Titel
Klaus Erfmeyer
Tribunal
Knobels vierter Fall
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
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1. Auflage 2010
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Korrekturen: Doreen Fröhlich
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von spekulator / sxc.hu
ISBN 978-3-8392-3488-4
Widmung
Für Lendita
1.
Dortmund. Ortsteil Syburg. Stephan Knobel folgte konzentriert Löffkes Wagen. Er seufzte. Warum hatte er sich überhaupt auf diese Sache eingelassen? Weil Marie dazu geschwiegen hatte? Die Straße wurde schmal und führte in engen Kurven steil hinunter ins Tal. Irgendwo hier in der Nähe, noch auf Dortmunder Stadtgebiet, sollte das Haus des Psychologen Paul Bromscheidt liegen. Bromscheidt hatte Stephans Sozius Löffke vor einigen Tagen in der Kanzlei angerufen, um ihn für einen Publikationsbeitrag zum Kulturhauptstadtprojekt zu gewinnen. Es gehe um ›Justiz und Gewissen‹, und so, wie sich Löffke aufgeplustert hatte, schien man ja geradezu darauf gewartet zu haben, sich auch in der kulturellen Öffentlichkeit seiner überragenden Kompetenz zu versichern.
»Bromscheidt wird alle Fragen beantworten«, hatte Löffke kryptisch knapp beschieden und ein Treffen arrangiert.
Offensichtlich witterte Löffke mit der Publikation die Chance zur ruhmreichen Denkmalspflege in eigener Angelegenheit. Dabei fehlte ihm zum Schreiben durchaus das Talent. Er pflegte weiß Gott keinen ausgefeilten Sprachstil. Seine anwaltlichen Schriftsätze waren oft ungeschliffen und wirkten wie aus Blech getrieben. Er schrieb, wie er war: polternd und barsch, ungeniert und manchmal beleidigend. Stephan wusste, dass er und mehr noch Marie als nunmehr examinierte Germanistin Löffke in dieser Hinsicht weit überlegen waren. Stephan und Marie würden also das leisten müssen, was Hubert Löffke selbst nicht vermochte: mit geschliffener Wortwahl jenen journalistischen Glanz zu erzielen, mit dem sich Löffke anschließend zu brüsten beabsichtigte. Im Schmücken mit fremden Federn war er immer schon führend gewesen. Klar: Hinter seiner leutseligen Einladung stand nichts anderes als die Sicherstellung eines parasitären Vorteils zu seinen Gunsten. Das Einzige, was Stephan im Moment tröstete, war, dass es eine gewisse Waffengleichheit insofern gab, als Löffke nicht wusste, dass er mit dem Gedanken spielte, die sich abzeichnende Zusammenarbeit zum Prüfstein der Fortführung der Sozietät mit Löffke zu machen. Zu oft hatte es zwischen ihnen schon Streitigkeiten im Gefolge intriganter Strategien gegeben, als dass er auf eine Partnerschaft noch hoffen durfte, die diesen Namen verdiente. Das Einzige, was Stephan daran hinderte, sich anderweitig zu orientieren, war die Tatsache, dass ihm die Arbeit in der Kanzlei allen Widrigkeiten zum Trotz nach wie vor Freude machte.
 
Endlich hielt Löffke vor ihnen. Vom Wind getriebene Schneeflocken wirbelten freudetrunken im Scheinwerferlicht. Ansonsten herrschte zu beiden Seiten der Straße tiefe Dunkelheit. Im Wagen vor ihnen wurde die Innenbeleuchtung eingeschaltet. Hatte Löffke sich verfahren? Löffke und seine Ehefrau Dörthe waren nur schemenhaft zu erkennen. Beide schienen sich über eine Karte zu beugen. Hinter ihnen saßen die Eheleute Frodeleit, Freunde der Löffkes. Von ihnen wusste Stephan lediglich, dass Achim Frodeleit ein früherer Referendarkollege von Hubert Löffke war, der nach dem Assessorexamen die Richterlaufbahn eingeschlagen hatte und mittlerweile vor seiner Beförderung zum Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht stand. Frodeleit sei eine juristische Granate, habe er, so Löffke, Bromscheidt ungeschminkt versichert, ein Partner, mit dem sie brillieren könnten.
 
Löffke fuhr weiter. Nach etwa 200 Metern bog er unvermittelt links ab und passierte ein kunstfertig gearbeitetes schmiedeeisernes Tor, das zu einer hell erleuchteten kastenartigen Villa im Bauhausstil führte, die in der Dunkelheit wie ein marmorner Klotz erschien.
Paul Bromscheidt führte seine Gäste in ein geräumiges Wohnzimmer.
Sie setzten sich an einen langen, filigran wirkenden Esstisch, Bromscheidt vor Kopf, Löffkes und Stephan links, Frodeleits und Marie rechts von ihm.
»Willkommen in meinem Haus«, begrüßte Bromscheidt sie lächelnd. »Sie sehen, ich habe eine gewisse Vorliebe für Transparenz und Weite. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl in meinen Hallen.«
Er warf Marie einen Blick zu. »Sie sind mit Herrn Knobel befreundet?«
»Frau Schwarz ist Herrn Knobels Lebensgefährtin«, glaubte Löffke erläutern zu müssen. »Sie ist Germanistin und bewirbt sich derzeit um eine Stelle an einem Dortmunder Gymnasium. Ich berichte doch korrekt, Kollege Knobel?«
Stephan bejahte.
»Sehr schön«, nickte Bromscheidt.
»Gestatten Sie, dass ich Ihnen Herrn Frodeleit vorstelle?«, preschte Löffke übereifrig vor. »Er ist zugleich Freund und Kollege und steht zurzeit vor einem großen Karrieresprung!«
Löffkes Augen leuchteten verzückt, als falle der Glanz des Freundes auf ihn selbst zurück.
»Es kommt nur ein Buchstabe hinzu«, wandte Frodeleit ein.
»Er wird zum Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht befördert«, stellte Löffke richtig.
»In der dienstlichen Bezeichnung rücke ich lediglich vom ROLG zum VROLG vor«, wiegelte Frodeleit gespielt bescheiden ab.
Bromscheidt, der Gastgeber, war Anfang 50 und auffallend schlank, fast dürr. Sein kahler Kopf wirkte käsig weiß. Er hatte hellblaue wache Augen, einen schmalen Mund und ein makelloses Gebiss. In seiner schlichten schwarzen Jeanshose, einem weißen T-Shirt und dem schwarzen Jackett wirkte er äußerst gepflegt und zugleich intellektuell.
»Darf ich fragen, was Sie schon von unserer Idee wissen?«, erkundigte sich Bromscheidt freundlich bei Stephan.
»Nicht viel«, gestand dieser. »Herr Löffke sagte, es gehe um ein kulturelles Projekt zum Thema ›Justiz und Gewissen‹.«
»Justiz und Gewissen«, wiederholte Bromscheidt lächelnd. »Ja, so kann man die Überschrift nennen. – Ich muss gestehen, dass ich das Projekt noch nicht im Detail durchdacht habe. Es ist bislang lediglich eine Idee, die ich mit Ihnen ausgestalten und realisieren möchte. In meinem Kopf kreisen seit Langem die Gedanken darum. Aber bis daraus etwas Konkretes wird, bedarf es noch einiger Arbeit. – Denken Sie daran, mitzuarbeiten? Ich freue mich natürlich, wenn ich Mitstreiter für unsere Idee gewinnen kann.«
»Bislang wissen wir so gut wie nichts. Also können wir nichts dazu sagen«, wandte Marie ein.
»Natürlich nicht! Ich überfordere Sie ja förmlich«, entschuldigte sich Bromscheidt. »Sehen Sie, die Kulturhauptstadt Essen bietet eine Chance für die ganze Region. Ein Jahr lang wird das Ruhrgebiet im Zentrum des kulturellen Interesses stehen. Das ist eine, wie ich meine, vorzügliche Gelegenheit, Themen zu transportieren, denen sonst zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Justiz und Gewissen ist eine Thematik, die man sicher nicht auf der Agenda erwartet. Es könnte ein Highlight werden.«
»Es klingt ein wenig altlastig, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf«, sagte Achim Frodeleit, ein hagerer, hoch aufgeschossener, sportlicher Typ mit sonnengebräuntem Teint und kurz geschorenem Haar. »Vom Titel her habe ich, ehrlich gesagt, allerdings leichte Zweifel. Nicht nur, weil das Thema sehr speziell ist, sondern weil es arg in die Vergangenheit zu greifen scheint. Finden Sie nicht, dass es eher ein rechtsgeschichtliches als kulturelles Thema ist?«
»Sie meinen, es sei ein Thema der Vergangenheit?«, fragte Bromscheidt.
»Im Rahmen einer Kulturveranstaltung: ja«, meinte Frodeleit. »Dabei verkenne ich natürlich nicht, dass gerade bei Juristen die deutsche Vergangenheit in weiten Teilen nicht aufgearbeitet ist. Juristen waren und sind stets eine tragende Säule aller gesellschaftlichen Systeme. Das gilt gerade für das unsägliche Dritte Reich. Wir kennen doch alle die unheilvollen Leitgestalten des Unrechtsstaates.«
»Ich suche eher eine Brücke in die Gegenwart«, korrigierte Bromscheidt. »Und gerade dieser Brückenschlag scheint mir die entscheidende Herausforderung zu sein. – Sehen Sie: Ich möchte das Projekt psychologisch angehen. Meine Frage lautet: Woher kommt der Unrechtsjurist? Meine These ist: Es hat diesen Typus immer gegeben und es wird ihn immer geben. Die jeweilige Staatsform bringt diese Menschen nicht hervor. Sie zeugt nicht den Unrechtsjuristen, sondern sie kann ihm allenfalls den Rahmen bieten, in dem er sich entfalten kann. Recht und Unrecht sind wesentliche Bestandteile der Kultur. Ich meine, dass das Gewissen des einzelnen Richters wesentlich dafür verantwortlich ist, Recht und Unrecht innerhalb der Gesellschaft auszuprägen. Das Dritte Reich wird stets als Ausnahmesituation verstanden, gewissermaßen als ein dämonisches Phänomen, das schlimme Auswüchse in allen Bereichen begründet und gefördert hat. Meine These aber ist, dass das Dritte Reich nur äußerlich sichtbar gemacht hat, was in den Menschen über die Zeiten hinweg steckte.«
Frodeleit schüttelte energisch den Kopf, doch Bromscheidt redete unbeirrt weiter. »Im Kern hat das Dritte Reich den Teufeln nur die Gelegenheit geboten, ihre menschliche Maske fallen zu lassen. Das impliziert aber, dass es die Teufel weiterhin gibt. Das ist mein Thema. Dafür brauche ich Ihren Rat und in juristischen Belangen Ihre fachkundige Unterstützung.«
Marie und Stephan hörten erstaunt zu. Nach nur wenigen Augenblicken hatte Bromscheidt das Gespräch in eine komplizierte Thematik vertieft.
»Aber es gibt doch schon so viel zum Dritten Reich«, protestierte Dörthe Löffke. »Irgendwann hat man es doch satt.«
»Es wird ganz wissenschaftlich werden«, beschwichtigte ihr Mann, um die unversehens wuchernden Zweifel zu ersticken, die das Projekt schon zu gefährden schienen, bevor es überhaupt klare Konturen gewann.
Bromscheidt erhob sich. »Darf ich Ihnen einen Wein anbieten? Einen Rotwein? – Vielleicht einen Montepulciano? Dazu etwas Gebäck?«
Löffke war entzückt. Ein Gastgeber, der seine Vorliebe für Weine bediente, musste ein guter Gastgeber sein. Löffke liebte abendliche Fachgespräche bei einem Glas Rotwein. Wie oft sehnte er auf mehrtägigen Seminaren den Abend herbei, um nach stundenlangem Ausharren bei langweiligen Referaten in eine befreiende Weinseligkeit einzutauchen, in der er sich entfalten und plaudernd mit allen Themen jonglieren konnte. Löffke lebte für die Abende, trank sich in die Nacht und verließ häufig als Letzter die Bar.
»Sie kennen sich aus«, schwärmte er. »Woher wissen Sie, dass ich gerade diesen Rotwein so gern trinke?«
»Es geht nicht nur um Sie«, belehrte Bromscheidt sanft. »Es war nur ein Vorschlag. Der Rotwein passt in diese Jahreszeit. Januar. Dunkelheit, Regen und Wind, heute sogar mit etwas Schnee dabei. Da sucht man die Behaglichkeit. – Trinken Sie, was Sie mögen! Ich werde bemüht sein, Ihre Wünsche zu erfüllen.«
Man blieb beim Rotwein. Löffke bestimmte, dass Dörthe anschließend fahren sollte; sie und Stephan wählten Saft.
»Aber Sie werden einen Freisler keinen Juristen nennen wollen«, hob Frodeleit erneut an.
»Sehen Sie!« Bromscheidt setzte sich wieder, füllte bedächtig sein Glas und stellte die Weinflasche auf den Tisch. »Um solche Fragen geht es. Roland Freisler war ein exzellenter Jurist. Einerseits war er die lärmende Gestalt, die in menschenverachtender Art und Weise Prozesse vor dem Volksgerichtshof zelebrierte. Auf der anderen Seite hat Freisler das getan, womit sich Juristen immer wieder gern schmücken; ich spreche von der Publikation zahlreicher juristischer Aufsätze und Abhandlungen. Dort hat er immer wieder unter Beweis gestellt, dass er sauber subsumieren und schlussfolgern konnte. Und wenn Sie heute seine Beiträge lesen, dann begegnen Sie einem weitaus nüchterneren Freisler, der scheinbar ausgewogen und in der Argumentation zwingend juristische Probleme analysierte. Das ist ein ganz anderer Freisler als dieser demagogische Teufel, den wir kennen. Juristen, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, sind eine gefährliche Spezies, immerhin sind sie die Zahnräder jeglicher staatlicher Maschinerie.«
Bromscheidt hatte Frodeleit ins Visier genommen. Doch statt seiner parierte Frodeleits Frau. »Ich finde trotzdem: Irgendwann muss mal Schluss sein. Dörthe hat es schon gesagt.«
»Ob es so ist, wird ein Thema unseres Projekts sein«, erwiderte Bromscheidt versöhnlich und hob sein Glas. »Jedenfalls kann ich mir sehr gut eine fruchtbare Zusammenarbeit vorstellen, in die wir uns alle einbringen: Herr Löffke als engagierter Anwalt, Herr Frodeleit als ein schon durch seine Karriere ausgewiesener Richter und Herr Knobel als – ja, als was …?«
»Als Protokollant – gemeinsam mit Marie«, schlug Stephan vor.
»Wollen Sie wirklich mit dabei sein? Mir scheint, als würden Herr Löffke und Herr Frodeleit schon zentrale Plätze besetzen. Nicht, dass Sie sich überflüssig fühlen.«
»Herr Knobel wird das Projekt wissenschaftlich begleiten«, schlug Löffke vor.
Stephan merkte, dass sich im Kopf seines bulligen Kollegen ein Mosaik zusammenfügte, das ihn und Bromscheidt als Schöpfer und Leiter des Projekts, Frodeleit als wissenschaftlichen Assistenten und ihn und Marie als bloße Schreiberlinge ausweisen würde.
Löffke erhob sich und trat an die große Fensterfront. »Das ist ja geil!«, begeisterte er sich. »Kommen Sie mal!« Er schwenkte verzückt sein Rotweinglas.
Elektrisiert standen die anderen auf und traten bis auf Bromscheidt neugierig ans Fenster.
Unter ihnen erstreckte sich ein etwa 30 Meter langer und fünf Meter breiter beleuchteter Swimmingpool azurblau funkelnd in die Dunkelheit. Aus dem Wasser stiegen Dampffahnen wie wolkige Girlanden auf.
»Das Becken hat eine praktische Form«, fand Verena. »Wir hätten unseren Pool auch so anlegen sollen, Achim! Dann müsste man nicht ständig wenden.«
»Ich heize und beleuchte den Pool in dieser Jahreszeit nur, weil er im Dunkeln so mystisch aussieht«, erklärte Bromscheidt vom Tischende. »Leider kann meine Frau wegen ihrer Behinderung das Becken nicht mehr nutzen. Aber es freut mich, dass Ihnen das Schauspiel gefällt. Wie Sie sehen, geize ich nicht mit Energie. Das ganze Haus ist hell erleuchtet. Umweltpolitisch ist das Verschwendung, ich weiß. Aber ich liebe einfach das Licht und die Atmosphäre, die es schafft.«
»Ein teures Hobby«, stellte Löffke fest.
Sie setzten sich wieder.
»Mir ist immer noch nicht klar, worum es wirklich geht«, knüpfte Marie wieder ans Thema an. »Sollen denn einzelne Juristen porträtiert werden?«
»Im Ergebnis könnte es durchaus so sein«, nickte Bromscheidt. »Das heißt, wir stellen Juristenkarrieren, vielleicht auch einzelne bis in die Gegenwart reichende Prozesse vor und verknüpfen sie jeweils mit der Frage, wie der beteiligte Richter dabei mit seinem Gewissen umgegangen ist. Damit leisten wir einen entscheidenden Beitrag zur Rechtskultur innerhalb des gesamten Kulturkontexts. Wenn man dies ansprechend und spannend darstellt, wird es die Menschen interessieren, ja sogar begeistern.«
»Rechtsfälle aus der Gegenwart?«, fragte Frodeleit. »Das kann aber heikel werden.«
»Es sollen natürlich auch positive Beispiele geschildert werden«, erklärte Bromscheidt. »Wir stellen sowohl Richter vor, die sich für den Einzelnen einsetzen, aber auch solche, die gegen ihn entscheiden. Nehmen Sie zum Beispiel einen Ausländer, der in sein Heimatland abgeschoben wird, dort in die Fänge der Diktatur gerät und unter der Folter stirbt. Solche Fälle gibt es doch. Ich möchte die Juristen, die diese Entscheidung zu verantworten haben, in den Vordergrund stellen und nicht die Urteile selbst.«
»Sehr heikel«, wiederholte Frodeleit nachdenklich.
»Dabei sollten wir keinesfalls werten«, fuhr Bromscheidt fort, »sondern die Wertung dem Betrachter überlassen. – Verstehen Sie, was ich meine?«
»Durchaus. Aber Ihnen ist doch bewusst, dass man dabei auch sehr schnell den Kollegen zu nahe treten kann?«
»Das wollen wir ja, Herr Frodeleit. Damit schaffen wir Nähe und geben der Justiz Gesichter. Wir wollen sowohl den Menschen unter der Robe zeigen, der mit seinen Urteilen Schicksalssprüche formuliert, als auch den Menschen vor der Robe, der von dem Schicksalsspruch betroffen ist. Dabei wollen wir uns nur auf das Ruhrgebiet konzentrieren. Seien Sie unbesorgt: Dort werden sich genügend Fälle und Personen finden lassen, an denen sich das Thema ›Justiz und Gewissen‹ exemplifizieren lässt. Meinen Sie nicht?«
»Durchaus«, stimmte Frodeleit gedankenversunken zu.
»Du musst an deinen Vorsitz denken«, warnte Verena. »Setz die Früchte deiner Arbeit nicht aufs Spiel!«
»Wenn wir verantwortlich und gewissenhaft arbeiten, werden wir einen Beitrag leisten, über den man noch lange reden wird«, betonte Bromscheidt. »Denn damit besetzen wir ein Thema, das in die Tiefe geht. Das sollten Sie nicht vergessen! Gerade unsere personelle Zusammensetzung ist eine Garantie für Qualität, Herr Frodeleit! Selbstredend soll niemand verunglimpft werden. Davor schützt uns schon allein unsere große Verantwortung, sensibel an die Sache heranzugehen.«
»Es ist durchaus eine ehrenvolle Aufgabe, Verena«, unterstrich Löffke. »Schließlich liegt es an uns, was wir daraus machen. Und vergiss nicht die Reputation deines Mannes, die durch die Ausstellung sicher keineswegs geringer wird.«
»Wie sind Sie eigentlich auf Herrn Löffke gekommen?«, fragte Frodeleit Bromscheidt.
»Nun, die Kanzlei genießt einen vorzüglichen Ruf«, erklärte Bromscheidt. »Sie wird hin und wieder auch in den Medien erwähnt und nimmt unter der Vielzahl der Kanzleien offensichtlich eine führende Position ein. Deshalb fasste ich mir ein Herz und sprach einen Anwalt aus der Kanzlei direkt an. Dass ich gerade auf Herrn Löffke stieß, war Zufall. Ich hätte auch mit Ihnen sprechen können, Herr Knobel. Ich glaube, Sie stehen Ihrem Kollegen in nichts nach.«
»Es ist schon in Ordnung so«, sagte Löffke. »Das Projekt trägt unseren Namen.«
»Nehmen Sie Herrn Knobel doch dazu!«, schlug Bromscheidt vor. »Die Publikation wird ja ein wesentlicher Beitrag.«
»Aber dann wird der Name zu lang«, wandte Löffke ein.
Stephan lächelte.
»Es kommt mir nicht darauf an. Und Marie auch nicht. Aber für Marie wäre es gut, wenn sie aus der Publikation beispielsweise einen Artikel fertigen und einer Zeitung anbieten könnte. Das würde ihr bei ihren Bewerbungen als Germanistin helfen. Irgendetwas muss auch für uns rumkommen.«
Löffke nickte dankbar.
»Drei Namen auf der Publikation sind genug. So etwas können sich die Leser noch merken. Und im Vorwort gibt es einen kräftigen Dank für Frau Schwarz und Herrn Knobel. Was Sie dann daraus machen, ist Ihre Sache. – Ich glaube, das ist die beste Lösung.«
»Es ist natürlich ein schöner Zufall, dass Sie gleich Ihren kompetenten Freund mit einbringen können«, fuhr Bromscheidt fort. »Herr Löffke hat von Ihnen ja geradezu geschwärmt. Ehrlich gesagt hatte ich gar nicht zu hoffen gewagt, über Herrn Löffke gleich mit einem Richter in Kontakt zu kommen, der unsere Arbeit gewissermaßen aus der Innensicht sachkundig begleiten kann. Ich gestehe, ich finde diese Konstellation großartig.«
»Ich auch«, pflichtete Löffke eilig bei. »Es ist eine einmalige Gelegenheit.«
Frodeleit schwieg, aber sein Unbehagen blieb spürbar.
Bromscheidt ließ sich nicht beirren.
»Wie Herr Löffke mir mitteilte, haben Sie sich im Referendariat kennengelernt. – Eine langjährige Freundschaft also.«
»Mir lag immer der Anwaltsberuf näher und Achim der Richterdienst«, sprang Löffke für seinen zögernden Freund ein. »Jeder hat seinen Weg gemacht.«
Bromscheidt nickte verständig.
»Ehrlich gesagt, wissen wir von Ihnen noch nicht viel«, meldete sich Marie, ihren Blick auf Bromscheidt geheftet. »Ich habe Sie zum Beispiel nicht im Internet gefunden.«
»Ja, ich weiß, es ist fast schon eine Kunst, dort nicht gefunden zu werden«, stimmte Bromscheidt lächelnd zu. »Aber es ist erklärlich. Ich lebe erst seit einem halben Jahr wieder hier. Zuvor habe ich viele Jahre in Südeuropa an einem wissenschaftlichen Institut gearbeitet. Jetzt hat es mich wieder in die Heimat gezogen, und hier werde ich auch bleiben. Ich plane etliche Projekte und werde auch eine Praxis eröffnen. Wirtschaftlich brauch ich das alles nicht. Ums Geld geht es mir nicht. Mich treibt allein mein wissenschaftliches Interesse.«
»Wer eine kleine dampfende Lagune im Garten unterhält, braucht wirklich kein Geld«, lachte Löffke.
»Es ist ein schöner Luxus«, gab Bromscheidt zu. »Man soll sich die schönen Dinge gönnen, solange man sie sich noch leisten kann. Ich tue es! – Wer weiß, wann alles vorbei ist?«, sagte er und richtete seinen Blick wieder auf die Person, die im Mittelpunkt seines Interesses zu stehen schien.
»Herr Frodeleit, ich möchte Ihr Unbehagen nicht beiseite drängen. Sie sollen sich auf keinen Fall verpflichtet fühlen, wenn Sie, aus welchen Gründen auch immer, Bedenken haben. Aber andererseits möchte ich jede Chance nutzen, für unsere Idee zu werben und Sie zu überzeugen. Es wäre für das Projekt zweifellos ein Gewinn, Sie bei uns zu wissen. Ich darf wiederholen: Es geht nicht um Kollegenschelte! Sie sollen keine Richterinnen oder Richter bloßstellen.«
»Du bekommst den Vorsitz erst Mitte dieses Jahres«, erinnerte ihn Verena. »Gefährde nicht, wofür du so lange gearbeitet hast.«
Bromscheidt warf ihr einen verschliffenen Blick zu und entgegnete mit samtpfotiger Stimme, die die scharfen Krallen ihres Besitzers nur allzu leicht vergessen ließ: »Ich bin mir sicher, dass der Vorsitz Ihres Mannes in jeder Hinsicht mehr als verdient ist. Mit Ihnen wird zweifellos ein fachlich und persönlich profilierter Mensch herausgehoben, der sich im besten Sinne für Recht und Gerechtigkeit einsetzt. Gerade deswegen wären Sie ja ein Gewinn für uns! Ihr Gewissen und Ihr Rechtsbewusstsein sind förmlich der notwendige Filter für die Arbeit, die Herr Löffke und ich leisten werden. Sie, lieber Herr Frodeleit, werden unser Supervisor sein, der als Einziger wegen seiner erfahrungsgesättigten Souveränität die getroffenen Entscheidungen als richtig oder falsch beurteilen kann. Dadurch werden Sie Ihre Reputation ganz ohne Frage noch untermauern können! – Ich möchte Ihnen etwas vorschlagen«, sagte Bromscheidt und sah auf seine Armbanduhr. »Wir haben jetzt kurz nach 21 Uhr. Lassen Sie uns die Gelegenheit nutzen, gemeinsam noch zur Alten Steinwache in der Innenstadt zu fahren. Ich stelle mir vor, die Ausstellung dort durchzuführen und regelmäßig von ausgewählten Experten Vorträge zum Thema halten zu lassen. Bekommen Sie ein Gefühl für diese Räume zu. Atmen Sie etwas von dem Thema ein. Gerade die Alte Steinwache als berüchtigter Verhör- und Gefängnisbau der Nazizeit verkörpert wie kaum ein anderes Gebäude in Dortmund die unheilvolle Vergangenheit der Justiz. Dieser Platz ist geradezu exemplarisch geeignet, um auf die Themenstellung mit historischer Aktualität anzuknüpfen.«
»Um diese Uhrzeit noch?«, fragte Verena misslaunig und warf einen fragenden Blick zu Löffke. »Was meint ihr?«
»Wir haben Urlaub«, stellte Löffke fest. »Selbstverständlich haben wir Zeit.«
Er spürte, dass sein Freund Frodeleit durchaus geneigt war, an dem Projekt mitzuarbeiten. Bromscheidts schmeichelnde Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Besuch in der Alten Steinwache würde ihn vermutlich gänzlich überzeugen können. Jetzt abzubrechen würde Verena Gelegenheit geben, Achim zu verunsichern und ihn absagen zu lassen. Wie oft hatte Löffke in den gemeinsam verbrachten Urlauben erlebt, dass Verena mit ihrem Pessimismus gemeinsame Pläne torpedierte und schlechte Stimmung verbreitete? Was leistete sie schon? Nach der Heirat arbeitete sie doch nur noch halbtags als Reiseverkehrskauffrau. – Die Frodeleits waren kinderlos geblieben, was die Ehe zwischenzeitlich in Krisen und insbesondere Verena in gelegentliche Depressionen gestürzt hatte. Achim Frodeleit, der seine Richterkarriere ungebremst nach vorn trieb, hatte seine Frau zu verschiedensten Freizeitaktivitäten animiert. Allerdings mit nur mäßigem Erfolg. Schließlich waren sie gemeinsam einem Golfclub beigetreten, der beiden Gelegenheit bot, soziale Kontakte zu knüpfen, die sie als wertvoll empfanden und sie in dem Glauben bestärkten, gesellschaftlich angekommen zu sein. Auch die Löffkes waren dem Club beigetreten.
Löffke hatte seine Frau Dörthe im schwiegerelterlichen Fleischerfachgeschäft im Kreuzviertel kennengelernt, das nur 100 Meter entfernt von seiner ehemaligen Studentenwohnung lag. Sie hatte Einzelhandelskauffrau gelernt und nach ihrer Lehre im Geschäft der Eltern zu arbeiten begonnen. Löffke fand sofort Gefallen an der hübschen und drallen jungen Frau, die es verstand, die Kunden flott und geschäftstüchtig zu bedienen, wobei sie, wenn sie sich über die Thekenauslage beugte, einen tiefen Blick in ihr Dekolleté gewährte. Löffke liebte diesen Einblick. Schon allein deswegen kaufte er ausschließlich in dieser Fleischerei ein – selbst dann, wenn es nicht nötig war.
Löffke und Frodeleit hatten ihre Frauen etwa zur gleichen Zeit geheiratet. Das war kurz nach dem gemeinsamen Referendariat gewesen und jetzt schon 19 Jahre her. Auch Löffkes Ehe war kinderlos geblieben. Als alle medizinischen Versuche erfolglos blieben, eiferte Dörthe ihrem Mann nach und frönte einer ungehemmten Esslust. Während die Löffkes immer weiter zunahmen, blieben Verena und Achim Frodeleit sportlich und schlank.
»Wir sollten fahren«, drängte Löffke.
»Ich habe einen großen Wagen, in den alle hineinpassen«, sagte Bromscheidt. »Ich schlage vor, dass wir gemeinsam in die Stadt fahren und anschließend hierher zurückkommen. Sie wohnen doch alle im Dortmunder Süden und können bequem von hier aus wieder nach Hause fahren.«
»Für uns wäre es ungünstig«, wandte Stephan ein.
Bromscheidt hob die Augenbrauen. »Wohin müssen Sie?«
»In die Brunnenstraße«, antwortete Marie.
»Dann fahren wir erst zu Ihnen, damit Sie zu Hause Ihr Auto abstellen, bevor wir anschließend gemeinsam zur Alten Steinwache fahren. Hinter dem Bahnhof gibt es kaum Parkplätze. Auch um diese Zeit nicht. Wir haben Donnerstag. Es ist viel Betrieb in den Kinos nebenan.«
»Haben Sie nicht zu viel Rotwein getrunken, Herr Bromscheidt?«, fragte Frodeleit besorgt.
»Ein Glas. Ich denke, das geht.«
»Du bist im Moment mal kein Richter«, mahnte Löffke seinen Freund. »Binde dir einfach ein Tuch um deine Justitia-Augen!«
2.
Kurz darauf verließen sie Bromscheidts Villa.
Die aus dem Pool aufsteigenden Dampffahnen wehten wie geisterhafte Windschläuche in die sternenlose Nacht. Marie stieg zu Stephan ins Auto. Durch die Windschutzscheibe beobachtete er Bromscheidt, der Löffke bat, seinen Wagen hinter das Haus zu fahren.
Er hörte, wie Bromscheidt sagte: »Meine Frau wird gleich nach Hause kommen. Sie ist behindert und darauf angewiesen, direkt vor dem Eingang parken zu können.«
Nachdem Löffke den Wagen abgestellt hatte, folgten sie Bromscheidts weißem Van, der vor ihnen schaukelnd den Berg nach Syburg hinauffuhr.
»Bromscheidt scheint ja viel Geld zu haben«, meinte Marie. »Das noble Haus, der dampfende Pool, das riesige Grundstück …!«
»Vielleicht hat er von Haus aus Geld«, sagte Stephan.
»Was hältst du von dem Projekt?«
Stephan zuckte mit den Schultern. »Es hört sich interessant an. Aber ich weiß noch immer nicht, wie er es konkret umsetzen will. Wie soll man die Namen von Richtern oder von Prozessen kennen, die keine Schlagzeilen gemacht haben? Die weitaus meisten Fälle finden in den Medien keine Erwähnung. Wenn sich dort Ungerechtigkeiten verstecken, wird man sie kaum auffinden. Aber Bromscheidt wirkt sehr entschlossen. Ich verstehe nur nicht, warum er sich gerade von Löffke so viel verspricht. Wenn ich jemanden für ein wissenschaftliches Projekt suchen würde, bei dem es auf fundierte und detaillierte Arbeit ankommt, fiele mir Löffke als Letzter ein.«
»Ich habe eher den Eindruck, dass Bromscheidt an Frodeleit Gefallen gefunden hat«, sagte Marie. »Es war ein schöner Zufall für ihn, über Löffke an ihn herangekommen zu sein. Aber ich mag Frodeleit nicht. Er ist ein glatter Karrierist. Der ROLG wird zum VROLG«, frotzelte sie. »Hat Löffke dir gegenüber schon mal von ihm erzählt?«
»Löffke schwärmt gern von Frodeleit«, wusste Stephan. »Er ist sein Spezi. Die beiden sind ganz dick miteinander. Aber ich habe ihn vorher nie gesehen.«
»Dass die so miteinander können!«, wunderte sich Marie. »Löffke ist doch ein ganz anderer Typ. Und dass die Frauen miteinander auskommen, verstehe ich auch nicht. Dörthe Löffke scheint ja ganz nett zu sein. Aber diese Verena gefällt mir überhaupt nicht.«
»Sie ist sehr darauf aus, die Karriere ihres Mannes zu unterstützen«, erwiderte Stephan.
»Ich finde, wir sollten an dem Projekt nicht mitarbeiten, Stephan. Es geht im Zweifel um sehr viel Arbeit, die letztlich an uns hängen bleiben wird. Löffke und Frodeleit werden sich mit den Früchten der Arbeit schmücken, aber in der Sache nicht viel tun wollen. Löffke, weil er für solche Arbeit zu faul ist, und Frodeleit, weil er nicht in den Karrieren anderer Richter rumschnüffeln und Dinge zutage fördern will, die seinem Fortkommen hinderlich sind. Und der kleine Vorteil für mich ist es nicht wert. Und dir hilft das Projekt auch nicht, Stephan! Du hast Löffke doch längst durchschaut. Dass es mit ihm keine berufliche Zukunft gibt, weißt du doch längst.«
Stephan nickte. Natürlich hatte Marie recht. Und sicher ahnte sie, dass er sich damit schwertat, die Kanzlei zu verlassen, die auch seinen Namen trug und ihm immerhin ein stattliches Einkommen bescherte. Allen Auseinandersetzungen mit dem Rivalen Löffke zum Trotz: Die Arbeit machte Stephan immer noch Spaß. Löffkes ständige plumpe Anfeindungen sowie sein unverhohlener Neid auf die deutlich jüngere und hübschere Marie, seine aus Missgunst geborenen Intrigen, das alles unterlag im Laufe der Zeit einem Abstumpfungsprozess. Löffkes Verhalten war kalkulierbarer geworden, und Stephan hatte allmählich in gewisser Weise sogar Freude daran gefunden, seinen Widersacher zu provozieren und auflaufen zu lassen. Ja, ein schlauer Psychologe würde vielleicht den Spieß sogar umdrehen und behaupten, dass er Löffke durchaus mochte und die Auseinandersetzungen zwischen ihnen ohnehin nur von kurzer Dauer und am nächsten Tag vergessen waren.
»Wir sollten zunächst dabeibleiben«, entschied er, und Marie schwieg daraufhin.
 
Kurz bevor sie die Innenstadt erreicht hatten, überholte Stephan Bromscheidts Auto und parkte sein Auto vor Maries Haus, bevor sie in den weißen Van umstiegen.
Löffke schilderte gerade wortreich, dass er sein Geschäftsergebnis in diesem Jahr noch einmal steigern wolle, Marie verdrehte überdrüssig die Augen. Stephan setzte sich mit ihr ganz nach hinten und hielt still ihre Hand. Er wusste, dass Marie Männer vom Schlage eines Hubert Löffke niemals würde ertragen können. Er hingegen konnte einen solchen Menschen aushalten. War er toleranter als Marie oder war sie nur ehrlicher und geradliniger?
 
Bromscheidt parkte am Hinterausgang des Hauptbahnhofes. Von hier aus waren es nur wenige Schritte bis zu der in der Nazizeit berüchtigten Alten Steinwache, doch als sie sich auf den Weg dorthin machen wollten, schien Bromscheidt eine andere Idee zu kommen: »Ich würde Ihnen vorher gern noch einen anderen ungewöhnlichen Ort zeigen, den ich ebenfalls in das Projekt mit einbeziehen möchte.«
Auf Frodeleits Nachfrage legte Bromscheidt bedeutungsvoll seinen Zeigefinger auf die Lippen und sagte nur: »Lassen Sie sich überraschen! – Es ist nicht weit von hier. Folgen Sie mir einfach! Ich verspreche Ihnen nicht zu viel. Es sind nur wenige 100 Meter.« Mit diesen Worten eilte er durch den Fußgängertunnel im Hauptbahnhof voraus, dass sie Mühe hatten nachzukommen, verließ das Gebäude durch den vorderen Eingang, stieg die gegenüberliegende Freitreppe hoch und bat sie, ihm in die Schmiedingstraße zu folgen, wobei er sich mehrfach umdrehte und mantramäßig immer wieder rief »Es ist nicht weit!«
Schließlich blieb er vor einer unscheinbaren Stahltür stehen und fingerte einen Schlüsselbund aus seiner Hosentasche.
»Wozu Sie alles Schlüssel haben«, staunte Löffke. »Ich fragte mich schon, wie Sie um diese Uhrzeit in die Alte Steinwache gelangen wollten. Es ist jetzt fast zehn. Die Stadt ist ja schon wie ausgestorben.«
»Ich habe bereits reichlich vorgearbeitet«, erklärte Bromscheidt. »Es hat schon viele Gespräche mit städtischen Stellen gegeben: mit dem Kulturbüro, dem Ordnungsamt und anderen mehr. Das Projekt ist, wenn man so will, längst in der Umsetzung. Und somit verfüge ich auch über viele Schlüssel. – Jetzt aber«, er schloss die graue Stahltür auf, »folgen Sie mir bitte in eine andere Welt.«
Er hielt die geöffnete Tür fest, betätigte innen einen auf dem Putz montierten Lichtschalter und wartete, bis Neonröhren mit ihrem kalten Licht aufflackerten.
Löffke trat ein, zögerte und blieb überrascht stehen. »Das Treppenhaus führt ja nach unten.«
»Ja, das haben Sie richtig beobachtet«, lächelte Bromscheidt. »Jetzt kommen Sie erst mal rein!«
Nun betraten auch Dörthe und die Frodeleits und nach ihnen Stephan und Marie den kleinen staubigen Vorraum.
»Wo sind wir?«, fragte Dörthe.
»Ich mache es noch spannend«, vertröstete Bromscheidt die Gruppe geheimnisvoll und schloss hinter ihnen die Tür.
Sie standen auf einem kleinen Podest, von dem aus eine Stahltreppe nach unten führte. Bromscheidt zog sein Handy aus der Tasche und legte es auf einen kleinen seitwärts stehenden, schlichten Holztisch.
»Bitte legen Sie Ihre Handys neben meines«, sagte er. »Wir besichtigen jetzt ein Stück der Dortmunder Unterwelt. Man darf dort keine elektrischen Geräte bei sich haben, weil die Elektronik Gase entzünden könnte.«
»Gase?«, wiederholte Verena schrill.
Bromscheidt wehrte beschwichtigend ab: »Bitte, es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme und eine Auflage der hiesigen Feuerwehr. Legen Sie die Geräte einfach ab! Man kann unten ohnehin nicht telefonieren. Wir kommen gleich hierhin zurück. Es passiert nichts!«
»Was denn für Gase?«, fragte Verena weiter.
»Es ist wie im Bergwerk«, sprang Löffke ein. »Da darf man auch keine Handys mitnehmen. – Müssten wir aber nicht auch Helme tragen?«
»Müssten wir«, nickte Bromscheidt. »Aber wir gehen einfach so nach unten. – Es passiert nichts«, wiederholte er.
»Sagen Sie: Geht es hier zur Hitler-U-Bahn?«, erkundigte sich Löffke. »Ich habe gehört, dass es in Bahnhofsnähe diesen Tunnel geben soll. – Ist es dieser Tunnel?«
Seine Augen leuchteten erregt.
»Sie sind auf der richtigen Spur«, blieb Bromscheidt unbestimmt.
»Ich weiß nicht, wovon die Rede ist«, sagte Frodeleit. »Hubert, was meinst du mit der Hitler-U-Bahn?«
»Der Tunnel hat mit der heutigen U-Bahn nichts zu tun. Soweit ich weiß, gibt es unter der Stadt Bunkeranlagen in Form langer Tunnel, die teilweise schon vor dem Zweiten Weltkrieg angelegt wurden. Der Bevölkerung wurde erzählt, es seien Tunnel für eine spätere U-Bahn. Aber in Wirklichkeit waren die Anlagen Schutzräume für die Menschen im Bombenkrieg.«
»Sie wissen viel, Herr Löffke«, staunte Bromscheidt und vergewisserte sich, dass alle Handys auf dem Tisch lagen.
»Folgen Sie mir nach unten«, rief er. »Ich erkläre Ihnen unten mehr.«
Er nahm einen Stoffbeutel mit klobigen Taschenlampen vom Tisch und ging voran.
Der Weg führte über eine Stahltreppe in einem engen Schacht weiter nach unten. Ihre Schritte hallten auf den eisernen Stufen mit einem unheimlichen metallischen Klang nach. Die trockene Luft roch abgestanden. Die in etlichen Metern Abstand voneinander auf den nackten Beton montierten Neonröhren erleuchteten den Schacht nur notdürftig. Im kalten Lichtschein traten die Schalreste wie dicke, auf den Wänden klebende Narben hervor.
»Wir sind jetzt rund 15 Meter unter der Erde«, erklärte Bromscheidt, als sie unten angekommen waren. »Was die wenigsten wissen: Dortmund verfügt über das größte unterirdische Bunkersystem Deutschlands. Alle würden vermuten, dass sich eine solche Anlage in Berlin befindet. Aber das ist ein Irrtum. Der größte unterirdische Bunker Deutschlands befindet sich tatsächlich hier!«
Er trat wie ein Reiseführer vor die Gruppe und wies mit ausgestreckten Armen in beide Richtungen, in denen sich gähnend dunkle Röhren anschlossen. »Über vier Kilometer reichen die bis zu sechs Meter hohen Gänge des alten Luftschutzbunkers unter der Innenstadt. Bestimmt kennen Sie einige der Zeitungsartikel, die immer wieder darüber berichten, dass geplant sei, die unterirdischen Anlagen einer touristischen Nutzung zuzuführen. Aber diese Ideen sind bislang an verschiedenen rechtlichen Problemen gescheitert. Jetzt, im Kulturhauptstadtjahr, bietet sich die Möglichkeit, zumindest einen Teil der Stollenanlage zu Ausstellungszwecken zu nutzen. Wie Sie sehen, sind die Tunnel ziemlich ausgeräumt. Es befinden sich kaum noch technische Einrichtungen darin, nicht einmal mehr eine Beleuchtung. Teilweise existieren noch Rohrleitungen, mehr nicht. Man muss sich vorstellen, dass bis zu 80.000 Menschen hier unten Schutz vor den Bomben finden sollten. Die Anlagen haben ohne Zweifel etwas Mystisches. Es wäre reizvoll, sie für bestimmte kulturelle Zwecke wieder zum Leben zu erwecken. Vielleicht gibt es jetzt endlich einen Anstoß in diese Richtung.«
Bromscheidt nahm drei Taschenlampen aus dem Stoffbeutel und übergab jeweils eine an Löffke und Frodeleit. Die dritte behielt er für sich.
»Hier weht der Hauch der Geschichte.«
Frodeleit sah sich ehrfurchtsvoll um, als Bromscheidt seine Taschenlampe anknipste und der Lichtstrahl sich vorn in dem dunklen Tunnelgewölbe verlor.
»Es hätte tatsächlich ein U-Bahn-Tunnel werden können«, erklärte Bromscheidt weiter und ließ das Licht seiner Taschenlampe durch das Gewölbe tanzen. »Wie Sie sehen, handelt es sich um einen röhrenartigen Querschnitt. Der Tunnel ist bergmännisch ausgebrochen worden. Die Wände sind mit Stahlprofilen gesichert, teilweise hat man auch betoniert.«
»Hier wollen Sie unsere Ausstellung präsentieren? – Und ich vermute, viel lieber als in der Alten Steinwache«, fasste Löffke neugierig nach.
»Viel lieber!«, gestand Bromscheidt. »Stellen Sie sich vor: Die Besucher laufen den Tunnel entlang und gelangen, sagen wir mal, alle 50 bis 100 Meter an eine Präsentation als Informationsinstallation.«
»Das ist ja wie ein Kreuzweg«, fiel Frodeleit ein.
»Der Vergleich ist nicht unpassend«, stimmte Bromscheidt zu. »Es ist eine Gelegenheit, ein historisch interessantes bauliches Umfeld mit unserer Thematik zu verbinden. Der Tunnel symbolisiert diese Dunkelheit auf der einen und den Weg nach vorn auf der anderen Seite. Vergessen Sie nicht, dass das Interesse an den Bunkeranlagen in der Bevölkerung sehr groß ist. Der Tunnel wird ein Publikumsmagnet sein. Wir sollten diesen Marketing-Aspekt nutzen.«
»Unbedingt!«
Der Begriff Marketing beflügelte Löffkes Fantasie.
 
Sie mochten fünf, vielleicht auch zehn Minuten gegangen sein, ohne dass einer ein Wort sagte. Der Gedanke, dass sich hier während des Krieges Tausende von Menschen zusammenzwängten, während oben die Bomben auf die Stadt hagelten, beschäftigte alle, und sie suchten im Lichte der Taschenlampen unwillkürlich nach Spuren dieser dramatischen Stunden, als Heerscharen von Menschen im Bunker verzweifelt Schutz suchten. Doch Bromscheidt hatte recht: Bis auf einige an der Wand entlanglaufende Rohre war der Tunnel leer. Alle weiteren Installationen waren entfernt, ebenso alle Gegenstände, die die Menschen hier unten möglicherweise zurückgelassen hatten.
In kindlicher Neugier hielten sie Ausschau nach Spuren dieser wirren Zeit. Vergeblich. Obwohl der Tunnel eigentümlich neutral war, wirkte er bedrohlich und fremd – ein stummer Zeuge einer düsteren Vergangenheit. Der Krieg war förmlich zu fühlen.
Bromscheidt leuchtete flüchtig auf seitlich angebrachte eiserne Zaunflügel. »Ein Bauzaun«, erklärte er. »Es sind immer wieder Leute in den Stollen eingebrochen; daraufhin hat man den Tunnel in einzelne Sektionen aufgeteilt. Man kann ja verstehen, dass all dies einen Reiz ausstrahlt.«
Mit diesen Worten richtete er die Lampe in die Höhe und sie stellten fest, in einen mehrere Meter hohen Raum gelangt zu sein, die ihre Stimmen übermäßig hallen ließ, sodass sie ihnen selbst monströs fremd erschienen.
»Es ist so etwas wie eine Kreuzung«, fuhr Bromscheidt fort und wies in einen nach rechts durch eine Stahltür abzweigenden kleineren Querstollen mit deutlich kleinerem Profil.