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Peter Hereld

Das Geheimnis des Goldmachers

Historischer Roman

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »L’agitateur du Languedoc« von Jean-Paul Laurens, http://commons.wikipedia.org

ISBN 978-3-8392-3500-6

Widmung

Für Margit und Robert

ANNO DOMINI 1234

Lang, lang ist’s her …

Die Welt, damals noch flach wie eine Scheibe, …

… zersplittert in unzählige Herzog- und Fürstentümer, ihre Bevölkerung drangsaliert und ausgebeutet von deren Herrschern, fand im Osten durch die wilden Horden des Mongolenfürsten Ögedei Khan ihre Grenzen und reichte im Westen bis zur Iberischen Halbinsel, auf der die christlichen Heere der Kastilier gerade die letzten Bastionen der Mauren zurückeroberten.

Reichtum und Willkür …

… weltlicher Potentaten wurde nur noch übertroffen von Einfluss und Geltung klerikaler Amtsträger. Die Schatzkammern etlicher Bistümer waren praller gefüllt als die der Könige und nicht selten maßten sich eben jene, die Gottes Werkzeug sein sollten, seine Pracht und Herrlichkeit an. Andere wiederum, blind in ihrem Eifer, Gott zu gefallen, machten aus Regenten gehorsame Söldner und zahlten ein fürstliches Salär, damit diese Armeen aufstellten, um die arabischen Heiden Gottes Barmherzigkeit zu lehren und die Heilige Stadt Jerusalem zurückzuerobern, alles im Namen und unter dem Banner des Kreuzes.

In jener Zeit, in der so mancher Kirchenmann mehr zu sagen hatte als ein Burgherr, die Wissenschaft einzig und allein der Entwicklung neuer Kriegsapparaturen verpflichtet war, kleinste Wunden bereits den Tod bedeuten konnten und in der ein voller Magen mehr wert war als das Leben des Nächsten, in jener Zeit also durchstreiften zwei Männer das alte Europa, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Der eine, auf der Flucht und fern seiner geliebten Heimat, gestraft mit der Gewissheit, sein Vaterland nie wieder betreten zu dürfen, bestens vertraut mit dem Gedankengut arabischer, griechischer und fernöstlicher Gelehrter und Philosophen, blitzgescheit, redegewandt und zuweilen, mehr als seiner Gesundheit zuträglich war, überheblich und stolz.

Der zweite, in Deutschland geboren und doch nicht hier zu Haus, da er den Großteil seines Lebens, höchst unfreiwillig im Übrigen, in der Heimat des anderen verbrachte, vom Gemüt und bisweilen auch im Umgang mit seinen Zeitgenossen eher von handfesterer Natur, ein Mann mit einer fast beängstigenden physischen Präsenz und doch im Kern, trotz seiner ruppigen Art, ein gutherziger Mensch.

Die vorliegenden Aufzeichnungen beruhen auf uralten Notizen und langen Erzählungen an kalten, ungemütlichen Winterabenden. Der Vater gab sie an seinen Sohn weiter, so wie sie ihm von seinem Vater zugetragen wurden, und so setzt sich die Reihe fort bis in jene Tage des Herrn zwölfhundertvierunddreißig, und sollte nicht einer von ihnen ein übler Lügenbold oder ein Mann mit großer Fantasie gewesen sein, so ist alles Folgende wahr und tatsächlich so und nicht anders geschehen.

Montag, der zehnte Juli gegen Mittag vor den Toren Hildesheims

Zwei Wanderer

»Sommer, sagst du, das soll ein Sommer sein?« Der Hagere schnaufte verächtlich, während er sein Lederwams zurechtzupfte, um damit möglichst viel von seinem Beinkleid zu bedecken. »Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, welcher Gott der wahre ist, der deine oder meiner, so ist er nun erbracht. Kein Gott würde sein Volk mit solch einem gemeinen Ulk von einem Sommer quälen.«

»Jammere nicht! Bald haben wir Hildesheim erreicht, dort suchen wir uns dann eine Unterkunft. Du wirst staunen, was für prächtige Kirchen sie dort haben!«, antwortete der Riese und wrang sich seine langen, dichten Haare aus, während weiter unentwegt dicke Regentropfen vom aschgrauen Himmel fielen.

Der Hagere ersparte sich eine Erwiderung. Freilich, Kirchen bauen konnten sie, doch erschien ihm die Kunst hiesiger Konstrukteure damit bereits wieder erschöpft. Alle anderen Bauten, die er in diesem unwirtlichen Land bislang zu Gesicht bekommen hatte, waren bei Weitem armseliger als die schlichtesten in seiner Heimat. Woher nur, sinnierte er einmal mehr, nahmen diese ungebildeten Barbaren bloß die Vermessenheit, seinen Landsleuten ihren Glauben aufzwingen zu wollen?

Er schüttelte unmerklich seinen Kopf, doch schon diese sparsame Geste ließ einige Regentropfen an seinem sorgsam zugeschnürten Hemdkragen vorbei gemächlich den Weg zu seinem Bauchnabel finden. Ihn fröstelte.

Sommer – er wagte sich gar nicht vorzustellen, wie hierzulande wohl der Winter sein mochte.

Durch den Regenschleier hindurch konnte er inzwischen vage eine Kirchturmspitze erkennen, nein, gleich mehrere und zu weit auseinander, um zu einer einzigen Kirche zu gehören. Entweder war Hildesheim ein sehr frommer Ort oder weitaus größer als die tristen Siedlungen, die sie durchquerten, seit sie vor einigen Wochen in Bremen ihr Schiff verlassen hatten.

Es sollte sich herausstellen, dass beides zutraf.

*

Der Riese, der auf den Namen Robert hörte, strich sich die schweren, wassertriefenden Locken aus dem Gesicht und trieb sein Pferd an. Er wollte es seinem hadernden Kameraden zwar nicht eingestehen, aber auch ihm setzte der nun schon seit Tagen währende Dauerregen gehörig zu. Er war ein Berg von einem Mann und gewiss kein Weichling, doch die vielen Jahre im fernen Afrika hatten selbst ihn das raue Klima seiner Heimat vergessen lassen. So rasch wie möglich wollte er nun ins Trockene, schnell, bevor ihm noch Kiemen wuchsen. Während er auf die Befestigungsanlage der Stadt zuritt, dem armen Gaul seine Fersen in die Flanken treibend, betrachtete er eine am linken Wegesrand liegende Siedlung. Der Anblick dieser Kolonie außerhalb der Stadtmauern mochte schon bei Sonnenschein öd und trostlos wirken, an einem regnerischen Tag wie diesem verwandelte sich das Umland abseits der aufgeschütteten Straße in einen Morast, einem Schweinepfuhl nicht unähnlich und an Tristesse kaum noch zu überbieten.

Hundert Fuß voraus sah Robert einen Knaben, zehn oder elf Jahre mochte er alt sein, der bis zu seinen nackten Knien im Boden eingesunken war. Er drosch mit seiner Gerte auf ein Schwein ein, um es auf festen Grund zu treiben, damit es nicht noch jämmerlich ersoff. Das Tier jedoch, bis zum Halse im Morast steckend, vermochte sich ganz offenbar keinen Zoll weit zu bewegen. Was für ein erbarmungswürdiges Bild. Robert wollte gerade absteigen, um dem Jungen zu helfen, da öffnete sich unweit der Verhau einer aus groben Baumstämmen zurechtgezimmerten Hütte, die vielerorts noch nicht einmal mehr dem Vieh als Unterkunft genüge getragen hätte. Heraus kam eine grobschlächtige, in einem derben Rock steckende Frau. Mit vereinten Kräften schließlich hievten sie das Schwein in ihr armseliges Heim.

Traurig schaute ihnen Robert hinterher, als unverhofft sein Begleiter neben ihm auftauchte.

»Woher plötzlich diese unerwartete Eile, Osman, kannst es wohl gar nicht mehr erwarten, ins Trockene zu gelangen?«

»Es ist bloß dieser trostlose Anblick, der mich vorantreibt. Doch sag, haben wir denn schon die Alpen überquert und reiten auf Rom zu? Ich habe bereits acht Kirchen gezählt, nein, gar neun.«

Robert schaute verwundert zu seinem Freund, gleich darauf wieder in Richtung Stadt: »Bist du sicher, dass es neun sind? Ich komme nur auf acht.«

»Da du ausreichend Finger an deinen Händen hast, will ich es auf dein schwächeres Augenlicht schieben«, antwortete ihm Osman Abdel Ibn Kakar, so der Name des Hageren. Er grinste amüsiert. Angesichts der nahenden Stadt mit ihren verlockenden Annehmlichkeiten besserte sich seine Laune zusehends. »Den Turm der neunten Kirche findest du ganz hinten, in Richtung der untergehenden Sonne, sollte sie sich denn jemals in dein Land verirren.«

Robert schüttelte den Kopf.

»Siehst du, entlang meiner Hand musst du schauen, hinter den Befestigungen auf dem Hügel am Horizont, dort kommt durch den Dunst ein Kirchturm zum Vorschein.«

Robert kniff kurz die Augen zusammen, dann sah auch er die Sankt-Mauritius-Kirche auf dem Moritzberg westlich der Stadt. In einer freundschaftlich anmutenden Geste legte er seine schwere Hand auf Osmans Schulter und bedankte sich laut und vernehmlich, allerdings nicht, ohne dessen Schal einmal kräftig zusammenzudrücken. Während Osman das eiskalte Wasser in Strömen den Rücken hinablief, verfluchte er nacheinander Robert, das hiesige Wetter und seine eigene, vorschnelle Zunge.

*

Es ging schon auf Mittag zu, als die beiden im Nordosten der Stadtbefestigung vor einem mächtigen Tor zum Stehen kamen.

Die Mauer links und rechts davon war ungefähr zwanzig Fuß hoch, aus hellen, grob in eine rechteckige Form gemeißelten Steinen. Sie wirkte äußerst wehrhaft und machte auf Ankömmlinge, wenn sie wie die beiden direkt davor standen, einen sich ins Unendliche verlierenden Eindruck. Das Tor selbst überragte die Mauer um weitere zehn Fuß und maß ebenso wie in der Höhe auch in der Breite ungefähr deren dreißig, sodass es, nahezu quadratisch also, durch diese kompakte Form auf den Betrachter sehr robust wirkte. Die Steine waren im Gegensatz zu denen in der Mauer wesentlich akkurater in Form geschlagen, was dem Baumeister deutlich mehr Möglichkeiten zur Herausarbeitung einiger Finessen wie feine Wehrzinnen am oberen Abschluss oder Wetternischen für die Wachsoldaten links und rechts des Torbogens bot. Die Pforte schließlich bestand aus massiven, eisenbeschlagenen Eichenbohlen. Sie war zweiflügelig, links und rechts mit schweren Eisenangeln versehen und schwang nach innen auf.

Als Robert und Osman auf das Stadtportal zuritten, waren beide Flügel vollständig geöffnet und die Wächter, direkt unter dem Torbogen vor dem Regen untergestellt, würdigten die beiden Ankömmlinge keines Blickes.

Schweigend ritten sie gemächlich auf dem innerorts befestigten Handelsweg durch die Altstadt Hildesheims, vorbei an der Sankt Jakobikirche geradewegs auf die Sankt Andreaskirche zu. Nach dem gut einwöchigen Ritt durch ödes Wald- und Sumpfland tat es beiden gut, endlich wieder Stadtluft zu atmen. Häuser so weit das Auge reichte, lückenlos aneinandergereiht, säumten den Wegesrand, bis auf einige wenige Steingebäude zwar aus Holz gefertigt, aber dennoch bedeutend größer als die windschiefen Hütten in der Siedlung zuvor. Stolz priesen Handwerker auf bemalten Holztafeln dem Wanderer ihre Künste an. Hier deutete ein gemalter Stiefel auf einen Schuhmacher hin, beim Nachbarn prangte über dem Türbogen ein Brustpanzer, also war hier ein Plattner zu Haus, daneben ein Sattler, ein Beutler, zwei weitere Schuhmacher direkt nebeneinander, ein Weber, wieder ein Schuhmacher und schließlich, bevor eine Gasse die Häuserreihe unterbrach, stand dort, ganz in Stein gebaut, das eindrucksvolle Anwesen eines Knochenhauers. Der abgetrennte Schweinekopf auf dem Schild verwies eindeutig auf seine Zunft.

Der Weg wurde zusehends breiter, die Häuserreihen lichteten sich und schließlich tauchte der Westturm der Kapelle des heiligen Andreas vor ihnen auf. Gerade und schnörkellos in ihrer Bauart, beeindruckte weniger die schlichte, kleine Kirche als vielmehr der gewaltige Vorplatz. Dort, südlich des Kirchenschiffs, fand gerade ein Wochenmarkt statt, der nach wie vor sintflutartig niederpeitschende Regen verlieh dem Marktgeschehen allerdings einen absurd kümmerlichen Anblick. Auf dem üppig dimensionierten Platz waren derzeit gerade einmal drei Händler zugange, neben einem Knochenhauer und einem Bauern natürlich auch ein Schuhmacher. Wie sollte es anders sein in dieser Stadt, die hauptsächlich von Schuhmachern und Geistlichen bevölkert zu sein schien, dachte sich Osman beim Anblick des Handwerkers. Belustigt beäugte er im Vorbeireiten die drei Gesellen, die mehr damit beschäftigt waren, ihre Waren vor dem Wetter zu schützen, als sie an den Mann zu bringen, dann schließlich brach er das lange Schweigen.

»Wo wollen wir nun einkehren?«

»Ein Kloster wäre recht, das erstbeste, das unseren Weg kreuzt.«

»Ja bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Seit mehr als einer Woche sehen wir nichts weiter als Bäume, Sümpfe und ab und an ein Wildschwein, dieser verdammte, immerwährende Regen schält uns allmählich die Haut von den Knochen, und du willst jetzt ausgerechnet in einem Kloster rasten? – Bei Allah, das kommt nicht infrage!«

»Die Pferde und Kleider haben uns fast das gesamte Geld aufgebraucht und bis nach Cölln ist es noch weit hin. Wir müssen mit dem Rest haushalten, um nicht schon vor unserem Ziel mittellos dazustehen.«

»Du sprichst von meinem Geld, als wäre es das deine.«

»Erzähl nicht solch einen Unfug. Als Gefangener deines Herrn konnte ich mir unmöglich Geld herbeischaffen, das weißt du sehr wohl!«

»Ja, ja, schon gut«, erwiderte Osman nun beschwichtigend, »hast ja recht. Du bist zwar nicht schlauer als ich, aber allemal vernünftiger. Dann lass uns eben in einem Kloster absteigen. Hauptsache, ein Dach überm Kopf und ne heiße Suppe im Bauch, nach mehr verlangt es mich inzwischen auch nicht mehr.«

Das Kloster zum heiligen Paul

Bruder Mattias, seines Zeichens Botanicus des am Brühl gelegenen Dominikanerklosters Sankt Paul, wollte zuerst seinen Augen nicht trauen, als er die beiden Fremden, einen Riesen und einen Muselmanen, gemächlichen Schrittes durch seinen Kräutergarten trotten sah. Neben dem Koloss wirkte der andere wie ein Zwerg. Bruder Johann, der ihnen die Pforte geöffnet hatte, ging voraus und sie folgten ihm zum Prior. Was für ein seltsames Gespann die beiden doch abgaben, dachte sich Mattias. Vor allem der Exot war zu Zeiten der Kreuzzüge ein ungewöhnlicher Anblick und ein unwillkommener obendrein, weiß Gott nicht jedes Kloster hätte ihm Einlass gewährt. Und erst das Wasser, welches sie mit sich trugen. Mattias war mit seinen sechsundfünfzig Jahren schon fast ein Greis und hatte viel gesehen in seinem langen Leben, doch dass ein Mensch derart vor Nässe triefen konnte, war selbst ihm bislang nicht unter die Augen gekommen. Rasch rupfte und zupfte er noch ein wenig Salbei, Thymian und Kamille, jene Kräuter also, die er, in welcher Form auch immer, den Kranken zu verabreichen pflegte, wenn sie mit kratzendem Hals, laufender Nase oder glühender Fieberstirn zu ihm gelaufen kamen, dann folgte er den dreien zum Prior. Nicht, dass er neugierig wäre, schließlich wollte er den beiden Fremden doch nur helfen mit seiner Heilkunst. So schlüpfte er schnell mit hinein, als Johann die beiden Wanderer ins Zimmer des Priors führte, geflissentlich den überraschten Blick des Torwächters ignorierend.

Bruder Georg, als Prior verantwortlich für die Geschicke des Konvents Sankt Paul, umgab eine beeindruckende Aura. Nahezu so groß wie Robert und doch nur halb so schwer, verlieh ihm seine für Mönche eines Bettelordens so charakteristisch hagere Gestalt die seines Amtes angemessene Würde und Authentizität. Seine funkelnden, eisblauen Augen ließen auf einen wachen Geist schließen und die Art und Weise, wie er die beiden Fremden empfing, zuvorkommend, wenn auch nicht überschwänglich herzlich, interessiert, jedoch ohne jede Neugier, wirkte aufrichtig und Vertrauen erweckend. Er schickte Bruder Johann, trockene Tücher zu holen, und ergriff das Wort.

»Gesegnet seien die Geschicke, die Euch in unser Kloster geleitet haben, liebe Wanderer. Was führt Euch denn zu uns?«

Robert beeilte sich, dem Prior zu antworten, bevor sein Freund etwas entgegnen konnte. Osman beherrschte die hiesige Sprache zwar besser als manch ein Einheimischer, aber noch lange nicht deren Gepflogenheiten, und so hatte sein loses Mundwerk den beiden bereits mehrfach Scherereien bereitet.

»Wir kommen aus Bremen und sind auf der Durchreise nach Cölln. Hier in Hildesheim, so sagte man uns, würden wir auf den Hellweg stoßen, der direkt ins Rheinland führt.«

Der Prior nahm Bruder Johann zwei grobe Leinentücher ab, die er sodann an die beiden Reisenden weiterreichte.

»Da habt Ihr sehr wohl recht. Keine halbe Meile von hier, zwischen dem Marktplatz an der Kirche des heiligen Andreas und der Kreuzkapelle, da treffen die beiden Straßen aufeinander. Ihr müsstet die Stelle bereits passiert haben, solltet Ihr auf direktem Weg zu uns gefunden haben. Doch jetzt erholt Euch erst einmal von den Strapazen der Reise. Bruder Mattias wird Euch eine Zelle weisen und einen heißen Trank zur Stärkung bereiten. Ihr wisst freilich, die Brüdergemeinschaft des Dominikus ist ein Bettelorden, wir leben von Almosen und haben selbst nicht viel, doch das Wenige teilen wir gern, seid also herzlich willkommen.«

*

Die Zelle klein zu nennen, wäre ihrem Ausmaß nicht gerecht geworden, denn sie war winzig. Die Einrichtung bestand aus zwei aufgeschütteten Strohhaufen, worauf jeweils zwei Leinentücher lagen, eines zum Abdecken der Lagerstätte und eines zum Zudecken zur Nacht, daneben eine Kerze und an der Wand ein schmuckloses Holzkreuz, das war alles. Angesichts der spartanischen Einrichtung ihrer Unterkunft befürchtete Robert bereits weiteres Gezeter von Osman, doch der schien vorerst seine Lektion gelernt zu haben – oder war einfach nur zu müde, jedenfalls fügte er sich klaglos seinem Schicksal. Ihre nassen Kleider gaben sie Bruder Mattias, der sich anbot, sie dem Küchenmeister zum Trocknen zu übergeben.

Da saßen sie nun eingewickelt in Leinentücher, ein jeder auf seinem Strohhaufen. Der trockene, dichte Stoff und die bald einsetzende Wärme waren das Angenehmste, was ihnen seit Beginn ihrer Reise zuteil geworden war. Als Mattias mit zwei Bechern wieder ihre Zelle betrat, war Osman bereits eingenickt, und auch Robert wurden die Lider immer schwerer. Er bedankte sich herzlich bei Mattias, trank seinen Kräutertee in einem Zug, dann schloss er die Augen. Osman ließ er ruhen.

*

Die letzten Sonnenstrahlen des Tages malten ein scharfes Muster von Licht und Schatten auf die Tür ihrer Klosterzelle. Verwundert schaute Osman zum Fenster, das, drei Fuß hoch, aber bestenfalls einen halben breit, eher einer Schießscharte für Bogenschützen glich. Doch erregte wohlgemerkt nicht die eigentümliche Maueröffnung seine Aufmerksamkeit, sondern vielmehr jenes fast schon vergessene Gestirn, das nunmehr seine freundlichen Strahlen in ihre Unterkunft sandte. Kaum wach, begann er mit dem Schicksal zu hadern, welches ihnen, erst kürzlich noch unter freiem Himmel reisend und schutzlos dem Wetter ausgesetzt, ganze drei Tage Dauerregen beschert hatte.

»Himmel, Arsch…«, Roberts Aufschrei ließ Osman zusammenzucken, »… jetzt scheint das verdammte Rabenaas plötzlich! Himmel, Arsch, noch mal!«

Osman grinste bitter, denn auch er fühlte sich übel verprellt.

Der schwere Riegel ihrer Pforte wurde heruntergedrückt und Mattias steckte seinen Kopf in die Zelle.

»Ihr seid beide wach, gut so. Der Prior hieß mich, Euch zur Vesper zu rufen. Nach den Gebeten gibt’s das letzte Mahl des Tages, sputet Euch also, wollt Ihr nicht mit knurrendem Magen zur Nachtruhe gehen.« Mattias hatte zwei Mönchskutten mitgebracht. Auf der größeren, die er Robert reichte, lag ein kleines Messer. »Eure Kleider sind noch nicht ganz trocken, da hätte der Herrgott auch ein Wunder vollbringen müssen, so nass, wie sie waren. Ich habe daher zwei Kutten mitgebracht, wobei wir, was Euch anbelangt, bedauerlicherweise keinen Bruder fanden, der auch nur eine annähernde Statur aufweist«, sagte Mattias, mit den Armen fuchtelnd an Robert gewandt. »Diese hier stammt vom Prior. Er selbst erteilte Euch die Erlaubnis, einige Nähte aufzutrennen, solltet Ihr denn gar nicht hineinpassen.

Nun denn, wohlgemerkt, sputet Euch, gleich beginnt in der Kapelle der Gottesdienst!« Und mit diesen Worten verließ Mattias auch schon eilends wieder die Zelle.

»Aber wo ist denn jene Kapelle?«, rief ihm Robert hinterher.

»Folgt nur den Brüdern, so könnt Ihr sie nicht verfehlen. In dieser Stunde findet jeder Schritt einzig ein Ziel.«

»Selbstredend«, sagte Osman, bevor er Mattias nachäffte, indem er Robert in gehetztem Ton auftrug, sich zu sputen.

»Für jemandem, der erst kürzlich noch als Gefangener sein Dasein fristete, stehst du im Übrigen recht gut im Futter«, schloss er angesichts Roberts Verrenkungen bei dem Versuch, sich in die Kutte hineinzuzwängen.

Bruder Albert

Die Abendmesse zur Vesper war für Robert und Osman nur schwer zu ertragen. Selbstredend ausschließlich in Latein abgehalten, konnten sie den Psalmen, wenn auch beide leidlich des Lateinischen kundig, nur schwer folgen. Des Weiteren knurrte ihnen der Magen, umso größer dann auch die Freude, als schließlich der Hymnus gesungen war und alles zum Essen strebte.

»Was meinst du, wird es geben?« In Erwartung der Mahlzeit schien Osman das erste Mal am heutigen Tage guter Laune.

»Erwarte nicht zu viel. Wir sind hier in einem Bettelorden, die Dominikaner haben ihre Lebensweise der Armut Jesu Christi verschrieben. Schau dir diese Hungerhaken doch an, die haben schon lange kein Fleisch mehr zwischen ihren Zähnen gehabt.«

Robert meinte zu erkennen, dass Osman erbleichte, zumindest änderte sich dessen Laune schlagartig.

»Aber zum Teufel noch mal, warum musstest du denn ausgerechnet an diese Pforte klopfen, wo die halbe Stadt aus Kirchen und Klöstern zu bestehen scheint?« Nur mit großer Mühe brachte es Osman fertig, seinen Ärger nicht laut hinauszuschreien, sondern seine Frage, die eigentlich gar keine Frage, sondern vielmehr ein Vorwurf war, leise in Roberts Ohr zu flüstern.

»Ja stand es denn draußen angeschlagen? Ich jedenfalls für meinen Teil habe nichts gesehen und war nur froh, endlich wieder ein Dach über den Kopf zu bekommen. So, nun setz dich zu Tisch und sei zufrieden, dass wir nicht noch eine Nacht im Wald verbringen müssen.«

Sie hatten unterdessen einen großen, hochgestreckten Raum erreicht. Dort standen einige grob zurechtgezimmerte Tische, links und rechts an deren Längsseiten ebenso derb gebaute Bänke, die Wände waren weiß gekalkt und über dem einzigen Fenster hing ein schlichtes Holzkreuz. Alles, was Osman bisher in diesem Kloster zu Gesicht bekam, war in einfachster Art gehalten, ganz im Gegensatz zum Prunk, den er in so manch andrem Gotteshaus auf ihrem Weg von Bremen bis hierher gesehen hatte. Es schien geradezu auffällig schmucklos, fast so, als schäme man sich des Geprahles und Gepränges, mit dem der Klerus sich üblicherweise zu umgeben pflegte. Zumindest muss man nicht auf dem Boden hocken, dachte sich Osman – ein schwacher Trost. Er hing seine Nase in die Luft und versuchte zu ergründen, was ihnen aufgetischt würde, doch die Gerüche aus der Küche, die zu ihm herüberwehten, waren derart schwach und unaufdringlich, dass ihm nichts Gutes schwante. Alles was mundet, verbreitet ein kräftig-würziges Aroma, erinnerte er sich, das Essen jedoch, welches in diesem Moment in großen Kesseln zu ihnen hineingeschafft wurde, schien aus reinstem Wasser zu bestehen, dermaßen geruchlos kam es daher.

»Nimm’s gelassen hin, mein Freund«, raunte ihm Robert zu, »morgen gehen wir auf den Markt und machen den Bauern und Knochenhauern unsere Aufwartung. Stopf dir den Magen voll, so weit es denn geht, denn ich möchte nicht durch dein Bauchgegrummel am Schlaf gehindert werden.«

Osman schaute auf seinen Teller herab, der ihm inzwischen vom Küchenbruder gebracht worden war, dem Einzigen mit Leibesfülle in diesem Kloster. Schau an, dachte er sich, ausgerechnet der Koch scheint das eine oder andere Pfund zu viel am Körper zu tragen – ein Schuft, wer Übles dabei denkt, auffällig allerdings war es schon. So sehr ihn der Gedanke auch amüsierte, sogar in den Reihen der so sittsamen und ernsthaften Dominikaner einen gefunden zu haben, dessen Leib bisweilen schwächer war als sein Geist und dessen Schuld, angesichts seines Amtes, nicht deutlicher zu Tage treten konnte, so sehr wiederum ernüchterte ihn der trübselige Anblick dessen, was angedacht war, seinen Hunger zu stillen. In einer Brühe, die an Klarheit reinstem Wasser glich, verloren sich einige wenige Vegetabilien, zumeist schrumpelig kleingewachsene, schlecht geschälte Wurzeln. Von Fleisch konnte keine Rede sein.

Was für ein Trauerspiel.

Lustlos spielte er mit dem bei Tisch liegenden Holzlöffel in seiner Suppe herum, als eine Schwarzwurzel sein Interesse erregte. Er kannte das hiesige Gewächs zwar nicht, doch diese Rübe versprach zumindest angesichts ihrer Größe einen gewissen Sättigungsgrad. Er versuchte, sie mit dem Löffel aus der Brühe herauszufischen. Der Teller jedoch war tief und der Löffel gerade wie ein Stock, was im Zusammenspiel bewirkte, dass er es nicht fertigbrachte, das Objekt seines Verlangens aus der Suppe herauszubefördern. Schließlich, einige zermürbende Versuche später, besann sich Osman seines Essbestecks, das er immer bei sich führte, und entnahm seinem Lederbeutel eine zweizinkige Gabel. Schon hatte er die widerspenstige Rübe aufgespießt und zum Mund geführt, als sich etwas Merkwürdiges ereignete.

Ein Raunen erfüllte plötzlich die Halle.

Osman schaute auf, um zu ergründen, was denn geschehen sei.

Alle starrten ihn an, manche zeigten gar obendrein ganz unverhohlen auf ihn, einige Novizen bekreuzigten sich überdies.

»Himmel noch eins, was ist bloß in die gefahren?«

Auch Robert konnte sich den plötzlichen Aufruhr nicht erklären.

Eine Gruppe Mönche, es mochten vier oder fünf sein, standen auf und gingen mit grimmiger Miene auf ihren Tisch zu. Da erhob sich Robert zu voller Größe und im Nu war die Entschlossenheit auf den Gesichtern der Mönche verschwunden, nun hielten sie fürs Erste inne und beratschlagten sich. Osman wusste noch immer nicht, wie ihm geschah, da bemerkte er am Ende seines Tisches den Mönch zur Rechten des Priors, der ihm ein Handzeichen gab, die Gabel zu senken. Schnell befolgte er den Ratschlag und verstaute sie wieder im Lederbeutel.

Bruder Georg und mit ihm auch jener andere Mönch erhoben sich. Sofort wurde es ganz still in der Halle. Beschwichtigend hob der Prior seine Arme, dann begann er leise, aber bestimmt zu sprechen, während der andere zu Robert und Osman hinüberging.

»Haltet ein, Brüder, trefft nicht ein voreiliges Urteil. Ihr seht selbst, es handelt sich bei dem Fehlenden um einen Fremden, einen Orientalen. Bruder Albert ist mit den dortigen Sitten und Gebräuchen vertraut, lassen wir ihn prüfen, ob es sich hier nicht nur um einen schrecklichen Lapsus handelt. Setzt euch wieder und bewahrt Stillschweigen darüber, bis eine Klärung vorliegt. Gott segne euch!«

Indessen war Albert bei Robert und Osman am Platz angekommen.

»Folgt mir!«, wies er sie ruhig, aber bestimmt an.

Gemeinsam mit fünf weiteren Dominikanern verließen sie umgehend den Speisesaal und auf knarrenden Holzstufen ging es hinauf ins erste Geschoss zu einer Kammer, die zwar um ein Vielfaches größer war als die Zelle der beiden Wanderer, jedoch bis in den letzten Winkel vollgestopft mit Büchern, Schriftrollen und allerlei alchimistischen Apparaturen letztlich ebenso wenig Bewegungsfreiheit ließ. Albert hieß zwei der Begleiter, die Reste des Mahls und zwei Schemel herbeizuholen, die übrigen wies er an, draußen zu warten. Deren Einwand, ihn nicht mit zwei so gefährlichen Ketzern allein lassen zu können, verwarf er mit einer laxen Geste und der Äußerung, er habe sich schon gegenüber ganz anderen Schurken behaupten müssen, außerdem wären sie nur durch eine Tür voneinander getrennt.

Nachdem die Schemel gebracht wurden, schloss Bruder Albert die Tür – nun waren sie zu dritt und es kehrte endlich Ruhe ein. Der Mönch schaute beiden nacheinander eindringlich in die Augen, dann begann er zu sprechen, ruhig und auf jedes Wort bedacht.

»Es ist eine sehr ernste Angelegenheit, über die wir hier beisammensitzen. Seid Ihr Euch dessen bewusst?«

Osman schüttelte den Kopf. Er war noch immer ganz durcheinander und verwirrt über die plötzlichen Anfeindungen. Sein konfuser Geist versuchte gerade, sich einen Reim aus all dem zu machen, deshalb überließ er Robert das Reden.

»Ich bin ebenso ratlos wie mein Freund, Bruder Albert. Eure Gesten zuvor bei Tische lassen mich nur vermuten, dass es etwas mit seiner Gabel zu tun haben mag, und eben dies verwirrt mich umso mehr, da ich in einem solch unschuldigen Werkzeug eben gar nichts Frevelhaftes erkennen kann.«

Wieder beobachtete der Mönch seine Gegenüber eindringlich. Er studierte ihre Züge und Mienen bei jeder Silbe und noch lange, nachdem das letzte Wort gesprochen war, verblieb er stumm und nahezu reglos, nur seine Augen starrten prüfend zu ihnen herüber. Eine atemlose Spannung lag im Raum, weder Osman noch Robert wagten der forschen Musterung auszuweichen, obwohl der Impuls dazu von Augenblick zu Augenblick größer und unwiderstehlicher wurde. Schließlich entspannten sich die Gesichtszüge des Mönches, er stand auf, holte drei Becher von einem Bord und dazu eine Karaffe.

»Ich hoffe, Ihr seid einem herben Wein nicht abgeneigt«, sagte Albert und wollte gerade einfüllen, als Osman antwortete, dass ihm sein Glaube Derartiges verbiete.

»Aber selbstredend, ich vergaß. Mit Wasser kann ich Euch leider nicht dienen, aber ich kann gern einen Novizen schicken, um …«

»Habt Dank, doch was das Wasser betrifft, so soll mir die Suppe reichen«, wurde der Geistliche mit einem gequälten Lächeln unterbrochen.

»Nun denn, zum Wohle!«, prostete der Mönch also nur Robert zu, bevor er weitersprach. »Ich weile mit Gottes Gnaden nun schon rund vierzig Jahre auf Erden, doch solch, mit Verlaub, ahnungslose Gesichter wie die Eurigen sind mir noch nicht untergekommen. Ich für meinen Teil will Euch Eure Arglosigkeit gern glauben, und da man mir nachsagt, über eine gute Menschenkenntnis zu verfügen, werde ich auch meine Brüder davon überzeugen können. Dennoch steht noch einiges zu klären an. Ich denke, wir sollten vorab einander vorstellen, es erleichtert doch die weitere Rede. Ich bin Bruder Albert von Lauingen!«

Nachdem der Mönch geendet hatte, schaute er auffordernd zu Robert.

»Nennt mich Robert, verehrter Bruder Albert«, ließ sich dieser auch nicht lange bitten. »Geboren, so hat man mir gesagt, bin ich zur Zeit des Wechsels der Jahrhunderte. Zum Knaben reifte ich in Dormagen zu Cölln.«

»Nun sei nicht so verschämt, Robert. Nenne uns doch deinen vollen Namen«, zwinkerte ihm Osman zu.

Robert lief rot an, als er antwortete: »Früher nannte man mich Robert den Schmalen. Damals war ich in der Tat noch von kleiner und dürrer Gestalt, mittlerweile jedoch versuche ich, diesen Namen zu meiden, da er mir allzeit nur Gelächter einträgt.« Ein böses Funkeln aus Roberts Augen offenbarte, was er von Osmans Aufforderung hielt.

»Man nennt mich Osman Abdel Ibn Kakar«, führte dieser die Vorstellung unbekümmert fort, »geboren bin ich vor siebenunddreißig Jahren in Alexandria, der prächtigsten Stadt der Welt. Doch sagt lediglich Osman zu mir, inzwischen hab ich mich an jene profane Verstümmelung meines Namens gewöhnt und sie fast ein wenig lieb gewonnen. Nun sagt aber bitte geschwind, was es mit jener Gabel auf sich hat, allmählich sterbe ich vor Neugier.«

»Genau diese so offenkundige Arglosigkeit bereitet mir Kopfzerbrechen. Ihr artikuliert Euch geschickt, scheint beide nicht auf den Kopf gefallen zu sein und doch wollt Ihr nichts wissen vom Frevel, welcher der Gabel anhaftet? Ihr müsst beide lange Zeit sehr weit weg gewesen sein.«

»Da habt Ihr recht. Über zwanzig Jahre war ich Gefangener in Alexandria«, antwortete Robert.

»Zwanzig Jahre in Gefangenschaft, und das so fern der Heimat!« Albert wirkte sichtlich entsetzt. »Was für eine lange Zeit für solch einen jungen Menschen, wie Ihr es seid! Ihr müsst mir später unbedingt davon erzählen, doch zuvor möchte ich mehr von Eurem Freund erfahren.«

Der Mönch schüttelte sein Haupt, dann hielt er inne und sein Blick wanderte zu Osman.

»Bevor Ihr den Mund geöffnet habt, hätte ich fraglos angenommen, dass Euch unsere Regeln und Gesetze nicht geläufig sind, doch Eure Rede ist makelloser als die so manch eines meiner Landsleute – wollt etwa auch Ihr mir weismachen, ein Fremder in diesem Land zu sein?«

»Nun, ebenso wenig wie Euch ein Römer das Latein lehrte, musste ich in diesem Land verweilen, um Eure Sprache zu erlernen. Es bedurfte nur eines guten Lehrers und ich für meinen Teil kann sagen, den besten gehabt zu haben«, entgegnete Osman und zeigte auf Robert. Dieser wiederum wusste nicht recht, wie ihm geschah. Dem Unglauben, tatsächlich richtig gehört zu haben, folgte der Ärger, weil er meinte, ihm wäre diesmal die Ironie in Osmans Worten verborgen geblieben. Schließlich jedoch gelangte er zu der Einsicht, dass Osman tatsächlich meinte, was er sagte. Beileibe keine Selbstverständlichkeit, von Osman, dem Zyniker vor dem Herrn, gelobt zu werden, noch dazu im Beisein eines Dritten.

»Wenn ich Euch recht verstehe«, fragte Albert Osman zugewandt, »so war Robert also Euer Gefangener?«

»Wenn Ihr so wollt, ja.«

»Dafür vertragt Ihr Euch aber sehr gut.«

Nun war Vorsicht geboten, Alberts Misstrauen schien wieder geweckt.

»Lasst es mich so ausdrücken. Ich war Gefangener seines Herrn, so wie er Gefangener seines Amtes bei seinem Herrn war«, fuhr Robert dazwischen, bevor sein Freund aus lauter Eitelkeit das noch lange nicht gefestigte Vertrauen des Mönches wieder verspielte.

»All das ist eine wahrhaft lange Geschichte. Osman und ich mögen sie Euch gern erzählen, doch dann des leichteren Verständnisses halber von Anfang an, nachdem Ihr uns aufgeklärt habt über jene vermaledeite Gabel.«

»Ach, die Gabel, ja, fast hätte ich’s vergessen. Nun, sie ist als Teufelszeug von der Kurie vom Tische verbannt, viele Jahre schon gilt das Verbot. Seinerzeit wurde die These Gesetz, dass die uns von Gott gegebene Speisung nur mit den Fingern, welche der Allmächtige die Gnade hatte uns zu schenken, berührt werden dürfe. Außerdem, so meinte man allenthalben, ähnelt die Gabel allzu sehr Luzifers Dreizack.«

»Aber meine Gabel hat nur zwei Zinken«, wandte Osman ein, »und außerdem kann eine Gabel durchaus von Nutzen sein.«

»Nicht alles von praktischer Natur ist auch gottgefällig und Gabel bleibt Gabel, ob nun mit zwei, drei oder vier Zinken, und somit verboten. Des Weiteren schützt Unwissenheit vor Strafe nicht!«, beendete Albert die Diskussion unwirsch. Etwas versöhnlicher fügte er an:

»Jedoch erklärt Unkenntnis auch vieles, und es sollte mich schon sehr wundern, wenn ich den Prior nicht davon überzeugen könnte, dass Ihr Euch keines wissentlichen Vergehens, geschweige denn der Ketzerei schuldig gemacht habt.«

»Ketzerei?«, stammelte Robert entsetzt. Er wurde schlagartig kreidebleich. Auch Osman offenbarte sich die Tragweite dieser Anschuldigung. Fassungslos starrte er Bruder Albert an. »Aber man wird uns doch nicht wegen so eines unscheinbaren Dinges der Ketzerei beschuldigen?«

»Es sind einige schon aus weitaus geringerem Anlass den Flammen überantwortet worden, die heilige Inquisition kennt da keine Gnade. Doch wie ich Euch bereits sagte, mich habt Ihr von Eurer Unschuld überzeugt, und in mir habt Ihr, bei aller Bescheidenheit, einen wortgewichtigen Fürsprecher gewonnen, seid also unbesorgt. Nun jedoch möchte ich, nur um sämtliche Zweifel auszuräumen und weil ich ein so unverschämt neugieriger Mensch bin, endlich Eure Geschichte erfahren!«

»Dann will ich gern anfangen«, ergriff Robert das Wort. »Doch seid gewarnt, die Erzählung wird Euch lange in Anspruch nehmen. Vielleicht sollten wir unseren Bericht morgen in aller Frühe beginnen und nicht jetzt, kurz vor der Nachtruhe.«

»Ihr unterschätzt meine Neugier, wohlgemerkt, sie ist legendär. Und sollte schließlich doch die Müdigkeit siegen, so lasst uns in diesem Fall halt morgen fortfahren. Reicht mir Euren Becher, lieber Robert, mit trockener Kehle redet es sich schlecht.«

Und nachdem Albert seinen Becher gefüllt hatte, nahm Robert noch einen kräftigen Schluck, dann begann er seinen Bericht.

Robert der Schmale

»Im Winter zwischen den Jahrhunderten wurde ich geboren, auf welchen Tag genau kann ich nicht sagen, aber wer vermag das schon. Am sechsten Januar, dem Tag zu Ehren der Heiligen Drei Könige jedenfalls war’s, da mich Bruder Jonas vor der Pforte des Klosters Knechtsteden vorfand, halb erfroren, wenngleich dick eingewickelt in Leinen, laut jammernd im Verlangen nach meiner Mutter Wärme und ihrer vollen Brust.

Mein plötzliches Erscheinen bereitete den armen Brüdern große Probleme. Das Kloster wurde vom Orden der Prämonstratenser geführt, einer Gemeinschaft, die ebenso wie Ihr werten Dominikaner ein Armutsgelübde abgelegt hat. Mich den Diensten einer Hebamme zu überantworten ließ sich daher freilich nicht bewerkstelligen, Ihr wisst ja, dass sich jene Damen ihr Handwerk vergolden lassen. So wollte sich also Bruder Jonas, ein seelenguter Mensch, der mich vom ersten Moment an in sein großes Herz geschlossen hatte, um mein Wohlergehen kümmern.

Auch ein studierter Medicus war unter den Priestern, Bruder Eberhard wurde er gerufen. Ihm ebenso wie Bruder Jonas habe ich mein Leben zu verdanken, denn zum einen wusste er mich von den Folgen meiner Unterkühlung zu kurieren und außerdem bereitete er aus Ziegenmilch und allerlei anderen Zutaten eine Mixtur, die mir, gerade erst wenige Wochen alt, die Muttermilch ersetzen konnte.

So reifte ich denn zum Knaben heran. Eine glückliche Zeit. Es fehlte weder an Liebe und Geborgenheit, denn fürsorglicher und geduldiger als Bruder Jonas konnte keine Mutter und kein Vater zum eigen Fleisch und Blut sein, noch mangelte es mir an geistiger und körperlicher Erbauung. In den frühen Morgenstunden, kurz nach der Prim, arbeiteten wir auf den Feldern und bewirtschafteten die Äcker, auch halfen wir häufig den Bauern mit Rat und Tat. Wie Ihr freilich wisst, lieber Albert, verfügen die Norbertiner, wie die Prämonstratenser nach dem heiligen Norbert von Xanten auch gerufen werden, über segensreiche Kenntnisse auf dem Gebiete der Landwirtschaft. Die Feldarbeit jedenfalls beanspruchte mich bis in die Mittagszeit, wobei ich als Knabe auf dem Acker keine Schwerstarbeit zu verrichten hatte, sondern nur jenes Werk, das meiner damals schwächlichen Statur zumutbar war.

Nach dem Mahl und dem Gesange zur Non folgte nach der körperlichen die geistige Ausbildung. Verschiedene Brüder lehrten mich die lateinische und ein wenig die griechische Sprache, unterwiesen mich in Arithmetik und vermittelten mir theoretische Kenntnisse in den Belangen des Ackerbaus, nicht zu vergessen wurde ich natürlich zuvorderst kundig gemacht mit der Kunst des Lesens und Schreibens. Allgegenwärtig selbstredend auch die Lehren der Bibel und deren Studium, oft verflochten mit den Kenntnissen, die mir in den anderen Lehrfächern vermittelt wurden. So ging es nun tagein, tagaus, von früh morgens bis mittags auf dem Felde und von nachmittags bis hin zur Dämmerung im Studierzimmer. Jedem anderen als einem Mönch fällt es schwer das zu glauben, doch ich war glücklich und zufrieden.

Zumindest, bis der erste Flaum in meinem Gesicht zu sprießen begann, meine Stimme wie toll Kapriolen schlug und Gefühle vollkommen fremder Art mich verwirrten und mir Nacht für Nacht den Schlaf raubten – inzwischen zwölf Jahre alt, befand ich mich nun an der Schwelle zur Mannwerdung. Freilich, im Kloster kamen einem keine Weibsbilder unter, doch wenn ich anderenorts welche zu Gesicht bekam, sei es nun die Magd auf dem Felde oder eine Bauersfrau, so verfolgte mich deren Anblick umso heftiger bis in die Nachtstunden hinein. Ein gut gefüllter Rock übte plötzlich mehr Faszination auf mich aus als die Bücher Mose und eine lax geknüpfte Bluse ließ mich sämtliche Evangelien vergessen. Ich wurde fahrig und unkonzentriert, meine Leistungen auf dem Felde und in der Schule fielen rapide ab.

Zuerst zeigten meine Lehrmeister Verständnis, sie wussten, welch schwere Zeit ich durchmachte, so hatten einst auch sie selbst diese Krise bewältigen müssen, doch ihre Geduld war begrenzt und bald hießen sie mich, eine Entscheidung zu fällen.

Eine Entscheidung fällen, freilich nichts leichter als das.

Als wenn dies so einfach wäre. Schließlich bin ich in einer Abtei aufgewachsen, das Leben außerhalb der Klostermauern war mir völlig fremd. Ich liebte Gott von ganzem Herzen und wollte ihm unbedingt in aller Demut dienlich sein, doch jene anderen Gedanken, die mein Hirn marterten und meine fromme Seele allgegenwärtig auf die Probe stellten, ließen mich einfach nicht zur Ruhe kommen.

Ich begann mich nachts zu geißeln und am Tage augenblicklich in Gebeten Abbitte zu leisten, sobald unkeusche Gedanken mich quälten. Dadurch jedoch wurde mein Verhalten auch nach außen hin sichtbar immer eigentümlicher, sodass meine Mitbrüder schließlich zu dem Schluss kamen, dass ich für den Ordensdienst nicht geschaffen sei. Nur Bruder Jonas setzte sich noch für mich ein. Er bemühte sich, mir eine Gnadenfrist einzuräumen, doch schließlich konnte auch er mir meine Not nicht abnehmen; einzig in seinen Gebeten um die Erlösung meiner Seele zu bitten, fühlte er sich imstande.

Der arme alte Jonas, so sehr wünschte er sich, mir zu helfen; er, der wie ein Vater für mich war und sich auch als ein solcher fühlte, und so hilflos musste er sich der Natur seines Ziehsohnes geschlagen geben.

Ich zweifelte und mein Glaube wurde das erste Mal auf eine Probe gestellt. Ich rede bewusst vom ersten Mal, so sollten weitere Ereignisse folgen, die mich an der Güte oder auch nur an der Allgegenwart des Allmächtigen zweifeln ließen, doch dazu später. Wie nur, so fragte ich mich, konnte ich derart in Versuchung geführt werden, wo ich mich doch Ihm mit Haut und Haar verschrieben hatte, wie nur konnte Er dies zulassen? Hatte ich durch meine Geißelungen und den Gebeten nicht schon genug Abbitte geleistet? Doch mehr noch als meine eigenen Qualen verbitterte mich das Leid, welches mein fehlgeleiteter Geist dem armen Jonas zufügte.

Und auch die übrigen Brüder, die mich schlicht vor die Tür setzen wollten, zogen meinen Gram auf sich, denn nie zuvor fühlte ich mich derart im Stich gelassen.

In jenen Tagen nun, in denen ich mit so ziemlich allem haderte, was mir früher lieb und teuer gewesen war, kam mir durch puren Zufall etwas zu Ohren, was wie die Lösung all meiner Probleme erschien.

Ein Bauer, mit dem unser Kloster Tauschhandel betrieb, unterhielt sich angeregt mit Bruder Gregor, dem Cellarius. Ob ihm denn schon von den toll gewordenen Kindern zu Ohren gekommen sei, die sich aufmachen wollten, jenes Wunder zu vollbringen, das abertausend gut gerüsteten, kampferprobten Rittern verwehrt geblieben sei. Offensichtlich wusste unser Kellermeister nichts davon, verwirrt schüttelte er sein schlohweißes Haupt.

»Jerusalem wollen’s befreien von den Heiden, diese Narren! Gegen die Sarazenen kämpfen im Namen des Herrn, vermutlich mit Stöckchen und Kieselsteinen, die sie des Wegesrands finden. Nun seid ehrlich, verehrter Bruder Gregor, ich kenne Euch als einen vernünftigen, gottfürchtigen Mann, so sagt mir also, wem sei’s gedient, wenn Jerusalem befreit wird vom Orientalen? Schließlich ist es auch sein Land. Nur Kummer hat uns allen dieser nie enden wollende Kampf beschert.«

»Als Diener des Herrn«, erwiderte Gregor wohlbedacht, »vermag ich Euren Einwand nicht gutzuheißen. Als Mensch jedoch habe auch ich meine Zweifel, ob eine Hand voll Kinder Gottes Willen zuwege bringen kann, mehr noch, ich trauere um die vielen Mütter und Väter, die vor Sorge um ihre Kinder viel Leid erfahren werden.«

»Wie recht Ihr doch habt. Auch meinen Jungen, gerade mal zehn Jahre alt, werde ich einsperren müssen, wenn morgen dieser närrische Nikolaus bei den Gebeinen der Heiligen Drei Könige spricht. Er hat ihm schon einmal zugehört, lass es einige Wochen her sein, seitdem redet mein Bengel nichts andres mehr. Man sagt, dieser Nikolaus von Cölln, wie man ihn nennt, habe noch die Stimme und die Haut eines Kindes, aber seine Rede sei berauschender und verführerischer als die eines jeden anderen Mannes reifen Alters. Und was die Hand voll Kinder betrifft, welche du vom Geist des Nikolaus aufgestachelt vermutest, so lass dir gesagt sein, dass bereits einige Tausend darauf warten, endlich loszuziehen.«

»Ach du Schreck!«, fuhr der altehrwürdige Gregor entsetzt auf, »mag das wirklich möglich sein? Halten denn die Eltern ihre Kinder nicht zurück?«

»Einige unter ihnen sind sogar durchaus stolz auf ihre Brut, die losziehen will, Gottes Kampf auszufechten.«

Daraufhin wusste Bruder Gregor nichts zu erwidern, bar jedweden Verständnisses schüttelte er sein Haupt.

Ich für meinen Teil hatte genug erfahren.

Gott gab mir ein Zeichen, wie ich ihm meine Demut zeigen konnte, und ich wollte ihn nicht wieder enttäuschen.

*

Es folgte meine bislang bitterste Aufgabe.

Jonas offen ins Gesicht zu sagen, dass ich das Kloster Knechtsteden für immer verlassen würde, sah ich mich schlichtweg außer Stande. So also setzte ich mich ans Pult und begann das Kunststück, ihm in einem Brief einerseits die ganze Wahrheit mitzuteilen, denn nichts als die Wahrheit war ich ihm schuldig, und andererseits voller Zuversicht eine baldige Rückkehr zu versichern, obwohl ich nur zu gut wusste, dass nur wenige von den Kreuzzügen zurückkehrten. Freilich, einige mochten im fernen Afrika ihr Glück gefunden haben, die meisten jedoch starben jämmerlich, obwohl kampferprobt und wohlgerüstet. Wie nur sollte es da einer Schar Kinder ergehen?

Dennoch, mein Entschluss stand fest, und ich war, zumindest seinerzeit, auch bereit, an Wunder zu glauben.

Schnell packte ich meine wenigen Habseligkeiten beisammen, als da waren ein Leinentuch, eine zweite Kutte und allerlei Schreibgerät, stibitzte mir aus der Küche noch zwei Kanten Brot und einige Gartenfrüchte, wickelte alles ins Tuch und machte mich sodann klammheimlich auf den Weg.

Es war eine laue Aprilnacht, als ich einen letzten Blick zurück auf jenen Ort warf, der bislang mein Heim gewesen war. Deutlich zeichnete sich im Mondlicht der eindrucksvolle Westchor ab, und noch heute erinnere ich mich mit Freude an die imposanten Wandmalereien in seinem Inneren und auch der, Ihr werdet es kaum für möglich halten, links und rechts der hohen Fenster auf die Wand gemalten Vorhänge, die schon so manchen Besucher auf den ersten Blick zu narren vermochten. Den dahinterliegenden, achteckigen Turm und die Dächer der Basilika konnte ich gerade noch erkennen, der Rest entschwand allmählich meinen Blicken. Als ich schließlich nach vorn schaute, glitzerte weit voraus der Rhein im Sternenlicht. Dem Verlauf des Wassers in südlicher Richtung zu folgen war der sicherste Weg, Cölln nachts nicht zu verfehlen, und so sollte auch ich die zehn Meilen von Dormagen nach Cölln hin bis zum Morgengrauen bewältigen können.

Hinter mir entschwand das Kloster im Dunkeln.

Nie mehr sollte ich mein Heim wiedersehen.

Cölln

Mir stockte der Atem.

Die Pracht rings um mich herum war überwältigend. Ich betrat eine andere Welt, als ich mit dem ersten Hahnenschrei das mächtige Stadttor passierte und erblickte, was jene gewaltige Mauer zu schützen wusste.

Cölln – die größte Stadt der Welt – wer noch mochte Zweifel daran hegen angesichts dieser grandiosen Herrlichkeit allüberall?

Spektakulär, einzigartig, atemberaubend und Ziel aller Pilger des alten Kontinents.

Nun war ich mit meinen damals zwölf Lenzen noch nie über Dormagen hinausgekommen, umso verständlicher also meine Entrückung, als ich durch die breiten Gassen schlenderte, mein Maul sperrangelweit offen und den knurrenden Magen völlig vergessend.

Gerade krochen die ersten Sonnenstrahlen über die Stadtmauern, doch es wimmelte bereits von lauter Menschen: Händler, die auf einem Ochsenkarren thronend ihre Ware zu einem jener vielen Märkte bugsierten, für die Cölln auch gerühmt wurde, Handwerker jedweder Couleur, deren Kleidung Stand und Gewerbe kundtat, allüberall Geistliche sowie Binnenschiffer und jede Menge Kaufleute.