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Matthias P. Gibert

Zeitbombe

Lenz’ achter Fall

 

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Christoph Neubert

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © demarco – Fotolia.com

ISBN  978-3-8392-3764-9

1

 

14. März 2011

 

Rüdiger Bornmann packte die letzten Utensilien in seinen alten Koffer, klappte den Deckel nach unten und ließ die beiden Schnappverschlüsse einrasten. Der Mann mit den langen, grauen Haaren, der an diesem Tag seinen 52. Geburtstag hätte feiern können, sah sich noch einmal emotionslos um und hob dann den Koffer von der Pritsche.

»Bist du fertig, Rüdiger?«, hörte er eine Stimme in seinem Rücken.

Ein kurzes Nicken, ein weiterer 360-Grad-Blick.

»Ja, ich bin so weit.«

Horst Kohler, der Uniformierte, der mit einem dicken Schlüsselbund in der Hand dastand, trat zur Seite.

»Du weißt, dass ich dich nicht rauslassen würde.«

Bornmann sah ihn müde an.

»Da kann ich ja froh sein, dass du nichts zu sagen hast, Schließer«, erwiderte er und humpelte, auf seinen Stock gestützt, auf Kohler zu.

»Ja, leider.«

Bornmann wollte an ihm vorbei auf den Gang treten, blieb jedoch noch einmal stehen und sah Kohler fest in die Augen.

»Ich weiß, dass du mir misstraust, aber das juckt mich nicht im Geringsten. Es ist mir nämlich scheißegal, was du von mir hältst.«

Seine Augen bewegten sich ein paar Millimeter nach oben.

»Siehst du, Horst, wir sind beide alt geworden hier drin. Wir sind alt geworden, unsere Haare sind grau und dünner geworden, und wenn wir in den Spiegel schauen, fragen wir uns, wo die ganzen Jahre geblieben sind. Der Unterschied ist, dass du jeden Abend nach Hause gegangen bist, zu deiner Frau und den Kindern, wohingegen ich mich seit 21 Jahren, vier Monaten und sechs Tagen nicht aus diesem Bunker hinausbewegen durfte. Du bist einmal im Jahr in Urlaub gefahren, ich musste meine Reisen auf den St. Nimmerleinstag verschieben. Aber nun ist es so weit, ab jetzt will ich dich nie mehr sehen, und wenn, dann bei einem Bier in einer gemütlichen Kneipe.«

»Ich will kein Bier mit dir trinken, Rüdiger. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, würdest du nie mehr einen Tag in Freiheit verbringen, aber du hast es eben ganz treffend beschrieben: ich habe halt in dieser Beziehung nichts zu sagen.«

»Gott sei Dank!«, murmelte Bornmann und trat auf den Flur.

»Wir sehen uns wieder, Rüdiger«, erwiderte der Justizbeamte ebenso leise.

»Das kann wohl sein, Schließer, aber wenn du das wirklich willst, musst du mich dereinst mal in der Hölle besuchen.«

»Nein«, widersprach Kohler, während er die Zellentür ins Schloss fallen ließ. »Wir sehen uns wieder, weil ich weiß, dass du erneut hier landen wirst.«

 

*

 

Keine fünf Minuten nach dem Abschied von Horst Kohler humpelte Rüdiger Bornmann neben einem anderen Justizbeamten her auf eine Bürotür zu. Mit der Linken stützte er sich auf den Stock, in der Rechten hielt er seinen Koffer.

»Herein!«, kam es von der anderen Seite, nachdem er leise und vorsichtig angeklopft hatte.

»Guten Morgen, Frau Direktor«, begrüßte er die Frau hinter dem kleinen Schreibtisch.

»Auch Ihnen einen guten Morgen, Herr Bornmann«, erwiderte sie freundlich. »Kommen Sie doch rein und nehmen Sie Platz.«

Bornmann stellte seinen Koffer neben der Tür ab und humpelte umständlich auf Julia Heinemann, die Leiterin der Justizvollzugsanstalt Kassel I, zu.

»Wie geht es Ihnen?«, wollte sie wissen.

»Na ja, es war schon schlechter. Aber in Anbetracht dessen, was ich heute erleben werde, will ich mich nicht beklagen.«

Die etwa 45-jährige Frau lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und fixierte ihr Gegenüber ein paar Sekunden.

»Ich muss Ihnen sicher nicht noch einmal erklären, dass, sobald Sie die Anstalt verlassen haben, jeder einzelne Ihrer Schritte von Polizisten überwacht wird. Tag und Nacht.«

»Das weiß ich, Frau Direktor«, erwiderte Bornmann mit dem Anflug eines Lächelns, »und ich bin darüber auch alles andere als böse. Obwohl …«

Er zögerte und hob den Stock, der die ganze Zeit in seiner linken Hand geruht hatte.

»Obwohl Sie diesen Job auch ein paar Ausgediente, Gehbehinderte erledigen lassen könnten.«

»Wegen Ihrer Behinderung?«

»Natürlich wegen meiner Behinderung.«

Die Frau ließ sich wieder nach vorn fallen.

»Sie wissen, dass mir das mit Ihrer Behinderung persönlich überaus leidtut, Herr Bornmann. Die ganze Sache damals ist so unglücklich gelaufen, dass …«

Sie brach ab.

»Lassen Sie mal, Frau Direktor. Wenn es nicht in dieser Situation gekommen wäre, dann bestimmt in einer anderen. Sie müssen sich keine Vorwürfe machen, ganz bestimmt nicht.«

»Danke, aber so was kann man leider nicht an der Garderobe abgeben. Das werde ich für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen müssen.«

Bornmann schüttelte den Kopf.

»Das ist Quatsch, und das wissen Sie auch. Also, lassen wir es einfach dabei, dass es eine Verkettung unglücklicher Umstände war, und gut.«

»Wenn Sie es so wollen … Wo werden Sie als Erstes hingehen, wenn Sie draußen sind?«

»Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht, aber eingefallen ist mir nichts. Vermutlich werde ich meine Schwester besuchen, ein paar Tage bei ihr verbringen und danach weitersehen. Sorgen, dass mir etwas passiert, sollte ich mir wegen der Einheiten, die mich bewachen, ja keine machen müssen.«

»Nein, da haben Sie recht. Lebt Ihre Schwester in Kassel?«

Er nickte.

»Ja. Und immer noch in der gleichen Wohnung wie damals, die aber leider zu klein ist, um dauerhaft bei ihr unterzukommen.«

»Aber wenn ich richtig informiert bin, sind Sie nie von ihr besucht worden?«

Wieder ein Nicken.

»Das war besser so. Ihr Mann mochte mich nicht sonderlich.«

»Hat sich das geändert?«

»Er ist letzten Monat gestorben.«

»Ach so, dann …«

»Schon gut«, entgegnete er. »Ich konnte ihn auch nicht leiden.«

Das Thema war der Frau offenbar peinlich, denn sie kam ansatzlos auf etwas anderes zu sprechen.

»Sie müssen sich ein Konto einrichten, Herr Bornmann, damit wir Ihnen Ihr Geld überweisen können. Immerhin sind es …«

Sie öffnete den Deckel einer Akte auf dem Schreibtisch und blätterte darin.

»… mehr als 13.000 Euro.«

»13.000 Euro für 21 Jahre, vier Monate und sechs Tage. Das dürfte auch nach heutigen Maßstäben kein guter Stundenlohn sein.«

»Ich kann«, räusperte sich seine Gesprächspartnerin, »Sie gut verstehen. Ich kann verstehen, dass Sie verbittert sind über das deutsche Rechtssystem, das Ihnen nach Verbüßung Ihrer Haftstrafe die Sicherungsverwahrung aufgebürdet hat, aber das soll und darf nicht dazu führen, dass Sie erneut straffällig werden. Und das ist keine Forderung, denn ich habe ab heute nichts mehr von Ihnen einzufordern, sondern eine Bitte. Ich bitte Sie, nicht mehr straffällig zu werden, Herr Bornmann, obwohl ich weiß, wie viel Wut auf das Rechtssystem Sie mit sich herumtragen.«

»Nehmen Sie es nicht persönlich, Frau Direktor, aber so schön war’s hier drin auch nicht, dass ich unbedingt wiederkommen will.«

Damit stand er unbeholfen auf und griff nach seinem Koffer.

»Wenn Sie nichts mehr auf dem Herzen haben, würde ich dann gehen.«

»Ja, nein«, erwiderte die Direktorin der Kasseler Justizvollzugsanstalt. »Ich will Sie auf gar keinen Fall aufhalten.«

Sie stand auf, kam um den Schreibtisch herum und drückte ihm herzlich die linke Hand mit dem Stock darin.

»Alles Gute für Sie, Herr Bornmann, was immer Sie auch planen.«

»Danke, Frau Direktor.«

Er lächelte sie kurz an und ging langsam, auf seinen Stock gestützt, Richtung Tür. Dann jedoch drehte er sich noch einmal zu ihr um.

»Muss ich damit rechnen, dass mich am Tor eine Horde von Journalisten empfängt?«

»Nein. Wir haben, so gut es ging, den Termin geheim gehalten.«

»Gut.«

 

Ein paar Minuten später öffnete sich die schwere Stahltür im Tor der Haftanstalt und entließ Rüdiger Bornmann in die Freiheit. Der Mann blinzelte in die Sonne und atmete tief ein, gerade so, als wäre die Luft auf dieser Seite des Tores eine andere als auf der Seite, von der er kam. Sein Blick kreuzte sich mit dem eines Mannes, der in einem VW-Passat auf der gegenüberliegenden Straßenseite saß und ihn anstarrte. Dann humpelte Rüdiger Bornmann Richtung Innenstadt davon.

2

 

Ein paar Monate später

 

»Maria, hast du mein dunkelblaues Sakko gesehen?«, rief Hauptkommissar Paul Lenz, der Leiter der Kasseler Mordkommission, in Richtung Schlafzimmer, wo seine Freundin, ebenso ratlos wie unentschlossen, vor mehr als zwei Regalmetern Blusen stand.

»Hab ich in die Reinigung gebracht«, murmelte sie.

»Was sagst du?«, kam es aus der Küche zurück, wo der Polizist vor der Espressomaschine stand und auf das Durchlaufen des braunen Muntermachers wartete.

Maria tauchte hinter ihm auf, griff ihm unter den Achseln durch und kraulte seine Brusthaare.

»Das hatte einen Fleck auf dem Rücken, deshalb habe ich es zusammen mit ein paar von meinen Sachen in die Reinigung gegeben. Nimm doch das dunkelbraune, das gefällt mir ohnehin viel besser.«

Lenz drehte sich um und zog sie heran.

»Damit du mich damit durch die Tür verschwinden siehst …«

Maria presste sich an ihn und schloss die Augen.

»Genau. Nur, damit ich dich durch die Tür verschwinden sehen kann. Gibt es an diesem stinknormalen Freitag etwas Besonderes, oder warum willst du dich so schick machen?«

»Ludger, mein Chef, geht demnächst in den Ruhestand und heute findet seine Abschiedsfeier statt. Da will ich nicht rumlaufen wie ein Landstreicher.«

»Das ist überaus löblich, Paul«, erwiderte sie.

»Na, denn«, gab Lenz grinsend zurück, stoppte den Espresso und fuhr mit seiner Hand unter ihr Top.

 

*

 

Zwei Stunden später standen der Kommissar und sein engster Mitarbeiter, der junge Oberkommissar Thilo Hain, in einer Ecke der Kantine des Polizeipräsidiums und lauschten den Worten eines Staatssekretärs aus dem Innenministerium, der das Lebenswerk und die Leistungen des scheidenden Kriminalrats in den höchsten Tönen lobte. Ludger Brandt saß, eingerahmt vom Polizeipräsidenten Bartholdy auf der linken Seite und seiner Frau Irma auf der rechten, in der Mitte der ersten Reihe.

»Und so lassen Sie mich sagen, dass die Pensionierung von Ludger Brandt eine riesige Lücke im Polizeipräsidium Nordhessen hinterlassen wird. Diese zu schließen, bedarf größter Anstrengungen und einer gehörigen Portion …«

»Was heißen dürfte, dass sie immer noch keinen Nachfolger für ihn gefunden haben«, mutmaßte Hain.

»Was mich auch gewundert hätte«, murrte Lenz. »Wer will diesen Scheißjob denn schon machen? Du vielleicht?«

»Jeden Tag und lieber heute als morgen. Sich nie mehr mit den bösen Jungs auf der Straße rumärgern müssen, dazu noch eine echt geile Besoldungsstufe? Wenn Sie mich gefragt hätten, wäre die Suche beendet gewesen.«

»Na, da können wir ja froh sein, dass deine Kompetenzen dafür nicht gereicht haben.«

»Ach ja«, fuhr der Oberkommissar ungerührt fort, »und ich müsste mich auch nicht mehr mit dir und deinen Marotten herumplagen, was mein Leben sicher nicht unattraktiver machen würde.«

Lenz bedachte ihn mit einem bösen Blick.

»Als ob du dich beschweren könntest.«

Hain gab ihm einen Stups mit dem Finger.

»Sei nicht beleidigt, ich mach nur Spaß. Aber mal ganz im Ernst, hättest du den Job nicht genommen?«

Der Hauptkommissar winkte ab.

»Das ist was für Sesselfurzer. Außerdem hat mich wirklich niemand ins Spiel gebracht, was mich allerdings keinen Deut wundert. Ich bin leider weder Mitglied in der einen noch in der anderen bestimmenden Partei, was einer Ausschlussklausel ziemlich nahekommt.«

»Da gebe ich dir recht. Wobei Ludger die Sache mit dem Sesselfurzer sicher nicht so gern hören würde.«

Lenz warf einen Blick in die illustre Runde vor ihnen und wandte sich Richtung Ausgang.

»Ich gehe zu Uwe einen Kaffee trinken. Kommst du mit?«

»Ich hab schon befürchtet, du würdest gar nicht mehr fragen.«

 

Uwe Wagner, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Nordhessen und Freund der beiden, saß mit einer Tasse Kaffee in der Hand hinter seinem Schreibtisch und las in einer Lokalpostille.

»Moin, die Herren. Na, schon genug von den Lobhudeleien der Gäste aus Wiesbaden?«

»Worauf du einen lassen kannst«, erwiderte Lenz.

»Kriegen wir auch einen?«, fragte Hain mit Blick auf das Heißgetränk, nachdem sie sich gesetzt hatten.

»Ihr wisst doch, wo er steht«, gab Wagner leicht mürrisch zurück.

»Was ist denn mit dir los? Ist was über deine Leber gekrochen?«

Wagner legte die Zeitung zur Seite, stellte die Kaffeetasse daneben und sah seinem jungen Kollegen dabei zu, wie er zwei Becher mit der braunen Brühe befüllte. Dann legte er die Beine über die Kante des Schreibtischs.

»Wisst ihr, wer die Nachfolge des allseits geschätzten Kriminalrats Ludger Brandt antreten soll?«

»Darüber«, grinste Lenz, »haben wir uns gerade unterhalten. Aber wir sind, um ehrlich zu sein, völlig ahnungslos.«

Der Pressemann schloss die Augen und atmete schwer ein und wieder aus.

»Der Mann, der es wird, ist definitiv Franz Zwick«, ließ er schließlich wissen.

Lenz und Hain sahen sich irritiert an.

»Der Zwick?«, echote Hain. »Och nöö, bitte nicht der.«

»Das wäre der Super-GAU«, bestätigte Lenz.

Wagner sah seinen Freund mitleidig an.

»Damit kommst du der Sache schon verdammt nah, mein lieber Paul. Franz Zwick wäre wirklich der Super-GAU. Aber er wird leider nicht zu verhindern sein, weil er einfach das richtige Parteibuch für die Beförderung mitbringt. Nicht wirklich qualifiziert, aber von der Parteizugehörigkeit genau der Richtige. Manchmal kann ich nicht so schnell kotzen, wie mir schlecht ist.«

»Wo hast du das denn her? Und wie sicher ist die Information?«

Wieder lehnte sich Wagner zurück.

»Meine Quelle sitzt in Wiesbaden erste Reihe Mitte. Glaubt es oder lasst es, aber es wird so kommen.«

Franz Zwick, ein in Österreich geborener 52-jähriger, in Scheidung lebender Vater zweier Kinder, war im gesamten Präsidium etwa so beliebt wie eine Pilzinfektion im Genitalbereich. Der Mann hatte eine schleimige, anbiedernde Art bei Vorgesetzten, gegenüber Kollegen der niedrigeren Dienstgrade hingegen war er arrogant und kalt wie eine Hundeschnauze. Außerdem mischte er sich in jeden noch so unbedeutenden Vorgang ein und wusste alles besser.

»Grundsätzlich seid ihr von dieser Personalie natürlich deutlich stärker betroffen als ich«, fuhr Wagner fort. »Aber natürlich hätte auch ich mir einen Ansprechpartner gewünscht, den ich ein klein wenig besser leiden kann.«

Er machte eine kurze Pause.

»Mit Ludger war die Zusammenarbeit zum Teil wirklich schwierig, natürlich auch, weil ich mit ihm persönlich nie richtig warm geworden bin, aber im Vergleich zu dem, was mich mit Zwick verbindet, war Ludger noch eine Traumbesetzung.«

»Das hatte ich gar nicht so richtig auf dem Schirm, dass du und Ludger euch nicht grün gewesen seid«, zeigte Hain sich erstaunt.

»Es war ja auch nicht unmöglich, mit ihm zu arbeiten, aber er hat schon die eine oder andere blöde Marotte.«

»Wer wüsste das besser als wir«, zuckte Lenz mit den Schultern. »Und jetzt ist er pensionsreif und weiß ab nächster Woche nicht mehr, was er alles mit seiner Zeit anfangen soll.«

»Weißt du das oder vermutest du es?«

»Ich habe«, erklärte Lenz seinem Kollegen hinter dem Schreibtisch, »vor ein paar Monaten mal länger mit ihm gesprochen, dabei hat er es mir erzählt. Und er hat weiterhin gesagt, dass er sich so richtig fürchtet vor dem Morgen, an dem er zum ersten Mal nicht mehr ins Büro muss.«

»Das hätte ich nicht gedacht«, erwiderte Wagner erstaunt.

»Ja«, meinte Lenz, »man kann den Leuten immer nur bis vor den Kopf sehen, aber nicht hinein. Franz Zwick allerdings müsste wirklich nicht sein Nachfolger werden.«

Damit trank er seinen Kaffee aus und schob die leere Tasse auf den Schreibtisch.

»Gibt es nichts Neues, das unsere Laune etwas heben würde?«, wollte er von Wagner wissen.

Der Pressesprecher deutete auf einen Stapel Blätter vor sich.

»Da, das ist die kriminelle Ausbeute der vergangenen Nacht, schaut es euch halt an. Ob sich darunter etwas befindet, was eure Laune befeuern würde, vermag ich nicht zu sagen, weil ich es mir noch nicht angesehen habe. Was Größeres ist auf jeden Fall nicht dabei, das wüsste ich.«

Hain winkte ab.

»Wenn nichts von Bedeutung dabei ist, interessiert es uns auf keinen Fall.«

»Aha«, machte Wagner.

»Wenn ihr beiden Strauchdiebe was Gescheites arbeiten wollt, unterstützt ihr am besten die Kollegen, die auf die entlassenen Sicherungsverwahrten aufpassen müssen. Die sind mit ihren Kapazitäten nämlich weit jenseits der Quetschkante.«

»Hab ich auch schon von gehört«, bestätigte der junge Oberkommissar. »Warum lassen sie die Kerle auch raus?«

»Weil nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte«, klärte Wagner ihn auf, »die nachträglich verfügte Sicherungsverwahrung nicht legal ist. Deshalb laufen diese Männer jetzt frei in der Gegend herum.«

Er schüttelte den Kopf.

»Wobei, frei ist ja nun was anderes. Sie werden nämlich rund um die Uhr von mindestens einem Zweierteam observiert.«

»Wie viele sind es denn?«

»In unserem Einzugsbereich haben wir vier, und damit sehen wir noch ganz gut aus. Im Bereich des Präsidiums Stuttgart zum Beispiel sind es elf, und dieser Arbeitsaufwand ist für die armen Schweine da unten einfach nicht mehr zu regeln.«

»Könnte man das nicht mit einer elektronischen Fußfessel in den Griff kriegen?«, wollte Lenz wissen.

»In den Griff würde man das Problem damit vielleicht kriegen, aber auch das ist nicht legal. Es würde nur funktionieren, wenn sich die Betroffenen damit einverstanden erklären würden, das Ding 24 Stunden am Tag zu tragen. Und dazu war meines Wissens bisher keiner bereit.«

»Was für eine Scheiße«, konstatierte Hain und schenkte sich noch etwas Kaffee nach.

»Das ist wohl wahr. Aber es gibt im Augenblick tatsächlich keine Alternative, als den Jungs permanent auf den Füßen zu stehen. Ich will auch nicht, dass sich einer von denen an meinen Töchtern vergreift.«

Er winkte ab.

»Aber da könnt ihr ja gar nicht mitreden. Entweder sind eure Kinder schon erwachsen, so wie bei dir, Paul, oder sie stecken noch in der Röhre, wie bei Thilo.«

Wagner spielte offensichtlich auf den Umstand an, dass Hain in den nächsten Tagen zum ersten Mal Vater werden würde.

»Lass mich da raus«, knurrte Lenz, »ich habe alles getan, um die Rentenversicherung nicht im Regen stehen zu lassen; und dass meine Kinder schon erwachsen sind, dafür kann ich nichts. Aber ich kann dich gut verstehen, ich wollte nämlich auch nicht, dass mein Kind einem Sexualstraftäter in die Hände fällt.«

»Sind die Freigelassenen alle wegen Sexualdelikten im Knast gewesen?«, hakte Hain nach.

Wagner schüttelte erneut den Kopf.

»Nein. Manchmal wurde die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch in Fällen von Mord, Totschlag oder schwerem Raub angeordnet. Aber die überwiegende Mehrzahl bezieht sich auf Sexualstraftaten.«

»Wieso …«

Weiter kam Lenz, der Wagner noch etwas fragen wollte, nicht, weil sein Telefon klingelte.

»Lenz«, meldete er sich.

Am anderen Ende erklang die Stimme von Rolf-Werner Gecks, dem ältesten Mitarbeiter in seinem Team.

»Moin, Paul. Wo steckst du denn? Du bist doch garantiert nicht mehr auf Ludgers Abschiedsfete, oder?«

»Nein, Thilo und ich haben vor einer Weile das Handtuch geworfen und nehmen gerade bei Uwe einen Kaffee.«

»Das hätte ich mir denken können. Wenn du damit fertig bist, komm doch mal bei mir vorbei. Ich hätte da was auf der Pfanne, bei dem du mir vielleicht helfen könntest.«

»Worum geht’s denn?«, wollte Lenz wissen.

»Das erzähle ich dir, wenn du hier angekommen bist, und nicht am Telefon. Bis gleich dann.«

Der Leiter der Mordkommission sah ein paar Augenblicke lang irritiert in die Runde und steckte das Telefon zurück in die Tasche.

»RW hat schlechte Laune, glaube ich«, ließ er seine Freunde wissen.

»Was wollte er denn?«

»Das beliebt er mir zu sagen, wenn ich ihm gegenübersitze.«

Hain verzog das Gesicht.

»Der gute RW wird auf seine alten Tage so langsam richtig schrullig.«

Lenz winkte ab.

»Lass mal, Thilo, wir können froh sein, dass er da ist. So manchmal sind seine Kontakte und Verbindungen wirklich Gold wert. Und auch sonst möchte ich ihn nicht missen, auch wenn er manchmal ein bisschen merkwürdig ist.«

Er stand auf und wandte sich zur Tür.

»Kommst du mit?«

»Nein, auf ›RW gestresst‹ hab ich jetzt keinen Bock. Ich geh mal gerade rüber in die Stadt und schaue, ob der Kinderwagen, den wir bestellt haben, schon angekommen ist.«

»Dann sehen wir uns später in meinem Büro.«

Lenz verabschiedete sich von seinen Kollegen und stand kurze Zeit später in Gecks’ Büro.

»Hallo, RW. Was gibt es denn so Wichtiges?«

»Hallo, Paul. Setz dich doch erst mal.«

Lenz zog sich einen Stuhl heran, ließ sich hineinfallen und sah seinen Kollegen erwartungsvoll an. Der räusperte sich und holte tief Luft.

»Sicher steckt gar nichts dahinter, aber der Sache nachgehen sollten wir besser schon.«

»Äh, RW«, warf Lenz ein, »vielleicht solltest du mir zuerst erklären, um welche Sache es geht.«

Der altgediente Polizist hinter dem Schreibtisch rutschte nervös in seinem Stuhl hin und her.

»Ich hatte vor ein paar Minuten einen Anruf. Von der Frau eines Kollegen.«

»Und …?«

Gecks zögerte.

»Das ist eine längere Geschichte, Paul. Und sie ist nicht ganz ohne Pikanterie.«

Lenz beugte sich nach vorn und legte dabei die Stirn in Falten.

»Also, entweder spuckst du jetzt aus, was du auf dem Herzen hast, RW, oder du schweigst für alle Zeiten. So, wie du es im Moment anstellst, geht es jedenfalls nicht.«

»Ja, das sehe ich ein. Aber es fällt mir wirklich nicht leicht, über die Hintergründe der Sache zu sprechen.«

»Gut, fangen wir eben mit den Vordergründen an. Wer hat dich angerufen?«

»Britta Schneider.«

»Müsste man die kennen?«

Gecks schüttelte den Kopf.

»Nein, muss man nicht unbedingt. Sie ist die Frau von Norbert Schneider, dem Kollegen von K34.«

»Wasserpfeifen-Nobby?«

Lenz hatte zwar noch nie engeren Kontakt mit Hauptkommissar Norbert Schneider vom Rauschgiftdezernat gehabt, aber er kannte natürlich die vielen Geschichten, die man sich über den Polizisten erzählte. Unter anderem die, dass er ein leidenschaftlicher Wasserpfeifensammler war.

»Ja, Wasserpfeifen-Nobby.«

»Und was wollte die Frau von Wasserpfeifen-Nobby von dir?«

»Sie hat mich um einen Gefallen gebeten«, druckste Gecks herum.

Nun wurde es Lenz zu blöd.

»Mensch, RW, nun mach mich nicht irre und lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen. Was will die Frau von dir? Und warum will sie es gerade von dir? Kennst du sie so gut, seid ihr verwandt oder was zum Teufel ist es?«

Gecks ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe er zu einer Antwort ansetzte.

»Britta und ich kennen uns wirklich ganz gut. Um es genau zu sagen, eigentlich viel zu gut.«

In Lenz wich der Ärger über das merkwürdige Verhalten seines Kollegen und wurde durch eine unterschwellig aufkeimende Neugier ersetzt.

»Also, da sind wir doch schon mal einen entscheidenden Schritt weiter«, bemerkte er trocken. »Aber du willst mir jetzt nicht erzählen, dass du was mit der Frau hast, oder?«

»Doch, das will ich.«

Kurze Pause. Dann die überraschte und mit erhobener Stimme vorgetragene Replik.

»Du hast was mit der Frau eines Kollegen?«

Gecks sah Lenz mit schief gelegtem Kopf an.

»Jemand wie du, der mit der Ehefrau unseres OB zusammenlebt, sollte sich da besser jegliche moralische Bewertung verkneifen, was meinst du?«

»Auf jeden Fall hab ich es nicht moralisch gemeint, auch wenn es bei dir vielleicht so angekommen ist. Ich habe ausschließlich meine Überraschung zum Ausdruck bringen wollen. Wie lange geht das denn schon mit euch?«

»Mehr als zehn Jahre.«

Nun musste Lenz schlucken.

»Meine Fresse, RW, das ist ja völlig irre. Und bis jetzt ist euch niemand auf die Schliche gekommen?«

»Nein, niemand. Zumindest wüsste ich es nicht. Aber seit heute Morgen bin ich mir nicht mehr so ganz sicher. Wasserpfeifen-Nobby ist nämlich verschwunden.«

»Wie, verschwunden?«

»Na, verschwunden. Kann man denn so oder so verschwinden?«

»Gut, gut«, beschwichtigte Lenz seinen Kollegen.

»Also, gestern Abend um kurz nach acht klingelt bei Schneiders das Telefon. Britta nimmt das Gespräch entgegen. Am anderen Ende der Leitung ist ein Kerl, der mit Norbert sprechen will. Sie gibt an ihn weiter und geht wieder an ihre Nähmaschine zurück. Keine zwei Minuten später steht ihr Mann vor ihr, aber er ist völlig neben der Spur. Kreidebleich sei er gewesen, hat sie mir erzählt, und richtiggehend gezittert habe er. Natürlich hat sie sich mächtig erschrocken, weil sie sofort gedacht hat, dass die Sache mit ihr und mir aufgeflogen sei, aber davon hat Nobby nichts erwähnt. Nur, dass er noch mal los müsse und in einer Stunde wieder zu Hause sei. Das war’s, seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört.«

»Mobiltelefon?«

»Mailbox.«

»Ist er zur Arbeit gekommen?«

»Nein, aber das musste er auch nicht, weil er Urlaub hat.«

»Freunde?«

»Hat er nicht viele, aber die wenigen hat sie alle angerufen; keiner hat was von ihm gehört.«

Lenz fing an zu grinsen.

»Vielleicht hat er es ja so gemacht wie seine Frau und liegt mit irgendeinem netten Schneckchen in der Kiste?«

»Das würde ich ausschließen. So was passt nicht zu ihm.«

»Dann könnte er ihr tatsächlich abhanden gekommen sein. Will sie eine Vermisstenanzeige aufgeben?«

»Im Augenblick nicht. Sie hat mich gefragt, ob es möglich wäre, diskret nach ihm zu suchen.«

»Dass so was nicht geht«, erwiderte Lenz nun wieder mit dem nötigen Ernst, »weißt du doch genauso gut wie ich. Entweder wir suchen mit Mann und Maus nach ihm oder wir warten in aller Ruhe darauf, dass er wieder zu Hause auftaucht. In der Mitte geht da nun mal gar nichts.«

»Genau das habe ich ihr auch gesagt, aber sie macht sich ernsthaft Sorgen um ihn, weil das, wie gesagt, überhaupt nicht seine Art ist.«

»Hat sie Angst, dass er sich was angetan haben könnte?«

»Keine Ahnung, danach wollte ich sie nicht fragen.«

Lenz legte die Stirn in Falten.

»Und deine Britta hat keine Idee, wer dieser ominöse Anrufer gewesen sein könnte?«

»Nein, keine. Sie sagt, sie hätte die Stimme noch nie in ihrem Leben gehört.«

»Hm, das klingt alles schon ziemlich merkwürdig, RW. Wasserpfeifen-Nobby kriegt einen späten Anruf, der ihn offenbar reichlich verwirrt, verlässt danach das Haus und kommt nicht wieder. Wollte er sich mit dem Anrufer treffen?«

»Auch darüber konnte Britta keine Aussage treffen, weil ihr Gatte es ihr einfach nicht erzählt hat. Aber warum sollte er sonst noch mal raus?«

»Klingt logisch.«

»Ja, das tut es.«

Gecks strich sich mit der Innenfläche der rechten Hand über den Hals.

»Und je länger ich darüber nachdenke, desto weniger Sorgen mache ich mir. Vielleicht ist es ja wirklich so, dass Britta und ich aufgeflogen sind und irgendjemand es Norbert gesteckt hat. Danach hat er sich besoffen und liegt jetzt in irgendeinem Hotelzimmer und schläft seinen Rausch aus.«

»Was würde das denn für dich bedeuten, wenn ihr beide aufgeflogen wärt? Vögelst du nur mit ihr, oder ist da mehr dran?«

Lenz’ Kollege schloss die Augen und dachte eine Weile nach.

»Nein, das geht über eine reine Bettgeschichte weit hinaus. Wenn ich nur daran denke, wie sie für mich da war, als der Krebs sich bei mir eingenistet hatte. Das war der Wahnsinn. An manchen Tagen war sie drei Mal im Krankenhaus und hat sich an mein Bett gesetzt.«

Gecks sprach von seiner Prostatakrebserkrankung vor etwas mehr als einem Jahr.

»Sie hätte ihn auch schon längst verlassen, wenn nicht seine schwer pflegebedürftige Mutter bei ihnen im Haus leben würde. Britta kümmert sich um die alte Frau und will das auch nicht aufgeben. Und sie sagt, dass es ihrer Schwiegermutter das Herz brechen würde, wenn sie Nobby verließe, was ich durchaus verstehen kann.«

»Dann wartet ihr also schon so viele Jahre darauf, dass sich die Sache biologisch lösen wird?«

»Schon, ja.«

Lenz sinnierte kurz über seine eigene Geschichte nach und wie sehr er es sich jahrelang gewünscht hatte, mit Maria leben zu können.

»Wie oft seht ihr euch denn?«

»Ziemlich oft. Nobby sammelt nicht nur Wasserpfeifen, er ist auch ein leidenschaftlicher Angler, was bei der Planung des Ehebruchs einiges vereinfacht.«

»Das glaube ich gern«, erwiderte Lenz mit einem süffisanten Grinsen.

»Was lachst du?«

»Na ja, ich dachte gerade so, dass einer, der Wasserpfeifen sammelt und leidenschaftlicher Angler ist, schon nicht unter die Räder kommt. Auch wenn er beim Rauschgiftdezernat arbeitet.«

»Der ist doch ein reiner Schreibtischhengst. Einen echten Dealer hat er sicher schon seit Jahren nicht mehr zu Gesicht gekriegt.«

Lenz sah auf seine Armbanduhr und stand danach auf.

»Mehr als warten können wir im Augenblick nicht tun, das siehst du ja selbst, also gehe ich rüber in mein Büro und mach noch ein bisschen Schreibkram, bevor ich mich ins wohlverdiente Wochenende stürze. Halt mich auf dem Laufenden, wie eure Geschichte weitergeht, ja? Und für euch beide viel Glück.«

Damit drehte er sich um und wandte sich zur Tür.

»Paul?«, kam es hinter seinem Rücken.

Der Hauptkommissar drehte sich um und sah seinen Kollegen gespannt an.

»Ja, RW?«

»Das, was ich dir gerade erzählt habe, bleibt doch unter uns?«

»Versprochen.«

»Auch nicht Thilo?«

»Ehrenwort, auch nicht Thilo.«

»Gut«, bestätigte Gecks erleichtert. »Weißt du übrigens schon, wer Ludgers Nachfolger wird?«

Lenz schüttelte den Kopf. »Uwe hat mir vorhin erzählt, dass der Zwick bei der Nachfolgefrage dick im Geschäft sein soll. Aber das kann und will ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«

»Es stimmt aber«, entgegnete sein Kollege. »Franz Zwick wird der Nachfolger von Ludger Brandt.«

Lenz sah ihn irritiert an.

»Du sagst das so, als wäre es schon beschlossene Sache.«

»Ist es.«

»Du bist ganz sicher?«

»Hundertprozentig.«

Lenz verließ kopfschüttelnd und ohne weiteren Gruß das Büro.

»Warum weiß hier eigentlich jeder immer deutlich mehr als ich«, mäkelte er, während er auf den Flur trat.

3

 

Ich liebe den Freitag«, frohlockte Thilo Hain und zog sich sein leichtes Leinensakko über.

»Und ich erst«, stimmte Lenz ihm nach einem Blick auf die Uhr über der Tür in seinem Büro zu.

»Wenn weder Mord noch Totschlag passieren«, fuhr der Hauptkommissar fort, »was wir natürlich alle hoffen, sehen wir uns am Montagmorgen in alter Frische wieder. Vielleicht ist dann auch schon offiziell, dass Franz Zwick Ludgers Nachfolger wird.«

»Möge der Himmel uns davor bewahren«, erwiderte Hain, nickte kurz mit dem Kopf und verließ den Raum, um das Wochenende zu beginnen. Lenz blieb noch ein paar Minuten länger, um einen längst überfälligen Bericht zu Ende zu bringen, und machte im Anschluss ebenfalls Feierabend.

Auf dem Nachhauseweg hielt er kurz an einem Blumenladen an, besorgte ein Dutzend Rosen der Sorte, die Maria am liebsten mochte, und setzte dann seinen Weg fort. Um kurz vor 14 Uhr betrat er die Wohnung in Wilhelmshöhe, versorgte die Blumen und legte sich im Anschluss in die Hängematte auf der Terrasse, die er für die große Liebe seines Lebens hatte anbringen müssen. Keine zwei Minuten später war er eingeschlafen.

 

*

 

Etwas Kaltes auf seiner Brust vertrieb den Traum, an den er sich schon im Aufwachen nur noch bruchstückhaft erinnern konnte, und ließ ihn mit dem linken Auge blinzeln.

»Hallo, Maria«, murmelte er verschlafen.

»Hi, Paul. Wie lange liegst du schon hier draußen in der Hängematte, die du doch so unnötig fandest?«

Der Polizist warf einen Blick auf seine Uhr, konnte jedoch nichts erkennen.

»Halb vier«, klärte sie ihn auf.

»Dann …«

»Lass sein, es ist nicht wichtig. Viel wichtiger ist, dass es dir gut geht. Und am allerwichtigsten ist, dass du mir immer noch meine Lieblingsrosen schenkst. Vielen Dank dafür.«

»Gern geschehen«, krächzte er, bevor er sich aufzurichten versuchte, was in der Hängematte nicht einfach zu bewerkstelligen war.

»Aber es gibt nichts Besonderes, das ich vielleicht vergessen haben könnte?«, forschte Maria vorsichtig nach.

»Nein. Einfach so.«

»Schön. Obwohl …«

»Ja?«

Sie streifte ihre offenen Schuhe ab und ließ sich neben ihn in die Stoffbahn gleiten. Obwohl die beiden das schon öfter praktiziert hatten, war Lenz nie ganz wohl dabei, weil er befürchtete, dass die Haken in den Wänden der enormen Belastung dauerhaft nicht gewachsen sein würden.

»Entspann dich, das geht schon«, sprudelte es vergnügt aus ihr heraus.

»Wenn du es sagst … Und was war das für ein ›obwohl‹ eben?«

Maria fing an zu lächeln, schmiegte sich eng an ihn und streichelte sanft seinen Rücken.

»Willst du das wirklich wissen? Es könnte sein, dass es dir Angst macht.«

Der Polizist hob eine Augenbraue.

»Angst? Ich? Du vergisst wohl, dass ich Bulle bin und eine Knarre habe. Also, raus damit!«

»Ich war nach der Arbeit beim Anwalt. Wenn alles normal läuft, werde ich in zwei Monaten eine ebenso geschiedene wie glückliche und heiratswillige Frau sein.«

Sie beugte sich in der engen Hängematte ein paar Zentimeter zurück und sah ihn ernst an.

»Das klang jetzt komisch, oder?«

»Was? Dass du bald sowohl geschieden als auch heiratswillig sein wirst?«

»Ja.«

Lenz holte tief Luft.

»Wird das am Ende ein Antrag?«

»Bist du meschugge?«, fauchte sie mit gespielter Empörung. »Wenn hier jemand einen Antrag macht, dann doch wohl du mir, ganz so, wie es sich gehört.«

Lenz tat so, als hätte er ihren Vorwurf nicht gehört.

»Warum hast du mir nichts von dem Termin beim Anwalt erzählt?«

»Das war nicht böse gemeint, ich habe es nur einfach in dem Trubel der letzten Tage und der neuen Ausstellung vergessen.«

Maria hatte vor etwa einem halben Jahr in einer Kunstgalerie angefangen und sich dem Job mit Haut und Haaren verschrieben.

Der Polizist sah sie lange an, streichelte ihre Haare und küsste sie dann auf den Mund.

»Stimmt, du warst in den letzten Wochen ziemlich beschäftigt, und es macht gar nichts, dass ich nichts von dem Termin gewusst habe. Viel wichtiger ist aber, dass du den ganzen Mist endlich hinter dir hast.«

»Das finde ich auch. Ich kann es kaum noch aushalten, bis ich endlich das Urteil in der Hand halte. Und du hast recht, ich habe in den letzten Wochen wirklich viel gearbeitet, aber es macht mir halt so viel Spaß. Bettina, meine Chefin, gibt mir das Gefühl, mich zu brauchen und meinen Rat zu schätzen, was nach den vielen Jahren als Anhängsel an der Seite eines Politikers eine unglaublich schöne Erfahrung ist.«

»Ich brauche dich auch.«

»Das weiß ich, und das macht mich unendlich glücklich.«

Über das Gesicht des Kommissars huschte ein Lächeln.

»Und du willst mich so schnell wie möglich heiraten?«

Eine längere Pause.

»Ja, das will ich. Macht es dir Angst?«

»Nein, ganz und gar nicht. Ich freu mich drauf.«

 

Die beiden verbrachten den Abend mit Freunden in einem Biergarten, genossen den herrlichen Sommerabend und das Gefühl füreinander. Um kurz nach Mitternacht lagen sie im Bett.

»Du hast das heute Nachmittag ernst gemeint, oder?«

Lenz, dem schon die Augen zugefallen waren, zuckte hoch.

»Was denn, Maria?«

»Na, dass du dich darüber freuen würdest, wenn wir heiraten.«

»Ja, klar. Immerhin musste ich ganz schön lange darauf warten, dass du mich endlich fragst.«

»Das stimmt. Und es tut mir leid, dass ich dich so viele Jahre hab warten lassen.«

Er griff im Dunkeln nach ihrer Hand und zog sie zu sich heran.

»Das passt schon, so wie es ist. Alles braucht nun mal seine Zeit, oder wie ging das noch?«

»Ja, genau so ging das.«

 

*

 

Der Hauptkommissar fluchte leise, als er die Tür zum Schlafzimmer hinter sich zuzog und nach dem gedämpft surrenden Telefon griff.

»Ja, Lenz«, murmelte er in das Gerät.

»Wer kann dich um diese Uhrzeit schon anrufen außer mir?«, hörte er die fröhliche Stimme von Thilo Hain.

»Warum bist du so gut gelaunt? Hat dir die Lottofee einen Wunsch erfüllt?«

»Nein, leider nicht. Aber die Fee der zum Suizid Bereiten hat mir geflüstert, dass an der Bahnstrecke bei Oberzwehren eines ihrer Schäfchen erfolgreich seinen Aggregatzustand geändert hat.«

»Och, nöö, Thilo. Auf so eine Sauerei hab ich nun wirklich keine Lust.«

»Lust hab ich auch keine, Paul, aber wir müssen trotzdem hin. Wir werden nämlich nicht dafür bezahlt, Lust zu haben, sondern dafür, uns um die nicht ganz koscher aus dem Leben Geschiedenen zu kümmern; und die Person, deren Reste da auf und neben den Gleisen verstreut liegen, ist garantiert nicht an einem Herzinfarkt gestorben. Das sagt zumindest die Kollegin Ritter, die mich gerade aus dem Bett geworfen hat.«

»Ich bin in zehn Minuten unten.«

»Ich auch.«

Selbstmörder, die vor oder unter einem fahrenden Zug ihr Leben beendet hatten, waren Lenz schon immer ein Gräuel gewesen. Meist war die Identifikation der Toten, zumindest wenn es sich um eine schnell fahrende Eisenbahn gehandelt hatte, eine echte Sisyphusarbeit. Von dem unappetitlichen Anblick der Überreste ganz zu schweigen.

Lenz stand zwei Minuten vor Ablauf der avisierten zehn Minuten vor der Tür und starrte auf die andere Straßenseite, Hain kam fünf Minuten später. Im Westen deuteten sich die ersten Vorboten des beginnenden Tages am Horizont an.

»An solchen Tagen hasse ich meinen Job«, begann der Hauptkommissar, nachdem er zu seinem Kollegen in dessen kleines Mazda-Cabriolet gestiegen war und ihn brummelnd begrüßt hatte.

»Hör auf rumzunölen. Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm, wie wir es erwarten.«

»Haha, am Arsch hängt der Hammer, und das weißt du auch ganz genau. Also hör auf, hier einen auf gute Laune am frühen Morgen zu machen.«

Hain antwortete nicht, sondern drosselte die Geschwindigkeit und hielt ein paar Sekunden später in einer Parkbucht an der Wilhelmshöher Allee an.

»Raus!«, sagte er völlig ruhig.

Lenz sah ihn entgeistert an, machte jedoch keine Anstalten, der Anweisung Folge zu leisten.

»Was soll denn das, Thilo? Ich hab’s doch …«

»Doch, hast du«, wurde er barsch von seinem Mitarbeiter unterbrochen. »Du steigst in mein Auto und beginnst sofort, dich wie ein Arschloch zu benehmen, und darauf hab ich echt keinen Bock. Steig aus und nimm dir ein Taxi, oder setz dich von mir aus in den Bus, aber lass mich mit deiner miesen Laune in Ruhe. Ich musste mich auch aus dem Bett kämpfen, in welchem außerdem, falls du es vergessen haben solltest, meine hochschwangere Freundin liegt, die ich ganz und gar nicht gern allein gelassen habe. Also, raus aus meinem Wagen.«

So böse hatte der Hauptkommissar seinen Kollegen definitiv noch nie erlebt. Er sah dem jungen Polizisten ins Gesicht und hob entschuldigend die Arme.

»Stimmt, Thilo, und es tut mir wirklich und aufrichtig leid, dass ich mich so mies benommen habe. Bitte verzeih mir.«

»Nein, heute nicht, Paul. Heute will ich nicht.«

»Mensch, Thilo, was soll ich denn machen? Ich entschuldige mich bei dir, und du lässt mich einfach im Regen stehen.«

»Ja, diesmal schon. Du denkst, du kannst dich so mies benehmen und mich wie ein Stück Scheiße behandeln, knautschst dir eine Entschuldigung durch die Zähne, und alles ist wieder in Ordnung.«

Der Oberkommissar fixierte durch die Frontscheibe einen Punkt irgendwo in der Entfernung.

»Aber heute will ich es nicht. Ich hab es endgültig satt, so von dir behandelt zu werden.«

Lenz holte tief Luft und legte dabei die Stirn in Falten.

»Wenn du es wirklich willst, steige ich aus dem Auto, gehe zurück zum Bahnhof und nehme mir ein Taxi. Ich würde es machen, weil ich damit anerkenne, dass du recht hast und ich mich scheiße benommen habe. Aber irgendwie würde mir das schon kindisch vorkommen. Außerdem hab ich keinen Cent in der Tasche.«

»Dann sieh mal zu, wie du zurechtkommst«, erwiderte Hain trotzig, doch an seinem Gesichtsausdruck war zu erkennen, dass seine Wut am Verrauchen war.

»Thiloooo!«

»Scheiß auf dein ›Thilooo‹. Ich will von dir nicht so behandelt werden, basta.«

»Ich verspreche dir, an mir zu arbeiten und mich zu bessern. Ehrenwort.«

»Hör auf mit dieser Ehrenwortscheiße, du weißt, wie ich das hasse.«

»Aber was soll ich denn jetzt noch machen? Mehr Kotau geht doch wohl kaum. Außerdem, was willst du denn den Kollegen vor Ort erzählen? Dass ich mit dem Bus anreise?«

»Die Kollegen sind mir so was von egal. Ich werde ihnen einfach erzählen, dass du dich schlecht benommen hast und ich dich des Autos verweisen musste.«

Während Hain das sagte, musste er grinsen.

»Du willst doch gar nicht, dass ich aussteige, Thilo. Du willst, dass ich nicht so cholerisch bin, und das erreichst du garantiert nicht, wenn du mich jetzt aus dem Wagen wirfst.«

Der junge Oberkommissar griff zum Zündschlüssel und startete den Motor.

»Aber vergiss nicht«, zischte er, »dass du auf Bewährung bist.«

»Ich denk den ganzen Tag dran, versprochen.«

»Und morgen?«

»Auch morgen.«

»Und nächste Woche?«

»Ja, auch in der nächsten Woche werde ich daran denken.«

»Lügner.«

Während Hain das kleine Cabriolet mit ständig an der Grenze der Legalität angesiedelter Geschwindigkeit aus der Stadt herausbewegte, sprachen die beiden Kommissare kein Wort miteinander. Erst als sie am Einkaufszentrum in der Nähe der Frankfurter Straße vorbeifuhren, brach Lenz das Schweigen.

»Worum genau geht es eigentlich? Weißt du schon mehr als das, was du mir am Telefon erzählt hast?«

Hain schüttelte den Kopf.

»Nein. Die Kommissarin Ritter hat mich angerufen und mir erklärt, dass es einen Toten an der Schnellbahntrasse gäbe und wo die Stelle zu finden sei. Mehr hat sie nicht zu erzählen gewusst. Oder doch, warte: Sie hat noch erwähnt, dass wir besser nichts frühstücken sollten, bevor wir an den Ort des Geschehens fahren, weil es nicht so schön aussehen würde.«

Lenz warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Ganz schön früh für einen ICE-Unfall.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass um diese Uhrzeit schon ein ICE auf der Trasse unterwegs war. Vielmehr vermute ich, dass der oder die Tote von einem Güterzug erwischt worden ist.«

»Die fahren auf der gleichen Trasse?«

»Ja, klar. Tagsüber die schnellen, nachts die schweren, so war das schon immer.«

 

Kurze Zeit später hatten die Polizisten das weiträumig abgesperrte Gelände rund um die nördliche Einfahrt zum Rengershausener Tunnel erreicht. Ein uniformierter Kollege hielt das Trassierband hoch, als die beiden sich dem Schauplatz näherten.

»Hast recht, es war definitiv kein ICE«, bestätigte Lenz anerkennend mit einem Blick auf den stehenden Güterzug. Ein paar Waggons befanden sich außerhalb des Tunnels, der Rest im Dunkel der Unterführung.

»Hallo«, wurden sie von einer jungen Polizistin in blauer Uniform begrüßt.

»Morgen, Frau Ritter«, erwiderte Lenz freundlich.

»Wir hatten ja schon das Vergnügen«, meinte Hain in ihre Richtung.

»Wie stellt sich die Sache denn dar?«, wollte der Hauptkommissar wissen.

»Nach den jetzigen Erkenntnissen handelt es sich um einen Mann. Er lag etwa 20 Meter hinter der Einfahrt zum Tunnel auf den Gleisen. Der Kopf links, die Beine rechts. Der Zugführer hatte, wenn Sie mich fragen, keine Chance, weil er ihn einfach nicht sehen konnte. Er hat sofort eine Notbremsung eingeleitet, aber da war natürlich schon alles zu spät.«

»Identität?«

Sie winkte ab.

»Bis vor ein paar Minuten war der Doc noch dabei, die Überreste zusammenzuklauben, deshalb glaube ich nicht, dass wir dazu in absehbarer Zeit was sagen können. Aber sprechen Sie doch am besten selbst mit Dr. Franz«, erklärte sie und reichte ihm eine Taschenlampe. »Es ist ziemlich dunkel da drinnen, weil der technische Zug noch nicht gekommen ist; bei denen scheint irgendwas schiefgelaufen zu sein. Und die Funzeln an den Wänden können Sie zum Sichten möglicher Spuren vergessen.«

»In Ordnung. Wo ist der Lokführer?«

»Im Klinikum. Der arme Kerl war wirklich völlig durch den Wind.«

»Wer will ihm das verdenken?«