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Große Oper

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GROSSE OPER

ANDREAS MEYER-HANNO,
DIE SCHWULENBEWEGUNG UND DIE
HANNCHEN-MEHRZWECK-STIFTUNG

Herausgegeben von
Detlef Grumbach

Männerschwarm Verlag
Hamburg 2018

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.ddb.de abrufbar.

Große Oper

Andreas Meyer-Hanno, die Schwulenbewegung und die Hannchen-Mehrzweck-Stiftung herausgegeben von Detlef Grumbach

© Männerschwarm Verlag, Hamburg 2018

Umschlaggestaltung: Carsten Kudlik, Bremen

Druck: CPI Leck, Deutschland

1. Auflage 2018

ISBN Printausgabe: 978-3-86300- 253-4

ISBN Ebook: 978-3-86300-261-9

Männerschwarm Verlag

Frankenstraße 29 – 20097 Hamburg

www.maennerschwarm.de

INHALT

ANDREAS MEYER-HANNO
EINE BIOGRAFISCHE SKIZZE

von Detlef Grumbach

ANDREAS MEYER-HANNO

Antwort an Wagner: «Pelléas und Mélisande»
Zum 50. Todestag von Claude Debussy

Inszenierung ist ein Resultat der Praxis

Ein Plakat, das ich in Wien sah

«Die Wildnis der Doris Gay»

Der grüne Salon. Beschreibung eines Locus amoenus

Die kaputte Kinderwelt oder:
Persönliches Bekenntnis zu Offenbach

Nicht resigniert, nur reichlich desillusioniert oder:
Ten Years After

Das Fossil.
Liebeserklärung an Frankfurts Oldtimer-Lokal Karussell

Zwischen Aids und Aida. Die Operntunte

Solidarität der Uneinsichtigen

«Nicht nur reden ...» Eröffnungsrede von Homolulu II

Die Ungnade der frühen Geburt

Hannchen Mehrzwecks Leben in
Frankfurts Nordend West

CSD-Ansprache 28. Juni 1997

«Die Seele loslassen» –
Schwarze Luftballons und ein rosa-lila Fahrrad

STIFTER-VATER ODER MUTTER COURAGE

von Manfred Roth

DIE HANNCHEN-MEHRZWECK-STIFTUNG

Von der schwulen zur «schwul-lesbischen Stiftung für
queere Bewegungen»

Literaturverzeichnis

Personenregister

ANDREAS MEYER-HANNO

EINE BIOGRAFISCHE SKIZZE

von Detlef Grumbach

ROSA COURAGE GEHT STIFTEN

Hannchen Mehrzweck – der Name ist Programm. Und er steht für eine Zeit. Wer sich in den 1970er Jahren in der Schwulenbewegung engagierte, wollte die Provokation. Rollenbilder von Männern und Frauen wurden infrage gestellt, das Patriarchat und die bürgerliche Kleinfamilie angegriffen. Die Gesellschaft sollte grundlegend verändert werden. Die Kampfansage an die kleinbürgerliche Gemütlichkeit drückte sich auch in selbstbewusst getragenen Tuntennamen aus. So ist Andreas Meyer-Hanno als Hannchen Mehrzweck auf die Bühne getreten, unter diesem Namen hat er, zahlreiche Wandlungen inbegriffen und immer sich treu, seine Stiftung gegründet und auf einzigartige Weise seine bürgerliche Existenz als Opernregisseur und Professor mit seinem schwulen Aktivismus unter einen Hut bekommen.

Als Andreas Meyer-Hanno im Jahr 1993 mit der Römerplakette der Stadt Frankfurt und mit dem Rosa-Courage-Preis der Osnabrücker Kulturtage «Gay in May» geehrt wurde1, konnte er auf ein erfolgreiches Berufsleben und auf rund 20 Jahre Engagement für die Emanzipation zurückblicken. Nach seinem Studium der Musik- und Theaterwissenschaften – begonnen 1949 an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin, ab 1951 fortgesetzt an der Freien Universität in West-Berlin –, nach seiner Arbeit als Opern-Regieassistent und zweiter Spielleiter in Wuppertal und dem Aufstieg zum Oberspielleiter in Karlsruhe kam er 1972 in dieser Funktion nach Braunschweig. Über 100 Operninszenierungen hat er in rund 20 Jahren erarbeitet, seine legendär gewordene «Hänsel und Gretel»-Inszenierung aus dem Jahr 1969 steht in Düsseldorf auch nach fast 50 Jahren noch auf dem Spielplan.

In Braunschweig ist Meyer-Hanno recht bald zur «Arbeitsgruppe Homosexualität Braunschweig» (AHB) gestoßen. Mit 41 Jahren und in seiner exponierten Stellung im Kulturbetrieb der Stadt gehörte er damals schon zu den Senioren der jungen, studentisch geprägten Bewegung – und das sollte sein Leben lang auch so bleiben. 1976 zog es ihn nach Frankfurt, wo er bis zur Emeritierung im Jahr 1993 Professor an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst war und sich von Anfang an im Schwulenzentrum Anderes Ufer engagierte. Seit 1977 war er ein prägendes Mitglied der Theatergruppe Die Maintöchter, 1990 wurde er Mitglied des Vereins Emanzipation, der bis 2013 gemeinsam mit Lebendiges Lesben-Leben (LLL) das Lesbisch-schwule Kulturhaus in der Klingerstraße getragen hat.

Auf die Ehrungen des Jahres 1993 folgte sieben Jahre später die Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz durch Bundespräsident Johannes Rau; überreicht wurde es von Frankfurts Bürgermeisterin Jutta Ebeling. Inzwischen war Hannchen Mehrzweck maßgeblich an der Errichtung des Frankfurter Mahnmals für die lesbischen und schwulen Opfer des Nationalsozialismus beteiligt, das 1994 eingeweiht wurde. Weit über den Radius seiner unmittelbaren Aktivitäten hinaus hat sie sich jedoch mit der Gründung zweier Initiativen unvergesslich gemacht: der Homosexuellen Selbsthilfe (HS) 1980 und der Hannchen-Mehrzweck-Stiftung (HMS) 1991.

Als Sohn einer jüdischen Mutter und eines kommunistischen Vaters, nach einer Kindheit im Nationalsozialismus und einem Coming-out in den für Homosexuelle düsteren 1950er Jahren war das Drängen nach Freiheit und Emanzipation tief in ihm verwurzelt – und damit für ihn auch praktisch gelebte, von sich selbst und anderen eingeforderte Solidarität. Auch Schwule haben ‹Familie›, ihre Freundeskreise, ihre ‹Community›; dafür brauchen sie eine soziale und kulturelle Infrastruktur. Gruppen und Initiativen benötigen finanzielle Unterstützung für Projekte, Buchhandlungen brauchen Geld für Veranstaltungen, Verlage können für die Bewegung wichtige Bücher nur mit Hilfe realisieren? Wegen Verstößen gegen den § 175 angeklagte Männer benötigten Rechtsanwälte und mussten Prozesskosten zahlen? Um hier helfen zu können, hat Hannchen Mehrzweck mit weiteren Mitstreitern 1980 die Homosexuelle Selbsthilfe gegründet, hat entschieden und energisch um zahlende Mitglieder und um Spenden geworben und dabei bewusst auf das steuersparende Etikett «gemeinnützig» verzichtet. Die HS sollte von Anfang an frei sein in der Mittelvergabe und auch solche Anliegen unterstützen, die vom System der Gemeinnützigkeit ausgeschlossen waren.

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Zwei Schwestern – ein Ziel: das ursprüngliche Logo der Hannchen Mehrzweck-Stiftung und der Homosexuellen Selbsthilfe e.V.

1991 ging Andreas Meyer-Hanno einen Schritt weiter: Nach bald verworfenen Plänen, eine Art Altersheim für schwule Männer zu initiieren, gründete er die Hannchen-Mehrzweck-Stiftung und brachte sein mit fast 60 Jahren erwirtschaftetes gesamtes Vermögen in die Stiftung ein. Die HMS sollte mit dem Siegel der Gemeinnützigkeit den Kreis möglicher Geldgeber erweitern. Hannchen Mehrzweck baute die Stiftung auch unter Beteiligung von Lesben auf, warb um Spenden und Zustiftungen, darum, der schwul-lesbischen Familie etwas zurückzugeben, der Förderung schwulen und lesbischen kulturellen Lebens eine stabile Grundlage und dauerhafte Perspektive zu sichern.

Am 7. September 2006 ist Andreas Meyer-Hanno im Alter von 74 Jahren in Frankfurt gestorben, beigesetzt wurde er auf dem Alten St.- Matthäus-Kirchhof in Berlin. In seinen letzten Lebensjahren hatte er sich aus der aktiven Mitarbeit in Vereinen und seiner Stiftung weitgehend zurückgezogen und nutzte seine Kraft vor allem dazu, für die HMS zu werben, Vorträge zu halten und seine Erfahrungen weiterzugeben.

«BERLIN WAR IMMER MEIN ZUHAUSE» – EINE KINDHEIT AM LAUBENHEIMER PLATZ

Geboren wurde Andreas Meyer-Hanno am 18. Februar 1932 in Berlin2. Seine Mutter Irene Sager, geboren 1899 im schlesischen Bielitz, war eine jüdische Intellektuelle; sie hatte in Budapest ein Klavierstudium begonnen und dieses Ende der 1920er Jahre in Berlin fortgesetzt. Der 1906 geborene Hans Meyer-Hanno – der Zusatz Hanno verwies auf seine Herkunft aus Hannover und war als Künstlername angehängt – war Bühnenmaler, hatte schon kleinere Rollen beim Film übernommen und stand auch selbst auf der Bühne. Er war Mitglied der KPD und arbeitete unter anderem für Werner Fincks Kabarett Die Katakombe. Dort lernte er seine spätere Frau kennen. Geheiratet haben sie im August 1931, also erst kurz vor der Geburt ihres ersten Sohnes Andreas. Sie zogen in einen der vier Wohnblocks der Künstlerkolonie Berlin am Laubenheimer Platz3, wo im April 1937 der zweite Sohn Georg geboren wurde.

Seit 1931 war der Vater Mitglied des KPD-nahen Theaterkollektivs Truppe 31, zu dem auch die berühmte Steffi Spira gehörte. Hier hatten sich unter der Leitung des 1895 geborenen Regisseurs und Schauspielers Gustav von Wangenheim meist arbeitslose Schauspieler zusammengeschlossen, um mit ihren Stücken gegen die Nazis zu mobilisieren. Wangenheim schrieb bewusst keinen harten Agitprop, der doch nur die Aufgabe erfüllte, «die Überzeugten in ihrer Überzeugung zu festigen» (Wangenheim 1974, S. 11). Stattdessen wandte er sich in erster Linie an die verunsicherten Kleinbürger und Angestellten und wollte sie für den gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus gewinnen. Es ging ihm um Leute wie «Herrn Fleißig» im Stück «Die Mausefalle», der ersten Produktion der Gruppe, die auf Anhieb ein Riesenerfolg wurde. Der arbeitslose Herr Fleißig schreibt mit schwarzem Humor an den Zirkus Sarasani:

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Laubenheimer Platz 2 (heute Ludwig-Barnay-Platz) in Berlin Wilmersdorf (Foto: Detlef Grumbach)

Hiermit erlaube ich mir die höfliche Anfrage,

Ob ich mich in Ihrem Zirkus von Löwen und Tigern

Bei lebendigem Leibe zerreißen lassen könnte.

Ich möchte mit den Tieren so lange kämpfen,

Bis ich tot wäre. Ich bin längere Zeit arbeitslos

Und hoffe dadurch so viele Einnahmen zu bekommen,

dass meine Frau und zwei Kleine davon leben können,

Damit man der Wohlfahrt nicht länger zur Last zu

Fallen brauchte.

Zu einer näheren Aussprache bin ich jederzeit

Bereit und bitte um baldige Antwort.

Bitte um strengste Diskretion.

Hochachtend …(Wangenheim, S. 103)

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Andreas Meyer-Hanno mit seinem Vater Hans, undatiert (NL 87)

Wenig später tritt der geläuterte Herr Fleißig an die Seite der klassenbewussten Proleten: «Jetzt versteh ich meine Verantwortung! Ihr wart meine Führer! […] Solidarität!» (S. 107). Noch am 4. Februar 1933 hatte die Gruppe im Kleinen Theater Unter den Linden mit ihrem Stück «Wer ist der Dümmste?» Premiere, am 4. März 1933 wurde sie vom Berliner Polizeipräsidenten verboten. Nachdem bei einer Razzia am 15. März etliche Ensemble-Mitglieder verhaftet worden waren, löste sie sich auf. Das Ende der Truppe 31 hat Hans Meyer-Hanno glimpflich überstanden.

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Andreas Meyer-Hanno am Laubenheimer Platz, undatiert (NL 87)

Während der Nazi-Zeit stand er wieder häufiger vor der Kamera, auch in bekannten UFA-Produktionen wie «Schwarze Rosen» (1935), «Savoy Hotel 217» (1936, mit Hans Albers) oder «Blinde Passagiere» (1936). Er betätigte sich als Synchronsprecher und übernahm ab 1935 auch Rollen am Theater. Von 1939 – 1944 war er am Berliner Schiller-Theater unter der Leitung von Heinrich George engagiert. Während der gesamten Nazi-Herrschaft war er – als Mitglied der Gruppe Beppo Römer im Umfeld der Roten Kapelle – im kommunistischen Widerstand aktiv. Wenige Tage nach dem Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 wurde er verhaftet: Sein Name stand auf einer Liste von Personen, die Flugblätter zum Attentat erhalten hatten und verteilen sollten, konkrete Handlungen konnte man ihm aber nicht nachweisen. Am 4. Oktober 1944 wurde Hans Meyer-Hanno zu verhältnismäßig glimpflichen drei Jahren Gefängnis verurteilt. Als Häftling musste er Schützengräben ausheben und wurde am 20. April 1945 unter nicht vollständig geklärten Umständen, es heißt, bei einem Fluchtversuch, erschossen. Gustav von Wangenheim am 9. Januar 1946 auf einer Gedenkveranstaltung für Hans Meyer-Hanno und weitere von den Nazis ermordete Künstler:

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«Stolperstein» für Hans Meyer-Hanno vor dem Haus Ludwig-Barbay-Platz 2 Das Amtsgericht Charlottenburg hat am 3. Oktober 1946 als Todestag den 20. April 1945 festgestellt. (NL 229, Foto: Detlef Grumbach)

Meyer-Hanno wusste aber auch, dass jeder Einzelne von sich aus versuchen musste, die Ehre der deutschen Arbeiterklasse und des gesamten deutschen Volkes zu retten dadurch, dass er widerstand und sich dazu vorbereitete, mit allen Gleichgesinnten zum Angriff überzugehen.

Meyer-Hanno hat Widerstand geleistet. Ehre seinem Andenken: weil er uns Ehre gemacht hat. […]

Die Veranlassung zu Meyer-Hannos Verhaftung gab der Verrat eines Spitzels. Die letzten Nachrichten, die wir von Hanno haben, sind aus dem Zuchthaus in Dresden. Wir wissen nicht genau, auf welche Weise die Nazis diesen prachtvollen Menschen in den Tod getrieben haben. Wir vereinigen unsere Trauer mit der Trauer seiner von ihm so zärtlich geliebten Familie. Das «Deutsche Theater», dem er heute angehören würde, wenn er noch lebte, hat die Patenschaft für seine Kinder übernommen.

(Zitiert nach Deutsche Volkszeitung. Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands, 2. Jg., Nr. 3, 8.1.1946, S. 1, NL 232)

Seine künstlerische Ader war Andreas Meyer-Hanno von seinen Eltern in die Wiege gelegt worden – und auch sein Leben als Außenseiter. Schon als Achtjähriger hatte er begonnen, sich literarisch zu betätigen und erste Gedichte zu schreiben. Erhalten sind sie nicht, aber die Antwort von «Onkel Pfeifchen», dem Redakteur von Das Blatt der Kinder, findet sich im Nachlass des Autors. Am 29. Februar 1940 bedankte sich «Onkel Pfeifchen» mit einem freundlichen «Heil Hitler» für eine Einsendung, bemerkte aber auch, dass das Gedicht «doch noch nicht so ganz geglückt» sei: «Ich denke, dass Du mir, wenn Du fleißig übst, bald ein schöneres Gedicht einschicken kannst, und werde mich freuen, wenn ich es dann abdrucken kann. Vielleicht kannst Du mir auch statt des Gedichtes einmal etwas erzählen?»

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Brief von Onkel Pfeifchen (NL 3)

Das Blatt der Kinder war seit den 1920er Jahren eine Beilage zum Blatt der Hausfrau im Berliner Ullstein-Verlag, der 1934 der jüdischen Eigentümerfamilie enteignet, ‹arisiert› und 1937 von den Nationalsozialisten in Deutscher Verlag umbenannt wurde. Man kann es als eine Ironie der Geschichte betrachten, dass Andreas Meyer-Hanno sich an ein Blatt aus diesem Hause wandte, denn mit fünf oder sechs Jahren, also um das Jahr 1938, hatte er von seiner Mutter erfahren, dass sie eine Jüdin und er selbst – im Jargon der Nazis – damit ‹Halbjude› war. Damals war er ziemlich überrascht – religiös war die Mutter nicht und er selbst war 1937 sogar – zu seinem Schutz – katholisch getauft und 1942 gefirmt worden.

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Taufschein Andreas Meyer-Hannos vom 16. Oktober 1937 (NL 1) Am 4. Juni 1965 ist Andreas Meyer-Hanno aus der katholischen Kirche ausgetreten (Bescheinigung ebd.).

«Wir werden im Moment ganz fürchterlich verfolgt», hatte die Mutter ihm erklärt. «Und wir müssen stolz auf unser Judentum sein.» (Die Ungnade der frühen Geburts, s. S. 167 f.) Schon bald wurde diese Befürchtung zur bedrohlichen Realität. Er war gerade aufs Gymnasium gekommen, da untersagten die Machthaber sogenannten «Mischlingskindern» 1942 per Erlass, eine höhere Schule zu besuchen. Meyer-Hanno musste zurück auf die Volksschule. Als diese wegen der Bombenangriffe evakuiert wurde – Kinderlandverschickung –, behielt der Vater den Sohn zu Hause. Andreas war plötzlich das einzige Kind in der Siedlung, musste vorsichtig sein. Nach der Verhaftung des Vaters wurde es brenzlig. Wenn Razzien zur Verhaftung und Deportation von Juden drohten, wurden die Kinder auf Dachböden versteckt, zeitweise kamen Andreas und sein Bruder Georg auch im Landjugendheim Finkenkrug in Berlin-Falkensee unter. Das Erholungsheim wurde seit 1921 vom reformpädagogisch orientierten Charlottenburger Verein Jugendheim e.V. betrieben, hatte sich dem Zugriff der Nationalsozialisten entziehen können und diente jüdischen Kindern als Durchgangsstation auf der Flucht oder als Unterschlupf. Was «Onkel Pfeifchen» dazu wohl gesagt hätte?

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Andreas Meyer-Hanno mit seiner Mutter, undatiert (NL 87)

Auch für Irene Meyer-Hanno, die die Widerstandsarbeit ihres Mannes unterstützt hatte, wurde die Situation gefährlich. Auftrittsverbot hatte sie schon zuvor, doch konnte sie noch privat Klavierunterricht erteilen, weil sie als Ehefrau eines ‹Ariers› einen gewissen Schutz genoss. Nach der Verhaftung ihres Mannes musste sie immer wieder untertauchen. Als Gustav von Wangenheim 1945 aus dem Exil in der Sowjetunion nach Berlin zurückkehrte und Intendant des von ihm wiedereröffneten Deutschen Theaters in Ost-Berlin wurde, stellte er sie als Korrepetitorin ein. Bis zum Bau der Mauer pendelte sie zwischen dem Laubenheimer Platz in West- und ihrem Arbeitsplatz in Ost-Berlin. Nach dem Krieg war sie zunächst Mitglied der SED, trat aber im Dezember 1950 «aus persönlichen Gründen» (Austrittserklärung vom 17.12.1957, NL 220) aus.

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Plakat «Pitt unter Piraten» (NL 3)

Andreas Meyer-Hanno ging nach Kriegsende wieder auf das Gymnasium und lernte für das Abitur. Auch seine Leidenschaft für das Theater machte sich schon bemerkbar. 1946, im Alter von 14 Jahren, stand er in der Rolle des Schiffsjungen Pitt als Hauptdarsteller eines «Abenteuermärchens in 7 Bildern» auf der Bühne des Wilmersdorfer Theaters.

Mit 17 Jahren, im Juli 1949, machte er sein Abitur. Eine von seinem Zeichenlehrer handschriftlich auf der Rückseite der Abiturzeitung verewigte Anekdote verrät etwas von seinem Witz und seiner Schlagfertigkeit, die ihn auch in ernsten Situationen nie verlassen hat.

Andreas Meyer-Hanno wird bei mir in «Kunst» geprüft, ich stelle ihm eine farbige (Zimmer-Dekoration) und eine zeichnerische Aufgabe (Rosen-Stilleben) zur Wahl. M.-H.: «Ich wähle die farbige Aufgabe – ich bin ja farbenblind!»

(Paulsen-Schule. Den Abiturienten des Jahres 1949 und ihren Lehrern zum Gedenken. Berlin-Steglitz, 2. Juli 1949, NL 3)

Zum Studium der Musik- und Theaterwissenschaft ging Andreas Meyer-Hanno zunächst ganz selbstverständlich an die Humboldt-Universität im Ostteil der Stadt. Doch bekam er den ideologischen Druck von Partei und Staat zu spüren und wechselte 1951 an die Freie Universität in West-Berlin, wo er im Juli 1956 mit einer Dissertation über über «Georg Abraham Schneider (1770-1839) und seine Stellung im Musikleben Berlins. Ein Beitrag zur Musikgeschichte der Preußischen Hauptstadt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts» mit «Summa cum laude» promoviert wurde.

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Titelblatt der Dissertation (NL 10)

Nach der Promotion bekam Andreas Meyer-Hanno eine Stelle als Regieassistent in Wuppertal. Bis dahin hatte er bei seiner Mutter am Laubenheimer Platz gewohnt, verbunden blieb er diesem Ort seiner Kindheit und Jugend auch weiterhin. Eine dezidiert politische Position nahmen Mutter und Sohn in diesen Jahren beide nicht ein, doch standen sie dem Experiment DDR immer kritischer gegenüber.

Als der SED-Staat 1961 die Mauer bauen ließ, zerschnitt dies viele berufliche und private Beziehungen, die Mutter verlor ihren Arbeitsplatz und arbeitete ab Sommer 1961 wieder als Klavierlehrerin und Korrepetitorin in West-Berlin. Das Ereignis sollte beide in hohem Maße bewegen. In seiner typischen Diktion sollte Meyer-Hanno – zu diesem Zeitpunkt schon in Wuppertal – ein kleines Erlebnis beim Einkaufen aufgreifen:

Interessant, die Reaktion der Leute hier zu beobachten. Einige wenige nehmen starken Anteil an den Dingen – so zum Beispiel beobachtete ich eine liebe, ältere Verkäuferin in der Fleischabteilung bei Schätzlein, die es als Sünde empfand, dass angesichts der gegenwärtigen Situation eine Dame für ihren Dackel Kalbsherz kaufte. (27. 8. 1961)

Seine Mutter wohnte bis kurz vor ihrem Tod am Laubenheimer Platz und war seine engste Vertraute: ausführliche Briefwechsel, gegenseitige Besuche, gemeinsame Urlaube zeugen davon. 1983 starb Irene Meyer-Hanno. Erst kurz zuvor war sie nach Schwabenheim bei Mainz in das Haus ihres jüngeren Sohnes Georg gezogen, der als Fotograf beim ZDF angestellt war. Im März 1984, während einer Reise nach Tunesien, verfasste Andreas Meyer-Hanno einen Rundbrief an seine Freunde, eine Art Resümee über die letzten Jahre, ihr Sterben und seine Trauer.

Berlin war, trotz 27 Jahren Abwesenheit, immer mein Zuhause gewesen: Kindheit, Bombenkrieg, Pubertät, Nachkrieg, Studium, all das hatte sich dort abgespielt. Aber auch in meinen Theaterjahren hatte ich Ludwig-Barnay immer als Erstwohnsitz behalten, allen Komplikationen (bei Passangelegenheiten, Wahlen etc.) zum Trotz. Es war eben «Heimat», um’s pathetisch auszudrücken. Und die Auflösung der Wohnung, das Verteilen oder gar Wegwerfen von Liebgewonnenem, das Zerreißen eines zusammengewachsenen Ganzen kam der Liquidation meiner Kindheit und Jugend gleich. (NL 47)

«ICH HASSE ALLES ‹SCHWULE›, ICH HASSE ALLE ‹TUCKEN›» – DAS COMING-OUT UND DIE «LIEBE MUTTER»

Dies ist der längste und der traurigste Brief, den ich je an dich geschrieben habe, aber ich muss ihn schreiben, weil es Dinge zwischen Menschen gibt, die so ergreifend sind, dass, wenn man sie sagt, nur ein unklares und verzweifeltes Gestammel herauskommt.

Wie ist das, wenn man als Zehn-, Fünfzehn- oder Zwanzigjähriger spürt, dass man nicht nur wegen der jüdischen Mutter nicht dazugehört, sondern auch sonst anders ist? Wenn man beim Fußballspielen Angst vorm Ball hat, an Indianerspielen nicht interessiert ist und stattdessen gute Freundschaften mit Mädchen unterhält? Und schließlich auch sexuell anders ist? Ein achtseitiger Brief, den Andreas Meyer-Hanno am 16. Juli 1955, im Alter von 23 Jahren, an die Mutter geschrieben hat, vermittelt einen bewegenden Eindruck davon, wie er mit sich gerungen hat:

Es war eine Zeit der Auseinandersetzung mit mir selbst, eine Zeit des langsamen Erkennens meiner Beschaffenheit und eine Zeit der Verzweiflung über diese Beschaffenheit, die mich von der übrigen Welt zu isolieren schien.

Dass mit ihm etwas ‹nicht stimmte›, hatte er demnach schon früh gespürt, doch zunächst waren es die politischen Umstände, die ihn zu einem ‹Anderen› machten – er war nicht im Jungvolk der Hitlerjugend, durfte unter den Nazis nicht auf das Gymnasium ... Aufgeklärt wurde er «auf niedrigste und roheste Weise» in der Volksschule, sodass «alles Erotische etwas Rohes und Schlechtes» für ihn bekam. Die «erste körperliche Berührung mit einem Jungen» ließ ihn kalt, erst nach dem Krieg machten einige Begegnungen mit erwachsenen Männern starken Eindruck auf ihn. Heimlich und einseitig verliebte er sich in den Schauspieler Walter Richter – «ich wurde rot, wenn ich ihn sah, lief ihm nach, war selig, wenn er mir die Hand drückte». Versuche, mit Mädchen etwas anzufangen, gingen gründlich schief. Er bemühte sich darum, sich zu verlieben, doch spätestens nach seiner Erfahrung mit Christi, die er «sehr gerne» mochte, wurde ihm bewusst, «dass ich nie ein Mädchen wie sie besitzen könnte».

Der erotische Einfluss, den Männer auf mich ausübten, wurde immer stärker. Der erste Mann, mit dem ich zusammenkam, war der Maler Werner Heldt. Nicht etwa, dass er mich verführt hätte, nein, es war umgekehrt, ich ging mit ihm, als er betrunken war, in sein Atelier, um ihn zu verführen, was mir auch gelang. Der Arme machte sich später furchtbare Gewissensbisse (er war ein sehr guter Mensch) und ich musste ihm eine ausführliche Mädchengeschichte erzählen, um ihn zu beruhigen.

Schon früher, so schreibt er der Mutter, hätte er sich ihr öffnen wollen, aber «ich schob es immer und immer wieder auf, zum großen Teil aus Angst vor der Verzweiflung und den Tränen». Noch mit zwanzig hatte Meyer-Hanno eine Freundin aus Kindertagen besucht und ihr einen Heiratsantrag gemacht, doch sie lehnte ab. Er befand sich in einer «totalen Sackgasse», in einer «suizidalen Stimmung» (Holy 1980). In seinem Coming-out-Brief an die Mutter schreibt er:

Ich habe mir selbst gegenüber ein Schuldgefühl. Ich habe etwas versäumt, meine Jünglingszeit ist dahin, ohne dass ich etwas erlebt habe. Jetzt bin ich 24 (bald) und habe noch kein großes Liebeserlebnis gehabt, in dem Alter ging mein Vater bereits seine feste Lebensgemeinschaft ein und hatte alles hinter sich. Ich hatte Einzelnes, sehr verstreut, meist auf Reisen, zum Teil überraschend Erfreuliches, aber nichts Großes. Hier war ich meist abstinent, aus verschiedenen Gründen: Angst vor der Umwelt, Schonung gegenüber Dir, Verantwortung meinem Bruder gegenüber, Hoffnung auf Änderung, Angst davor, nie wieder herauszukommen, wenn man mal drinsteckt. Nun kann ich nicht mehr so weiterleben. […]

Es ist sehr seltsam, ich habe große Achtung für Frauen, ich könnte mit Frauen sehr befreundet sein. Ich hasse alles «Schwule», ich hasse alle «Tucken» – das ändert nichts daran, dass ich Homo bin. Ich leide sehr darunter, dass ich nie Kinder haben werde, an so etwas zu denken fällt mir schon schwer und macht mich traurig, weil ich Kinder sehr liebe.

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Andreas Meyer-Hannos Coming-out-Brief an die Mutter, 16. Juli 1955 (NL 35)

Auslöser seines Coming-outs war die Begegnung mit einem älteren amerikanischen Schwulen, dem er während einer Studienexkursion in Bayreuth begegnet ist. Eine ganze Nacht lang, so erzählte Meyer-Hanno es mit knapp sechzig im Interview mit Rosa von Praunheim, seien sie durch Bayreuth spaziert und hätten miteinander geredet. Dieser fremde und ganz selbstverständlich über sein Schwulsein redende Mann habe ihn überzeugt, dass Homosexualität natürlich sei, dass er nicht sein ganzes Leben, seine eigenen Wünsche unter das Diktat einer gesellschaftlichen Norm stellen dürfe. Und dass er, nach allem, was Meyer-Hanno über seine Mutter erzählt hätte, sich ihr gegenüber öffnen müsse.

Liebe Mutti, es ist so schlimm, dass ich dir diesen Brief schreiben muss, aber es ist das Beste so. Es ist ein großer Einschnitt in unserem Leben. Ich kann Dir nur eines sagen, ich werde immer anständig bleiben und das in Ehren halten, was Ihr, Du und mein Vater in mich hineingelegt habt. Das alles ist nicht meine Schuld, es ist mir vom «lieben» Gott auferlegt und ich muss es tragen. Bisher habe ich alles verborgen, das war Unrecht; ich muss mich stellen und darf keinen Hehl daraus machen. Mutti, du hast so viel für mich getan, tu noch dies Äußerste für mich: Verstehe mich!

Der Brief endet mit der anrührenden Grußformel «Dein armer Andreas». Andreas hatte ihn zu Hause auf den Tisch gelegt und die Wohnung verlassen, eine Paddeltour gemacht und von Griebnitzsee aus die Mutter angerufen. «Komm nach Hause, wir reden.» Diese Aufforderung hat den Knoten gelöst. Irene Meyer-Hanno waren Schwule aus ihrem beruflichen Umfeld nicht unbekannt, sie hatte sich auch schon Gedanken über den Sohn gemacht. Ihr Motto: «Damit werden wir leben!»

«Von dem Moment an begann ich, es positiv zu besetzen und – noch nicht so sehr auszuleben – aber für mich umzuwerten.» (Praunheim 1989)

Ein Jahr nach diesem Brief, nach dem Abschluss seines Studiums, verließ Andreas Meyer-Hanno Berlin. Seine erste Anstellung führte ihn als Regieassistent nach Wuppertal. Was er dorthin – und sonst überall hin – mitnahm: sein gutes, inniges Verhältnis zu seiner Mutter, einer «typischen Schwulenmutter, die ungeheuer dominierend ist und einen sehr stark prägt» (Praunheim 1989). Wahrscheinlich waren auch der frühe Tod des Vaters und dass er zu Hause seitdem ‹der Große› war, Ursachen dafür, dass Mutter und Sohn sich besonders nah waren.

Hatte er sein Coming-out in Form eines Briefes hinter sich gebracht, weil er noch nicht über das Thema sprechen konnte, schrieb er nun mehrmals in der Woche ausführliche Briefe: mal drei, mal fünf, mal noch mehr Seiten, meist eng getippt auf der Schreibmaschine, zu Geburtstagen und zu Weihnachten handschriftlich mit eingeklebten oder gemalten Blümchen. Die Mutter war eine ebenso fleißige Schreiberin, sodass der Briefwechsel ein intensives, teils erschütternd offenes, teils auch von tiefen Krisen, von Einmischungsversuchen und Akten der Emanzipation geprägtes Gespräch zwischen Mutter und Sohn dokumentiert. Der Sohn schreibt über alle Fragen seiner beruflichen Entwicklung, vom Miteinander mit den Kolleginnen und Kollegen, über künstlerische Überlegungen, Theaterproben, Inszenierungen und Premieren, seine finanzielle Situation und seine Wohnungen, über Urlaubsreisen, Freundschaften und Liebesverhältnisse. Sie unterhalten sich über Bücher und Schallplatten, über Konzerte, Kino- und Theaterbesuche und debattieren über die politischen Verhältnisse. Irene Meyer-Hanno begleitet und kommentiert die Entwicklung ihres Sohnes, ermutigt und unterstützt ihn, gibt Ratschläge, mischt sich ein, urteilt, formuliert Ansprüche …

Der Briefwechsel, der bis zum Tod der Mutter fortgesetzt wurde, zeugt von einem fast symbiotischen Verhältnis der beiden, aber auch von Spannungen, gegenseitigen Erwartungen und Anforderungen, von einem besonderen Maß an Disziplin, das vor allem die Mutter einforderte. Als Sohn Andreas beispielsweise nach einem Berlin-Besuch nicht umgehend seine Rückkehr nach Wuppertal vermeldet hatte, schickte die Mutter ihm ein forderndes Telegramm hinterher. Meyer-Hannos prompte Antwort verrät viel über das ambivalente Verhältnis der beiden. Der mittlerweile 26 Jahre alte Sohn war offensichtlich genervt und versuchte mit einer Mischung aus Sarkasmus, Witz und Zuneigung, dem Anspruch der Mutter Genüge zu tun und ihr zugleich eine Grenze zu setzen. Sie verstand die Botschaft, antwortete postwendend am 6. November – «Lieber Andreas, oller Blödling, Du lachst über mich» –, dass sie nun mal daran gewöhnt sei und es als selbstverständlich erachte, «dass man, gleich angekommen, Nachricht gibt, es ist ja eine große Beruhigung und ich bitte Dich nächstens Dich daran zu halten und meine Schwäche in Punkto Ängstlichkeit zu verstehen».

Erst als in den 1970er Jahren das Telefonieren eine günstige Alternative wurde, wuchsen die Abstände zwischen den Briefen, häuften sich Verweise auf das ja bereits am Telefon Besprochene. In seinem schon zitierten Rundbrief an die Freunde vom März 1984 heißt es:

Mein Leben lang hatte sie jede meiner Handlungen und Reaktionen genauestens registriert: etwas, das mich oft zur Weißglut brachte, weil es, war ich zu Hause oder war sie bei mir, kein Entrinnen in ein Privatissimum gab. Und plötzlich nahm sie das nun alles nicht mehr wahr: ein eventuell spätes Heimkommen des Nachts, jahrzehntelang Quelle allerhöchster Beunruhigung, war plötzlich unwichtig geworden. Big mother wasn’t watching me any more.

Auch an den Druck, den «Zwang zum ständigen erfolgreich sein», den sie in ihn eingepflanzt hat, erinnert er in dem Rückblick. Am Ende bleibt die unverrückbare Erkenntnis, jetzt kein Kind mehr zu sein.

Denn trotz der vielen Jahre der äußerlichen Trennung voneinander war die innere Verbindung, bis zur Nötigung, immer lebensbestimmend gewesen. Es mag sein, dass mit ihrem Tod diese sowohl nährende wie versklavende Nabelschnur nun durchgetrennt ist und ich mich so langsam daran mache, die letzten Stufen zum endgültigen Erwachsensein zu erklimmen. (NL 47)

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Brief an die Mutter vom 5. November 1956, die ausgefallene Vorstellung bezieht sich auf Paul Hindemith: «Mathis der Maler» (NL 36)

«ES IST EIN MENSCH IN MEINEM LEBEN AUFGETAUCHT» – DIE OPER UND DAS SCHWULE LEBEN IN WUPPERTAL

In Wuppertal angekommen gestaltete sich die Suche nach einer ersten eigenen Bleibe schwieriger als gedacht, sogar ein möbliertes Zimmer ließ sich nur schwer ergattern. «Alleinstehender junger Mann, Akademiker in fester Stellung» – so inserierte er im Generalanzeiger – «sucht ab sofort Zimmer mit Küchenbenutzung». Die Angebote waren rar, und als er auf eine Anzeige hin «wie ein geölter Blitz nach Barmen» raste, ergab sich Folgendes: «Ein kleines, zweibettiges Zimmer für zwei Herren, DM 75, ohne Kochgelegenheit. Überhaupt fand ich heraus, dass hier viele nur an 2 Herren vermieten, weil sie dann vor Damenbesuchen so ziemlich sicher sind.» (16. 8. 1956). So wohnte er die erste Zeit im Hotel, für 6,50 DM die Nacht.

Der Start ins Berufsleben ging dafür erstaunlich glatt, auch wenn nicht alle seine Wünsche in Erfüllung gingen. Schnell entwickelte er sich zum anerkannten Mitglied der Wuppertaler Theaterfamilie, die Arbeit war «erfreulich», mit Opernregisseur Georg Reinhardt stand er «allerbestens». Er verdiente sein eigenes Geld, aber mit etwas mehr als 300 DM im Monat erfüllten sich seine finanziellen Erwartungen nicht. «Ich glaubte, mit 600 oder mindestens 550 rechnen zu können. Doch auch im zweiten Jahr würden ihm wohl, so Reinhardt, nicht mehr als 450 DM angeboten (5.1.1957). Helmut Henrichs, Intendant der Städtischen Bühnen Wuppertals, schien ihm wohlgesonnen, doch sträubte er sich dagegen, den jungen Regieassistenten allzu schnell selbstständig werden zu lassen – eine erste eigene Inszenierung stand lange in den Sternen. Ein Jahr später, im Februar 1958, trug Meyer-Hanno sich schon mit Kündigungsgedanken: Denn obwohl für den Spielplan des folgenden Jahres neun neue Stücke geplant wurden, blieb Henrichs bei seinem Nein zu einer eigenen Arbeit für Meyer-Hanno. Aber immerhin stieg das Gehalt auf 550 Mark: «Also bleibe ich in Wuppertal». (2. 2. 1958)

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Briefauszug vom 16. August 1956 mit eingeklebter Zeitungsannonce (NL 36)

Auch ganz privat hatte der Umzug nach Wuppertal einen massiven Einschnitt in seinem Leben bedeutet. Das Coming-out und die neue Umgebung wirkten einerseits befreiend auf Andreas Meyer-Hanno. Er stürzte sich in das schwule Leben der 1950er Jahre, das in einer Stadt wie Wuppertal, innerhalb der Theater-Szene und im gut erreichbaren Düsseldorf durchaus möglich war, das aber vor allem aber auf Reisen – egal ob in London oder Amsterdam –, zahlreiche Gelegenheiten bot. Seine große Sehnsucht war ein der heterosexuellen Ehe vergleichbares Zusammenleben mit einem Mann, doch seine Hoffnung auf eine feste Beziehung erfüllte sich erst einmal nicht. Denn andererseits war da die Angst, die mit dem schwulen Leben unter dem Damoklesschwert des § 175 immer verbunden war:

Das ganze Leben war ungeheuer angstgeprägt. Das Lebensgefühl der Schwulen war Angst. Angst, aufzufliegen. Angst, im Haus, bei den Nachbarn, bei der Familie, aufzufliegen, am Arbeitsplatz diskriminiert zu werden. Es ist dann gegen Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre sehr stark abhängig gewesen von dem Ort, wo etwas stattfand. In großen Städten und liberalen Bundesländern wurde der Paragraf immer lockerer gehandhabt, und oft waren es sogar Richter, die einem, der angeklagt war, etwas gemacht zu haben, unterschoben, was er zugeben sollte.

(zit. n. Praunheim 1989)

In Hamburg hatte ein Richter schon 1951 Aufsehen damit erregt, zwei Männer wegen homosexueller Handlungen zu einer Geldstrafe von je 3 DM zu verurteilen. So etwas blieb aber die absolute Ausnahme. Kontakte in der Szene, Begegnungen, aus denen sich vielleicht etwas mehr hätte entwickeln können, standen unter dem Diktat der Lüge. Namen und Adressen, die genannt wurden, stimmten nicht, Verabredungen zu einem zweiten Treffen wurden aus Angst nicht eingehalten, bestmögliche Tarnung und der Zwang zu einer Doppelexistenz bestimmten alles. Seine sexuellen Erfahrungen in dieser Zeit, so Meyer-Hanno zu Rosa von Praunheim, «waren eigentlich grauenhaft».

Mit dem Bühnenbildner Heinrich Wendel und dem Choreografen Erich Walter hatte er jedoch erstmals ein schwules Paar in seinem Freundeskreis. Darüber hinaus lernte er ein schwules Tänzerpaar kennen, machte Bekanntschaften, schloss Freundschaften: Schwulsein bekam immer mehr positive Seiten, doch war er überzeugt, «dass ich dazu bestimmt bin, mein Leben im Alleingang zu bewältigen» (15. 1. 1957). Mit Erich Walter verband ihn eine tiefe Freundschaft, die bis zu dessen Tod 1983 andauerte. Sie konnten über alle Probleme sprechen, reisten gemeinsam und fingen sich in ihren Krisen immer wieder gegenseitig auf.

Im Juni 1957, ein Jahr in Jahr in Wuppertal, deutete Andreas vage an, dass «ein Mensch in meinem Leben aufgetaucht [ist], der mir bereits jetzt sehr viel bedeutet» (11. 6. 1957). Im September schrieb er von einem England-Urlaub mit Erich, in dem er bei den Einheimischen «erotisch ein ‹großer Erfolg›» war: «Offen gesagt, habe ich mir nichts entgehen lassen und war ein ‹flotter Hirsch›, was auch mal ganz gut tut.» Im gleichen Brief eröffnete er der Mutter, dass er seit einigen Wochen «mit einem ganz einfachen Arbeiter» aus Wuppertal liiert war: «Mein Teurer (der ausgerechnet wieder Walter heißt) hat übrigens nichts von schwul oder Tunte an sich, hasst es sogar wie die Pest. Er ist ein ganz normaler Mann mit homosexueller Triebrichtung, und das ist das Erfreuliche.»

Wer heute solche Briefe eines jungen Mannes an seine Mutter liest, ist erstaunt, doch ganz geheuer waren auch dem Verfasser «diese ‹Enthüllungen von schonungsloser Offenheit›» nicht. Er hoffte, so schrieb er an die Mutter, dass ihr dies nicht «unangenehm» sei und bat sie, mit Rücksicht auf den immer noch ahnungslosen kleinen Bruder, den Brief gut zu verstecken. Andreas Meyer-Hanno machte sich zwar keine großen Hoffnungen, dass die Beziehung zu Walter Pfalz länger halten würde, doch endlich genoss er «die erotischen Dinge» und dass am Samstagabend nach der Vorstellung jemand auf ihn wartete und sich freute, wenn er aus der Oper kam (25. 9. 1957). Und sie erwies sich als stabiler als geahnt. Am 21. Oktober – «wir kennen uns jetzt sechs Wochen, was natürlich noch gar keine Zeit ist» – brachte Andreas die Mutter auf den neuesten Stand: Walter war demnach 27 Jahre alt (später stellte sich heraus, dass er sich zehn Jahre jünger gemacht hatte, und auch, dass er seinen Arbeitsplatz bei der Bundesbahn verloren hatte, weil eine eifersüchtige Ehefrau seine Beziehung mit ihrem Mann beim Arbeitgeber angezeigt hatte), stammte aus einer Arbeiterfamilie, war Drucker in einer Tapetenfabrik, verfügte über geringe Bildung, liebte das Theater, rauchte und trank in Gesellschaft, aß gerne, war zuverlässig und grundanständig, «dazu eine Frohnatur, wie sie im Buche steht».

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Walter Pfalz beim Segeln in Holland 1957 Auf der Rückseite des Fotos oben ist handschiftlich notiert: «Mein Liebliungsbild von Walter» (NL 85)

Die unterschiedliche Herkunft und das Bildungsgefälle bereiteten dem promovierten Regieassistenten durchaus Sorgen, aber die Beziehung war vor allem «durch eine Reihe von äußeren Faktoren sehr belastet». Sie hatten wenig Zeit füreinander, und bald schon wussten sie nicht mehr, wie sie diese einigermaßen ungestört verbringen konnten. Beziehungsleben als ‹möblierter Herr› – das war nicht einfach in den moralinsauren Adenauerjahren.