis er geduldig auf den Boden klopfte und etwas von „Entspann dich mal, du musst tiefer runter, da oben kannst du das Große vom Kleinen doch gar nicht sehen“ sagte. Um anschließend seine Wange auf den Boden zu pressen und aus diesem Winkel die unvorstellbare Unendlichkeit der Welt aus Sicht des Marienkäfers zu beobachten, der sich eben an einem Grashalm hochhangelte.

Und ich legte mich endlich dankbar neben ihn, flach atmend, den Jungmädchenbauch eingezogen, und fühlte mich wie Gulliver im Land der kleinen Menschen. Viel zu groß, viel zu unlocker, viel zu viel von allem und eingebunden in ein Korsett aus viel zu vielen Kleinmensch-Seilen.

Bis ich nur noch nachgeben konnte, ganz langsam, neben all seiner Gelassenheit und all dem Selbstverständnis von Durchatmen und Sein. Und dann tatsächlich klein werden konnte, zusammenschrumpfen, bis mir sechs krumme Beine wuchsen, mein frisch gebogener Rücken Punkte trug und sich darunter hauchzarte Flügel herausstreckten.

Und dann war es tatsächlich da, das massenhafte Grün um mich herum, Grün in allen Schattierungen, riesige Grasbäume in Skyscraper-Grün, die sich wie torkelnde Riesen hin- und herwiegten, mich trunken machten und schwindlig. Und über mir ein Universum an Blau, das lange Zeit nur durch die dicken Halmmonster blitzte und erst als ich nach ganz oben hinaufgekrabbelt war, an der feinsten Spitze, dort wo es wieder tief herunterging, wirkliche Weite wurde. Eine Vorstellung von Unendlichkeit und Größe. Eine Mächtigkeit an hellem, unbegrenztem Blau.

Das war alles nichts Besonderes. Keine großen Taten, kein gewaltiges Abenteuer, kein beeindruckender Atompilz am Ende der Welt, der irgendjemandem aufgefallen wäre. Aber für mich war es spektakulär. Wenn wir in den Himmel schauten und Pete wie eine Möwe flog, ganz beiläufig über die Freiheit sprach, über die Nichtexistenz von Zeit und Raum, weil immer jetzt ist und alles immer da.

Es war spektakulär in meiner Welt, ihn dabei zu beobachten, wie er sich in die Lüfte schwang, sich treiben ließ und tragen. Wie er entspannt Kreise flog, zum Bussard wurde, sich aus lauter Neugier in die Tiefe stürzte, aber immer die Wühlmaus verschonte.

Pete war gut. Hart, aber gut. Nicht das böse Hart, sondern das klare. Das Hart, das dir zeigt, wie viel Rückgrat dir selbst in deinem haltlosen Weichsein noch fehlt. Und dabei ganz und gar unaufgeregt bleibt – es wird schon noch wachsen. Weil doch alles dann kommt, wenn es an der Zeit dafür ist.

Er saß bis Mitternacht mit mir garstigem Pubertier auf der kleinen Mauer am Straßenrand, die mein Elternhaus begrenzte, um mich hineinzuschicken, wenn das Außenlicht morste.

Ich hatte das lange nicht begriffen, dass er mich nicht nur schätzte, sondern auch beschützte. Was nach geraumer Zeit das Erste war, was mich damals mit meinen Eltern verband. Sie hielten ihn lange Zeit für einen viel zu bunten, unangepassten Wilden, der schrecklicherweise meine Welt auf den Kopf stellte. Und damit lagen sie absolut richtig. Nur eben ganz anders als gedacht.

Pete ließ mich wachsen und forderte ganz leise ein, den Respekt, den ich ihm entgegenbrachte, auch anderen zu zollen. Zuallererst mir selbst, dann meinen Eltern. Allem, was ist.

„Du bist sechzehn. Sie lieben dich. Du wirst nicht geschlagen, das ist mehr, als andere bekommen. Sie verstehen dich nur nicht. Und Verstehen kannst du nicht einfordern. Sei fair, sei zuverlässig, achte dich, achte andere und du wirst geachtet.“

Eher untypische Punkerweisheiten.

Ein tiefes Lachen.

„Und dann kannst du dir auch nehmen, was du willst! Alles! Schlaf gut, Sugar!“

Sprach es, stieg auf die schwere Kawasaki und dröhnte mit Vollgas nachts in die Stadt, sich alles zu nehmen.

Und ich schlich in mein Kinderzimmer, an den hochgezogenen Augenbrauen meines Vaters vorbei, und trug plötzlich die ganze Welt in mir. Eine zum Platzen große Welt, obwohl nicht viel in mich hineingefüllt worden war. Nur das Richtige. Pete hatte Zeit im Übermaß.

Die Partys in der Glücksranch wurden legendär und fanden für mich nun einfach eine Etage höher statt. Vor gesprayten Wänden, auf abgewetzten Sofas, eine zusammengewürfelte Meute, die Schmutzgeschirr so lange stapelte, bis man drübersteigen musste. Die große Anarchie unserer Jugend, die sich manchmal die Kante und manchmal die Dröhnung gab.

Aber wie durch Zauberhand ging damals jeder Joint an mir vorbei. Dafür saß ich mit großem Selbstverständnis im Popper-Outfit am Ende der Welt, hörte wummernd Live-Melodic-Hardcore aus riesigen, selbst gebauten Verstärkern und schaute fasziniert auf Pogo tanzende Punks, die so verwegen gar nicht waren.

Schröder, ein langes, weißblond gefärbtes Hungertuch an der Gitarre, trug im normalen Leben einen Drogeriekittel und verkaufte mit echter Hingabe Tierfutter. Die Omas haben ihn geliebt, wenn er für jeden Pinscher wortreich das richtige Zahnpflege-Schmacko aus dem Sortiment kramte. Seine Freundin Britt, nicht viel größer als eine E-Gitarre und mit einer Reibeisenstimme, die Lou Reed Konkurrenz gemacht hätte, strich sich nach jeder durchgetrommelten Nacht am Schlagzeug die Stacheln glatt und war Gerichtsschreiberin.

Und Pete lebte. In den Tag hinein und durch den Tag hindurch, nahm manchmal einen kurzen Job an, um mit Aldi-Tüten bepackt wieder in der Ranch anzukommen und den Liegestuhl auf der Abbruchterrasse aufzuschlagen. Den Bass in der Hand, einen Song im Kopf und endlich wieder Vollmilch im Kaffee. Anstatt der Butter, die Tage zuvor zum Weißen hatte herhalten müssen. Unbestritten eine der göttlichsten Plörren dieser Erde.

Wir renovierten mein Kinderzimmer und machten einen schwülstigen Jungmädchentraum daraus. Mit neuen Tapeten, an der einen Wand gestrichen, an der anderen nicht, und ein paar aufgemotzten Elternmöbeln, wovon das Beste die an einer Stelle aufklappbare Schrankwand war. Man hätte gut und gerne den Platz für Schulordner nutzen können, aber wir bastelten eine kleine, heimliche Hausbar daraus. Bestückt mit den ultimativen Getränken der Zeit: Batida de Coco, Persico, Blue Curaçao und irgendein Coffeecream-Gesöff.

Nicht dass wir oft davon getrunken hätten, aber im Sinne von J. R. und Sue Ellen Ewing, den erfolgreichsten Alkoholikern unserer Generation, konnte die Einrichtung einer kleinen Hausbar mit topmoderner Innenbeleuchtung gar nicht so falsch sein.

Das hat zu Hause nie jemand bemerkt, aber vermutlich waren auch alle froh, dass wir nach etlichen Wochen endlich mit diesem Zimmer fertig wurden und die Kleistereimer wieder im Keller verschwanden. Tiefenentspannt lagen wir schließlich, Citrus Lime schlürfend, auf der Tagesdecke des schmalen Mädchenbetts, ließen uns von Queen in voller Lautstärke beschallen und guckten in blubbernde Lavalampen. Ein Traum von Freiheit unter geschützten Bedingungen. Auch weil ich es geschafft hatte, durch den Zimmerwechsel im Erdgeschoss zu landen und, Ärger hin oder her, bei Bedarf jederzeit die Biege durchs Fenster machen konnte.

Eines Tages allerdings brachte er mir seine Schäferhündin als Pfand, faselte etwas von „Scheiße, ich muss mal für ein paar Wochen weg. Aber das wird nicht ewig dauern. Pass gut auf Kathy auf“ und verschwand, bevor ich auch nur an Widerspruch denken konnte.

Die Bundeswehr hatte ihn T1 gemustert und kurz vor Ablauf der Altersfrist gerade noch eingezogen. Pete. Beim Bund. In Reih und Glied gebrüllt. Weg für achtzehn Monate. Eine unvorstellbar lange Zeit, ein unvorstellbarer Zustand. Nichts, was dadurch zu gewinnen gewesen wäre, außer Brüchen und Narben. Denn wenn eines klar war, dann, dass er sich niemals einem beschränkenden System anpassen würde. Pete war immer sein eigenes System. Per aspera ad astra, durch das Raue zu den Sternen, ausschließlich nach seinem Wertesystem seiner Definition von Gut und Böse. Und beides war richtiger und authentischer gelebt als vieles andere vermeintlich Richtige auf dieser Welt.

Mit knapp siebzehn saß ich somit das erste Mal wie eine kleine Soldatenbraut (als Schwester wollte ich mich einfach so ungern sehen) im aufgemotzten Kinderzimmer und harrte zitternd der Feldpost. Die in seinem Fall ein aus irgendeinem gefundenen Schulheft herausgerissener, linierter Zettel war. Handschriftlich schnell und fahrig mit ein paar motivierenden Sätzen beschmiert und um eine Phrasendreschmaschine aus Pappe gewickelt. So ein Ding mit vier verschiedenen kleinen Fenstern, hinter denen man unzusammenhängende Worte auf Drehscheiben zu immer wieder neuen, sinnbefreiten Sätzen kombinieren konnte. Sein Humor hatte ihn allem Anschein nach auch in der Kaserne nicht verlassen.

Und ich hätte ihm vertrauen können. Kaum waren sechs Wochen vergangen, stand er wieder grinsend vor mir: „Die Sache hätte sich wie geplant erledigt.“

Er hatte die Psychonummer durchgezogen. Den Dienst an der Waffe aus ethischen Bedenken verweigert, sich selbst absichtlich den Fuß verletzt, die ärztlich verordnete freie Schuhwahl provokant mit ausgelatschten Turnschuhen beantwortet. Vor x Verwarnungen nicht klein beigegeben, sondern schließlich aus reinem Kalkül das Inventar einer Zelle zerschlagen und alle Militärpsychologen das Fürchten gelehrt.

„Unehrenhaft entlassen“ nannte sich das. Und wir nannten es Sieg! Sieg der Freiheit über die Anpassung. Sieg des Seins über das Muss. Er war zurück, es durfte wieder gelebt werden. Noch ein wenig Aufschub stehlen, in den Nischen des Irgendwo.

Wir wussten es damals noch nicht, aber es sollte nur noch wenig Zeit vergehen, bis wir die Ranch am Arsch der Welt verlassen würden. Und ein wenig mehr, bis der Schwesternstatus aufgelöst und durch zeitloses Begehren ersetzt werden würde.

Die große Freiheit sollte Jahr für Jahr mehr ihre bestechliche Seite zeigen und an einigen Stellen Schutz-, an anderen Strafgeld verlangen. Und wir würden es, wie alle anderen auch, murrend bezahlen. Lange mit Münzen. Später mit Scheinen. Schließlich mit dem Los.

Dafür würde das Schicksal noch ein halbes Leben Kredit vergeben, bis es Pete zerschmettert auf ein Klinikdach einfliegen ließ und ich in einem Nachtzug nach Murnau saß.

Doch bis dahin war noch so unglaublich viel Zeit.

Zeit, uns alles zu nehmen.

Schließlich waren wir Helden.

Wer hätte schon ernsthaft daran gezweifelt?

3
Die Lara Croft der 80er
Survivor „Eye of the tiger“ (1983)

Aber ein wenig blieben wir noch.

Man traf sich. Die Fußläufigen aus dem Ort und die echten Helden, die mit Führerschein, aus all den verschiedenen Irgendwashausen rund um das unsere herum. Man darf zu Recht behaupten, dass unser schändliches Paradies das abgerissenste von allen war. Aber vielleicht war es auch wie die dreckige Küche einer riesengroßen Party, die mit geradezu magischen Kräften alle anzieht, die noch nicht nach Hause gehen wollen. Dreckig geht immer, Saubermänner werden wir noch früh genug.

Was muss Schnabel unter unserer Euphorie gelitten haben, als er mit seinem alten Kadett die schlechteste Karte von allen zog. Sechs passten mit Mühe rein. Wenn es nicht anders ging, saß auch noch eine Elfe auf seinem Schoß, vorne auf dem Beifahrersitz. Auf dem er Blut und Wasser schwitzte. Um seine knirschende Kupplung, den x-fach von uns abgewürgten Motor und seinen Lappen, auf dem der Stempel noch feucht war. Und natürlich rund um die panische Vorstellung, dass selbst am Ende der Welt irgendwann eine Polizeistreife auftauchen könnte, die ihn für diese verbotenen Touren an die Wand stellen würde. Mindestens. Vielleicht auch Schlimmeres.

Pete hatte immer nur grinsend den Kopf geschüttelt, aber wir anderen quetschten uns gerne rein in den Kadett. Um uns von Schnabel über die geschlungene kleine Straße hoch auf den Hügel zwischen die Felder kutschieren zu lassen. Dort, wo es ein paar Kilometer weiter auf Schleichpfaden zum nächsten Ort ging. Dort wo man aufpassen musste, dass kein großer Bruder auf dem Trecker entgegenkam und dumme Fragen stellte.

„A-chtung!“, lautete der Warnruf, woraufhin sich alle blitzschnell übereinander warfen. Die hochroten Köpfe irgendwie unter den einsehbaren Bereich des Heckfensters gequetscht, bis die Gefahr vorüber war.

Oben am Waldrand, auf Feldwegen voller Schlaglöcher und staubigen Schotterpisten, lernten wir alle das Autofahren. Dort würgten wir hübsch nacheinander die Kiste ab und röhrten mit dem Standgas. Dort zuckten und zockelten wir mit vierzig Stundenkilometer dem autarken Leben entgegen, alle mit den Oberkörpern abrupt Richtung Frontscheibe geworfen oder von der Fliehkraft in die grauen Sitze gedrückt. Da war noch nichts mit Gurtpflicht und Kopfstützen, aber was war das Leben für ein Spaß, die Fenster weit heruntergekurbelt, die lachenden Gesichter wie hechelnde Hunde in den Fahrtwind gehalten.

Der Kadett überlebte jede Baumwurzel und jedes Schlagloch. Unsere Eltern entgingen durch die Gnade der Unwissenheit einem vorzeitigen Herzinfarkt und Schnabel überlebte uns. Keine Ahnung, was er sich damals genau davon versprochen hatte, vielleicht war er einfach nur zu nett, um Nein zu sagen. Aber gar nicht so viele Jahre später heiratete er Sibylle, die Elfe vom Beifahrersitz. Sein Schoß schien sie doch ausreichend beeindruckt zu haben.

Heute leben die beiden noch immer bei und mit ihren Eltern und züchten irgendeine Art von langhaarigem Tibet-Pinscher mit Abstammungsurkunde und Überbiss. So kann es gehen, wenn man nicht Nein sagen kann und der Erste gleich der Beste ist. Sibylle war eine Zicke vor dem Herrn und folgte ihrer neurotischen Mutter auf hohen Hacken. Lang und zart, mit dünnem blondem Gezottel bis zum kleinen Hintern. Eine echte, schlecht gelaunte Rapunzel, die vom Turm winkte und dem erschöpften Ritter nach sieben getöteten Drachen eine Prachtpartie im väterlichen Königreich versprach. Und genauso ist es dann wohl auch gekommen.

Eine meiner weiteren Etappen auf dem Heldenweg würde ich nur allzu gerne verschweigen. Sie ist nicht rühmlich. Eher rustikal. Verdammt rustikal für jemanden, der doch allen Traditionen abschwören und ein wirklich wildes Leben führen wollte. Doch es darf nicht verschwiegen werden - es gab eine Zeit, da wurde ich zur Schützenliesel.

Ja, das ist bitter. Aber Schnabel zwei, der kleine Bruder vom Großen, aber selbst schon alt genug für ein Mädchen an der starken Schulter, der brauchte eine. Um sich nach einem Jahr erfolgreichen Luftgewehrschießens im Vereinsheim als König feiern zu lassen.

Ich schien ihm wohl dafür geeignet und deshalb stand er da, mit einem zarten Blumensträußchen in der Hand, und wagte mich zu fragen. Ich wurde selten und schon gar nicht mit Blütenargumenten nach solch verbindlichen Arrangements gefragt, also sagte ich zu. Denn das ist ja schon etwas, in königliche Gefilde aufzusteigen und ein kleines Reich zu übernehmen, wenn sich sonst nebenan nur Fuchs und Hase gute Nacht sagen.

Meine Eltern schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, besorgten für eine unglaubliche Kohle ein mädchenhaftes blaues Dirndl mit rosa Schütze, und mit geballter Kraft brachten wir uns, im Kinderzimmer kreisend, gegenseitig den Walzer bei.

Es existiert tatsächlich ein Foto vom Ehrentag dieser Thronbesteigung. Er breit lachend, groß und schlank, im grünen Schützenhemd und mit schwerer Königskette wie ein ausgezeichneter Jungbulle. Und ich ein wenig pummelig und unsicher, in Zahnspange und Dirndlgerüsche, mit Blümchenarrangement in Papierspitze daneben. Dazu noch einen C&A Anorak übergeworfen, es scheint winterlich gewesen zu sein, als wir zwei spitznasigen Helden vor dem versammelten Ort im geschmückten Vereinsheim zunächst den Eröffnungswalzer und schließlich das Krönungslied aufs Parkett legten.

Ja, das ist absolut unverzeihlich. Zu meiner Rettung sei gesagt, dass Schnabel zwei gar nicht so schlecht küsste und wir uns für einige Zeit mit einer gewissen Ernsthaftigkeit als Pärchen versuchten. Sehr harmlos, sehr weit weg vom starken Punk, aber ich kann mich bis heute an ihn erinnern, an meinen ersten König im ersten Königreich.

Außerdem war ich eine wirklich bemühte Liesel und tauschte das samtene Kropfband um meinen Hals im Laufe der kommenden Monate gegen einen eigenen Schießhandschuh und eine Vereinsmitgliedschaft aus. Es scheint, dass mir die Abneigung dagegen, nur Anhang von einem Kerl zu sein, damals schon durch die wilden Venen floss.

Somit öffnete sich ein weiteres Kapitel, in dem ich jeden Freitagabend in langen dunklen Gängen anlegte, zielte und traf. Hatte sich Pete auch kürzlich aus ethischen Gründen gegen den Dienst an der Waffe entschieden - ich wurde zum Flintenweib und versuchte mich durch alle Möglichkeiten. Luftgewehr, Kleinkaliber, Tontaubenschießen, Pistole: kaum etwas, das ich ausgelassen hätte.

Knapp fünfzehn Jahre später habe ich mir dann noch den Motorradführerschein geschnappt. So aus einer Laune heraus, weil man sich zu seinem Dreißigsten doch irgendetwas fürs Leben schenken sollte. In Erinnerung an das furchtbare Geräusch von Rettungshubschraubern vor Bergketten bin ich viele Jahre nicht mehr selbst gefahren, aber streng genommen könnte ich es. Ich könnte in einer echten Dangerous Zone die Zigarette wegschnippen, auf eine starke Maschine steigen, den Kickstarter betätigen, mit der linken Stiefelspitze den Gang einlegen und aufdrehen. Ich könnte sie mit der Hüfte nach unten drücken und mich in die Kurve legen. Ich könnte auf der nächsten Geraden auch eine Pistole aus der Innentasche meiner Lederjacke ziehen und auf die zielen, die mir an Leib und Leben wollen. Und nicht nur mit Glück würde ich treffen. Streng genommen könnte ich es.

Zum Soundtrack von „Rocky III“. Was für eine Vorstellung! Genau der wäre es, kein anderer kommt infrage. Remember? Rocky Balboa, der Gescheiterte, während seiner Vorbereitung zum Kampf gegen Apollo Creed? Seine einzige Chance, die letzte vermutlich, und deshalb trainiert er sich bis zum Kotzen die Seele aus dem Leib. Boxt gegen Rinderhälften im Schlachthaus und rennt immer wieder diese beschissen lange Treppe hoch. Zu Survivors „Eye of the tiger“, dem Hammersong mit dem wuchtigen Gitarrensolo am Anfang.

DAM!– DAMDAMDAM!– DAMDAMDAAAA! Bis er es sich wieder zutraut. Alles. Und schließlich in diesem verdammt harten Kampf Apollo ausknockt. Und dann: ADRIAN!

Ja, das wäre der Soundtrack. Das wäre mein Gewinnersong, für die Motorradinszenierung. So und nicht anders würde das zeitlose Flintenweib in mir sie durchziehen.

Streng genommen könnte ich es. Aber das war nicht immer so.
Als junges Mädchen hatte man mich gerne verschickt. Das war damals nicht weiter ungewöhnlich. Wenn ein engagierter Jugendarzt sorgenvoll den Kopf schüttelte und ernste Worte sprach über den aufgestauten Baby- oder Sorgenspeck, der in diesem Alter nicht mehr hingehörte an ein gutes Kind, dann hat man es eben verschickt.

Ihm das Köfferchen gepackt, die Wange geküsst und es in einen Zug gesetzt. Um die Sommerferien in einer gesunden Umgebung zu verbringen, an einem fremden Ort, mit vielen anderen dicken Kindern. Und viel zu dünnen. Man nahm das damals nicht so genau. Die einen wurden eben aufgepäppelt, die anderen abgespeckt. Am selben Tisch, das war völlig normal.

Mich hatte man mal irgendwo in die Mitte Deutschlands verfrachtet. In einen wahren Gesundbrunnen von Kinderheim. Ein riesiges Gelände, ein riesiges Haus mit Nebengebäuden, mit einer riesigen, nach Schweiß stinkenden Turnhalle und einem unendlichen Trimm-Dich-Pfad durchs bergige Land. Wie gemacht, um dicken unsportlichen Kindern in neu gekauften, drückenden Turnschuhen ein ganz fantastisches neues Körpergefühl zu vermitteln.

Zur Lebensaufgabe hatte sich dies ein echter Ausbund an Sportlichkeit, Gesundheit und sauberem Deutschtum gemacht. Herbergsvater Ratayczak gereichte seinem Namen zur Ehre. Stark, gestählt, preußisch, unbezwingbar! Elementare Werte, um dumme, dicke Lämmer zurück auf den rechten Pfad des Lebens zu führen. Ratayczak führte Regiment. Als Trainer der blökenden Kinderschar ebenso wie als Vorsteher der gesamten Herbergsfamilie, die sich zwischen Großküche, Schlafsälen und Wiegeraum organisierte.