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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Das Ende des Sommers

Großcousine Miriam

Das Leben ist ein Supermarkt

Der Schlangenprinz

Der Duft der Erde

Die Verhandlung

Die Praktikanten

Onkel Billy und die Wunderkerze

Mein angetrunkenes, jugendliches Ego

Der einzige Mann

Die Sache mit Laura

Der Saustall

Der Abend mit Onkel Billy

Wohnungstür 18, unser Nachname

Das Glück ist eine Privatangelegenheit

Nachhilfe beim Pfarrer

Die Hochzeit

Das Ende und der Anfang

Die Wahrheit des Hasen

Beweisstück A

Die Sache mit Katja-Heidi

Der lange Winter

Die Therapie von Großcousine Miriam

Die Krankheit

Das alte Indianerwort

Mutterwelt

Das Ende

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www.piper.de/literatur



ISBN 978-3-492-99267-1
© Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: Getty Images/H. Armstrong Roberts/ClassicStock
Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen

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Die Frauen in meiner Familie waren seit jeher wunderbar.
Selbst als sie es nicht mehr waren.

Das Ende des Sommers

Als der Herd Feuer fing, das Feuer die halbe Küche in Schutt und Asche legte und Laura sich dabei so erschreckte, dass sie sich zwei Stunden im Badezimmer verbarrikadierte und wir darum das Wasser zum Löschen aus dem Klotank schaufeln mussten, waren wir eigentlich auf dem Weg in den Urlaub. Den letzten gemeinsamen Urlaub.

Ich war gerade zwanzig geworden, Laura hatte etwas mit Sprachen fertig studiert und trotzdem in einer Bank angefangen.

»Schluss damit«, sagte sie. »Schluss mit diesen Familienurlauben.« Als sie das sagte, trug sie ihren breitkrempigen Sommerhut und steckte gestreifte Shorts und Sonnenöl in einen Koffer. Ich glaube, sie lächelte.

»Findest du nicht …«, fragte ich.

Sie schaute vom Packen hoch und antwortete: »Riechst du das? Das ist doch Rauch?« Dann sprintete sie zur Tür raus, der Hut wehte dramatisch drei Schritte mit und fiel dann über ihre Schultern zu Boden.

Vater bekämpfte den Brand mit stoischer Miene. Er zog seine dicke Weste aus und begann, damit auf die Flammen einzuschlagen. Nicht gewaltvoll, sondern ruhig und ausdauernd, als wüsste er von Anfang an, dass Contenance siegen würde. Das beeindruckte mich. Wie ein unnachgiebiger Riese kam er mir vor, und ich überlegte, wie er in wadenhohen Stiefeln und mit einem spitzen Hut aussähe.

Mutter hämmerte zuerst erfolglos an die Badezimmertür und schrie nach Laura, aber die schrie nur zurück. Dann gab sie auf, und zu zweit bildeten wir eine Löschkette vom Klo über den Flur bis in die Küche. Ich drehte das Wasser zum Nachfüllen der Klospülung auf und schöpfte um mein Leben, während Mutter herumlief und das Feuer mit den kleinen Pfützen kitzelte. Einmal schüttete sie auch Vater an. Ich weiß nicht, was noch alles brannte, aber Vater besiegte es. Er erstickte das Feuer und wischte sich dann mit dem Handrücken über das Gesicht. Ein bisschen Ruß blieb auf seiner rechten Wange. Das Haus war gerettet, die Küche aber verloren.

Mutter riss die Terrassentür und alle Fenster auf. »Schade drum«, sagte sie, »wir hatten sie erst seit elf Jahren.«

Vater ignorierte uns beide und trug die Reisetaschen ins Auto. Als Laura endlich aus dem Bad gekrochen kam, war alles gepackt, und wir fuhren los.

Am Meer war es schön. Eintönig, aber schön. Sogar Laura gestand es ein, was Mutter irrational glücklich machte. Überhaupt war sie und auch Vater gut gelaunt. Sie zeigten es allerdings auf unterschiedliche Weise. Mutter stand früh auf und lief quer durch das Dorf, um frisches Brot zu kaufen, dieses ganz weiße, von dem man ewig essen kann, ohne jemals satt zu werden. Danach bereitete sie beschwingt das Frühstück und trieb uns anschließend wie eine Herde Schafe vor sich her an den Strand. Sie bräunte sich lang und stand nur auf, um ihre ewigen Sonnenbrände bei weiten Runden im Meer abzukühlen.

Vater hingegen drosselte sein Tempo zu unendlicher Langsamkeit. Er trank viel und gern Kaffee und kam erst Stunden später bei uns an, sogar seine ledernen Strandschuhe knarzten extra laut, als würden sie unter all der Gemächlichkeit ächzen. Er legte sich in den Schatten und schlief ein, stand erst wieder auf, wenn wir heimgingen. Doch das stimmte nicht ganz. Einmal am Tag stand er doch auf: Er ging bis ans Wasser und stellte sich in die Sonne, um sich aufheizen zu lassen, stemmte dabei die Hände in die Hüften, und es störte ihn auch nicht, dass sein Bauch über die kleine Badehose hing. Er war hier der Kapitän. Seine dunklen Haare reflektierten das Sonnenlicht. Nach fünf Minuten machte er sich auf den Rückweg in den Schatten, um den restlichen Tag zu verschlafen. Er kam bei Mutter vorbei, blieb bei ihr stehen, beugte sich runter und küsste sie auf den blonden Kopf. Jeden Tag machte er das.

Jahre später erinnerte ich mich an diesen Sommer: Wie ich vom vielen Wichsen ganz weiche Hände hatte und wie Vater aus dem Schatten trat, um Mutter in der Sonne zu küssen. Wie mich das damals unheimlich beruhigte, ohne dass ich es merkte.

Ich erinnerte mich daran, weil sich Vater und Mutter am letzten Urlaubstag trennten und es niemandem sagten. Wir verbrachten auch diesen Tag am Meer schön und eintönig und gemeinsam. Dann fuhren wir heim. Wir kamen in der rußigen Wohnung an, es roch nach Asche und verbranntem Plastik, der Rauch war schon lange abgezogen. Durch ein offenes Fenster hatte es ins Haus reingeregnet, zwei Pflanzen hatten aufgegeben. Vater trug unsere Sachen hinauf und stellte sie im Wohnzimmer ab. Dann küsste er Mutter ein letztes Mal, strich Laura und mir übers Haar und ging. Er kam nicht wieder.

Mutter rief zwei Schwarzarbeiter, die die Küche richteten.

»Ich bin nun alleinerziehend«, sagte sie. »Ich kann mir keine neue Küche leisten!«

Wir wiesen sie darauf hin, dass Laura und ich anstandshalber seit längerer Zeit Miete bezahlten, aber Mutter gefiel sich in ihrer Rolle. Wenn ich heute daran denke, kommt es mir wie ein schrecklich langer Sommer vor. In der Auffahrt verzog sich ein Stück Asphalt, weil es so heiß war und die Arbeiter mit dem Hinterrad ihres schwer beladenen Skodas darauf parkten.

Obwohl die Küche renoviert war, stank es noch lange. Nach Asche, geschmolzenen Lamellen und verbranntem Kunststoff. Laura und ich hassten es, wir aßen ausschließlich im Wohnzimmer. Mutter belächelte uns. »Ich riech nichts«, sagte sie und löffelte im Stehen über der Spüle den Thunfischaufstrich. Wir verzogen angewidert die Gesichter, Mutter lachte selbstzufrieden.

Ich erinnere mich, nichts war wirklich schlimm, aber wir waren trotzdem nicht glücklich. Alles schien mir furchtbar weit weg: die Erde von der Sonne, wir von der Welt, ich von der Zukunft. Wo war hier irgendetwas? Wo war hier irgendetwas, außer ein Moment nach dem anderen, außer Laura, Mutter und ein paar anderen Menschen. Ich verstand, dass das Universum groß war und weit, aber ich konnte es mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Als wir es das erste Mal jemand anderem erzählten, standen wir zu dritt nebeneinander.

Dann sagte Mutter: »Dieter ist weg, so ist das jetzt.«

Laura fügte hinzu: »Es ist wahr, Papa ist gegangen«, und ich nickte. Danach betretenes Schweigen.

Mit der Zeit optimierten wir den Ablauf. Wir verstörten die Leute zwar noch ein bisschen, aber zumindest wirkten wir nicht mehr geistig entlaufen. Überhaupt mussten wir bald gar nichts mehr sagen. Alle wussten es und schwiegen es gemeinsam mit uns tot.

Damals glaubte ich noch, dass Vater wiederkommt. Dass das alles ein Irrtum war. Selbst nach einer Woche überlegte ich, jetzt könnte er zur Tür reinkommen, sich umständlich mit dem Schuhlöffel die Hausschuhe anziehen und sich in der Küche über die Zeitung setzen. Ja, selbst nach zwei Wochen hätte er auftauchen können, ohne ein Wort der Erklärung. Wäre gegangen, meiner Meinung nach, drei Wochen wären schon schwierig, aber zwei wären drin gewesen.

Die erste Zeit ohne Vater fiel mir schwer. Ich dachte immerzu daran, ich bemitleidete mich. Sehr. Ich wollte mich ständig hinsetzen und meinen Kopf in den Händen vergraben, seufzen, und manchmal brannten mir auch die Augen.

Als ich an einem dieser Tage nach Hause kam, müde und erschöpft, wollte ich etwas sagen, setzte mich dann aber zu Mutter und Laura, die ineinander verworren auf der Couch lagen. Wir starrten zusammen den Fernseher an und teilten uns eine Decke. Niemand rührte sich. Mutter fragte nicht, was war, und Laura schwieg. Draußen wurde es finster. Wir aßen nichts, und nur einmal holte jemand Wasser, ich glaube, das war ich. Wir nutzten den Lärm des Fernsehers und den sich setzenden Staub als Vorwand dafür, nicht zu sprechen und so zu tun, als hätten wir alle etwas zu tun, etwas zu denken, also außer: Wir sind hier ohne Vater, und alle wissen es.

Ich erinnere mich, dass ich ein Knie im Rücken spürte oder einen Ellbogen. Die Decke kratzte mich am Kinn und bedeckte dafür meine Beine nicht. Der Film war furchtbar banal, aber zumindest kam kein Sex vor. Es war nicht bequem auf der Couch, und trotzdem bewegte sich keiner von uns, als hätten wir Angst, dass eine Bewegung die Realität zur Explosion bringen würde. Denn darum ging es, wir saßen in einer Starre fest und strengten uns an, nicht in dieser Wirklichkeit zu existieren.

Ich erinnere mich auch, dass ich hoffte, Mutter und Laura würden einschlafen. Rückblickend war das einer der ersten Momente, wo ich an die beiden dachte und sie »die Frauen« nannte. Meine Frauen. Die Mädchen, deren einziger Herr nun ich war. Ich wünschte sie mir in den Schlaf, damit ich sie ins Bett tragen konnte. Das schien mir richtig. Das schien mir wichtig. Keine Ahnung, warum. Vater hatte es nie getan. Die ganze Zeit dachte ich darüber nach, über nichts anderes. Ich stellte mir vor, wie schwer Mutter in meinen Armen wäre, schwer und sperrig und lang. Selbst im Schlaf würde sich ihr Körper überlegen verhalten und wissen, dass dies nicht die richtige Machtverteilung war. Sie wurde nicht getragen. Aber sie trug auch nicht. Eben weder das eine noch das andere.

Laura hingegen wäre ganz anders, sie wäre nachgiebig und geschmeidig, ließe sich elegant heben, ohne wirklich zur Last zu fallen. Ich würde sie beide in das verlassene Ehebett legen, mit den Gesichtern einander zugewandt, im Türrahmen stehen und sie lange betrachten. Ich würde schweigen. Ich würde fühlen. Die Trauer, die Liebe, die Einsamkeit. So stellte ich mir das vor: ein Gemälde in dichten Ölfarben, viel Braun und Grau und ausgewaschenes Schwarz, hier und da ein Flecken Weiß. Der Blick des Mannes im Türrahmen intensiv, die zwei Frauenfiguren diffus, fast eins, und schön. Titel: Familienporträt.

Im Endeffekt schlief ich ein, ich weiß nicht, wer von den beiden mich hochtrug, aber eine von ihnen musste es gewesen sein, denn ich wachte in meinem Zimmer auf. Beachtlich. Das war eine meiner ersten Amtshandlungen als Mann im Haus. Von meinen Frauen ins Bett gebracht zu werden. Ich fand die Erfahrung enttäuschend, auch wenn ich mich geborgen fühlte.

Großcousine Miriam

Großcousine Miriam sagte, »Alles im Leben kommt wie die Jahreszeiten: Mal früher, mal später, aber es kommt, wenn ich komme«. Dann lachte sie dreckig. Als sie das sagte, stand sie in ihrem großen Garten hinter dem Haus auf dem Hügel, von wo aus man die ganze Stadt überblicken konnte, und meißelte an einem Marmorblock.

Großcousine Miriam war Bildhauerin. Wie andere Menschen beständig die Koloskopie bis zum Ruhestand aufschoben, weigerte sie sich, mit ihrer Kunst aufzuhören, mit ihren Holztotems und den riesigen Steinfiguren. Sie lachte über ihren eigenen Witz und ließ mich stehen, auch wenn sie es war, die mich hierhergerufen hatte. Sie ging zwischen den Skulpturen umher, beäugte sie streng, und wenn ihr eine nicht gefiel, schaffte sie mir an, diese umzustoßen. Nicht, weil sie es selber nicht gekonnt hätte, sondern weil es ihr gefiel, mich als Lakaien zu haben, die ganze Welt als ihren Lakaien zu haben.

Dabei war Großcousine Miriam gar nicht meine Großcousine, sondern etwas ganz anderes. Ich ließ mir die Verwandtschaft einmal von Mutter und Vater und ihr selbst erklären. Alle sagten etwas anderes. Großcousine Miriam blieb Großcousine Miriam, die fünfundsechzig Jahre alte Dame mit den zwei Praktikanten, den Steinhaufen und Metalltürmen in ihrem Garten. Laura und ich spielten als Kinder am Tag dazwischen Verstecken, und am Abend erklommen wir die Figuren, um über die Ränder der leuchtenden Stadt ans Ende der Welt zu blicken.

Ich erinnere mich, dass ich gerade in diesem Sommer, als die Eltern sich trennten und ich mich am letzten Höhepunkt meines jugendlichen Wahnsinns befand, auch Bildhauer werden wollte. Eine Woche vor dem Urlaub zwinkerte mir eine Galeristin, die eine Werkschau von Großcousine Miriams Arbeit kuratierte, bei der Eröffnung der Ausstellung zu. Sie zwinkerte einmal, und fixierte mich später mit ihrem Blick, während sie mit einem potenziellen Käufer sprach. Ihre Haare waren gut geföhnt, ihr Lachen kultiviert und perlweiß. Kurzum, sie war offensichtlich eine beruflich und sexuell selbstverwirklichte Frau. Ich schlich um sie herum und war frustriert, als wir bald darauf nach Hause gingen. In der Nacht masturbierte ich zur Vorstellung von ihr und mir. Wie ich Künstler war und mit Hammer und Meißel an einer sehr großen, sehr maskulinen Steinskulptur arbeitete, die sie unbedingt für ihre Galerie haben wollte. Ich war fertig, noch bevor sie in meinem Traum zur Tür reinkam und meine breiten Schultern oder starken Arme oder meine rustikale Kunst bewundern konnte.

Großcousine Miriam war exzentrisch. In ihrem Verhalten und in ihrer Kleidung, aber das war sie mit einer so beständigen Gleichmäßigkeit, dass es wie eine spezielle Form der Kultiviertheit wirkte. Eine Kultiviertheit, die noch nicht breitenwirksam war oder aus einer seltenen Ecke der Welt stammte, beispielsweise vom letzten holländischen Adeligen, der im tiefen Westen Kanadas lebte und mehrere Dörfer unter seiner inoffiziellen Regentschaft hatte. Dem Ganzen half vermutlich, dass sie trotz ihres hohen Alters wirklich tolle Haare hatte. Lange Haare, mit viel Grau.

Jedenfalls, Großcousine Miriam. Sie legte Wert auf blendendes Aussehen. Gepflegt war das Mindeste. Konventionell war sie nie, sie besaß kaum ein Kleidungsstück, das man in anderen Schränken hätte finden können. Alles bei ihr hatte eine Geschichte und wirkte gleichzeitig neu und ungetragen, als holte sie es nur zu besonderen Anlässen hervor, keine Ahnung, wie sie das machte. Von jedem Kontinent und aus jeder Kultur besaß sie Hüte, Gürtel, Schuhe oder Latzhosen, meistens auch einen Smoking. Alles immer wie frisch gebügelt, nie schlich sich auch nur eine Falte in ihre Kleidung. Sie war eine modische Eklektikerin, überall fand sie das Richtige und kam nicht einmal in die Nähe von gewöhnlichem Leder oder, Gott behüte, Pelz. »Wie ordinär«, kommentierte sie, »wie schrecklich ordinär, mein Junge.«

Sie legte ebenfalls Wert darauf, dass ihre Praktikanten anständig aussahen. Es kam nicht selten vor, dass sie einen zerzausten Kunststudenten aufnahm und dieser nach einem halben Jahr deutlich markanter an die Uni zurückkehrte; mit neu erlerntem Handwerk, muskulösen Armen, einer gut sitzenden Jeansjacke und schulterlangen Haaren. Sprich: deutlich männlicher, künstlerischer und in weiterer Folge fortpflanzungserfolgreicher. Bei den Frauen passierte die Verwandlung ähnlich, aber anders. Sie ließen ihre schnittigen Kurzhaarfrisuren auswachsen und trugen ihre Haare offen oder in wilden, aber nicht achtlosen Fischgrätenzöpfen. Gleichzeitig reduzierte sich ihr vages Gerede über Kunst, anstatt zu reden, machten sie das erste Mal. Sie hörten auf, die übergroße und immer nur schwarze Kleidung der Kunstszene zu tragen und die ironisch auf links gedrehten selbst gestrickten Pullis ihrer eigenen Mütter aus den Sechzigern, sondern griffen zu langen Samtmänteln, setzten Hüte auf und krempelten ihre Jeanshosen hoch, trugen Plateauschuhe zum Arbeiten.

Großcousine Miriam schälte ihre Schützlinge wie rohe Zwiebeln. Mit der Zeit fiel eine Schicht nach der anderen, bis die jungen Männer und Frauen auf ihre Essenz reduziert waren. Das Unprätentiöse und Ehrliche, gleichzeitig Nackte und Ursprüngliche, war es aber, was sie als Menschen ausmachte. Befreit von den Imaginationen des Kapitalismus und der Kunsthochschule traten die Rohdiamanten in diesen jungen Männern und Frauen zutage. Zumindest bei den meisten. Bei ein paar wenigen zeigte sich, dass sie nicht nur außen, sondern auch tatsächlich unsichere, eitle Arschlöcher waren.

Großcousine Miriam formte nicht nur den Stil ihrer Schützlinge, sondern auch ihren Charakter. Ihr Haus war die Kaderschmiede schlechthin, und es war nicht überraschend, dass jahrein, jahraus mehrere Bewerbungen auf ihrem Tisch lagen. Ihr kleiner elitärer Klub war gleichzeitig ihre Familie. Und elitär war er nur insofern, als es sich um eine handverlesene Gruppe Menschen handelte, nicht um eine nach imaginierten Kriterien ausgewählte Schickeria. Großcousine Miriam hatte keine eigenen Kinder, aber zahlreiche adoptierte: geheilte Narzissten oder kurierte Selbstzweifler, menschliche Welpen.

Nach der Trennung der Eltern landete auch ich bei Großcousine Miriam. Es kam schleichend. Zuerst ging ich bei ihr vorbei, weil ich die dicken Arme und die wichtige Kunst haben wollte. Dann, weil ich nicht schlafen konnte und ihr riesiger Garten mit dem Holz und dem vielen Stein eine Gelegenheit bot, das Schießpulver aus meinem Körper zu schlagen und zu hämmern. Bald kam ich, weil es mir gefiel. Schließlich, weil ich erkannte, dass ich es brauchte.

Großcousine Miriam und ich sprachen wenig in der Zeit, wenn ich bei ihr war, aber wir arbeiteten oft nebeneinander her. Teilten unsere Zigarettenpausen oder tranken Wein aus Weingläsern, die wir über den Garten verstreut tagelang stehen ließen.

Meine Kunst wurde nicht wirklich besser. Meine Arme wurden stärker, der Kopf ruhiger. Ich blieb. Ich verbrachte die meiste Freizeit bei ihr. Seit Laura in der Bank täglich ihre Etuiröcke trug, verbrachte sie naturgemäß weniger Zeit zu Hause, weniger Zeit mit mir. Ich sage naturgemäß, weil ich es verstand, es mir zugleich aber widerstrebte. Ich hätte es nie ausgesprochen, aber es gefiel mir nicht, dass Laura das alles so gut wegsteckte. Auch, dass Mutter es so gut wegsteckte. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das hier war es nicht. Es herrschte eine bedrückte Stimmung, ja. Vaters Abwesenheit war zu spüren, das Fehlen seiner Sachen, hier ein Kleidungsstück, da Unterlagen aus der Arbeit. Seine Silhouette in der Dämmerung, wenn er seinen Kaffee draußen im Garten trank, oder auch nur sein investigierendes Schweigen, mit dem er uns dreien alle Geheimnisse und Vergehen entlockte.

Bei Großcousine Miriam wurde ich ruhig, bei ihr ließ ich alles raus. Das war, um ehrlich zu sein, recht wenig. Es war mir unangenehm, wie wenig es war. Gerne hätte ich Eskapaden geliefert, große, mächtige Schauspiele voller Wut und Trotz und Kraft, die ihres Gartens und überhaupt ihrer robusten Kunst würdig gewesen wären. Aber Großcousine Miriam schwieg dennoch. Warum auch nicht, was hätte sie sagen sollen. Sie war meine Großcousine, nicht meine Therapeutin.

In ihrer Arbeitsschürze trug sie Tabak mit sich herum und kurzes Zigarettenpapier. Großcousine Miriam rauchte die filterlosen Selbstgedrehten mithilfe einer alten Pinzette bis zum bitteren Ende. Sie hatte die Angewohnheit, nie während ihrer Arbeit zu rauchen. Das Rauchen war ausschließlich für die Pausen reserviert und diente nichts anderem als der Tätigkeit selbst. So kam es vor, dass sie stundenlang mit einer Steinarbeit beschäftigt war; mit einer Leiter um die Skulptur herumwanderte, am Sockel mit einem Brecheisen werkte oder am Kopf mit einem Steinfräsgerät Feinarbeit tat. Irgendwann trat sie einen Schritt zurück, setzte sich ins Gras oder lehnte sich an den Tisch, den ihr die Praktikanten immerzu durch den Garten trugen, packte ihren Tabak und das Zigarettenpapier aus und rollte sich behände eine Zigarette. Sehr korrekt machte sie das, gab sich wirklich Mühe beim Verteilen des Tabaks, beim Drehen, beim Zurollen und Kleben.

Dann rauchte sie.

Sie tat es mit einer Konzentriertheit, einer uneingeschränkten Aufmerksamkeit. Sie betrachtete dabei ihre Kunst, aber es war kein Prozess der Reflexion, des Sinnierens. Sie führte die Zigarette mit der Pinzette an den Mund, zog, inhalierte, atmete aus. Sie rauchte. Es wirkte nicht elegant, aber auch nicht abstoßend, wie bei manchen anderen Rauchern. Es wirkte, ich kann es nicht anders beschreiben: Es wirkte genau richtig. Während sie rauchte, existierte sie auf einer anderen Ebene. Und wenn sie fertig war, verräumte sie die Utensilien und ging wieder an die Arbeit. Es war gleichzeitig sehr reduziert und sehr sinnlich, und es beeindruckte mich ungemein.

Die Sache mit Großcousine Miriam war die, dass sie sich nie einmischte. Nie. Egal, was passierte, sie bezog niemals Stellung. Sie urteilte nicht und behandelte uns alle gleich: wie leicht verwirrte, große Kinder, die die meiste Zeit orientierungslos herumliefen und gegeneinanderstießen. Zumindest war es meine Vermutung, dass sie uns so sah, also meine Familie und mich. Ihr Mund schien in ewigem Amüsement erstarrt, die Mundwinkel waren immer leicht hochgezogen etwas spöttisch ob unserer Dummheit – und davon gab es nicht zu wenig –, und in ihren Augen glitzerte Erheiterung. Denn so war Großcousine Miriam, sie war amüsiert.

Wenn ich sie in ihrem Reich besuchte, ganz oben im Dachgeschoss ihres Hauses hatte sie ein privates Apartment, wo die Praktikanten nicht hineindurften, schien es mir oft, als hätte ich sie gerade bei etwas unterbrochen, bei einem ganz speziellen Vergnügen. Ich fragte sie, ob es ein ungelegener Zeitpunkt sei, aber sie winkte mich immer herbei und antwortete: »Komm nur, Junge, komm.«

In der Kindheit war sie für mich eine sagenumwobene Person, die alte Tante mit den eigenartigen Kleidern und dem reschen Auftreten, die ganz anders als alle anderen Frauen behandelt wurde. Die mir immer erlaubte, mit langen Messern Plastilin zu bearbeiten, von dem sie kiloweise in ihrer Werkstatt aufbewahrte. Sie war eine mythische Gestalt: eine alte Frau, die einsam auf einem Berg wohnte mit verrückten, grusligen Figuren und Erscheinungen in ihrem Garten, hohen Tannen und einer tief gebeugten Weide. Oftmals stolperte man über Hammer, Sicheln oder Sägen im Gras, während es aus dem Haus donnerte und stank, weil sie Metall schmolz und bearbeitete, um Laura und mir daraus Rüstungen zu schmieden. Sie machte mir Angst, und gleichzeitig faszinierte sie mich.

Ich habe nie jemanden erlebt, der mit mehr Vehemenz Individuum war als sie. Es störte mich auch nicht, dass ich wusste, immer schon wusste, dass ich nie auch nur ansatzweise an sie und den Funken Wahnsinn, der sie antrieb, heranreichen würde. Allein in ihrer Umlaufbahn zu sein, war mir genug.

Laura und ich hatten eine gemeinsame Lieblingsanekdote, die Großcousine Miriam betraf. Wir kannten die Geschichte in den Versionen von Mutter, von Vater und von Onkel Billy. Einmal gab auch Oma Sonja zu, davon gehört zu haben. Nie aber verlor Großcousine Miriam selbst ein Wort darüber, wenn die Geschichte bei einem feucht-fröhlichen gemeinsamen Abendessen erzählt wurde. Dann drehte sie sich eine Zigarette und schmauchte sie lang und leise, während sie mit hochgezogener Augenbraue und gespitzten Lippen zuhörte. Sie sprach nicht davon, das beeindruckte mich und nährte ihren Mythos.

Die Geschichte ging so: Als die Eltern heirateten, es war Anfang April 1982 – damals wurde nicht so viel Wert auf Frühlings- oder Sommerhochzeiten gelegt –, waren sie sich beide nicht ganz sicher. Also schon sicher, aber nicht ultimativ. So erzählten es alle, und in einer guten, vergangenen Zeit warfen sich Vater und Mutter an dieser Stelle der Erzählung einen verschmitzten Blick zu, der selbst nach all den Jahren, dem Hausbau und den zwei Kindern nicht unfreundlich oder lieblos war. In meinen Erinnerungen riefen Laura und ich lautstark »Iiiieehhh!«, wenn das passierte, was Mutter und Vater ertappt aufblicken ließ und alle anderen Beteiligten lächeln machte. Es waren gute Zeiten.

Jedenfalls, sie waren am Heiraten. Sie waren beide jung, aber nicht mehr zu jung. Vater hatte noch alle Haare und eine sehr athletische Figur, die ihm aus seiner Zeit an der Universität geblieben war, wo er Achtkampf trainierte. Einmal nahm er sogar an den Landesmeisterschaften teil. Mutter war schön wie immer und trug ein Kleid mit Puffärmeln und Spitze. Sie heirateten in einer Kirche mit gutem Ruf, in der Stadt, wo sie beide studiert hatten.

Alle Verwandten waren angereist. Vaters Mutter, Oma Sonja, kam als die Naturgewalt, die sie immer schon war, und mischte sich überall ein. Opa war schon lange tot, aber das war in Ordnung. Onkel Billy machte Vater den Trauzeugen und führte auch Mutter stolz und adrett zum Altar in einem stilvollen, englischen Dinnerjackett. So hatte Mutter es sich gewünscht. Denn ihr Vater lebte zwar, war aber alt und verwirrt. Die meiste Zeit wusste Großvater nicht genau, was passierte, und legte selten Einspruch ein.

Oma Sonja machte die Abwesenheit der Brautmutter wett, indem sie im Vorfeld an allem und jedem herumnörgelte und dann beim Jawort laut aufschluchzte und »Der Herrgott segne euch« dazwischenrief. Sie war überhaupt das erste Mal mehr als zwanzig Kilometer von ihrem Geburtsdorf entfernt. Abseits der Hochzeit staunte sie über die dreckigen Straßen, die langen Rolltreppen und die vielen Laternen in der Innenstadt.

Aber das eigentlich Spannende geschah im Vorfeld der Trauung. Während sich beide getrennt voneinander herrichteten, ging Großcousine Miriam zu Mutter. Die wurde von drei Cousinen und Oma Sonja umschwirrt. Alle zupften an ihr herum und kritisierten, was noch zu verbessern und was nicht mehr zu ändern war. Großcousine Miriam verwies sie des Raumes und schloss die Tür hinter ihnen. Dann, so sagt es zumindest die Legende, schritt sie auf Mutter zu und blieb so nah vor ihr stehen, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Sie packte sie an den Oberarmen und schüttelte sie leicht.

Mit festem, prüfendem Blick sah sie ihr in die Augen und sagte anschließend: »Wir können das hier alles absagen. Ich ersetze dir alle Unkosten. Ich schicke alle Menschen auf der Stelle heim. Ich kümmere mich um alles, du musst nur ein Wort sagen.«

Daraufhin Mutter: »Bist du irre?«

Sie: »Ja.« Sie war todernst. »Aber viel wichtiger, Lieselotte: Bist du dir sicher? Bist du dir wirklich sicher, dass du das tun willst? In Krankheit und Armut, bis an dein Lebensende und all das?«

Und Mutter antwortete entrüstet: »Ja!«

»Bist du dir wirklich sicher? Schau ihn dir doch an, den Dieter. Das willst du dir doch nicht antun! Jetzt wirkt er noch frisch, aber wenn du dir die Mutter ansiehst – das erwartet dich in zwanzig Jahren!«

An dieser Stelle wurde es laut. »Du spinnst doch, das ist schwer unangemessen, ich schmeiß dich gleich hier raus!«

Großcousine Miriam nickte und ließ ihre Hände sinken, in ihrem Gesicht ein breites Lächeln. Aus der Brusttasche ihres Damenanzugs holte sie einen Flachmann. »Trinken wir darauf.«

»Aufs Rausschmeißen?«

»Auch das. Aber in erster Linie darauf, dass du den Dieter heiratest und ihr glücklich werdet und all das.«

Dann tranken sie auf »all das« und hatten bei der Trauung beide eine leichte Fahne. Mutter aber war glücklich und Großcousine Miriam zufrieden. Die Hochzeit verlief reibungslos.

Später, nicht beim ersten, aber vielleicht beim dritten Tanz, erzählte Mutter Vater, was passiert war. Seine Augenbrauen wanderten bei jedem Satz höher, bis sie fast beim Haaransatz angelangt waren. Aufgeregt hielt er inne und rief über die Tanzmusik hinweg: »Bei mir war sie auch! Mir hat sie genau dasselbe gesagt! Diese ausgefuchste Scheißkuh!«

Sie starrten sich einen Augenblick fassungslos an, dann brachen sie in Lachen aus. Die dreiste Frechheit von Großcousine Miriam, unglaublich. Sie konnten sich kaum einkriegen. Als sie sich endlich die Tränen aus dem Gesicht wischten und in den Raum blickten, sahen sie besagte Frau, wie sie rauchend und trinkend mit Onkel Billy an einem Tisch saß und sie beobachtete, wie eine italienische Mafioso-Mutti. Sie hob ihr Glas und prostete ihnen zu. »Auf ein langes Leben, Gesundheit und die Sache mit der Liebe. All das!« Und Vater und Mutter nickten zurück und tanzten weiter. Sie ließen sich an diesem Abend von nichts aus der Ruhe bringen.

Grandiose Geschichte.

Nie habe ich Großcousine Miriam gefragt, was sie getan hätte, hätte einer von beiden ihr Angebot angenommen.

Das Leben ist ein Supermarkt

Es gibt kaum etwas Schlimmeres, als im Supermarkt verloren zu gehen. Dieser eine Moment, in dem die eigene Mutter noch da ist, bevor sie um das nächste Regal biegt und verschwindet. Es gibt nichts Furcht Einflößenderes als die Angst, die einem den Nacken hochkriecht, während man durch die Regalreihen zu laufen beginnt, zuerst noch langsam, dann immer schneller, am Obst vorbei, bei der Drogerie zweimal durch und bei den Gewürzen nur noch weinend und laut »Wo bist du?« rufend durchsprintet. Es gibt nichts Schlimmeres.

Dann, wenn man endlich groß genug ist, um ein wenig Überblick zu bekommen, um über den einen oder anderen Tisch mit Sonderangeboten hinwegblicken zu können, ja, dann verwandelt sich das eigene Leben in einen Supermarkt. In der Schule gibt es nur noch Fleischtheken, Beziehungen sind Tiefkühltruhen, und im Job warten lange Reihen an Brot vom Vortag. Und nirgends ist Mama. Dafür tausend Leute, die im Weg stehen und blöd glotzen und genau wissen, wo alles eingeräumt ist und welche die schnellste Kasse ist. Es ist ein Labyrinth. Ein Labyrinth, aus dem es kein Entkommen gibt. Oder vielleicht schon, nur ist die Frage, mit wie vielen schweren Einkaufstaschen.

Als mir Wochen nach der Trennung alles unerträglich wurde, sprach ich diese Beobachtung laut aus. Ich glaube, ich stand in der Küche, und ein Glas war mir beim Abwaschen zersprungen. Einen Moment war es eine feste Größe in meinen Händen, und im nächsten fielen mir Scherben durch die Finger. Zwischen dem Schaum quoll es an zwei Stellen rot hervor. Ich starrte darauf. Ich spürte keinen Schmerz, aber ein Ruck ging durch mich hindurch. Es war nicht Wut oder Ärger, sondern Fassungslosigkeit. Ich hob langsam die Hände, hob sie bis über meinen Kopf. Das Spülwasser, der Schaum und das Blut rannen über meine Arme, tropften auf meine Haare, den Boden, überallhin. Und ich weiß nicht, ob meine Augen offen waren oder nicht, aber nach einer dramatischen Pause sagte, ja bellte ich in den Raum hinein: »Das Leben ist ein Supermarkt, und nirgends ist Mutter zu sehen!«

Und als Antwort hörte ich Mutter sagen: »Hier bin ich doch«, während Laura mir lachend den Vogel zeigte. Verdattert schwieg ich, der spannungsgeladene Moment – der nur für mich existiert hatte – zerbrach.

»Du tropfst den Boden voll«, stellte Mutter fest und reichte mir ein Küchentuch. Sie deutete mit dem Finger auf eine der kleinen Pfützen am Boden. Ich musste einen konfusen Eindruck gemacht haben, denn sie nahm ein weiteres Küchentuch, griff sich meinen linken Arm und begann, ihn mit geübtem Blick und sicheren Handbewegungen nach Verletzungen abzusuchen.

»Alles gut mit dir?«, fragte sie und inspizierte sogleich den anderen Arm. »Was mache ich im Supermarkt? Erzähl mal.« Dabei lächelte sie unvermittelt. Sie trug einen weißen Rollkragenpulli und eine Karottenjeans mit dickem, braunem Gürtel dazu. »Alles harmlos, desinfizieren und Pflaster drauf.« Im Hintergrund hatte Laura aufgehört zu lachen.

»Ach, ich dachte nur an Oma.«

Mutter hob eine Augenbraue. »Oma?« In ihrem Blick war Sorge um mich zu sehen, Sorge um meine geistige Gesundheit. Ihre Mutter war lange tot, war gestorben, als Mutter selbst kaum mehr als ein Kind war.

»Papa-Oma.«

»Ah, Oma Sonja.« Ihr Mund nahm einen verkniffenen Zug an.

»Kannst du dich erinnern, wie wir sie das erste Mal in das große, neue Einkaufszentrum am Stadtrand mitgenommen haben, da waren Laura und ich noch klein? Und wie sie uns im Supermarkt verlor, weil wir davonliefen?«

Sie schüttelte den Kopf. Der Ringfinger meiner rechten Hand war fertig verbunden, und sie kümmerte sich um einen kleinen Schnitt in der Handfläche. Vorsichtig betupfte sie ihn mit einem nassen Küchentuch und hielt meine Hand ganz nah an ihr Gesicht. Ihre eigene Hand zitterte leicht, fiel mir auf.

»Davonlaufen, das war ja keine große Sache für uns. Aber hier, an diesem neuen Ort, verliefen wir uns, wir kannten uns nicht aus. Laura und ich kamen irgendwann wieder, hatten Süßigkeiten im Arm und wollten, dass Oma sie uns kauft. Aber sie war nirgends zu sehen. Wir gingen herum, wurden langsamer. Laura schaute nicht begeistert oder beeindruckt oder verwirrt drein, nein, in ihrem Gesicht war Furcht. Schließlich blieb sie mitten in einem breiten Gang stehen, die Leute fuhren mit ihren Einkaufswagen einfach an uns vorbei. Und wir standen da. Schauten nicht, suchten nicht, weder Oma noch den Ausgang. Wir hatten aufgegeben.«

Mutter blickte von meiner Hand hoch. »Wieso sagst du das?« Ihre Stimme klang ungewöhnlich dünn.

»Wir mussten sicher ausgesehen haben wie Oma, als sie begriff, dass sie nach ihrer gebrochenen Hüfte nicht wieder aus eigener Kraft gehen würde. Hoffnungslos, schrecklich hoffnungslos.«

»Was redest du? Die gebrochene Hüfte heilte aus, und Oma Sonja konnte auch wieder gehen.«

»Ach so?«

»Ja, doch. Sie ist mit den Krücken die steile Treppe hoch und runter, zwar nicht mehr so oft, und sie kochte seltener, aber immerhin.«

»Stimmt«, antwortete ich matt. Meine These war entkräftet, beide Hände mit Küchentuch beklebt und überall die Sauerei aus Blut und Spülwasser. Es war wie früher.

Als Kind fühlte ich mich eine Zeit lang wie von einem anderen Planeten. Ich hatte das Gefühl, als wären alle schon lange da gewesen und nur ich sei zu spät gekommen. Als Allererste war Laura hier gewesen. Sie war hier zu Hause. Aber nicht nur bei uns daheim, sondern überall. Waren wir irgendwo zu Besuch, setzte sie sich hin und griff beim Kuchen und den Brötchen beherzt zu. Dabei lächelte sie, und alle anderen lächelten zurück, weil diese Selbstverständlichkeit irgendetwas in der Tiefenstruktur der Leute machte. Also fühlte sich Laura überall wohl, und die Leute fühlten sich wohl mit ihr.

Sie wurde schon immer angerufen und über Dinge informiert, die andere erst Tage später und kleine Kinder wie ich erst im Nachhinein erfuhren, wenn überhaupt. Oft genug kam es vor, dass jemand auf dem Festnetz für sie anrief und Laura nicht da war, weil sie mit Freunden am Fluss abhing oder auf geheimen Dachterrassen mit älteren Schülern Bier trank. Ich ging dann ran, immer in der irrationalen Hoffnung, dass es vielleicht auch mal für mich sein könnte. Die Gespräche verliefen meistens so:

»Daniel am Apparat, hallo.«

»Hallo? Ist Laura da? Ich muss mit Laura sprechen.«

»Nein, leider, sie ist nicht zu Hause.«

»Es ist dringend. Es geht um Jungen/Schularbeit/nächste Fete/spirituellen Beistand.«

»Ich kann ihr was ausrichten?«

Seufzen am anderen Ende der Leitung. »Es ist dringend.«

»Ja, verstehe. Soll ich was ausrichten?«

»Na, passt schon, danke, Dennis. Ich ruf später wieder an.«

»Ich heiß Daniel.«

»Aha.«

»Daniel, Lauras Bruder.«

An dieser Stelle folgte entweder betretenes Schweigen oder ein: »Bruder, ja, ja, ich kenn dich doch eh«, bevor mit einem »Tschüss« schnell aufgelegt wurde.

Die Eltern kauften Laura schließlich ein Handy, da hatten noch nicht alle eins, das kostete damals ein Heidengeld. Die Leitung zu Hause stand schlagartig still. Es war derart leise, dass ich manchmal beim Vorbeigehen den Hörer abhob, um mich zu vergewissern, dass das Telefon noch funktionierte. Das tat es.

Und ich begann, meine kurzen Telefonate zu vermissen.

Bis zur Sprengung unserer Familie war mein Leben sehr angenehm und ereignislos gewesen. Aber selbst die Gipfelexplosion, die Vaters Gehen verursachte und die darauffolgende Lawine an verschiedensten Ereignissen auslöste, war nicht allein dafür verantwortlich, wie ich mich später entwickelte. Es entstand eine neue Tektonik: Ein ehemals ganzer Kontinent brach in zwei oder sogar mehrere Teile. Von da an drifteten die Einzelteile voneinander weg. In diesem Gleichnis war Großcousine Miriam mein Europa, die Alte Welt, Ursprung aller Kultur und ewiger Einfluss und Maßstab.

Im Endeffekt habe ich meinen Charakter allein den Frauen in meiner Familie zu verdanken. Also: Laura, Mutter und besonders Großcousine Miriam. Nicht Oma Sonja, sie hatte mir immer Angst gemacht. Noch heute denke ich nicht allzu gern an sie. Ich stelle sie mir lieber leicht angetrunken als nüchtern vor, denn dann war ihr Blick wässrig statt hart und streng.

Meine frühste Erinnerung an sie kam mit einem Esslöffel von oben. Sie klatschte mir mit dem Besteck mit voller Kraft auf die Finger, dass es bis in mein Handgelenk vibrierte, und das nur, weil ich die Ellbogen beim Abendessen auf dem Tisch abgelegt hatte. Zuerst auf die rechte Hand, dann auf die linke. Klack, klack, ganz schnell ging es. Metall auf dünner Haut über Fingerknöcheln. Ich erschrak und heulte sofort los, natürlich tat es weh.

»Bist du ein Zigeuner? Beruhige dich«, sagte sie laut, um mein Plärren zu übertönen.

Mutter rief an dieser Stelle entsetzt: »Sonja! Das kannst du hier nicht sagen!«

Vater sah wütend genug aus, sein Glas nach Oma Sonja zu werfen. »Mutter!«, rief er, »lass das Kind in Ruhe!« Er mochte es nicht, dass sie grundlos gemein zu uns sein konnte.

Aber Oma Sonja setzte dem Ganzen sogar noch eins drauf: »Jetzt heult doch nicht so, nicht mal Mädchen heulen so«, und machte damit das Chaos und das erboste Stimmengewirr der Eltern noch lauter.

Nur Laura blieb ruhig. Sie war damals kurz genug, dass ihr Kopf kaum über die Tischplatte reichte. Sie griff nach einer meiner geschlagenen Hände und steckte sie in die Schüssel mit ihrem Nachtisch hinein, direkt in das grelle Pistazieneis. Es machte ein furzendes Geräusch.

»Hier«, sagte sie, »jetzt ist es besser.«

Und die eine Sekunde, bevor alle Erwachsenen am Tisch begriffen, was sie getan hatte, lächelte sie mich an, ganz wundervoll lächelte sie mich an. Ich hörte auf zu weinen und lächelte zurück, durch die Tränen und den Rotz, während meine eine Hand in der Eisschüssel steckte. Das ist meine frühste Erinnerung, sowohl an Oma Sonja als auch an Laura.

»Ich glaube, ich weiß, warum wir im Supermarkt vor Oma Sonja davonliefen«, sagte ich plötzlich.

»Ja?«, fragte Mutter.

»Weil sie eine blöde Kuh war und wir sie nicht wirklich mochten.«

Im Hintergrund fing Laura an zu lachen, und Mutter verzog den Mund, einen Mundwinkel betroffen nach unten, den anderen hoch.

Laura rief vom Sofa: »Ich stimme zu.« Und Mutter erlaubte sich zu sagen: »Ich kann nicht direkt widersprechen.«

Meine Bemerkung hob die Laune derart, dass Mutter einen Grappa holte und wir die angestaubte Flasche innerhalb kürzester Zeit leer tranken. Als mitten in diesem Trinkgelage Onkel Billy anrief, wie er es oft machte, erzählte Mutter ihm alles nach. Laura und ich brachen vor Lachen nieder und wieherten wie Verrückte, wir konnten uns gar nicht mehr einkriegen. Onkel Billy schloss sich fröhlich an. Die unhöfliche Großmutter war eine Konstante, die unser aller Leben nicht verlassen hatte. Jeder hatte bei Oma Sonja sein Fett abgekriegt. An diesem Abend ließen wir alle Geschichten auferstehen. Wir waren betrunken und fanden es wunderbar.

Der Schlangenprinz

Nach der Trennung der Eltern kamen wir drei oft zusammen und lagen gemeinsam im Wohnzimmer herum. Wir erwachsenen Kinder auf dem Teppichboden verteilt, und Mutter saß auf der Couch, die Beine auf den kleinen Tisch gelegt. Laura war müde von der Arbeit. Ihr Gehirn schlief ein, während sie sich in den hohen Schuhen die Beine in den Bauch stand und ständig dasselbe tat.

Damals hatten die Banken noch Öffnungszeiten. Menschen kamen, wollten Dinge, weit und breit kein Online-Banking in Sicht. Jede Überweisung, jeder Kontoauszug, jeder Bausparer: Das alles machten Laura und die siebzehn anderen Angestellten. Ich fand es schrecklich und bewundernswert zugleich.

Wenn sie heimkam, stellte sie ihre guten Stöckelschuhe neben die Tür, mit hölzernen Schuhspannern bestückt, damit das Leder nicht knitterte. Das hellgraue Kostüm mit der weißen Bluse wurde korrekt auf einem Kleiderbügel an die nächstbeste Schranktür gehängt. In einem alten, viel zu großen Morgenmantel von Vater kam sie dann ins Wohnzimmer. Sie trug nie viel Make-up, aber am Abend wirkte sogar diese wenige Farbe in ihrem Gesicht blass.

Es wurde Herbst, und Laura wurde dünner. Neben dem Frühstück ließ sie auch das Abendessen aus. »Ich bin müde, lasst mich einfach hier liegen«, sagte sie. Nicht einmal Kaiserschmarrn ohne Rosinen konnte sie begeistern. Das wurde mir dann doch zu bunt. Während Mutter sich noch Ribiselmarmelade untermischte und sogar ein kleines Stück Butter, musste ich Laura an den Tisch zwingen.

»Ich will wirklich nichts«, sagte sie.

»Komm jetzt!«

»Ich glaub, ich werd krank.«

Ich stellte ihr einen Teller mit einer mittelgroßen Portion hin.

»Die Susanne in der Arbeit war vor ein paar Tagen krank.«

Ich hielt ihr den Löffel hin. »Was geht mich die Susanne an.«

Sie sah zu Mutter, doch die hob nur die Schultern. »Daniel hat recht, iss doch einfach was.«

Laura seufzte. Ihr Blick war sehr gequält, suchend. Die Ärmel des Morgenmantels waren zu lang, fielen ihr über die Hände. Der Kragen, viel zu mächtig, warf dicke Frotteefalten um den Hals. Es wirkte, als trüge sie ein Schaf im Nacken. Wie eine biblische Figur, die sich gottgleich aus einem Busch offenbaren würde. Hungrig, allein und verloren, zumindest an diesem Esstisch, in diesem Haus.

Sie sagte: »Muss ich?«

Ich nickte. Aber ich setzte mich neben sie, nahm mir einen Löffel und begann, von ihrem Teller zu essen. Sie lehnte sich an mich.

Mutter lächelte uns mit vollem Mund über die Tischplatte hinweg zu. »Wollt ihr auch Marmelade?«

Wir schüttelten den Kopf.

»Zwetschkenröster oder gar nix«, sagte Laura und aß endlich.

Nach dem Essen lagen wir gemeinsam im Wohnzimmer und tranken Mineralwasser aus einer Glasflasche. Laura griff sich ein paar Mal an den Bauch und bemerkte, dass sie sich komisch fühlte. Irgendwann stand sie auf, hielt sich den Mund und lief Richtung Badezimmer. Durch die Tür rief sie uns zu, wir sollten sie in Ruhe lassen, alles sei in Ordnung.

»Geht es dir schlecht?«, fragte ich Mutter.

Sie verneinte. »Vielleicht waren die Eier nicht mehr gut?«

Wir wussten es beide nicht, wir waren wohlauf.

»Geht weg, kann ich nicht mal in Ruhe kotzen, verdammt«, beschwerte sich Laura. Es stank nach Durchfall und Erbrochenem, und Mutter und ich mussten uns nicht lange überreden lassen.

Als ich vor dem Schlafen noch einmal nach ihr schauen ging, waren das Bad und das Klo sauber, es roch nur mehr nach dem Essigreiniger, mit dem Laura hinter sich hergeputzt hatte. Sie selbst fand ich im Bett, sie war in dem Bademantel eingeschlafen. Ich bildete mir ein, dass sie zerbrechlicher wirkte als sonst. Ich wollte ihr gern die Hausschuhe ausziehen, aber ich zwang mich, sie liegen zu lassen.

Am nächsten Tag blieb sie zu Hause. Mutter kam früher aus der Arbeit, kochte ihr Haferbrei und fütterte sie mit Tee, obwohl sie ihr lieber Schnaps gegeben hätte.

Laura wollte nichts außer ihren Frieden. Obwohl es ihr besser ging, beklagte sie Magenschmerzen und Krämpfe. Sie wünschte sich nur eine Sache. Mutter wusste was, aber sie gab vor, es nicht finden zu können.

»Keine Ahnung, Liebes«, sagte sie und hob hilflos die Schultern. »Ich hab es schon lange nicht mehr gesehen.«

Laura war zu erschöpft, um zu widersprechen, also tat ich es. »Blödsinn, es liegt im Bücherregal in Lauras Zimmer. Rechts oben irgendwo.«

»Ah ja«, antwortete Mutter lapidar, tat aber nichts. »Worum geht’s jetzt?« Sie wirkte tatsächlich verwirrt.

Ich schnaubte und stand auf, um es holen zu gehen.

»Mutter«, seufzte Laura von ihrem Krankenbett.

Als ich kurz darauf wiederkam und Mutter das kleine blaue Buch hinhielt, hellte sich ihre Miene auf.

»Ach so! Sagt das doch gleich«, sagte sie, als wüsste sie überhaupt nicht, worum es zuvor gegangen war.

Ich warf Laura einen fragenden Blick zu, aber sie hob bloß die Schultern. Oder besser, sie deutete dies in ihrem Zustand an. Mutter blätterte derweil in dem Buch, entspannt und unbekümmert, ein ganz anderer Mensch kam da zum Vorschein. Sie wirkte wie eine Mutter, die immer selbst gemachte Kekse vorrätig hatte oder welche backte und ihre Kinder auf den Kopf küsste, wenn sie vom Spielen heimkamen.

»Lies was«, sagte Laura.

Mutter schaute hoch, sah unsere erwartungsvollen Gesichter, die freudige Gespanntheit. Sie lächelte wieder. »Was wollt ihr denn hören?«

»Den Schlangenprinz«, sagte Laura.

Mutter nickte und schlug die richtige Seite auf. »Gute Wahl.« Dann begann sie zu lesen.

Zitterten ihre Hände? Es kam mir einen Augenblick lang so vor.

Der Schlangenprinz war ein Märchen aus einem kleinen blauen Buch, welches Mutter bei einem Abverkauf der örtlichen Bücherei erworben hatte. Ein Kilo Bücher um dreißig Schilling. Sie wurde viele Scheine los, und zur Post kamen wir hinterher nicht mehr. Laura und ich sollen uns eine Stunde lang durch die Kisten gewühlt haben, erzählte Mutter. Wir gingen mit derart vielen Büchern heim, dass ich – damals ein Zwerg von knapp zwei Jahren – zu Fuß gehen musste, weil wir den Kinderwagen mit einem Haufen Bücher beladen hatten. Den ganzen Heimweg hatte ich stolz eine Hand auf den Buggy gelegt.