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Michael Boenke

Gott’sacker

Kriminalroman

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Michael Boenke

ISBN 978-3-8392-3464-8

Widmung

Für Kathrin,

Johannes Gabriel

und Judith Gabriela.

Danksagung

Danke, Charlotte.

Gedicht

Hitze flirrt über dem Ried,

der Gräber sucht den Ort,

er findet die heilge Stätte

und singt sein Lied,

er flucht das schändliche Wort.

Er hebt den Spaten,

stark sticht er das Grab,

und legt es hinein,

gebettet zur ewigen Ruh,

keiner kann die Stätte raten,

sie ist der Seele Lab.

1

Die Eingeweide verschmierten sich zu einem gelblichweißen Brei, der mir das Sehen erschwerte. Mit meinen schwarzen Lederhandschuhen versuchte ich die zäher werdende Masse zu beseitigen. Aber das Geschmiere wurde nur noch schlimmer.

Ich beschnitt den Vorwärtsdrang meiner nachtschwarzen Harley, indem ich die rechte Hand vom Gas nahm. Die Bremswirkung des schweren V-Motors ließ mich auf der schmalen Straße ausrollen. Das Visier nach oben – wieder freie Sicht.

Gottverdammte Drecksviecher.

Ich manövrierte das schwere Eisen rechts auf den unbefestigten Rand der Straße.

Die Augustsonne versetzte mir einen sanften Schlag auf den Kopf, als ich den Helm abnahm. Der Geruch von heißem Motor, Straßenhitze und Gras – und noch irgendetwas anderem stieg in meine Nase. Mit einem zerknüllten Papiertaschentuch aus meiner Lederjacke und viel Spucke versuchte ich, die Überreste des geborstenen Insektes von meinem Visier zu entfernen. Den krustigen Chitinpanzer zog ich vorsichtig mit dem Fingernagel meines Daumens vom empfindlichen Sichtschutz. Aus den Fragmenten des gesplitterten Chitinpanzers, die grünlich in der Sonne schillerten, schloss ich, eine Schmeißfliege vom fliegenden in den endgültig statischen Zustand gebracht zu haben.

Jetzt erst fiel mir auf, dass die stehende Hitze nicht nur vom Musizieren der Grillen erfüllt war; eine eintönige an- und abschwellende Melodie des Summens bildete die Bassbegleitung. Über der einsamen Riedstraße zeichnete die Hitze eigenartige Schlieren in die Luft. Von der heißen Straße schlug der Geruch von Teer in mein Gesicht, vom Dorf her roch es nach Mist. Dem ländlich-olfaktorischen Gemenge schien aber noch etwas anderes beigemischt, wellenartig trug mir die heiße Luft einen süßlich widerlichen Geruch zu. Wäre nicht das Summen gewesen, hätte ich bestimmt schnell wieder das vor Hitze tickende Motorrad bestiegen und wäre weitergefahren, um mir etwas Kühlung durch den Fahrtwind zu verschaffen.

Jetzt sah ich es. Direkt neben der halb zerfallenen Kapelle, die schief auf riedigem Boden stand, manifestierte sich das Summen in einem dunklen Schwarm fetter Fliegen. Sie schienen in einem konzertanten nervösen Luftreigen um die Kapelle herumzutanzen. Neugierig ging ich näher an das baufällige Gotteshäuschen heran.

Ich wohne schon so lange auf dem Land, dass mir der Geruch, der jetzt noch dichter von der Kapelle herübergetragen wurde, nicht fremd war.

In der Stadt riecht man es nicht, dort werden überfahrene oder sonst irgendwie zu Tode gekommene Tiere sofort von der Stadtreinigung weggeräumt. Ein totes Tier ist nicht gut für den anwachsenden Städtetourismus.

Nicht so auf dem Land, vor allem nicht hier an dieser Straße, wo man noch stundenlang warten kann, bis ein Auto vorbeikommt.

Der Geruch war eindeutig der des Todes. Irgendein Tier musste hier schon etwas länger neben der alten Kapelle in der Sonne liegen. Ein Tier, das mit Sicherheit nicht mehr lebte.

Wie hatte der Freiburger Professor Schlesinger in seiner Vorlesung für die Erstsemester ›Post mortem est ante mortem‹ gesagt: »Vergessen Sie das mit dem Puls – erst wenn Sie den Tod riechen …« Und jetzt roch ich ihn in seiner ekelhaftesten Art.

Vielleicht ein Reh, für eine Maus braucht es nicht so viele Fliegen.

Durch das hohe Gras lief ich auf dem weichen Boden zur Schattenseite der Kapelle. Aus dem Geruch wurde Gestank. Ich atmete durch den Mund und versuchte, meine Nase aus dem Atmungsprozess auszuschließen. Die Fliegen schienen mein Eindringen in ihren Bereich übel zu nehmen. Einige der grünlich schimmernden Insekten versuchten auf meiner schweißnassen Stirn zu landen.

Ich lebe doch noch – bestimmt der Knoblauch, … Spaghetti aglio olio …

Dies, eines meiner Leibgerichte, da schnell zubereitet und von exzellentem Nährwert, hatte ich mir gestern Abend zubereitet. Und mit Knoblauch gewiss nicht gespart. Der Gedanke an das feine Pastagericht zauberte mir ein retrospektives Lächeln ins Gesicht, das jedoch durch einen Atemfehler jäh wieder verschwand und einem Gefühl schlagartiger Übelkeit Platz machte. Ich würgte, schluckte und dachte schon daran, wieder umzukehren, als ich den Schuh auf der Erde liegen sah. Es war bei Gott kein schlechter Schuh, kein italienischer Schick, aber solides Wanderwerkzeug aus braunem Leder. Und lange lag der bestimmt nicht.

Ein zweiter wäre nicht schlecht – auch zum Motorradfahren gut geeignet.

Ich hob das lederne Laufutensil vorsichtig vom Riedboden auf, ließ es aber schnell wieder fallen, als ich die gelblichweißen Maden auf der Erde sah, die mich mit ihren schwarzen punktförmigen Augen missachteten.

Pfui Teufel, hier hat wohl jemand seinen Müll entsorgt – inklusive Schlachtabfälle.

Meine Neugierde musste nun gestillt werden und ich lief zur Südseite der Kapelle zum Eingang, denn dort schien der Gestank als greifbare Wolke in der Luft zu hängen.

Und von dort kam mir auch die Prozession entgegen. Es sah eigenartig aus, hintereinander in einer Linie zogen sie mir entgegen, obwohl sie langsam waren, schien es mir, als ob sie es eilig hätten. Auf dem Boden krabbelte eine weiße Prozession des Todes. Hunderte von Maden verließen die Kapelle durch die Tür, die einen Spalt geöffnet war.

Vorsichtig schaute ich durch den Spalt zwischen Holztür und Mauer, bis ich den Ausgangspunkt ihrer Wanderung entdeckte: Das Entsetzen entlockte meinen trockenen Stimmbändern ein knarziges »Heilandzack!«.

Was da auf dem Boden der zerfallenen Kapelle durch den engen Ausschnitt der Tür zu sehen war, war ein Mensch – gewesen. Das Gebrumme, die Hitze, der Gestank, alles war mir plötzlich unerträglich. Schnell drehte ich um, ohne die Kapelle zu betreten, und stolperte über alte Backsteine und rannte wenige Schritte weg vom Gemäuer. Dann drehte ich jedoch um und ging, widerlich vom Unfassbaren angezogen, noch einmal zum Eingang, zur alten Holztür, die schief in den Angeln hing. Ich zog meine kleine Digitalkamera aus der Tasche und hielt sie, ohne mir das makabre Bild live anzuschauen, so weit wie möglich zum Türspalt hinein, ohne den Raum betreten zu müssen. Ich bewegte die Kamera in meiner Hand in alle Richtungen und schoss so einige Bilder von dem, was ich nicht sehen konnte und wollte. Immer wieder drückte ich den Auslöser und benutzte die Zoom- und Weitwinkelfunktion meiner Kamera.

Dann entfernte ich mich vom süßlich tranigen Geruch des Todes und vom unaufhörlichen Summen der fetten Fliegen, die einen Kinderhort für ihren madigen Nachwuchs suchten. Ich drehte mich noch einmal kurz um und machte ein paar Fotos vom windschiefen Sakralhäuschen. Romantisch, wie es hier mitten im Ried, nur 20 Meter von der sanierungswürdigen Landstraße entfernt, dem langsamen Verfall preisgegeben war. Ohne das widerlich süße Parfum des Todes, ohne den makabren Inhalt – eigentlich ein schöner Ort für ein Schäferstündchen. Bis jetzt war ich immer nur daran vorbeigecruist, hatte es in seiner schiefen Architektur eher belächelt. Plötzlich hatte ich einen sakralen Respekt vor diesem Gebäude. Und das nur, weil die kirchliche Form und der modernde Inhalt für mich nicht mehr korrespondierten.

Als ich meinen Helm sah, dessen Visier immer noch leicht verschmiert war, musste ich mich neben meinem Motorrad übergeben. Ich ahnte, welche letzte Mahlzeit das Insekt zu sich genommen hatte, bevor es durch einen Zusammenprall mit meinem Visier schlagartig vom Leben zum Tode geführt wurde. Und ich hatte es mit meiner Spucke und meinem Daumennagel vom Helm entfernt.

Ein weiterer Strahl Erbrochenes landete nahe der Spitze meiner Schlangenleder-Cowboystiefel.

Herrschaftsechse – das hätte noch gefehlt, 780 Euro, weiße Python aus Brasilien.

Um meinen Fuß war die Python gepaart mit einem braunen Rindsleder. Beide lebten auch nicht mehr. Alles um mich herum schien nicht mehr zu leben. Nur diese verdammten Fliegen. Ärgerlich wedelte ich mit beiden Armen, um die lästigen Insekten zu verscheuchen. Aus einem meiner vielen und abgebrochenen Studiengänge wusste ich noch, dass man diese Drecksbiester auch ›Totenfliege‹ nennt. Sogar ihr lateinischer Name ›Cynomyia mortuorum‹ war mir erstaunlicherweise noch geläufig – das war schon immer mein Problem: Ich konnte mir immer nur die unwichtigen Dinge merken.

Der Hinterleib der Totenfliege ist grünblau und metallisch glänzend, der Thorax ist deutlich dunkler. Die Facettenaugen sind rot gefärbt und die Wangen des Fliegenkopfes sind gelb-rot. Ich kenne sie gut, immer wenn ich Fisch auf den Grill lege, bevorzugt die Forellen aus dem Bach Ostrach, zählen sie zu meinen unbeliebteren Gästen.

Die Polizei.

Ich kramte nach meinem Handy, suchte nervös die Einschalttaste, bis ich bemerkte, dass ich meine Digi-Cam in der Hand hatte. Der zweite Versuch förderte mein himmelblaues Antik-Handy aus der Tasche. Im Bohnenstengel, meiner Stammkneipe, wurde ich deswegen immer geärgert. Das Handy hatte noch einen beachtlichen Antennenstummel – vermutlich war es ein Männchen.

Mit zittrigem Daumen tippte ich auf den winzigen Tasten herum, aber umsonst. Funkloch.

Schwitzend setzte ich mich auf den heißen Sattel meines Stahlrosses. Mit Zeigefinger und Daumen schloss ich meinen schwarzen Sturzhelm unterm Kinn. Mit dem Daumen drückte ich den Starterknopf des Metall gewordenen Traumes aus Milwaukee. Als ich anfuhr, ging mir ein Gedanke durch den Kopf: Was würde ich ohne Daumen machen?

Oft bin ich mit mir unzufrieden, immer wenn ich an Unwesentliches denke, wenn ich Wesentliches denken müsste. Bestimmt sollte ich hierin die Ursache suchen, dass es mit meiner Studiererei nicht so richtig geklappt hat. Meine Mutter hatte immer geschimpft: ›Ewiger Student, typisches Gammelstudium‹. Aber … genau so war es auch. Begonnen hatte ich in Heidelberg, Lehramt Kunst und Englisch. Gescheitert bin ich am Ti-eitsch ›th‹. Oder vielleicht auch an anderem. Dann Parapsychologie in Freiburg bei Professor Johannes Mischo. War klasse, aber dann hatte ich Dörthe aus Herne kennengelernt.

Heilandzack!

Ein in einer Kurve zu umfahrender Kuhfladen riss mich aus Gedanken, die fehl am Platze waren. Noch wenige Meter bis zum Ortsschild von Riedhagen.

Am Gasthaus Zum Goldenen Ochsen lag eine Katze im Schatten des lang gezogenen Vordaches. Als ich vor ihr anhielt, öffnete sie kurz die Augen, schaute mich vorwurfsvoll an und zuckte mit dem schwarz-weißen Ende ihres Schwanzes. Sie hatte nichts gegen Motorradfahrer.

Ich klingelte. Die beleibte Wirtin kam mit einer geblümten Kittelschürze, unter der die Träger ihres BHs von beachtlicher Größe hervorblitzten, aus der Tür.

»Wir haben noch nicht geöffnet, erst ab 16 Uhr!« Im gleißenden Gegenlicht hatte sie mich wohl nicht erkannt. Aber jetzt lachte sie: »Ja, was treibt dich um die Zeit hier her, und das auch noch an einem Donnerstag, setz dich zu einem Bier, du siehst ganz verdurstet aus.«

Sie streckte mir die Hand entgegen.

»Na, Danile, und wie geht’s sonst? Siehst ein bisschen bleich aus, na, die Hitze und das schwarze Lederzeugs. Ja, Heiland der Welt und neue Stiefel hat’s auch gegeben, sieht fast wie echtes Leder aus. Jetzt sag schon, was treibt dich her?«

»Ein Bier, ich brauch zuerst ein Bier.«

»Von mir aus, aber was ist los, der Durst allein wird’s nicht sein und die Cäcilia kommt ja erst nächste Woche wieder von Tübingen.«

Ich erzählte ihr in wenigen Worten, was ich in der zerfallenen Kapelle vorgefunden hatte.

Schade, dass Cäci dieses Wochenende nicht kommt. Na ja, man kann nicht alles haben. Wahrscheinlich ist sie noch ein wenig sauer auf mich.

Als sie die Polizei verständigt hatte, kam sie mit dem hellen, bernsteinfarbenen Bier in der Hand auf mich zu. Im Gegenlicht blitzte ein Sonnenstrahl durch das labende Getränk, den Rest der Sonne verdeckte die Ochsen-Wirtin mit ihrem feisten Körper. Sie sah aus wie eine Erscheinung, langsam als Schattenriss kam sie mit kiesknirschenden Schritten im Biergarten auf mich zu und das Glas WalderBräu naturtrüb hell leuchtete immer noch in ihrer Hand.

»Gott sei Dank.«

»Äh, ja zum Wohl – bist wohl noch etwas durcheinander. Wer das wohl ist in der Wendelinskapelle?«

Gierig trank ich die ersten zwei Schlucke. Ich hätte es wissen müssen, sofort schoss mir ein scharfer Schmerz wie ein Lametta-Streifen durch das Gehirn. Immer wenn ich Kaltes zu schnell trank, verspürte ich den ominösen Schmerz unter meinem Schädelknochen. Was heißt Kaltes, eigentlich nur Bier. Wenn ich Kaltes trinke, ist es immer nur Bier … Vielleicht müsste ich mal zum Arzt. Aber dann heißt es bestimmt: ›Nutzen Sie noch die letzten Tage, machen Sie eine Weltreise, oder tun Sie das, was Sie schon immer tun wollten.‹ Ich hasse Reisen, insbesondere Weltreisen, und das, was ich schon immer machen wollte, mache ich eigentlich ständig. Meine Gedanken schweiften wieder ab. Im Schatten des mächtigen Kastanienbaumes schaute ich hinunter ins Ried. Sanft fiel die Landschaft in die Ebene des Pfrunger-Burgweiler Rieds ab, das in der Bevölkerung lediglich Pfrunger Ried genannt wurde. Der Himmel war so blau wie mein Handy, das sich immer noch weigerte, Kontakt zu einem Sendemast aufzunehmen. Wenige weiße Wolken zeigten an, dass das Wetter die nächsten Tage schön bleiben würde.

Frieda, die Ochsen-Wirtin, hatte die schläfrige Katze auf dem Schoß, die oberen vier Knöpfe der Kittelschürze standen weit offen und gaben einen eigenartig interessanten Blick auf ihren mächtigen fleischfarbenen BH frei.

»Soll ich gleich noch eins machen?« Sie deutete auf das Glas.

»Ja.«

»Aber mehr gibt’s nicht, du bist mit dem Rädle da.«

Ich mochte Frieda, ich mochte es aber nicht, wenn sie meinen Schatz aus Milwaukee ›Rädle‹ nannte, nicht nur, weil es mich zu sehr an ein schweißtreibendes Fortbewegungsmittel mit Pedalen erinnerte, ich mochte es auch nicht, wenn sie mich ›Danile‹ mit langem ›a‹ nannte und meinem Namen somit eine provinziell schwäbische Note gab, und ich mochte es neuerdings auch nicht, wenn sie meine brasilianischen Pythonschlangenlederstiefel für Imitate hielt.

Als sie mit dem zweiten Bier kam, das mir heller zu leuchten schien als das erste, war die Polizei immer noch nicht da. Sinnierend betrachtete ich die kühlen Kondenswasser-Perlen, die sich langsam an der Außenwand des Glases durch die Schwerkraft des Planeten zur Tischplatte hinbewegten und einen feuchten Abdruck hinterließen. Mein Bier! Es gehörte mir im doppelten Sinne. Seit dem Jahre 2003 war die im nahen Königseggwald angesiedelte Brauerei Aktiengesellschaft und die jährliche Dividende wird in Bier ausgeschüttet. Zärtlich strich ich, meiner Aktionärsverantwortung bewusst, über die glitzernden Tropfen, die wie flüssige Diamanten am Glas hafteten. Jäh unterbrach Frieda meine bierselig, philosophischen Gedanken: »Die kommen halt aus der Bad-Stadt.«

Sie deutete mit dem Kopf in nordöstliche Richtung, wo sie Bad Saulgau vermutete.

»Vielleicht fahren sie auch gleich zur Leiche.«

Noch einmal wollte Frieda die Geschichte von den Fliegen, dem Stiefel, der Leiche und meiner Foto-Aktion in allen Details hören. Bei der Stelle anfangs, wie ich mein Visier von der zerschmetterten Schmeißfliege säuberte, schüttelten sie und ihr fülliger Busen sich voller Ekel.

»Komm, zeig mir die Bilder, die du gemacht hast.«

Ihre Hand kam fordernd über den Tisch.

Da ich den digitalisierten Tod beim Bier nicht sehen wollte, reichte ich ihr die kleine silberne Kamera und zeigte ihr kurz, wo sie drücken musste, um die nächsten Bilder anzeigen zu lassen, und wie man die Zoomfunktion benutzt. Immer wieder kam ein Zischen durch ihre Lippen, als sie ihren fleischigen Daumen nötigte, die winzige Taste zu betätigen, um das nächstfolgende Bild zu sehen.

»Das sieht ja schlimm aus … furchtbar … was ist denn mit dem Kopf, der steht so komisch ab? Da in dem Eck, was ist denn das? … Komisch.«

Plötzlich kreischte sie: »Ja halleluja, was ist auch das?«

Erschrocken schaute ich auf. Was hatte Frieda auf dem winzigen Bildschirm entdeckt?

»Die sieht noch recht lebendig aus, aber scheint ein armes Mädchen zu sein, die hat ja gar nichts anzuziehen. Und die tollen roten Haare! Ja, wo findet man denn heute noch so eine? Aber schlecht gebaut ist die auch nicht, heilige Jungfrau Maria.«

Um ihre Beobachtungen zu belegen, klopfte Frieda sich auf ihren ausladenden Busen.

Ich brauchte einige Sekunden zu lange, um zu begreifen, doch dann schoss meine Hand nach vorn und entriss der plötzlich verlegen lachenden Wirtin die Kamera. Daran hatte ich nicht mehr gedacht, an die anderen Bilder – die von Susi. Mit rotem Kopf stotterte ich: »Die habe ich am Baggersee kennengelernt, ähm …, das ist heutzutage üblich … Ähm, textilfrei und so.«

»Das sah aber schon nach mehr als nur textilfrei aus«, zwinkerte sie mir mit rot geäderten Wangen zu. »Ich wusste gar nicht, dass du so auf drall und rothaarig stehst.«

»Sag den Polizisten zuerst mal nichts von der Kamera, sonst kassieren die sie gleich ein. Das wäre mir und … dem armen Mädchen peinlich … und der Cäci bitte auch nicht.«

»Ich war doch auch mal jung. Bei uns gab’s leider noch keine solchen Kameras. Da musste noch alles im Labor entwickelt werden, schwarz-weiß. Und der Fotografenmeister hätte dich dann vor allen anderen nackt auf den Bildern gesehen. Was meinst du, wie schnell das durchs Dorf gegangen wäre.«

Sie lächelte kurz verschmitzt, zwei Grübchen erschienen neben ihren rot geäderten Wangen: »Sonst wär’ ich bei einigen Kerlen bestimmt auch auf einem Bild. Heute bräuchte man allerdings einen Weitwinkel.«

Die Worte vom Weitwinkel schienen mir zunächst kryptisch. Doch dann musste ich lachen.

Die schnell getrunkenen Hellen und die Hitze zeigten ihre Wirkung. Als die Polizei eintraf, war die äußere Hülle meines Kopfes knallrot und das Innere wattiert.

Die beiden Polizisten grüßten förmlich und setzten ihre schicken Dienstmützen auf. Ihre Schritte knirschten uniform auf dem gekiesten Boden.

»Sie haben einen Leichenfund gemeldet. Sind Sie sicher, dass es sich um eine menschliche Leiche handelt?«

Ich nickte und zeigte in Richtung Ried.

»Dort liegt sie.«

Sie nahmen meine Personalien auf und wollten hören, wie ich die Leiche gefunden hatte.

»Können Sie uns die Stelle zeigen?«

Ich stieg zu ihnen in den grün-weißen Passat – er hatte keine Klimaanlage, aber schon 250.000 Kilometer auf dem Tacho, wie mir der Fahrer stolz erklärte.

Diesmal blieb ich an der glühenden Straße stehen. Mit einer Stiefelspitze bohrte ich im flüssigen Teer. Der Geruch gefiel mir, er erinnerte mich an meine Kindheit. Mit zehn Jahren hatte ich die Schlattersche Krankheit, eine Erweichung des Knochens im rechten Knie kombiniert mit einer Entzündung der dazugehörigen Sehne. Und meine Oma war der Überzeugung, dass die Behandlungsmethoden des Arztes falsch waren. Das Beste sei, Umschläge mit Ichtolan zu machen – einer teerhaltigen Salbe. Wenn ich hinter einem LKW herfahre, der Teer geladen hat, überhole ich nie – ich genieße es.

Ich beobachtete von der heiß flirrenden Straße aus, wie die Polizisten mit roten, verschwitzten Köpfen durch das hohe Gras in die Richtung des schiefen winzigen Glockentürmchens staksten. Bald kamen sie zurück mit deutlich weniger Farbe im Gesicht. Ich hörte, wie sie mit dem Funkgerät redeten. Dieses gab ihnen krächzend und unverständlich Antwort. Dann kamen sie zu mir und stellten nochmals Fragen, wie ich die Leiche gefunden und warum ich gerade hier angehalten hätte. Und dann musste ich wieder warten.

In der spiegelnden Spätnachmittagshitze kam die blau-silberne Prozession wie in Zeitlupe die holprige Riedallee entlang. Es stiegen mehr Männer als Frauen aus den Autos. Einige hatten weiße Overalls, Handschuhe und weiße Hauben an. Sie trugen Köfferchen, Kistchen, Kameras und mir unbekannte technische Geräte. Andere waren in Uniform und brachten rot-weiße Absperrbänder. Ein paar waren in Zivil und zwei von ihnen kamen geradewegs auf mich zu.

»Grüß Gott, Härmle, Kripo, Sie haben die Leiche gefunden? Das ist meine Kollegin Frau Krieger.«

Seine nicht unansehnliche blonde Begleitung nickte mir kurz zu und musterte mich von oben bis unten. Ganz unten blieb ihr Blick eine Sekunde zu lange an meinen Stiefeln haften. Mein Blick blieb kurz an der nachlässig geknöpften Bluse der attraktiven braunäugigen Beamtin hängen.

»Ihr Name?«, fragte sie und kramte etwas aus ihrer Handtasche.

»Bönle, Daniel Bönle.«

Und wieder erzählte ich die Geschichte vom Insekt und dem Visier …

Der Kommissar hörte aufmerksam zu, seine Begleiterin machte mit einem zahnstocherartigen Stift Notizen in ein Gerät, das aussah wie ein Handy. Allerdings zeigten ihre hektischen und ruckartigen Handbewegungen, gekoppelt mit ärgerlichem Kopfschütteln, dass Kugelschreiber und Notizblock ihre Aufgaben besser erfüllt hätten.

Ich bin ja ansonsten kein altmodischer Mensch, aber diese Minicomputer finde ich einfach lächerlich.

Als ich meine Geschichte wiederum zum Besten gegeben hatte, ihnen noch einmal versicherte, dass ich die Kapelle nicht betreten, die Tür aber etwas aufgestoßen hatte und meine Personalien noch einmal aufgenommen wurden, war ich endlich entlassen. Jedoch nicht, ohne einen Termin fürs Protokoll abgemacht zu haben.

Ein Polizist bot sich an, mich nach Riedhagen zu fahren. Ich lehnte ab.

Ich wollte meinen Kopf frei laufen. Ich muss zugeben, dass ich ansonsten nicht viel laufe. Die größte Strecke, die ich in meinem poststudentischen Leben so zurücklege, ist die vom Bett zum Kühlschrank. Deshalb hatte ich auch die Strecke durchs Ried völlig unterschätzt. Vier Kilometer sind auch so kaum machbar, aber unter den gegebenen Umständen eine Spitzenleistung. Meine neuen Stiefel waren noch nicht eingelaufen und meine Lederjacke eindeutig zu warm für diesen Marsch. Hätte ich sie ausgezogen, hätte ich sie tragen müssen. Und die Sonne ließ sich heute mit dem Untergehen besonders viel Zeit. Rechterseits neben der Straße lag Riedhagen, von der zögerlichen Sonne in weichem Orange beschienen. Trotz meiner Erschöpfung, gepaart mit meiner läuferischen Unlust, war das, was ich sah, schön. Das 800-Seelen-Dorf lag sanft am Hang. Dort, wo der Saum des Rieds durch Hecken und Apfelbäume gekennzeichnet war, begann die Landschaft anzusteigen, und erste ausgesiedelte Bauernhöfe prägten das ansonsten dichte Ortsbild. Hinter nachlässig gepflegten Zäunen standen unbeweglich schwarz-weiße Kühe wie Staffagen einer Modelleisenbahn. Das geistliche Zentrum der malerischen Ansiedlung hob, die Einwohner an ihre Katholizität erinnernd, in Form eines mächtigen Kirchturms den moralischen Zeigefinger, gekrönt von einem Zwiebeldach. Das profane Zentrum in Form des Goldenen Ochsens bildete den unteren Rand der Dorfkulisse. Der obere Rand der Ortschaft wurde durch die gedrungene Fassade eines Aussiedlerhofes definiert, der mitnichten von Aussiedlern umgetrieben wurde. Hier fristete vielmehr Ökogeflügel sein schlachtzeitbegrenztes Dasein. Bio-Truthähne, Bio-Gänse, Bio-Hühner und freilaufende Eier waren der ganze ökologische und ökonomische Stolz des ausgesiedelten Bio-Bauern. Ansonsten war es wie in jedem oberschwäbischen Dorf auch, je höher es ging, desto neureicher das Ambiente, je weiter man abstieg, desto höher die Bauerndichte. Ganz unten am Dorfrand war das einzige Hochhaus Riedhagens durch die Zweige der Riedallee zu erkennen. Es hatte drei Stockwerke. Mein sehnsüchtiger Blick suchte zum wiederholten Male die ferne Gartenterrasse des Goldenen Ochsens mit ihren satten Kastanien, und ich beschleunigte eher unbewusst meine Schritte. Die neuen Stiefel bremsten mich sofort in meinem Vorwärtsstreben wieder ein.

Ich hatte das Auto gar nicht gehört. Das metallische Gesäge der Grillen erfüllte die Luft – ganz abgesehen davon, dass moderne Motoren einfach zu leise sind.

»Wollen Sie nicht lieber mitfahren?«

Das blonde Fräulein, mit der Notizmaschine. Sie grinste mich an: »Das sind keine Wanderstiefel.«

Mein roter schweißglänzender Kopf sprach eine andere Sprache, als ich so unbekümmert und taufrisch wie möglich »Nein danke, ich laufe gern« in ihren schicken quietschgrünen VW-Beetle schnaufte.

Eine halbe Stunde später ließ ich mich völlig erschöpft in der Gartenwirtschaft des Ochsen auf einen grünen Klappstuhl fallen. Der Schweiß, der das natürliche Hindernis meiner Brauen überwunden hatte, brannte mir in den Augen. Unter meiner Lederjacke hatte sich ein extremes Kleinklima gebildet, das durch einen Kreislauf von Dampf und Sturzbächen gekennzeichnet war. Im Schatten der Kastanien, die weit ausladend ihre Äste schützend über die vielen kleinen und großen Tische und die Klappstühle hielten, betrachtete ich zufrieden die zurückgelegte Fußstrecke. Es ist schon erstaunlich, wozu der menschliche Körper in Extremsituationen fähig ist. Ebenso erstaunlich aber ist, wie viel ein motorisiertes Fortbewegungsmittel an Zeit einsparen kann. Ich pellte meine Python-Schlangenlederstiefel von meinen geschwollenen Füßen und stellte sie unauffällig unter den Tisch.

Unaufgefordert brachte mir Frieda ein WalderBräu naturtrüb hell.

»Das Rädle bleibt heute hier, die paar Meter kannst du auch noch laufen.«

Jetzt erst bemerkte ich, halb verdeckt vom Stamm einer mächtigen Kastanie, am Nachbartisch das blonde Fräulein. Es plapperte in ein winziges silberfarbenes Handy, ich hatte Angst, sie könnte es verschlucken. Auf dem Tisch standen ein großes Mineralwasser ohne Zitrone und ein kleiner Salatteller. Dann hätte ich auch so ein Figürchen.

Das erste der zweiten Staffel des kühlen Bier-Getränks an diesem Tag lief noch besser die sogenannte Speiseröhre hinunter als das erste der ersten Staffel bei meinem ersten Stopp bei Frieda.

Ich konnte schon als Kind nie verstehen, warum es Speiseröhre und nicht Trinkröhre heißt. Ich bin mir absolut sicher, dass da mehr Flüssiges runterläuft als Festes. Außerdem kann man ohne Essen lang leben, ohne Trinken wäre man an Tagen wie heute innerhalb weniger Stunden tot.

»Sie können sich zu mir setzen.«

Das Fräulein nickte auffordernd, den blonden Kopf hinter dem Kastanienbaum hervorstreckend, von mir zum leeren Stuhl an ihrer Seite. Neugierige Blicke der wenigen Gäste im besten Rentenalter, vermutlich Kurgäste aus der nahen Bad-Stadt, begleiteten mich, als ich strumpfsockig über den gekiesten Boden mit dem kühlen Bierglas in der Hand zum schlanken Fräulein stakste. Frieda stand im dunklen Loch der Holztür und beobachtete uns mit Argusaugen.

»Und, hat der Spaziergang gutgetan?«

Ich nickte.

Provokativ wanderte ihr Blick unter das runde, grüne Metalltischchen hin zu meinen bestrumpften schweißnassen Füßen.

»Sieht aber nicht so aus.«

Ich nickte nicht.

»Können Sie auch reden?«

Ich nickte.

»Sie sind aber nicht gerade gesprächig.«

Ich nickte nicht.

»Ich habe eine Fuß- und Beincreme dabei.«

Sie grinste mich eine Spur zu keck an.

»Haben Sie Krampfadern oder Orangenhaut?«, konterte ich.

Sie grinste nicht mehr, und ich beschloss, dem unsinnigen Gespräch eine andere Richtung zu geben: »Soll das ein Dienstgespräch, Verhör oder Ähnliches werden?«

»Oh, Sie können ja doch wieder reden. Ist das Ihre Stammkneipe hier?«

»Nein, aber der Wurstsalat ist gut, ich bin nur ab und zu hier … früher war ich regelmäßig … äh, Gast. Und außerdem ist das hier keine Kneipe, sondern eine Gastwirtschaft.«

»Sie wohnen aber hier, im Ort?«

Hätte das Fräulein bei meiner Befragung am Fundort der Leiche besser zugehört und nicht mit ihrem Zahnstocher ihr digitales Notizbuch traktiert, wäre ihr sicher nicht entgangen, dass ich seit anderthalb Jahren hier in Riedhagen wohne.

»Ja.«

»Schön ist es hier, noch richtig beschaulich und friedlich. Auch eine tolle Gegend zum Motorrad fahren … das ist doch Ihre Maschine, da vorn auf dem Parkplatz? Frisch geputzt, so wie der Chrom glänzt?«

»Das Chrom.«

Sie ignorierte meinen Einwand und wendete ihren hübschen Kopf mit der geraden Nase unter Zuhilfenahme ihres langen, makellosen Halses in die Richtung des Parkplatzes vor dem Ochsen.

»Ja, immer donnerstags wird sie gereinigt.«

Ich nickte und durchschaute sie mit ihrer Polizistinnenrhetorik. Sie wollte mich mit Komplimenten und Belanglosigkeiten locker machen, um mich unauffällig auszufragen.

»Ihre dicke Zweizylinder-Maschine gefällt mir sehr gut.«

»Mir Ihre auch.«

Das Fräulein zuckte kurz zusammen und zupfte nervös am weit geöffneten Ausschnitt ihrer Bluse.

Da hatte sie mich gründlich missverstanden.

»Ich wollte nur einen blöden Scherz über Ihren Beetle machen, nicht … ähm, über Ihre …«, stotterte ich und schaute auf ihre schlanken Finger, die nervös versuchten, die weit geöffnete Bluse mit den winzigen Knöpfchen puritanischer zu gestalten.

»Ist schon gut … war bestimmt teuer, Ihre Harley … der ganze Umbau … Fender, Ape, Kellermänner, tiefergelegt …«

Ich nickte anerkennend, das war Fachjargon.

»Sind Sie auch mal Motorrad gefahren?«

»Ja, früher mal.«

»Und jetzt nicht mehr … sind Sie mal runtergefallen?«

Sie nahm einen winzigen Schluck von ihrem Mineralwasser. Und beantwortete meine Frage nicht.

»Die Landschaft lädt ja richtig ein, gemütlich durch die Gegend zu cruisen.«

»Wollen Sie eigentlich einen Prospekt ›Motorradfahren in Oberschwaben‹ herausbringen oder mich verhören?«

Ganz langsam fing die Sache an, mich zu nerven. Da saß nun das blonde Polizisten-Fräulein und versuchte irgendwie, mit mir ins Gespräch zu kommen. Ich wollte aber nicht reden, lieber wollte ich in aller Ruhe das zweite der zweiten Staffel trinken. Aber die Vorstellung, dass das nervige Fräulein von der Polizei mir zuschaute, wie ich mit einem weiteren Glas verflüssigter Braukultur auf meinen zweizylindrigen Eisenklotz stieg, behagte mir gar nicht. Denn eines muss klar sein: Nach Hause nur mit der Schwarzen, und wenn ich sie die paar Meter schiebe.

Und weil mein Gegenüber auch noch Gedanken lesen konnte, zeigte sie auf mein mittlerweile leeres Glas: »Trinken Sie noch eins – geht auf Staatskosten.«

So ein einmaliges Angebot, den Staat nachhaltig zu schädigen, konnte ich mir nicht entgehen lassen und nickte. Frieda, die uns aus ihrer dunklen Höhle unter dem mächtigen Dach beobachtet hatte, war schnell wie nie. Ein weiteres Glas regionaler Braukunst glänzte luzid-bernsteinfarben in der Abendsonne.

»Mit Mineralwasser stoße ich nicht an«, sagte ich, als sie mir ihr Glas entgegenstreckte.

Die sonst übliche Heiterkeit kehrte nach der Hälfte des Glases wieder in mein Gemüt zurück. Auch die Gesprächigkeit. Schon bald hatte mir die engelsblonde Staatsdienerin alles entlockt, was für sie von Interesse war. Dann stand sie auf. Der Salatteller war leer, das Glas Mineralwasser noch zur Hälfte gefüllt.

»Sie lassen Ihr Kraftrad besser stehen – auf Wiedersehen.«

Sie zeigte auf meine Oldschool-Harley, von der man hinter der Hecke nur den ultrahohen Apehanger und den schwarzen Tank hervorspicken sah. Dann stand sie auf, bezahlte bei Frieda, verließ mit festen knirschenden Schritten den gekiesten Biergarten und stieg in ihren quietschgrünen VW-Beetle. Frauen-Fahrzeug mit Kindchenschema.

Ich bin ja ansonsten kein altmodischer Mensch, aber bei Fahrzeugen denke ich noch wirklich konservativ. Autos dürfen niemals ein von durchgeknallten Designern entwickeltes Mickey-Mouse-Gesicht haben und zu kugelig daherkommen. Autos sollten eine längstmögliche Motorhaube haben und darunter einen stärkstmöglichen Motor. Umweltfreundlich natürlich – vielleicht Wasserstoff, kein so ein Hybridzeugs und natürlich einen V8-Sound. Den könnte man ja …

»Was wollte die von dir, Danile, wer war das?«

Der drohende, dunkle Schatten neben mir war Frieda, ihr Gesicht war im Gegenlicht kaum zu erkennen, der Tonfall ihrer Frage mahnte mich zur Vorsicht.

»Von der Polizei.«

»Das geht auf mich.«

Sie stellte mir ein frisches Bier auf den Tisch.

»Und Frieda … ähm, noch mal wegen den Bildern von Su… ähm … dem armen Mädchen, wäre mir recht, wenn du Cäci nichts sagen würdest … du weißt ja, ich mag sie immer noch.«

»Du brauchst nicht rot werden. Von mir erfährt keiner ein Sterbenswörtchen. So, ich muss jetzt in die Küche, bald kommen die Essensgäste. Mal sehen, vielleicht weiß jemand schon was Neues über die Leiche. Wahrscheinlich ein Landstreicher, der da übernachtet hat. Den hat bestimmt der Schlag getroffen. Komm mal wieder vorbei. Das Rädle bleibt heute Nacht ja eh hier.«

»Vielleicht war’s ja auch eine Landstreicherin.«

Frieda drehte ihren fleischigen Kopf überrascht in meine Richtung: »Was?«

»Emanzipation«, rief ich ihr grinsend zu und hob mein Glas.

Ich hatte mir auch schon Gedanken gemacht, wer die Leiche war. Hoffentlich niemand, den man kannte. Aus meiner Jackentasche zog ich das Röhrchen, nahm zwei Tabletten heraus und warf sie in das Bier. Die Krone wurde mächtiger, der Geschmack jedoch kaum beeinträchtigt. Aber zwei Aspirin im letzten Bier sind mir allemal lieber als ein Katerfrühstück.

2

Die dunkel gekleidete Gestalt zwängte sich durch das Gesträuch zur Häuserreihe und summte leise zu einer Kinderliedmelodie:

»Das Schwesterlein litt große Pein.

Das Kindchen war so krank und klein.

Da kommt das Brüderlein daher,

der Pfaff erzählt ihm eine Mär.

Die Margot ist ’ne dumme Kuh,

ich schlug sie tot, jetzt hab ich Ruh.

Ich hole mir die Schweine halt,

verscharre sie im dunklen Wald.

Die Margot schlug ich zuerst tot,

den Pfaff hol ich beim Morgenrot,

den Pfaff hol ich beim Morgenrot …«

Als der Mann in die unmittelbare Nähe der Häuser kam, die alle im nüchternen Stil der 50er-Jahre erbaut waren, versuchte er so leise wie möglich aufzutreten. Langsam zog er die Zweige der Hecke auseinander und betrat den Rasen. Dann bewegte er sich lautlos auf das beleuchtete Fenster der Veranda zu. Der Arm mit dem schweren gusseisernen Kreuz in der Hand zuckte nervös. Es war nicht viel zu sehen, das Fenster bot durch die transparenten Vorhänge einen verschwommenen Einblick in die Stube. In einem Sessel war ein hagerer kahlköpfiger Mann zu erkennen, der neben einer Stehlampe und einem verchromten Ventilator in einem Buch las. Es war der ehemalige Pfarrer von Riedhagen.

Auf leisen Turnschuhsohlen bewegte sich die Gestalt zur Verandatür neben dem Fenster. Vorsichtig drückte sie dagegen. Verschlossen. Die Nacht war warm, der Mann schwitzte unter der dunklen Mütze, auch die Handschuhe waren schweißgetränkt.

Herrgott noch mal, bei so einem Wetter lässt man doch die Tür offen. Ich kann doch keine Scheibe einschlagen, sonst habe ich die ganze Nachbarschaft am Hals – und den Drecksköter vom Nachbarn.

Aber er wollte es heute zu Ende bringen, irgendwann musste alles abgeschlossen werden. Als er ums Haus herum ging und gerade zur Kellertür hinunterwollte, fing der Schäferhund des Nachbars an zu kläffen. Als es in der dichten Hecke zum nachbarlichen Grundstück hin raschelte, zuckte der Mann zusammen und schaute voller Furcht ins dichte Gestrüpp der Hecke. Er konnte den Hund nicht sehen, er wusste aber, dass er ihn sah.

Alles – nur kein Hund!

Wie in Panik flüchtete die Person durch den Garten und verschwand im angrenzenden Wald, das schwere Eisenkreuz krampfartig umklammert.

Den Hund schickt der Teufel! Ich muss das Problem anders lösen … noch heute!