Praschel, Heike Mit dem Schulbus in die Wildnis

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Mit 63 farbigen Fotos und einer Karte

 

ISBN 978-3-492-99189-6

© Piper Verlag GmbH, München 2018

© Heike Praschel, 2018

Redaktion: Antje Steinhäuser, München

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Cover- und Bildteilfotos: Heike Praschel

Karte: Marlise Kunkel, München

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Widmung

Für meine Familie und Freunde,

für all die Reisenden und Nomaden,

Freidenker und Entdecker

Prolog

Warum wir wieder nach Amerika wollten? Nun, da kam wohl eins zum anderen. Eigentlich hatten wir nach unseren letzten Erfahrungen mit der kalifornischen Polizei die Nase voll gehabt von den USA, aber da war dennoch diese Lust aufs Unterwegssein, diese Sehnsucht nach Weite und der Freiheit auf Reisen. Warum wir dazu einen Schulbus kauften? Weil er zu haben war, würde ich sagen, und weil diese Gelegenheit unsere Fantasie in Gang gesetzt hat. Nur eines lässt sich mit Bestimmtheit sagen: Wären wir auf unserer letzten Reise nicht James und Mia begegnet, hätten wir nie etwas von dem alten Bus gehört, der bei Mias Vater im Schuppen auf einen Käufer wartete. Und hätten wir unser altes Haus nicht gegen ein kleineres eingetauscht, wären wir finanziell nicht in der Lage gewesen, erneut auf Reisen zu gehen. Aber manchmal spielen eben ein paar Zufälle Schicksal, und die Dinge fügen sich so, dass man gar nicht mehr genau sagen kann, wie es eigentlich dazu kam. Jedenfalls zögerten wir nicht lange und überwiesen unseren Freunden 2000 Dollar für einen amerikanischen Schulbus, Baujahr 1986, kurze Version.

Was sollte schon schiefgehen, dachten wir. Wir kannten schließlich unsere Freunde, und der Bus stand sicher auf ihrem Grundstück …

1. Kapitel

The best you can get

16. April 2016, USA, Washington State, in der Nähe von Spokane, Meilenstand: 225 459

Der Anblick ließ mich für einen Moment alle Schmerzen vergessen, die mir nach dem langen Flug und der schier endlos erscheinenden Autofahrt durch den Rücken krochen.

Da stand er. Groß und gelb und noch viel wuchtiger, als er auf den Fotos gewirkt hatte, und ich fragte mich, wie um alles in der Welt wir dieses Ungetüm, dessen hüfthohe Reifen sich tief in die weiche Wiese gebohrt hatten, jemals wieder auf die Straße bringen sollten.

»Wow …« Tom war ebenfalls schwer beeindruckt. »Elf Meter …!«

Eigentlich hatten wir nach etwas Kleinem gesucht, kurz, wendig und geländegängig. Einem fünf Meter langen Bus mit Allradantrieb zum Beispiel. Doch dann überraschten uns unsere Freunde mit einer E-Mail: »Wir haben genau den Richtigen für euch … the best you can get … kurz und ideal für eure Zwecke, wir haben ihn bereits gekauft! Yeah!!!«

»Yeah!« Spätestens jetzt wussten wir, dass unsere Vorstellungen von »kurz« weit auseinanderdrifteten.

James hingegen grinste von einem Ohr zum anderen, und auch Mia schien mit ihrem Kauf sehr zufrieden. Vor mehr als fünf Jahren hatten wir die beiden auf einem Trip durch die USA kennengelernt. Damals waren wir in einem alten roten Mercedeslaster aufgebrochen, um mit unseren drei Töchtern die Mongolei zu erkunden. Aus dieser Tour war eine knapp dreijährige Weltreise durch über zwanzig verschiedene Länder geworden. James hatten wir im Nordwesten der USA vor einem Supermarkt kennengelernt. Zusammen mit seiner Freundin Mia war er uns danach bis nach Mexiko gefolgt, und auch nach der Reise war der Kontakt nie ganz abgebrochen.

»Das ist die kurze Version, die ist wirklich selten.« Offensichtlich gab es jede Menge Exemplare mit noch ein paar Fensterreihen mehr. Mia ließ ein begeistertes Glucksen hören, und ihre sonst so gepflegten kurzen Haare standen wie elektrisiert von ihrem Kopf ab. Etwas benommen starrten wir auf unser schon bezahltes, neues Zuhause, eigentlich hatten wir etwas ganz anderes gewollt.

Als die beiden uns vor einem knappen Jahr in Deutschland besuchten, hatten sie uns von einem alten Kirchenbus erzählt, der bei Mias Vater auf den Verkauf wartete, und die Fotos, die sie uns von dem Gefährt zeigten, hatten uns auf Anhieb gefallen. Gerade mal sieben Meter lang, mit netten verzierten Butzenscheiben, die die Gemeinde offenbar statt der ursprünglichen Fenster eingesetzt hatte, schien der alte church shuttle genau das zu sein, was wir uns schon immer erträumt hatten, und ohne groß darüber nachzudenken, sagten wir sofort zu. Per Handschlag war alles abgemacht, zurück zu Hause sollten unsere Freunde mit Mias Vater sprechen und einen fairen Preis für uns aushandeln. In einigen Monaten würden wir dann in die USA reisen und uns um den Innenausbau kümmern.

Doch dann war alles ganz anders gekommen.

Tagelang hatten wir nach unserem Treffen in Deutschland Ausbau-Handbücher studiert, über die Aufteilung des Innenraumes nachgegrübelt und vor dem Bild des ehemaligen Kirchenbusses gestanden, das frisch gerahmt unsere Küchenwand zierte, bis sich eines Morgens plötzlich der Nagel aus dem Putz löste und das Anschauungsmaterial in die Tiefe stürzte. Nur wenige Minuten später erhielten wir die Absage per E-Mail …

»Sorry, the bus is already sold!«

Der Bus war bereits verkauft worden! Ein alter Hippie, der ihn sich Jahre zuvor schon einmal angesehen hatte, war plötzlich wieder aufgetaucht. Niemand hatte mit ihm gerechnet, und dann hatte er den Bus gleich gekauft, ohne dass unsere Freunde auch nur mit Mias Vater hatten sprechen können.

Und unser Traum von der nächsten Reise zerplatzte mit einem lauten Knall, wie die gläserne Scheibe des Bilderrahmens auf unserem frisch gefegten Küchenfußboden.

Eigentlich hatte ich nie an schlechte Vorzeichen geglaubt, in diesem Moment allerdings war ich fast gewillt, damit anzufangen, auch wenn ich sonst grundsätzlich um einen positiven Blick auf die Dinge bemüht bin. Ich versuchte, mir gut zuzureden, und während ich noch immer am Kloß der Enttäuschung würgte, gab der Computer ein erneutes »Pling« von sich. Die nächste Nachricht von James und Mia flatterte in unseren Posteingang. Ich klickte auf den Betreff »New schoolbus« und las: »No problem, don’t worry!« Dann ein dicker Smiley. Es stünden so viele Busse zum Verkauf … »We will find the right one for you!« Dass »Mr Right« sich aber so enorm von seinem Vorgänger unterscheiden würde, damit hatten wir damals nicht gerechnet, als wir begeistert auf das Angebot eingegangen waren …

Tom räusperte sich: »Viel Platz!« Und er klopfte versöhnlich auf den verblichenen gelben Lack. »Perfekt für eine Familie.«

Jetzt strahlten James und Mia, zufrieden mit unserer Reaktion. »Wir wussten, er würde euch gefallen!«

Das war wohl der Moment, in dem mir klar wurde, dass wir uns ganz offenbar nicht so gut kannten, wie ich angenommen hatte.

Die beiden waren die Ersten gewesen, die von unserem Plan erfahren hatten, von unserer schon vor Langem festgelegten Route, die uns über den legendären Dalton Highway bis ganz in den Norden führen sollte. Schon immer hatten wir davon geträumt, nach Alaska zu fahren, hoch ans Eismeer. Wir wollten durch das Land der Eisbären und Moschusochsen reisen und durch die unberührte Natur, die indigenen Stämme besuchen und von ihren Bräuchen lernen.

Wochenlang hatten wir unseren Trip nach Nordamerika vorbereitet, hatten unserem Hund Laika die nötigen Impfungen verabreichen lassen, waren zwischen amerikanischer Botschaft und deutscher Schule hin- und hergependelt und konnten unsere Mädchen, Paula und Emma, die letzten Sommer gerade acht und zehn Jahre alt geworden waren, glücklicherweise ganz offiziell für ein Jahr von der Schule befreien. Zuletzt hatten wir das Wasser aus dem Heizsystem unseres Hauses entfernt, Telefon und Internet gekündigt, den Stromabschlag auf ein Minimum absenken lassen und alles leer geräumt.

Ob uns der riesige Bus, der laut Tachostand schon ganze 225 459 Meilen auf dem Buckel hatte, allerdings jemals so weit bringen würde, wie es unsere Route vorsah, wollte ich mir im Moment gar nicht so genau ausmalen, ganz im Gegenteil. Im Augenblick blieb uns nichts anderes übrig, als schlicht das Beste aus der Situation zu machen.

Zum ersten Mal seit unserer Ankunft vor einer knappen halben Stunde begann ich, unsere Umgebung zu mustern. Unser neues Zuhause, ein Schulbus des Herstellers International Harvester Company, war hinter einer schon etwas marode wirkenden Scheune geparkt, und das hohe Gras der Wiese, die uns umgab, war braun und vertrocknet. Zwischen den Halmen standen überall alte Autos in den verschiedensten Stadien des Verfalls. Das einzige fahrtüchtige Vehikel schien das Quad zu sein, mit dem sich Mias Vater jetzt unserer kleinen Gruppe näherte.

Nur wenige Meter entfernt kam er zum Stehen, lehnte sich zurück und hakte seine Daumen in die verschlissene Arbeitshose, während er ganz im Anblick unseres Busses zu versinken schien. Dann packte er eine seiner Krücken, die er sich während der Fahrt quer über die Knie gelegt hatte, und fuchtelte damit in Richtung unseres Gefährts.

»That’s the baby«, ließ er uns wissen und wiederholte die Worte, die wir auch schon von James und Mia gehört hatten: »Das beste Fahrzeug, das man sich vorstellen kann! Aber es benötigt zu viel Platz.« Er grinste verschmitzt. Der Bus nahm in der Tat einen großen Teil der Wiese ein.

James war in der Zwischenzeit um den Bus herumgelaufen, durch die doppelflügelige Notausgangstür ins Innere geklettert und hatte seine Hand auf den manuellen Türöffner gelegt. Mit einem einladenden Quietschen sprang die Tür zur Seite, und einer nach dem anderen kletterten wir in den Fahrgastraum.

Drei hohe Stufen führten in einen mit schwarzem Gummi ausgelegten schmalen Mittelgang, rechts und links davon gab es je zehn durchgesessene Doppelsitzbänke, bezogen mit vergilbtem braunem Kunstleder. Die Schiebefenster waren übersät von fettigen Flecken, eine klebrige Pfütze unter Sitz Nummer fünf roch verdächtig nach verschütteter Limo, und zwischen den beiden hintersten Sitzreihen klebte eine ganze Reihe rosafarbener Kaugummis. Während Emma und Paula über die Rückenlehnen turnten, ließ ich mich in die erste Sitzreihe plumpsen und musterte unser neues Zuhause für das nächste Jahr.

Diese robusten Schulbusse waren in den USA so etwas wie Kultobjekte. Viele Familien und Studenten bauten sich einen der gelben Giganten zum motorhome um. Es gab eine richtige Community, die sich auf etlichen Seiten im Internet tummelte, Tipps austauschte und immer wieder Treffen organisierte.

Während ich schon darüber nachdachte, wo ein Ofen Platz finden könnte, schnappte Tom sich den Zündschlüssel, rutschte hinters Lenkrad, und nur Sekunden später röhrte der Motor fast erschrocken unter der Haube auf. Er stolperte, hustete und fing nach einem letzten Krächzen an zu schnurren wie ein zufriedenes Kätzchen. Ein leichtes Tippen auf das Gaspedal, und mit einem sanften Holpern rollte unser Heim aus der tief in die Wiese gedrückten Standspur. Ich begann zu grinsen, während die Mädels jubelten.

Vielleicht hatten James und Mia doch gar nicht so falschgelegen!

2. Kapitel

Aller Anfang Ist schwer

19. Juni 2016, USA, Washington State, Chewelah, Meilenstand: 225 508

»Ihr braucht eine Inspektion!« Die Info habe er aus dem Internet, ließ James uns einige Wochen später wissen, indem er auf eine ellenlange Liste tippte, die er für uns ausgedruckt hatte. »Hier steht alles, was ihr beachten müsst!«

Ich griff nach dem Blatt, das er uns entgegenstreckte, und überflog die einzelnen Punkte. Praktisch keinen davon hatten wir erfüllt.

Die State Patrol, die sehr strikt an so etwas herangehe, müsse den Umbau des Busses in ein motorhome genehmigen, erklärte James, doch Tom schüttelte unbeeindruckt den Kopf.

Dunkle Wolken hatten sich über uns zu einer schwarzen Wand verwoben, und in der Ferne war das erste Donnergrollen zu hören. Sekunden später begann es, wie auf Kommando zu schütten. Dicke Tropfen prasselten auf das Dach wie ein Maschinengewehrfeuer. Nach über einer Woche Hitze kam nun endlich die lang ersehnte Abkühlung, die momentan weitaus besser zu unserer Stimmung passte als das sonnige Sommerwetter.

James machte auf dem Absatz kehrt und rettete sich vor dem Unwetter ins Innere seines Hauses, während der Regen wie eine Sturzflut über unsere Windschutzscheibe rauschte.

Mit einem Seufzen ließ ich mich an unseren mit Leder bezogenen alten Esstisch fallen, den wir für nur zehn Dollar auf einem Garagenflohmarkt gekauft hatten. Was, wenn er recht hatte?

Eigentlich hatten wir in ein paar Tagen aufbrechen wollen, aber wenn ich mich so umblickte, fing ich an, daran zu zweifeln. Unser Gasofen war laut Liste zu alt, der ganze Ausbau nicht professionell gemacht, die Gasleitungen nicht vom Profi verlegt, und der Holzofen war das einzige Stück unserer Einrichtung, das auch tatsächlich für ein Wohnmobil gedacht war.

Trotzdem war alles so schön geworden. Aus zwei alten Holzschränkchen, die wir an der Straße mit dem Hinweis »zu verschenken« gefunden hatten, hatten wir unsere Küchenzeile gebaut. Der kleine Gasofen mit Backröhre war ein wunderschönes antikes Stück, das dazwischen in einem ungewöhnlichen Türkis erstrahlte. Es gab eine gemütliche Essecke für vier Personen, einen gasbetriebenen Kühlschrank, ein Wassergefäß mit Zapfhahn, den kleinen Blechofen zum Heizen mit Holz, ein Sofa, ein großes Stockbett und sogar ein Badezimmer: ein kleines Kämmerchen, in dem ein Wasserkanister, eine Schüssel zum Waschen und eine Campingtoilette, Porta Potti genannt, Platz fanden. Eine leistungsstarke zweite Batterie, die sich ebenso wie die Startbatterie beim Fahren wiederauflud, sorgte für die Innenbeleuchtung und lieferte den Strom für das Aufladen von Laptop und Handy. Doch ohne eine Umschreibung auf ein Wohnmobil, so viel wussten wir, würde Tom den Bus, laut Führerschein, nicht fahren dürfen.

Als er meine finstere Miene sah, legte er den Arm um mich: »Jetzt mach dir mal keine Sorgen. James übertreibt, das garantiere ich dir!«

»Na hoffentlich!«

»Ganz sicher … morgen gehe ich auf die Zulassungsstelle, und ich wette, die Umschreibung ist kein Problem!«

Ich schluckte.

Dann zerknüllte ich die Liste und warf sie in eine Ecke. Wie oft hatte ich während der letzten Wochen an unser kleines Häuschen in der Oberpfalz gedacht, das abseits von einem Dörfchen am Waldrand lag. Die etwas verschlafen wirkende Ruhe dort könnte ich jetzt wirklich gut gebrauchen. Falls das mit der Umschreibung morgen nicht klappen sollte, würde ich mich notfalls zu Fuß auf den Weg machen!

Ich war froh, dass zumindest die Kinder von alldem kaum etwas mitbekommen hatten. Zu unserem Glück hatten sie schon bald mit dem Nachbarsmädchen Christine Freundschaft geschlossen und verbrachten die meiste Zeit hinter der kleinen farbenfroh blühenden Hecke, die deren Haus umschloss. Ein Lächeln huschte mir über das Gesicht, als ich an den ersten deutschen Satz von Christine dachte, den Emma und Paula jetzt tagtäglich herunterbeteten: »Mücke nein lecker« war, nachdem Christine eine kleine Fliege verschluckt hatte, zu ihrem Tagesmotto geworden und wurde inzwischen auf alles und jeden angewendet, selbst wenn es nicht immer einen Sinn ergab.

Meist verschwanden Emma und Paula schon frühmorgens in den Nachbarsgarten, feilten an ihren Englischkenntnissen, planschten zusammen mit Christine im Pool, machten mit ihren Secondhandfahrrädern die Gegend unsicher oder versuchten, Fierce, Christines Wolfsmischling, zu dressieren. Und auch andere Kinder kamen, Tag für Tag wurden es mehr. Zum Beispiel der Nachwuchs aus dem »Chaos-Haus« einen Block weiter, wo Berge von Möbeln im Garten gestapelt waren, oder das indische Geschwisterpärchen, das Emma und Paula auf dem Spielplatz kennengelernt hatten, oder das kleine Mädchen, das jeden Tag auf seiner Fahrradtour nach unseren Fortschritten schaute und dabei die Terrarien unserer Mädels entdeckt hatte. Spinnen, Kellerasseln und Schmetterlingsraupen tummelten sich darin, und zusammen mit Emma und Paula saß sie oft stundenlang vor den Glaskästen und bewunderte die vielen Krabbeltierchen. Für uns allerdings waren die letzten Wochen anstrengend gewesen.

Am nächsten Morgen machten wir uns gleich nach dem Frühstück auf den Weg in die Stadt, und nur dreißig Minuten später drückte uns die nette Dame auf der Zulassungsstelle die fertigen Papiere in die Hand und lächelte. »Gute Reise!«, sagte sie zum Abschied, und das, obwohl sie noch nicht mal einen Blick auf die Fotos vom Innenausbau geworfen hatte, die wir zur Umschreibung mitgebracht hatten. Ohne Kommentar hatte sie den alten Schulbus als motorhome registriert, und selbst die Versicherung hatte uns ohne Nachfragen als deutsche Fahrzeughalter akzeptiert.

Gemeinsam holten wir kurz darauf die restlichen Sachen aus dem Haus von James und Mia und verabschiedeten uns von den beiden. Dann startete Tom den Motor.

Nervös musterten wir die enge Einfahrt. Immerhin maß unser neues Zuhause stolze elf Meter, und bisher war Tom nur ein einziges Mal damit gefahren. Die Teller in den Schränken klapperten, als der Rückwärtsgang krachend einrastete, die Kupplung war anscheinend auch nicht mehr die beste, noch ein Ruckeln, dann rollte der Schulbus aus der Einfahrt. Ein kleiner Ast des Kirschbaumes brach krachend ab und fiel hinter uns zu Boden, noch ein letztes Winken, und schon verschwand die rote Backsteinmauer von James’ und Mias kleinem Domizil hinter der Kurve.

Häuser rauschten an uns vorbei, Häuser, die uns in den letzten Wochen trotz allem ans Herz gewachsen waren. Der kleine Bach, in dem wir gebadet hatten, schlängelte sich neben der Straße entlang, dann kam Zips mit dem wunderbaren Softeis, die Secondhandläden, der Stadtpark mit dem Spielplatz, die Schule, der Parkplatz mit all den schönen Schulbussen.

Wir passierten das Ortsschild. Chewelah verschwand hinter uns im Rückspiegel, wurde kleiner und kleiner, schrumpfte zusammen, verwandelte sich in einen winzigen Punkt, einen von vielen auf einer riesigen Landkarte.

3. Kapitel

DIe GeschIchte des ColumbIa RIver

21. Juni 2016, USA, Washington State, Kettle Falls, Meilenstand: 225 536

Dumpf ertönte ein Trommelschlag neben uns, während die Kanus fast geräuschlos übers Wasser glitten.

Der Boden begann, unter unseren Füßen im Takt zu vibrieren. »Tumm, tutumm … tumm, tutumm … tumm, tutumm …«

Ein Ruder platschte ins Wasser, dann setzten die Gesänge ein. »Heyaaa, heyaaaa, heyaaa …«

Die Intensität der kehligen Stimmen jagte mir eine Gänsehaut über die Arme. Ein schrilles Pfeifen erscholl, sein hoher Ton wurde weit über das glitzernde Wasser getragen, über die Wellen des Columbia River bis in die Tiefen des Ozeans, wo es nach den Lachsen rief.

Weit waren wir seit dem Morgen nicht gekommen. In Kettle Falls, nur knappe dreißig Meilen von Chewelah entfernt und ganz in der Nähe eines der größten Indianerreservate der USA, hatten wir eine letzte Pause vor der kanadischen Grenze eingelegt und waren genau rechtzeitig gekommen, um einem der bedeutsamsten Rituale der Native Americans beizuwohnen. Zwölf verschiedene Stämme hatten sich zusammengeschlossen, um für die Rückkehr der Lachse in den Columbia River zu kämpfen.

»Do you know the story of the Columbia River?«

Lydia, eine Frau um die sechzig, die wir schon vor ein paar Stunden im Historical Center kennengelernt hatten, legte ihre Hände auf die Schultern von Emma und Paula und lächelte sie an. Beide schüttelten den Kopf, und ich war wieder einmal erstaunt, wie viel Englisch sie bereits in diesen ersten zweieinhalb Monaten gelernt hatten. Zusammen mit Christine hatten sie tagtäglich geübt, und inzwischen brauchten sie meine Übersetzungshilfe so gut wie gar nicht mehr. Lydia schien allerdings auch ohne Worte die Sprache unserer Kinder zu sprechen, denn selbst mit ihren Gesten und Blicken konnte sie ihre Aufmerksamkeit fesseln, und mit begeisterter Spannung hingen beide an ihren Lippen.

»Nein?« Ihre langen grauen Haare, die in sanften Wellen über ihre Schultern flossen, und die kleine runde Brille gaben ihr etwas von dem Flair der späten Siebziger. Bis vor Kurzem hatte sie noch als Lehrerin in der Highschool gearbeitet, hatte sie uns erzählt. Nach ihrer Pensionierung hatte sie angefangen zu schreiben, und vor ein paar Wochen war ihr erster Gedichtband veröffentlicht worden.

»Dann erzähle ich euch davon.« Lydia setzte sich zwischen die beiden auf den Boden und klopfte mit der Hand neben sich, während die Trommeln um uns noch immer im selben Rhythmus verharrten. Emma und Paula ließen sich zu ihr auf den Ufersand plumpsen und lauschten gespannt.

»Stellt euch vor …«, begann sie, »stellt euch für einen Moment vor, ihr wärt Wasser. Nicht etwa Wasser in einem Glas, still und ruhig wie in einem See, sondern Wasser, das fließt, Wasser auf einer Reise, Wasser, das sich hügelabwärts auf das weite Meer zubewegt.«

Ihre Hände beschrieben sanfte Wellen, während sie fortfuhr: »Stellt euch vor, ihr wirbelt um Felsbrocken herum, eingeengt in Canyons. Stellt euch vor, ihr werdet gegen den Grund gepresst.« Sie schloss die Augen und wartete einen Moment. »Das ist es, was ein Fluss erlebt. Vielleicht könnt ihr ein wenig nachempfinden, wie sich der Columbia River fühlt, lasst mich euch also seine Geschichte erzählen: Die Reise dieses wunderbaren Flusses beginnt als ein Tröpfeln in einer Schlucht der Rocky Mountains. Das Rinnsal bewegt sich eine Weile nordwärts, wird größer und mächtiger, ehe es sich südwärts wendet durch die Purcell und Selkirk Mountains Richtung Meer. Es war schon immer sein Ziel, den Ozean zu erreichen. Jedes Wasser hegt den Wunsch, zu seiner großen Mutter zu gelangen, zu den ausgedehnten Salzwassergründen, wo unzählige Fische frei schwimmen …«

Weiter und weiter führte uns die Geschichte, begann bei der Eiszeit, erzählte von der Besiedlung durch die Sinixt-Stämme, von den Lachsen, die auf der Strömung zurück zu ihrem Laichplatz tanzen und die Erinnerungen des Meeres zu den Bergen tragen, vom Rhythmus des Flusses, vom Herzschlag des Wassers und dessen freiem Geist.

Während Lydia erzählte, hielt sie ihre Hand wie einen Trichter ans Ohr: »Lauscht den Trommeln! Hört ihr den Herzschlag des Wassers? Tum … tum … tum …«

Die Mädchen nickten.

»Tum wata lautet das Wort der Sinixt für Wasser, das ein Herz hat!«

Doch dann kam der traurige Teil der Geschichte: »Nur 150 Jahre, nachdem all die Menschen, bleich wie Flusssteine, angekommen waren, nahmen sie dem Fluss sein Herz, damit er fortan ihren Zwecken diente, indem sie seinen Lauf, dem er seit Millionen von Jahren folgte, veränderten …«

Dämme wurden gebaut, die Lachse am Zurückkommen gehindert, der Fluss zerstört, erzählte sie weiter, und doch bestehe noch immer Hoffnung! Dann zog sie ein dünnes illustriertes Buch aus der Tasche, zeigte Emma und Paula die Bilder und las die letzten Seiten, aus Sicht des Flusses, der in dieser Ausgabe selbst die ganze Geschichte erzählte, ein indianisches Märchen für die neue Zeit.

»Aber ich habe weiterhin Hoffnung. Eines Tages … werde ich erneut fähig sein, den Lachs auf dem Rücken meiner Strömung zu tragen. Mein tum wata wird stark und hart schlagen, während ich mich durch die Berge hindurch auf das große Meer zubewege. Ich werde in der Lage sein, meinen Geist mit dem Land und seinen Menschen zu teilen. Denn ich spende Leben und Freiheit. Ich bin Wasser, das Herz einer Landschaft.«

Fast gleichzeitig mit dem Ende der Geschichte hoben die Trommeln zu einem Crescendo an. Ein Häuptling, geschmückt mit langen Federn und Perlen, watete bis zu den Schenkeln ins Wasser und hob zwei kleine Kiesel vom Grund des Flusses. Die Musik verstummte, und der alte Mann begann zu singen, seine nackte Brust unter dem aufwendig geknüpften Schmuck hob und senkte sich, die eindringliche Melodie tanzte auf den Wellen, die leise rauschend seine Beine umspülten. Langsam klackend schlug er die Kiesel aneinander, immer wieder, mal schneller, mal langsamer, die Imitation des Geräusches, das entsteht, wenn ein Lachs mit der Schwanzflosse sein Laichbett auf dem Grund des Flusses gräbt. Ein Weckruf für das gebändigte Wasser, für die wartenden Lachse vor den riesigen Dämmen.

»Aber wie sollen denn die Lachse über die Dämme kommen?«

Paula schaute mich verwirrt an, und ich versuchte, ihr zu erklären: »Die Native Americans hoffen auf Aufmerksamkeit. Sie wollen das Problem zurück in die Köpfe der Menschen rufen, von denen so viele schon vergessen haben, wie wichtig der Lachs für einen gesunden Fluss ist. Dann nämlich, wenn viele gemeinsam helfen, können sie vielleicht erreichen, dass Fischtreppen an den Dämmen gebaut werden, das ist so etwas wie eine Umgehungsstraße für die Lachse.«

»Das wäre toll!«

Auch wir hatten inzwischen nach kleinen Kieseln gegriffen und wie so viele um uns herum zu klopfen begonnen, das Klacken von Hunderten von Steinchen erfüllte die Luft. Plötzlich fuhr ein Seufzen durch die Menge, und die Köpfe von knapp 400 Menschen richteten sich nach oben. Ein Weißkopfseeadler flog über uns am Himmel, sein Schrei drang durch die Luft, er stieß ins Wasser, und Sekundenbruchteile später baumelte ein zappelnder Fisch in seinen Krallen. Alle begannen zu jubeln.

4. Kapitel

FrankIe goes north

24. Juni 2016, Kanada, British Columbia, kurz hinter der Grenze, Meilenstand: 225 574

»Diese Bremsen sind viel zu warm!«

Tom hatte sein Infrarotmessgerät auf die Bremstrommeln gerichtet und schritt einen Reifen nach dem anderen ab. Die Bremsen vorne rechts waren um ganze zwanzig Grad Celsius heißer als die anderen.

»Die sind mit Sicherheit fest.« Er hievte den riesigen Werkzeugkoffer aus der Seitentür und griff zielsicher nach dem Schraubenschlüssel.

Zwei Tage hatten wir nach der Zeremonie noch am Columbia River verbracht und waren von dort direkt über die kanadische Grenze gefahren. Seit einer knappen Stunde quälten wir unseren Bus über die Cascades, eine Bergkette, die sich von Washington State bis British Columbia zieht, und anscheinend hatte die Strecke den alten Bremsbelägen den Rest gegeben.

»Und das schon nach den ersten hundert Meilen!« Die Euphorie, die ich heute Morgen beim Abschied von Lydia noch so deutlich verspürt hatte, bekam einen leichten Dämpfer. Was, wenn der Bus schon auf den ersten Kilometern schlappmachen würde?

Die Kupplung war weitgehend am Ende, das wussten wir. Gestern erst hatte Tom alles Mögliche versucht, um sie noch einmal nachzustellen, aber alle Mühen waren umsonst gewesen, und jetzt hofften wir, dass sie zumindest noch die nächsten Meilen bis Alaska überstehen würde. Ansonsten war uns die Technik des Oldtimers auf den ersten Blick ganz in Ordnung erschienen. Bremsen waren immerhin Verschleißteile, sagte ich mir, das musste noch lange keinen Zusammenbruch des ganzen Gefährts bedeuten. Außerdem hatte sich Tom noch vor unserer Abfahrt die passende Reparaturanleitung für den Schulbus besorgt, zwar auf Englisch, aber besser als nichts. Der mindestens fünfzehn Zentimeter dicke Ordner lag gut verstaut unter meinem Sitzplatz, und wie schon so oft auf unseren Reisen war ich froh, dass Tom beim Reparieren von in die Jahre gekommenen Fahrzeugen bisher immer sehr gut zurechtgekommen war.

Selbst auf unserer letzten Reise, in der Wüste Gobi, weit entfernt von jeder Werkstatt, hatte er alle Probleme in den Griff bekommen, und grinsend erinnerte ich mich an die Ruhe der Mongolen, die sich bei einer Panne schon mal ein halbes Stündchen für ein Nickerchen in die Wüste legten, wenn ihnen auf Anhieb keine Lösung einfiel. Eigentlich gar keine so schlechte Idee, dachte ich gähnend.

Neugierig kamen jetzt auch Emma und Paula nach draußen geklettert und wanderten eine Runde um den Bus, betrachteten wie Tom die Reifen, die ihnen fast bis an die Schulter reichten.

»Was ist denn kaputt?«

»Gar nichts! Die Bremsen sind nur fest, das ist eigentlich zu erwarten, wenn ein Fahrzeug so lange steht.«

»Dann kannst du das richten?« Paula runzelte fragend die Stirn.

»Klar, dauert nur noch ein paar Minuten.«

»Frankie schafft das schon, gell, Papa?« Dann klopfte Paula dem Schulbus sacht auf den Kotflügel. »Weil er nämlich auch zu den Eisbären will!«

Ich musste lachen, als ich den neuen Namen aus dem Mund meiner Tochter hörte. Erst vor einer knappen Viertelstunde hatten wir unseren Schulbus einer Taufe unterzogen, aber noch war mir sein neuer Name fremd und kam mir nur schwer über die Lippen.

»Frankie …« Ich lauschte dem Klang und lächelte, vielleicht hätten wir doch bei den ersten Vorschlägen der Kinder bleiben sollen. »Gelber Blitz« oder »Kleiner Donner« hörte sich eindeutig nach mehr Kraft an, und für den langen Weg bis in den hohen Norden würde er davon wohl noch viel nötig haben, aber für eine Änderung war es jetzt eindeutig zu spät. Die Taufe war begossen und besiegelt, an Frankie war nicht mehr zu rütteln, und ich musste mich wohl oder übel damit zufriedengeben.

Emma und Paula stiefelten inzwischen quer über den Parkplatz, drückten sich durch das dichte Gebüsch, gelangten an das steinige Ufer eines kleinen Baches, und nur Minuten später hörte ich das rhythmische Klopfen von Kieseln, den indianischen Ruf nach den Lachsen.

Entspannt ließ ich mich auf die hölzerne Picknickbank sinken, neben der wir geparkt hatten, und während ich mit einem Ohr den Kindern lauschte, streichelte ich unserer Hündin Laika, die sich neben mich gesetzt hatte, über den flauschigen Kopf. Ein alter VW-Bus röhrte auf der Straße vorbei, und gerade als Tom mit einem Gummihammer leicht an die Bremsbacken klopfte, kam ein Pick-up auf den Parkplatz gerollt, auf dessen Ladefläche sich volle Mülltüten, Schrubber, Besen und allerhand Putzmittel stapelten. Der Mann allerdings, der sich vom Fahrersitz schob, erinnerte mich mehr an ein Mitglied der Hells Angels als an eine Reinigungskraft. Schwere Ketten baumelten zwischen seinem Gürtel und den Hosentaschen, ein gewaltiger Bauch wallte über den Hosenbund, und über den stiernackigen Rücken spannte sich eine schwarze Kutte mit mehreren Aufnähern. Er musterte uns eine Zeit lang, griff dann nach einem in seinen Pranken winzig wirkenden Besenstiel und verschwand damit in dem kleinen Toilettenhäuschen auf der anderen Seite des Parkplatzes. Erst als zwei schwere Motorräder von der Straße heranrollten und mit laut tuckernden Motoren direkt hinter dem beladenen Pick-up hielten, kam der Stiernackige aus dem Klo, bedeutete den Neuankömmlingen zu warten und machte sich dann quer über den breiten Teerplatz auf den Weg zu unserem Bus. »Hier darf man nicht campen!« Unheilvoll schwebten die Worte vor seinem fülligen Bauch in der Luft, bis Tom unter dem Bus hervorgekrabbelt kam.

»Wir haben gar nicht vor, hier zu übernachten.« Tom wischte sich die schwarzen Finger an seinem Arbeitsoverall ab. »Wir hatten ein Problem mit den Bremsen, aber jetzt müsste alles wieder funktionieren.«

Die finstere Miene des Rockers wich einem verständnisvollen Lächeln. »Wollte euch nur warnen … hier gibt’s zu viele Pumas und Bären … ist ’ne gefährliche Gegend!« Sein Grinsen hatte einen merkwürdigen Ausdruck angenommen, während er seinen Kumpanen einen knappen Blick zuwarf. »Solltet so schnell wie möglich von hier verschwinden … die nächste Stadt ist eh nicht mehr weit.«

Auch wenn wir nicht wirklich die Befürchtung hegten, gleich einem Rudel Raubtiere gegenüberzustehen, hatte ich nicht das Gefühl, dass es eine gute Idee wäre, gerade jetzt eine Diskussion darüber anzuzetteln.

Anscheinend wollten die Männer uns loswerden, warum, wollte ich gar nicht wissen. Doch noch bevor wir überhaupt die Möglichkeit hatten, ihm noch einmal zu versichern, dass wir ohnehin jeden Augenblick weiterfahren würden, zerriss ein Schrei die Stille, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Laut und klagend, ein Kreischen wie von einem verwundeten Tier im Todeskampf. Laika begann wie wild zu kläffen, und wie auf Kommando stürzten Tom und ich in Richtung Bachufer. Plötzlich wieder Stille, dann, nach einer endlos erscheinenden Millisekunde, setzten die Gesänge ein.

»Heyaaaaa, Heyaaaa, Heyyyyyyyaaaaaaaaaa …«

Als wir den Bach erreichten, tanzten Emma und Paula fröhlich um ihre imaginäre Feuerstelle, und selbst der stiernackige Rocker, der uns auf den Fuß gefolgt war, wirkte reichlich blass um die Nase.

Laika dagegen war an den Mädchen vorbei- und aufgeregt winselnd auf einen Busch zugestürmt, mit gesträubtem Nackenfell hielt sie kurz darauf an, schnüffelte nervös und begann zu knurren. Vor ihr lag ein monströser Haufen, braun, durchsetzt mit Kirschkernen und dampfend warm.

»Bärenkot!«, stellte unser Begleiter fachmännisch fest. »Ich hab euch ja gewarnt!« Dann pflügte er mit ausgebreiteten Ellenbogen zurück durch das Gebüsch in Richtung Parkplatz. Der Bär allerdings war nirgendwo zu sehen, und ich hatte den Verdacht, dass er sich nach dem Kampfschrei der Mädchen fürs Erste auch nicht mehr in unsere Nähe trauen würde.

Zwanzig Minuten später waren die Bremsbacken wieder auf Vordermann gebracht und Tom lenkte, unter den aufmerksamen Blicken der drei Rocker, unser mobiles Zuhause zurück auf die kanadischen Straßen. Noch ein paar Kilometer, dann mussten wir die gröbsten Steigungen hinter uns gebracht haben, und die ungewohnte Anstrengung für die Bremsen würde nachlassen. Außerdem hatten wir nicht das Geringste dagegen einzuwenden, etwas Abstand zwischen uns und die Rocker zu bringen, ihrem Wunsch nach Einsamkeit wollten wir definitiv nicht länger als nötig im Wege stehen.

5. Kapitel

EIn unanGenehmes Zusammentreffen

27. Juni 2016, Kanada, British Columbia, in der Nähe von Hills, Meilenstand: 225 676

»Gibt es hier wirklich schon Bären?« Paula starrte aus dem Fenster, während Emma sich die Kopfhörer ihres MP3-Players über die Ohren schob und auf dem kleinen Display nach der passenden Geschichte suchte. Vor knapp fünf Jahren hatten wir in den ganzen drei Monaten, die wir damals quer durch Kanada gereist waren, keinen einzigen Bären zu Gesicht bekommen. Jetzt konnten es die Mädchen kaum erwarten, endlich hoch in den Norden zu kommen, dorthin, wo die Anzahl der Bären im Gegensatz zur Bevölkerungsdichte stetig anstieg.

»Klar.« Ich nickte.

Nachdenklich starrte Paula in das dichte Grün, das an uns vorbeirauschte, und betrachtete die Wildnis mit interessierter Aufmerksamkeit.

»Welche denn?«

»Grizzlys und Schwarzbären. Aber ich glaube nicht, dass wir welche sehen, Bärenbegegnungen sind eher selten.«

Für den Moment schien sie zufrieden und lehnte sich gähnend an die kalte Scheibe.

Inzwischen war es schon ziemlich spät geworden, die Sonne begann langsam zu sinken, und ein zarter rosa Hauch breitete sich über den Himmel, wurde nach und nach dunkler. Das bisher noch leuchtende Grün der vielen Bäume verwandelte sich in ein finsteres Grau, das zu beiden Seiten die Straße begrenzte. Der Lichtkegel, den die großen Scheinwerfer des Busses auf die Straße warfen, war lächerlich schwach, die Sicht wurde von Minute zu Minute schlechter, und als Paula auch noch übel wurde, beschlossen wir, die Nacht abzuwarten, bevor wir unseren Weg fortsetzen würden. Also lenkte Tom unseren Frankie mit einem sanften Ruck von der Straße. Der Schotter knirschte unter den Reifen, und für einen Moment zweifelte ich daran, ob der kleine Parkstreifen, den wir neben der Straße entdeckt hatten, wohl lang genug sein würde, um unseren kompletten Elf-Meter-Bus darauf unterzubringen, aber eine größere Bucht hatten wir seit der Begegnung mit den Rockern nicht mehr gefunden. Immer weiter grub sich die gelbe Schnauze zwischen die Büsche, und als einige kleine Ästchen die Windschutzscheibe berührten, war endlich auch das letzte Stückchen unseres Vehikels von der Straße gerollt.

Dichter Wald umschloss uns wie ein Meer aus Bäumen, wie Wellen aus schimmerndem Grün, die über die Hügel flossen, und als Hintergrundmusik war das Keckern der Hörnchen und das Gezwitscher der vielen Vögel zu vernehmen. Nur eine halbe Stunde später waren wir schon in die Betten gekrochen und hatten uns in unsere warmen Decken gemummelt. Von draußen hörte ich eine Zeit lang noch das Zirpen einiger Zikaden, dann war ich eingeschlafen.

Gleich nach dem Aufwachen machte ich mich mit Laika auf den Weg in den Wald, wanderte leise vor mich hin summend auf einem zugewucherten Fußpfad, der hinter dem Bus in die Büsche führte, immer weiter in das dichte Gewirr von Dornenranken und Holunder. Der Morgen war kühl, und von dem dampfenden Boden stiegen weißliche Nebelschwaden auf und tauchten den soeben erwachenden Wald in ein unheimliches Zwielicht.

Vor mir wand sich der Pfad um eine enge Kurve, und ein leises Geräusch, das ich aus der Ferne hörte, ließ mich kurz innehalten. Was war das? Ein Bellen? Laika hob ihre Schnauze und witterte nervös. Wahrscheinlich ein Wanderer mit seinem Hund, dachte ich bei mir, Abdrücke von Hundepfoten hatte ich auf dem Weg etliche gesehen. Mein Summen wurde leiser, ich brummte nur noch vor mich hin, weil es mir schon immer unangenehm gewesen ist, im Beisein anderer zu singen. Aus dem Brummen wurde ein Flüstern, bis ich nach einigen Metern ganz verstummte. Ich zog Laika neben mich und verkürzte die Leine, während ich meinen Blick auf die Kurve richtete. Mit zwei schnellen Schritten umrundete ich die Biegung, erhob beinahe schon die Hand zum Gruß. Dann jedoch erstarrte ich. Am Rande der kleinen Lichtung hatte sich etwas bewegt, etwas Dunkles, Großes. Etwas, das nicht im Entferntesten an einen Wanderer erinnerte.

Eine ausgewachsene Schwarzbärin hatte ihren schweren Kopf gehoben und musterte mich, schien für einen kurzen Moment abschätzen zu wollen, ob ich für ihre zwei Jungen eine Bedrohung darstellte. Meine Gedanken begannen zu rasen, tausend Geschichten jagten durch meinen Kopf, Geschichten über angreifende Bärinnen, die wild entschlossen ihren Nachwuchs verteidigen, blutige Szenen wie aus Horrorfilmen, die ich in meiner Jugend aufgesogen hatte wie ein Schwamm das Spülwasser, Abenteuer in der Wildnis mit der reizvollen Würze von Gefahr.

Die reale Gefahr allerdings behagte mir weit weniger, jede einzelne Faser meines Körpers schien sich plötzlich zusammenzuziehen unter einem Schock von Adrenalin, und mit einem Mal war mein Kopf leer bis auf einen einzigen Gedanken: FLUCHT!

Wie von selbst begannen meine Beine zu laufen, ich warf mich herum und rannte, rannte wie noch nie in meinem Leben, und Laika schien wenigstens dies eine Mal mit mir einer Meinung zu sein. Klatschend und patschend hörte ich meine eigenen gehetzten Schritte in den Pfützen, neben mir das hechelnde Keuchen des Hundes. Das Wasser spritzte in Fontänen auf, während ich über den rutschigen Grund hastete, und ein blättriger Zweig streifte wie kalter Atem über die Haut meiner linken Wange. Weg, nur weg … Meter um Meter vergrößerte sich der Abstand zu der verhängnisvollen Lichtung.

Doch plötzlich überkam mich im Rennen ein noch heftigeres Gefühl der Panik, ein Gefühl unabwendbarer Gefahr, und mit einem kalten Schaudern drehte ich im Rennen für einen kurzen Augenblick den Kopf – und da sah ich sie. Die Bären waren mir auf den Fersen, und sosehr ich mich auch anstrengte, sie kamen mir näher und näher. Ich konnte die kleinen Atemwolken vor ihren Schnauzen in der kühlen Morgenluft sehen, und sogar die weichen Abdrücke der patschenden Tatzen, die sich hinter uns in den Waldboden drückten. Ich hatte Angst, schreckliche Angst. Da, endlich tauchte weit hinten das Ende des schmalen Pfads vor mir auf, hell leuchtete die Straße durch die kleine Öffnung zwischen den Bäumen, ein Licht am Ende des Tunnels, ein Funken Hoffnung in letzter Minute, aber im selben Augenblick wurde mir klar: Ich werde es nicht bis dorthin schaffen … unmöglich … gegen sie hatte ich nicht den Hauch einer Chance. Sie würden mich erwischen, bevor ich in Sicherheit war.

»TOOOM, TOOOM, HIIILFEEEEE

Mein Schrei zerriss die Stille, hallte zwischen den dunklen Stämmen, deren Äste sich wie dürre Arme in meine Richtung streckten.

»HIIILFEEEEE, HILF MIR DOCH

Dann blieb mir die Luft weg. Japsend und kraftlos stolperte ich weiter. Es hatte sowieso keinen Sinn. Tom würde mich nicht hören können.

Der Waldrand war noch viel zu weit entfernt, die Bären waren zu schnell … sie würden mich einholen, und ich konnte rein gar nichts dagegen tun.

Was aber, wenn sie mich erreicht hatten? Was, wenn die Bärin mich tatsächlich angriff?

Eine eiskalte Wut packte mich plötzlich, und ein Schrei explodierte in meinem Kopf: ICH WILL NICHT STERBEN! NICHT JETZT, NICHT HIER! Und vor allem NICHT SO!

Wir waren doch gerade erst losgefahren! Ganze neun Wochen hatten wir in einem kleinen Städtchen verbracht, hatten in der engen Garageneinfahrt von James und Mia in dem unfertigen Schulbus gehaust und dabei an dessen Innenausbau gearbeitet. Jetzt, nachdem wir es endlich geschafft und Zeit für Ruhe, Genießen und Relaxen hatten – was tat ich da? Hatte ich nichts Besseres zu tun, als mich sogleich und unbedacht einer unwägbaren Gefahr auszusetzen?!

Meine Gedanken ratterten. Ratschläge, die ich irgendwann einmal gehört hatte, hallten in meinem Kopf wie die Schläge einer gewaltigen Glocke, bis sich aus dem Chaos ein einzelner Befehl herauskristallisierte: »Nicht rennen … nicht rennen … n i c h t r e n n e n … NICHT RENNEN!« Das verzweifelte Patschen meiner Schritte wurde langsamer, unter größter Willensanstrengung verringerte ich mein Tempo, dann blieb ich stehen und drehte mich um.

Sie hatten mich fast eingeholt. Ich sah die Wassertröpfchen, die von ihrem zottigen Fell auf den Boden fielen, die geblähten Nüstern, die witternd die Luft einsaugten, und für einen winzigen Moment trafen sich unsere Blicke. »Groß machen!«, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, »Lärm!«, und langsam streckte ich meine Arme in die Höhe und holte tief Luft, doch ein leises »Buuuuuhhhh« war das Einzige, was ich zustande brachte, und auch Laika ließ nur ein halbherziges »Wuff« vernehmen. Auf die Reaktion der Bärin jedoch konnte und wollte ich nicht warten. Langsam drehte ich mich wieder um, machte einen unsicheren Schritt in Richtung Waldrand, dann noch einen und wieder einen, wartete auf den unvermeidlichen Angriff. Doch nichts passierte, und als ich mich das nächste Mal umdrehte, war die Bärin samt Jungen verschwunden.

Mit weichen Knien und einem flauen Gefühl im Magen kletterte ich nur wenige Minuten später in den Bus und ließ mich auf die Sitzbank am Tisch fallen.

»Da war ein Bär …« Ich zeigte nach draußen auf den Wald, und meine Finger zitterten.

Die Kaffeekanne auf dem Gasherd begann lauthals zu blubbern, und während der Duft von frisch gebrühtem Bohnenkaffee durch den Schulbus dampfte, kamen Emma und Paula begeistert aus dem Stockbett gekrochen.

»Was, Mama? Ein Bär?«

»Eine Bärin und zwei Junge …« Meine Stimme zitterte noch immer.

Anstatt mich zu bemitleiden, verschränkte Paula die Arme vor ihrer Brust und sah mich entrüstet an: »Das finde ich gemein! Immer triffst du die spannenden Tiere!«

6. Kapitel

How to be bear aware …

28. Juni 2016, Kanada, British Columbia, Nakusp, Meilenstand: 225 717

Noch am selben Tag waren wir von Hills in Richtung Nakusp aufgebrochen, waren zum zweiten Mal auf einem Parkplatz an der Straße gestrandet, nachdem wir ein Leck in der Dieselleitung entdeckt hatten, das wir mithilfe eines provisorischen Dichtmittels zumindest so weit zukleistern konnten, dass wir zur nächsten Stadt gelangten.

Dort, in Nakusp, hatten wir zwar bald den passenden Ersatz für die leckende Leitung gefunden, aber der Austausch gestaltete sich um einiges schwieriger als gedacht. An die Schrauben war mit unserem Werkzeug kaum heranzukommen, und um den ganzen Schlauch von der Dieselpumpe zum Motor zu wechseln, müsste viel zu viel zerlegt werden. Schweren Herzens entschieden wir uns also, es bei der provisorischen Abdichtung zu belassen, auch wenn die verwendete Dichtmasse nicht unbedingt für Diesel geeignet war, und hofften inständig, es würde dennoch eine Weile halten.

Doch schon an der nächsten rest area erwartete uns eine weitere Überraschung … wieder eine Pfütze unter dem Bus. Die Dieselleitung hatte zwar dicht gehalten, aber diesmal war es das Getriebe, und langsam begannen wir uns zu fragen, ob wir wohl jemals unser Ziel erreichen würden. Immerhin trennten uns von Prudhoe Bay noch einige Tausend Kilometer. Was, wenn Frankie mitten auf dem Dalton Highway nicht mehr weiterwollte und wir im wilden Niemandsland zwischen Grizzlys, Wölfen und Elchen strandeten?

Tom krabbelte mal wieder unter den Fahrzeugboden, bewaffnet mit einer Handvoll Werkzeug, während ich nervös die Umgebung musterte.

Obwohl inzwischen mehrere Stunden vergangen waren, hatte ich die Begegnung mit den Bären noch nicht ganz überwunden. Ständig spielten mir meine Augen Streiche: Blätter wurden zu gespitzten Ohren, dicke belaubte Äste zu schweren Pranken. Die dunklen Knopfaugen der Bärin schienen mich überallhin zu verfolgen, und entfernten sich die Kinder einmal etwas weiter vom Bus, ergriff mich jedes Mal ein Gefühl von Panik. Ich wurde das Gefühl nicht mehr los, unter ständiger Beobachtung zu stehen, Raubtiere schienen plötzlich allgegenwärtig, und bei jedem Geräusch, das aus den Büschen drang, erwartete ich das Schlimmste. Zum ersten Mal fragte ich mich, wie nur die Menschen hier mit der ständigen Gefahr umgingen. Mir jedenfalls bereitete das Gefühl, in der Nahrungskette nicht mehr unbedingt an oberster Stelle zu stehen, ein unangenehmes Magendrücken.

Wie um alles in der Welt sollten wir uns auf die nächste Bärenbegegnung vorbereiten? Gerade in der Einsamkeit des hohen Nordens konnte eine falsche Reaktion in einer solchen Situation schnell verheerende Folgen haben, so viel wusste ich. Erst vor Kurzem hatte ich von dem Schicksal eines Professors gehört, der auf einer Exkursion mit seinen achtzehn Studenten von einer Grizzly-Mutter angegriffen worden war. Obwohl ein Rettungshubschrauber zum Einsatz gekommen war, schwebte er eine Woche später immer noch in Lebensgefahr.

Be bear aware