Es war jedes Mal das Gleiche. Beim Zubettgehen hatte er geseufzt:

»Morgen schlafe ich aus.«

Und Madame Maigret hatte ihn beim Wort genommen, als hätten die Jahre sie nichts gelehrt, als wüsste sie nicht, dass sie solchen Bemerkungen keinerlei Bedeutung beimessen durfte. Auch sie hätte ausschlafen können. Sie hatte keinen Grund gehabt, früh aufzustehen.

Und doch dämmerte es erst, als er hörte, wie sie sich behutsam zwischen den Laken bewegte. Er rührte sich nicht und zwang sich, tief und regelmäßig zu atmen wie jemand, der schläft. Das Ganze glich einem Spiel. Es war rührend, wie sie mit der Behutsamkeit eines Tieres zur Bettkante rückte und nach jeder Bewegung innehielt, um sich zu vergewissern, dass er nicht aufgewacht war. Es gab einen Augenblick, auf den er immer gespannt wartete – wenn sich die Sprungfedern des Bettes, vom Gewicht seiner Frau befreit, mit einem leisen Seufzer ausstreckten.

Sie nahm ihre Kleider vom Stuhl, brauchte eine

Er war wieder eingeschlafen. Nicht tief, nicht für lange. Jedoch lange genug für einen verworrenen und bewegenden Traum. Es gelang ihm später nicht mehr, sich daran zu erinnern, aber er wusste, dass es bewegend gewesen war, und befand sich in einer weicheren Stimmung.

Ein bleicher, harter Lichtstrahl drang zwischen den Vorhängen hindurch, die sich nie ganz zuziehen ließen. Er blieb noch eine Weile auf dem Rücken liegen, die Augen geöffnet.

Der Kaffeeduft drang zu ihm, und als er die Wohnungstür sich öffnen und schließen hörte, wusste er, dass Madame Maigret in aller Eile hinuntergegangen war, um warme Croissants für ihn zu holen.

Er aß morgens nie etwas, sondern trank nur schwarzen Kaffee. Aber auch das war ein Ritual, eine Idee seiner Frau: An Sonn- und Feiertagen musste er bis zum späten Vormittag im Bett bleiben, und sie holte ihm Croissants an der Ecke der Rue Amelot.

Er stand auf, schlüpfte in seine Pantoffeln, streifte seinen Morgenmantel über und zog die Vorhänge auf. Er wusste, dass er damit einen Fehler beging,

Es schneite nicht. Es war lächerlich, dass er, ein Mann von über fünfzig Jahren, enttäuscht war, weil an einem Weihnachtsmorgen kein Schnee fiel, aber ältere Leute sind nie so vernünftig, wie junge Leute glauben.

Der dichte, tiefhängende und grässlich weiße Himmel schien schwer auf den Dächern zu lasten. Auf dem Boulevard Richard-Lenoir war keine Menschenseele zu sehen, und die Inschrift über der großen Toreinfahrt auf der anderen Straßenseite wirkte pechschwarz: Entrepôts Legal, Fils et Cie. Das E sah, Gott weiß warum, traurig aus.

Er hörte seine Frau wieder in der Küche hin und her gehen, auf Zehenspitzen ins Esszimmer schleichen, weiterhin darauf bedacht, leise zu sein. Sie ahnte nicht, dass er am Fenster stand. Er sah auf seine Uhr auf dem Nachttisch und stellte fest, dass es erst zehn nach acht war.

Am Abend zuvor waren sie ins Theater gegangen. Sie hätten gern, wie alle anderen, anschließend in einem Restaurant einen Happen gegessen, aber sämtliche Tische waren für das Festessen reserviert gewesen, und so waren sie Arm in Arm nach Hause gegangen. Es war kurz vor Mitternacht, als sie an

Eine Pfeife für ihn, wie immer. Für sie das neueste Modell einer elektrischen Kaffeemaschine, die sie sich gewünscht hatte, und, traditionsgemäß, ein Dutzend feingestickter Taschentücher.

Gedankenverloren stopfte er seine neue Pfeife. Einige Häuser auf der anderen Seite des Boulevards hatten Fensterläden, andere nicht. Kaum jemand war schon wach. Hier und dort brannte noch Licht, wahrscheinlich, weil die Kinder in aller Frühe aufgestanden waren, um gleich zum Weihnachtsbaum und ihren Spielzeugen zu stürzen.

Sie würden zusammen in ihrer gemütlichen Wohnung einen friedlichen Vormittag verbringen. Maigret würde lange im Morgenmantel herumtrödeln, ohne sich zu rasieren, und sich in der Küche mit seiner Frau unterhalten, während sie das Mittagessen zubereitete.

Er war nicht traurig. Aber sein Traum, an den er sich immer noch nicht erinnern konnte, hatte ihn in einem Zustand der Überempfindlichkeit zurückgelassen. Vielleicht war es gar nicht der Traum, sondern das Weihnachtsfest. Man musste an diesem Tag vorsichtig sein, musste seine Worte genau abwägen, so wie Madame Maigret ihre Bewegungen überdacht hatte, ehe sie aus dem Bett gestiegen war. Auch sie war an diesem Tag rührseliger als sonst.

In den meisten Häusern lebten Kinder, wenn nicht gar in allen. Man würde helle Trompetentöne, Trommeln und Pistolen hören. Kleine Mädchen wiegten schon ihre Puppen in den Armen.

Einmal, vor ein paar Jahren, hatte er leichthin gesagt:

»Warum sollten wir Weihnachten nicht mal eine kleine Reise machen?«

»Und wohin?«, hatte sie mit ihrer unerschütterlichen Vernunft geantwortet.

Zu wem hätten sie fahren sollen? Sie hatten nicht einmal Angehörige, die sie besuchen konnten, außer ihrer Schwester, die aber zu weit weg wohnte. In einer fremden Stadt in einem Hotel oder irgendwo auf dem Land in einem Gasthof absteigen?

Ach was. Es war Zeit, dass er seinen Kaffee trank, und danach würde er wieder auf der Höhe sein. Bevor er seine erste Tasse Kaffee getrunken und seine erste Pfeife geraucht hatte, war ihm nie wohl in seiner Haut.

Genau in dem Augenblick, als er nach dem Knauf griff, öffnete sich die Tür leise, und Madame Maigret erschien mit einem Tablett. Sie sah das leere

»Du bist schon aufgestanden!«

Sie sah frisch aus, war frisiert und hatte eine saubere Schürze umgebunden.

»Ich hatte mich so darauf gefreut, dir dein Frühstück ans Bett zu bringen!«

Hundertmal hatte er ihr behutsam begreiflich zu machen versucht, dass das für ihn kein Vergnügen war, dass es in ihm das Gefühl weckte, krank oder gebrechlich zu sein. Trotzdem blieb ein Frühstück im Bett für sie der Inbegriff eines Sonn- oder Feiertags.

»Möchtest du dich nicht wieder hinlegen?«

Nein! Das würde er nicht fertigbringen.

»Na gut, dann … Frohe Weihnachten!«

»Frohe Weihnachten! … Bist du mir böse?«

Sie waren im Esszimmer. Auf einer Tischkante stand das silberne Tablett mit der dampfenden Kaffeetasse und den goldbraunen Croissants, die in eine Serviette gehüllt waren.

Er legte seine Pfeife ab und aß ihr zuliebe ein Croissant, allerdings im Stehen, und sagte, während er hinausblickte:

»Es schneit ein wenig.«

Es war kein richtiger Schnee, der da vom Himmel fiel, mehr ein feiner weißer Staub, und Maigret dachte daran, wie er als kleiner Junge die Zunge

Sein Blick blieb an der Tür des Hauses gegenüber, links neben den Lagerhallen, haften. Zwei Frauen kamen gerade ohne Hut heraus. Die eine von ihnen, eine Blonde von etwa dreißig Jahren, hatte sich einen Mantel über die Schultern geworfen, ohne in die Ärmel zu schlüpfen, während die andere, die älter war und dunkelhaarig, einen Schal umgelegt hatte.

Die Blonde schien zu zögern und war nahe daran, wieder umzukehren. Die Dunkelhaarige, die sehr klein und sehr mager war, bestand darauf weiterzugehen, und Maigret war es, als deutete sie auf die Fenster seiner Wohnung. Im Türrahmen hinter ihnen erschien die Concierge. Offenbar kam sie der Mageren zu Hilfe. Schließlich entschloss sich die blonde junge Frau, die Straße zu überqueren, nicht ohne sich noch einmal besorgt umzudrehen.

»Was siehst du?«

»Nichts … Frauen …«

»Was tun sie?«

»Sieht so aus, als kämen sie hierher.«

Denn beide blieben mitten auf dem Boulevard stehen und blickten zu ihm hinauf.

»Man wird dich doch hoffentlich nicht am Weihnachtstag belästigen. Ich bin ja noch gar nicht mit dem Haushalt fertig.«

»Bist du sicher, dass sie hierherkommen?«

»Nun, wir werden sehen.«

Für alle Fälle würde er sich kämmen, die Zähne putzen und sich das Gesicht waschen. Er zündete sich gerade seine Pfeife an, als es an der Wohnungstür klingelte. Madame Maigret war wohl recht abweisend, denn es dauerte eine ganze Weile, bis sie zu ihm ins Schlafzimmer kam.

»Sie wollen dich unbedingt sprechen«, flüsterte sie. »Sie behaupten, es sei vielleicht wichtig, und sie bräuchten einen Rat. Ich kenne die eine der beiden.«

»Welche?«

»Die kleine Magere. Mademoiselle Doncœur. Sie wohnt in der gleichen Etage wie wir im Haus gegenüber und arbeitet den ganzen Tag am Fenster. Sie ist eine sehr anständige Frau, die für ein Geschäft am Faubourg Saint-Honoré feine Stickereien anfertigt. Ich habe mich schon gefragt, ob sie in dich verliebt ist.«

»Warum?«

»Weil sie so oft aufsteht und dir nachschaut, wenn du das Haus verlässt.«

»Wie alt ist sie?«

»Zwischen fünfundvierzig und fünfzig. Ziehst du keinen Anzug an?«

»Entschuldigen Sie, Mesdames …«

Vielleicht hatte Madame Maigret sogar recht. Mademoiselle Doncœur errötete nicht, sie wurde leichenblass, lächelte erst, blickte dann ernst, lächelte von Neuem und öffnete schließlich den Mund, ohne ein Wort herauszubringen.

Die Blonde dagegen war verstimmt, aber gefasst.

»Ich wollte nicht herkommen.«

»Möchten Sie sich setzen?«

Er bemerkte, dass die Blonde unter ihrem Mantel ein Hauskleid trug und keine Strümpfe anhatte, während Mademoiselle Doncœur angezogen war, als wollte sie sich zur Messe begeben.

»Sie fragen sich vielleicht, woher wir die Kühnheit nehmen, uns an Sie zu wenden«, begann Mademoiselle Doncœur, wobei sie um Worte rang. »Wie jeder im Viertel wissen wir natürlich, mit wem wir als Nachbar die Ehre haben …«

Jetzt errötete sie leicht und starrte auf das Tablett.

»Wir halten Sie von Ihrem Frühstück ab.«

»Ich war schon fertig. Worum geht es?«

»Es hat sich heute Morgen oder vielmehr heute Nacht etwas so Merkwürdiges in unserem Haus

»Wohnen Sie auch gegenüber, Madame Martin?«

»Ja, Monsieur.«

Man merkte ihr an, dass sie zu diesem Schritt gezwungen worden war. Mademoiselle Doncœur dagegen kam allmählich in Schwung.

»Wir wohnen auf derselben Etage, genau gegenüber Ihrer Wohnung.« (Sie errötete aufs Neue, als wäre das ein Geständnis.) »Monsieur Martin ist oft auf Geschäftsreise, er ist nämlich Handelsvertreter. Seit zwei Monaten liegt die kleine Tochter der Martins wegen eines dummen Unfalls im Bett.«

Höflich wandte sich Maigret der Blonden zu.

»Sie haben eine Tochter, Madame Martin?«

»Eigentlich ist sie nicht unsere Tochter, sondern unsere Nichte. Ihre Mutter ist vor etwas mehr als zwei Jahren gestorben, seitdem lebt das Kind bei uns. Sie hat sich auf der Treppe das Bein gebrochen. Wenn es keine Komplikationen gegeben hätte, wäre sie nach sechs Wochen wieder gesund gewesen.«

»Ihr Mann ist im Augenblick nicht in der Stadt?«

»Er müsste in der Dordogne sein«, fiel Mademoiselle Doncœur ein.

»Ich bin ganz Ohr, Mademoiselle Doncœur.«

Madame Maigret hatte einen Umweg durch das Badezimmer gemacht, um in die Küche zu gelan

»Heute Morgen bin ich wie gewöhnlich sehr früh aufgestanden, um zur ersten Messe zu gehen.«

»Sind Sie hingegangen?«

»Ja. Ich bin gegen halb acht zurückgekommen, da ich drei Messen besucht habe. Dann habe ich mir mein Frühstück gemacht. Sie hätten das Licht bei mir sehen können.«

Er gab ihr zu verstehen, dass er nicht darauf geachtet hatte.

»Ich wollte Colette möglichst schnell ein paar Süßigkeiten bringen, weil es für sie ein so trauriges Weihnachtsfest ist. Colette ist die Nichte von Madame Martin.«

»Wie alt ist sie?«

»Sieben. Nicht wahr, Madame Martin?«

»Sie wird im Januar sieben.«

»Um acht Uhr habe ich an die Wohnungstür geklopft.«

»Ich war noch nicht aufgestanden«, sagte die Blonde. »Ich schlafe manchmal ziemlich lange.«

»Ich habe also an die Tür geklopft, und Madame Martin hat mich einen Augenblick warten lassen, um sich einen Morgenrock überzuziehen. Ich hatte beide Hände voll und habe sie gefragt, ob ich Colette meine Geschenke überreichen dürfe.«

Er merkte, dass die Blonde sich währenddessen

»Wir haben zusammen die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet.«

»Hat das Kind ein eigenes Zimmer?«