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Haupttitel

Der vorliegende Text wurde erstmals in dem Band Doppelte Biografieführung, spectorbooks, Leipzig 2016 veröffentlicht. Er wurde für die Neuauflage leicht überarbeitet und um ein Nachwort des Autors ergänzt. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von spectorbooks.

Verlag Voland & Quist GmbH, Dresden und Leipzig, 2018



© Lizenzausgabe des Verlags spectorbooks, Leipzig 2016



Korrektorat: Annegret Schenkel



Umschlaggestaltung: Guerillagrafik



Satz: Fred Uhde



E-Book: zweiband.media, Berlin



ISBN: 978-86391-220-8



www.voland-quist.de

Francis Nenik ist ein Pseudonym, der Autor scheut die Öffentlichkeit. Er wurde Anfang der 80er geboren und lebt in Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen in renommierten Zeitschriften wie Merkur, Edit und Words Without Borders, die zum Teil fürs Radio vertont wurden. Sein Debütroman XO erschien 2012 in Form einer Loseblattsammlung, im selben Jahr erhielt er den zweiten Preis im Essay-Wettbewerb der Literaturzeitschrift Edit. Zuletzt erschienen der Essayband Doppelte Biografieführung sowie der Roman Die Untergründung Amerikas, im Januar 2017 startete Francis Nenik sein Tagebuch eines Hilflosen, in dem er online die Amtszeit von Donald Trump literarisch begleitet.

Welch eine Lebensgeschichte.

Dass sie nie niedergeschrieben wurde,

ist erstaunlich und bedauerlich zugleich,

aber vielleicht auch verständlich in einer Zeit,

in der es nur so von eilig verfassten Erinnerungen wimmelt,

darin kaum Zeitgeschehen vermittelt und wenig erzählt wird.

Daniel Flügel in den Potsdamer Neuesten Nachrichten

anlässlich des 100. Geburtstages von Hasso Grabner im Jahr 2011

Inhalt

  1. Loslaufen
  2. Keiner weiß mehr
  3. Hinter den Mauern – die Stadt
  4. Weimar
  5. Weggehen
  6. Teil 2
  7. Griechische Geschichte – Ein Abriss
  8. Teil 3
  9. Heimgehen
  10. Zwischenakt – Leipzig, April ’45
  11. Teil 4
  12. Zu Hause
  13. Teil 4
  14. Ausschreiben
  15. In den Lücken der Überlieferung – das Glück

Loslaufen

Der 21. Oktober 1911 ist nicht gerade ein weltgeschichtlicher Ausreißer. In Österreich heiratet der Erzherzog eine Prinzessin, und der örtliche Kaiser gibt einen lustigen Trinkspruch zum Besten. In Utica/USA entleeren ein riesiger Mississippi-Farmer und der schmächtige Angestellte eines Wanderzirkus den Inhalt ihrer Revolver in den Körper eines Löwen, der eine zwölfjährige Dompteuse im Maul hält, und in Leipzig wird ein Junge geboren, der auf den Namen Hasso hört und später angibt, von seinem Vater nicht das Geringste zu wissen.

Eine Mutter freilich ist, wie sich’s gehört, im Falle des kleinen Hasso vorhanden, und auch der Vater wird später noch auftauchen, gleichob er einem Berg Akten entsteigt. Aber warum auch nicht? Die Männer in der Familie haben’s nun mal mit dem Papier, der Großonkel des Jungen hat sogar das zweite Buch von Marxens Kapital geschrieben.

Das heißt, so richtig geschrieben hat er’s nicht, eher abgeschrieben, was allerdings auch eine Leistung ist, wenn man bedenkt, dass Marx bei seinem Tod im Jahre 1883 kein fertiges Buch, sondern ein derart hieroglyphisches Manuskript hinterlassen hat, dass sein Kompagnon Friedrich Engels nicht nur ein ganzes Jahr, sondern auch einen persönlichen Sekretär brauchte, um das, was Marx ihm da »kaum gruppiert, geschweige verarbeitet« vermacht hatte, auch nur annähernd druckfertig zu bekommen.

Ebendieser Sekretär nun aber war der Großonkel des kleinen Jungen, der da soeben hier, auf dem Papier, geboren worden ist, und während der eine Hasso Grabner heißt, wird der andere Oscar Eisengarten genannt, und es ist unmittelbar klar, dass dieser Name eine jener gutmütigen Fiktionen ist, wie sie nur das 19. Jahrhundert hervorbringen konnte.

Als die Druckerei des Hamburger Verlegers Otto Meißner jedenfalls im Juli 1885 ihre Presse anwirft, ist es Eisengartens Abschrift des Kapitals, die ihr als Vorlage dient.

Jetzt, ein Vierteljahrhundert später, ist vom Großonkel allerdings kaum mehr als ein kleiner, vom englischen Regen verwitterter Grabstein übrig, und alles, was dem jungen Hasso bleibt, sind eine Mutter, die sich ein kärgliches Gehalt als Verkäuferin verdient, und ein Taufschein, der ihm klarmacht, dass sein Vater nicht nur unbekannt, sondern mit der Mutter auch nicht verheiratet war, weshalb sich der Pfarrer gezwungen sieht, dem auf dem Taufschein vorgedruckten Wörtchen »ehelich« handschriftlich das Wörtchen »außer« voranzustellen.

Kurzum: Die Familie hat schon bessere Zeiten gesehen, und auch wenn die Großmutter und die Tante die Mutter unterstützen, reichen die Mittel nicht aus, und im Alter von zwölf Jahren wird Hasso Grabner von Leipzig nach Halle und schließlich weiter nach Gera geschickt, wo er in verschiedenen Pflegefamilien zwar kein Zuhause, aber wenigstens eine Unterkunft findet. Ein Schulabschluss gelingt dem Jungen allerdings nicht, und als er 1926, gerade fünfzehn geworden, nach Leipzig zurückkehrt, liegt die Mutter im Sterben.

Politisch ist Hasso Grabner zu diesem Zeitpunkt allerdings fast schon ein alter Hase. Nicht nur gehört seine Familie – zumindest der Erinnerung nach – zum Uradel der sächsischen Sozialdemokratie, nein, Hasso Grabner hat auch bereits selbst etwas für die Revolution getan und mit zwölf Jahren Munition gestohlen und beim verhassten Jungstahlhelm »spioniert«, weshalb es nicht verwundert, dass er fünfundvierzig Jahre später in einem für die Bezirksleitung der SED verfassten Lebenslauf freiraus erklärt, er habe »im Rahmen meiner kindlichen Möglichkeiten an den ›Bewaffneten Kämpfen 1918–1923‹ teilgenommen.«

Die Erinnerung, das weiß jedes Kind, ist der Grundstoff der Geschichte. Die Ideologie aber, das wird erst später klar werden, ist die Form, in der sie sich äußert.

Jetzt aber, im Jahr 1926, gibt es noch keine Sozialistische Einheitspartei, und Hasso Grabners Leben braucht auch noch keinen schriftlich abgesicherten Verlauf. Die Geschichte muss sich also ein anderes Medium suchen. Dass sie es in einer Zeitschrift für Hellseherei findet, kann freilich niemand ahnen.

Zugegeben, das Zentralblatt für Okkultismus ist nicht gerade das, was sich der gemeine Sozialdemokrat zwecks Nachtlektüre aufs Kopfkissen legt, und auch die um Wissenschaftlichkeit bemühten Kommunisten lassen die Monatsschrift zur Erforschung der gesamten Geheimwissenschaften für gewöhnlich rechts liegen. Hasso Grabner dagegen beschäftigt sich Tag für Tag mit ihr. Er muss es tun, schließlich hat es sich der Verlag von Max Altmann, wo Grabner Arbeit als Markthelfer gefunden hat, zur Aufgabe gemacht, die Menschheit mit Tonnen von spiritualistischem Schriftgut zu beglücken. Und fürwahr: Die leselustigen Leipziger lechzen geradezu nach Übersinnlichem, und seitdem die Polizei das Verbot des Wahrsageunfugs aufgehoben hat, laufen die Geschäfte umso besser. Und so kommt es, dass Hasso Grabner, der Jungkommunist mit der Nickelbrille und dem sorgsam gescheitelten Haar, die auf dem Markt umherstreunenden Bürger mit Beiträgen über telepathische Pflanzen versorgt, dem brasilianischen Wundermedium Mirabelli sogar unter Universitätsprofessoren Anhänger verschafft und so ganz nebenbei auch noch erfährt, wie es ist, den Menschen als Antenne zu betrachten, woraufhin er von Hellsehern seitenweise Eindrücke über Deutschlands Zukunft erhält, indes seine eigene langsam vergeht, sich an ihm vorbeizuschleichen versucht.

Im Grunde hat’s Frau Futur schon zur Tür rausgeschafft als am 23. Mai 1928 im Verlagshaus von Max Altmann in der Leipziger Frommannstraße Nummer 5 etwas Unvorhergesehenes passiert. An diesem Tag, es ist gegen halb sechs Uhr abends, betritt ein älterer Herr das Gebäude und verlangt, Max Altmann persönlich zu sprechen. Einen Grund für seinen Wunsch nennt er nicht, doch lässt man ihn, da es dringend erscheint, schließlich gewähren, und als der Herr kurz darauf vor dem Verleger steht, stellt er sich als Abgesandter des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler vor und fragt, noch ein wenig außer Atem, denn er ist die 800 Meter von der Platostraße bis zur Altmannschen Villa gerannt, ob der Herr Verleger jemanden für die Ausbildung bei der Deutschen Buchhändler-Lehranstalt vorschlagen könne. Der Termin sei allerdings bald, im Grunde genommen schon heute, deshalb auch die Eile und der nicht ganz standesgemäße Schweiß auf der Stirn …

Max Altmann überlegt, geht im Kopf seine sämtlichen Markthelfer durch. Dann verneint er.

Im Zimmer nebenan hat Hasso Grabner alles mit angehört. Für lange Überlegungen, das weiß er, ist jetzt keine Zeit. Also öffnet er die vor ihm liegende Tür, tritt ins Zimmer des Verlegers – und schlägt sich selbst als Auszubildenden vor.

Dass der sechzehnjährige Kerl, der da vor ihm steht, noch nicht mal einen Schulabschluss hat, fällt dem Herrn vom Börsenverein gar nicht erst auf. Und auch Max Altmann stimmt, wohl oder übel, zu. Er hat vor nunmehr zwanzig Jahren eine Abhandlung über Hellhörigkeit verlegt, und so wie es aussieht, hat sie Hasso Grabner im Nebenzimmer gerade wiedergefunden.

Zwei Jahre später, im April 1930, schließt Hasso Grabner die Lehre als Jahrgangsbester ab. Sein Preis: Er darf nach Brasilien reisen und im dortigen Blumenau ein Jahr lang bei einem Buchhändler Erfahrungen sammeln. Doch Hasso Grabner lehnt ab. Er, der überzeugte Linke, hat Angst, in Deutschland die Revolution zu verpassen. Außerdem hat in Brasilien das Wundermedium Mirabelli bereits alles gesagt, hat es vorhergesagt und via Zentralblatt durch den Leipziger Philosophieprofessor Hans Driesch überliefern und bestätigen lassen: »Ich möchte noch ein sehr eindrucksvolles Phänomen erwähnen: eine Tür hat sich ›geschlossen‹ in einer Entfernung von ca. 5 Metern vom Medium. Das Licht war stets gut, verschiedentlich sogar sehr hell.

4. VIII. 28.

gez.: Prof. Dr. Hans Driesch.«

Keiner weiß mehr

Es ist der 14. September 1930. Die Welt hat eine Wirtschaftskrise, die Weimarer Republik eine Reichstagswahl und Hasso Grabner noch immer keine Revolution erlebt. Stattdessen gibt es Arbeitslosigkeit, Stimmengewinne für die Nationalsozialisten und keine Aussicht auf Besserung. Es sind, wenn man so will, beschissene Zeiten, und selbst das Wundermedium Mirabelli weiß nicht mehr weiter: »Ein Stuhl bewegte sich so, daß die Vorderbeine gehoben wurden, schlug gegen den Fußboden und drehte sich alsdann um sich selbst.«

Hasso Grabner indes will sich nicht um sich selbst drehen, Hasso Grabner will etwas tun. Er, der in den vergangenen Jahren in so ziemlich jede linke Organisation eingetreten ist, der er (bzw. die seiner) habhaft werden konnte, hat, nachdem er bereits 1929 bei den Jungkommunisten Mitglied geworden ist, im August 1930 das Parteibuch der großen KPD angenommen. Weil es ihm aber nicht reicht, nur auf dem Papier Kommunist zu sein, lässt er sich nach Berlin auf die KPD-eigene Reichsparteischule schicken, wo man ihm die theoretische Basis der neuen politischen Heimat vermittelt. Insgesamt fünf Monate lang hört er sich in der hochherrschaftlichen Villa in der Kurzen Straße Nummer 11 lange Vorträge über dialektischen Materialismus, politische Ökonomie und kommunistische Taktik an. Als er im November 1930 schließlich wieder in Leipzig ist, regnet es – und im Norden der Stadt kehren die Dominikaner zurück.

Vielleicht ist es ein Traum, vielleicht aber auch nur eine Erinnerung, die an irgendeiner Stelle auf ihrem Weg durch den Kopf einen Kurzschluss erlitten, das heißt ihren Widerstand gegenüber den Fiktionen aufgegeben und ihren Realitätswert nahe null gesenkt hat – Hasso Grabner jedenfalls kommt es eines Nachts so vor, als lägen in Leipzig, in der Wiege der Sozialdemokratie, eintausend Jungkommunisten. Und er muss es wissen, schließlich ist er seit 1930 Unterbezirksleiter des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands und als solcher in Leipzig mit der Organisationsarbeit des Parteinachwuchses betraut. Und doch reicht auch das ihm nicht aus, denn Hasso Grabner, der gelernte Buchhändler, der ebenso rast- wie offiziell arbeitslos ist, will die kommunistischen Ideen nicht nur verwalten, sondern aus der Parteizentrale hinaus in die Stadt tragen, in die Betriebe, die Wohnungen, die spirituell verdorbenen Köpfe.

Noch im selben Jahr gründet er deshalb auf dem Gelände einer der größten Baumwollspinnereien Europas eine Betriebszelle für Jungkommunisten, die bald schon zur wichtigsten Zelle der ganzen Stadt wird und – zumindest in den Augen ihrer gut drei Dutzend Mitglieder – Garn genug hat, um von der Weltrevolution zu träumen und sich eine eigene Version bisheriger und künftiger Geschichte zusammenzuspinnen.

Die Realität sieht freilich anders aus, und statt Massenerhebungen und Barrikaden gibt es Malnachmittage und Bastelarbeiten. Die Revolution will schließlich vorbereitet sein. Und so verbringen die Leipziger Jungkommunisten ihre Wochenenden mit dem Bemalen von Transparenten und dem Bekleben von Wänden mit bedrucktem Papier, organisieren Versammlungen, geben Zeitungen heraus und werben vor den Vergnügungsstätten der Stadt um Unterstützung für die kommunistische Sache.

Sonderlich attraktiv ist das nicht und gewinnbringend auch nicht gerade, und als dann doch einmal Zehntausende kommen, zu Ostern 1930 etwa, als der Kommunistische Jugendverband Deutschlands sein Reichsjugendtreffen in Leipzig abhält, der KJVD-Leiter Grabner im Hintergrund die Fäden zieht und der KPD-Vorsitzende Thälmann im Vordergrund spricht, da verdirbt die Polizei den Kommunisten die revolutionäre Sache.

Als es auf der Abschlusskundgebung zu einer Rangelei unter den 80.000 Demonstranten kommt, schießen zwei Polizisten in die Menge, töten einen Kundgebungsteilnehmer – und werden anschließend selbst gelyncht.

Was wie ein Extremfall aussieht, ist zu diesem Zeitpunkt in Leipzig wie in ganz Sachsen allerdings längst politische Normalität, und während die einen mit Druckerschwärze, Farbe und Papier an ihrer Version der Weltrevolution basteln, besorgen sich andere Schusswaffen und Messer und organisieren sich zu Kampfstaffeln, Wehrverbänden und Schutzbünden, deren Mitglieder allesamt Stöcke tragen, die nicht zum Wandern gedacht sind.

Neben den Stöcken gibt es noch Hemden, Sturmriemen, Ledergamaschen, Schirmmützen und Stiefel, denn das ist der Deal: Jede Garde hat ihre eigene Garderobe, und die Dialektik der passenden Ehrerbietung gibt’s wie immer gratis dazu: Erst ziehen die Uniformen die jungen Männer an und dann die jungen Männer die Uniformen.

Und dann? Dann fehlen nur noch die passenden Namen. Und so kämpfen am Ende der Weimarer Republik auf kommunistischer Seite neben KJVD-Leuten irgendwann auch Sturmfalken und Antifaschistische Junge Garde, gibt es paramilitärische Rote Wehrstaffeln, Rote Jungstürmer und Rote Frontkämpferbündler, nicht zu vergessen die Rote Jungfront, die wie eine Mischung aus Roten Jungstürmern und Roten Frontkämpferbündlern klingt, tatsächlich aber einen ganz eigenen Rot-Ton besitzt, ebenso wie die proletarischen Hundertschaften und die zahlreichen lokalen Truppen, die sich nach ihrem jeweiligen Anführer benennen.

Bei der SPD dagegen ist man namenstechnisch traditioneller gesinnt, gibt es neben der Sozialistischen Arbeiter-Jugend das straff organisierte Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, das seinerseits wiederum von Kampfstaffeln flankiert wird, die nicht nur über Telefone, sondern über komplette Fernmeldeeinheiten verfügen, die ein eigenes Blinksystem etablieren, das seine Zeichen quer durch ganz Leipzig und bei Bedarf bis zu vierzig Kilometer über die Stadt hinaus sendet und es seinen motorisierten Mitgliedern erlaubt, sofort einzugreifen, wenn nationalsozialistische Truppen wie Stahlhelm, Frontbann oder Jungdeutscher Orden zusammen mit SA und SS anzugreifen versuchen.

Im Grunde genommen kämpft am Ende der Weimarer Republik jeder gegen jeden, und einzig die Gewalt scheint in der Lage, Fakten zu schaffen.

Kommunisten bekämpfen Sozialdemokraten, Sozialdemokraten bekämpfen Nationalsozialisten, Nationalsozialisten bekämpfen Kommunisten und dann wieder zurück und noch mal von vorn. Aber damit noch längst nicht genug. Es kommt auch vor, dass Kommunisten zusammen mit Nationalsozialisten SPD-Veranstaltungen sprengen, sich Sozialdemokraten mit kommunistischen Kampfverbänden gegen die Nazis zusammenschließen und Sozialdemokraten bei besonderen Gelegenheiten mit den Nazis gegen KPD’ler vorgehen, die ihrerseits wiederum nicht müde werden, Abtrünnige aus den eigenen Reihen zu attackieren. Überhaupt folgen, vor allem bei den Kommunisten, die Wehrorganisationen nur sehr bedingt den Anordnungen der Partei, weshalb es nicht verwundert, dass die KP-Führung in Ostsachsen irgendwann erklärt, die aggressiven Jungspunde vom Rotfrontkämpferbund seien nichts als »syndikalistische Halbnarren mit kommunistischen Mitgliedsbüchern in der Tasche«.

Und in Leipzig? Da gibt es schon bald den nächsten Toten, wird am 15. August 1931 der Ortsvorsitzende der Sozialistischen Arbeiter-Jugend während des Flugblattverteilens von einem Jungkommunisten erstochen. Die Chance auf eine Einheitsfront zwischen SPD und KPD ist damit endgültig dahin. In der Wiege der Sozialdemokratie liegt ein totes, neunzehnjähriges Kind.

Hasso Grabner hält sich derweil aus den schlimmsten Schlachten heraus. Der bevorzugte Ort seiner Auseinandersetzungen ist die Stadtbibliothek, nicht die Straße. Grabner liest Nietzsche, Maeterlinck, Luxemburg. Thälmann liest er nicht.

Als die sächsische KPD schließlich 1932 ihren Sitz von Dresden nach Leipzig verlegt, wird Hasso Grabner in den engsten Führungszirkel berufen und im Bereich der Jugendarbeit mit dem Ressort »Gegner« betraut. Er, der einstige Sozialdemokrat, ist fortan dafür verantwortlich, die innerhalb der SPD »links« stehenden Gruppen zum Abfall zu bewegen, um sie »rechts« an die KPD anzuschließen. Argumente für den Übertritt liefert eine Zeitschrift, die sich Sozialismus ist das Ziel nennt und sektiererisch genug ist, um zwischen den beiden Ufern eine Brücke zu schlagen. Die Texte dazu schreibt Grabner selbst, derweil seine Freundin die Vervielfältigung übernimmt.

Und siehe da: Die Sache funktioniert, und schon bald kehren die ersten aus der Sozialistischen Arbeiter-Jugend der alten SPD den Rücken und wenden sich den Jungkommunisten und ihrer großen Partei zu. Damit ist der Anfang gemacht, und in den folgenden Monaten steigt die Zahl derer, die in Leipzig die Fronten wechseln, permanent an. In manchen Stadtteilen ist der abgespaltene Teil schließlich so groß, dass dem Rest mangels Masse nur noch die Selbstauflösung bleibt. Gegen die Überzeugungskraft von Konvertiten, das weiß man aus der Kulturgeschichte der politischen Botanik, ist einfach kein Kraut gewachsen.

In der KPD selbst glaubt man derweil, dass die bürgerliche Welt schon lange nicht mehr wächst, sondern verfällt und anfängt zu stinken. Die Weimarer Republik jedenfalls steckt nach Ansicht der Kommunisten anno 1932 in einer tiefen innenpolitischen Krise, der Zusammenbruch des kapitalistisch-imperialistischen Systems steht unmittelbar bevor und die geschichtliche Entwicklung kann nun gar nicht mehr anders, als geradewegs auf die Diktatur des Proletariats zuzulaufen.

Allein, die Geschichte ignoriert das ihr von den Kommunisten verordnete Gesetz, biegt, getrieben von Millionen, am 30. Januar 1933 rechts ab und errichtet ihre eigene Diktatur.

In Leipzig wissen Hasso Grabner und die Seinen sofort, was ihnen die Stunde geschlagen hat, und nachdem am Abend des 30. Januar noch Tausende in der Stadt gegen die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler protestiert haben, geben die Kommunisten bereits am nächsten Morgen ihr Hauptquartier auf und tauchen, zu konspirativen Fünfer-Gruppen vereint, unter. In ihren Händen halten sie Flugblätter, Schreibmaschinen und Kopierapparate.

Von einem Untergang freilich will zunächst keiner reden, man gönnt sich vielmehr eine Atempause, die, da ist man sich sicher, nicht lange andauern wird. Die Geschichte hat einfach nur mal kurz die Orientierung verloren, das gibt sich schon wieder. Und dies umso mehr, weil für die Kommunisten die Richtung klar ist – und im Untergrund auch klar bleibt. Die hierarchische Struktur der KPD jedenfalls bestimmt auch in der Illegalität die politische Arbeit, und die Parteileitung fordert die untergetauchten Kommunisten auf, Verbindung »nach oben« zu halten. Oben aber werden sie einer nach dem anderen abgegriffen und verhaftet, und schon im März 1933 konstatiert Hasso Grabner »ein fast völliges Zerbrechen des illegalen Apparates«.

Grabner selbst arbeitet zu diesem Zeitpunkt auf einer Baustelle im Süden der Stadt, wo er mit Hunderten Pflichtarbeitern ein Staubecken errichtet. Aber das ist nur die offizielle Version. Inoffiziell ist er politischer Leiter einer illegalen Parteizelle, die bereits im Februar auf der Baustelle ihre Arbeit aufgenommen hat. Es dauert dann auch nicht lange, und wie drei Jahre zuvor in der Baumwollspinnerei wird die von Grabner geführte Gruppe bald zur wichtigsten der ganzen Stadt. Staubecken, das weiß Hasso Grabner, sind perfekte Orte, um unterzutauchen.

Und doch gibt es einen Unterschied, für die Kommunisten im Allgemeinen wie für Hasso Grabner im Besonderen, denn inzwischen gelten die Gesetze der Illegalität. Wie die theoretisch aussehen, weiß Grabner. Dass es praktisch immer ganz anders kommt, kriegt er im März 1933 zu spüren, denn binnen weniger Tage bekommt er Dutzende Pakete geliefert, von denen keines einen Absender oder sonst eine Möglichkeit zur Rückgabe aufweist, und als er am Abend des 6. März 1933 das letzte Paket öffnet, weiß er, dass sich alle bisher im Verborgenen liegenden Materialien der Leipziger Jungkommunisten nunmehr in seiner Wohnung befinden. Die Wucht des faschistischen Terrors hat alles hier angespült, und der nationalsozialistische Triumph bei den Reichstagswahlen am 5. März nimmt die Sachen auch nicht wieder zurück. Im Gegenteil. In seiner Folge fallen die letzten Schranken, werden Wohnungen aufgebrochen, ihre Bewohner und deren Besitztümer durchsucht und mehr als eintausend Menschen in Leipzig verhaftet. Hasso Grabner auf seiner revolutionären Papierinsel entdecken die Nazischergen allerdings nicht. Vielleicht wollen sie ihn aber auch gar nicht entdecken, vielleicht wollen sie, dass er für die schiffbrüchigen Kommunisten noch ein bisschen den Lockvogel spielt. Hasso Grabner jedenfalls spürt, dass es vom Untertauchen bis zum Ersaufen nur ein kleiner Schritt ist.

Aber es gibt noch einen dritten Ort und damit eine dritte Aufgabe für den rastlosen Grabner. Denn nicht nur ist er auf der Baustelle als Pflichtarbeiter beschäftigt und als politischer Leiter im Einsatz, er ist auch einer der wichtigsten kommunistischen Materialkuriere der Stadt. Sein Hauptquartier ist ein kleiner Zigarettenladen im Leipziger Osten, wo er die illegal hergestellten Flugblätter, Zeitungen und Braunbücher abholt und anschließend verteilt.

Dreihundert Meter von dem Zigarettenladen entfernt, in der Frommannstraße Nummer 5, veröffentlicht Max Altmann derweil die letzte Nummer seines Zentralblatts für Geheimwissenschaften. Es ist die Besprechung eines Buches. Sein Titel: Streiflichter ins Dunkle.

Und so geht’s dahin, das Jahr ’33, und eines ist klar: »Das ist ein Scheißjahr! Der stinkige Höhepunkt, besser gesagt Tiefpunkt schon wahrlich genug beschissener Jahre.« Der ganze Apparat ist zerbrochen und auch die Liebe ist hin. Hasso Grabner jedenfalls beschließt, sich von seiner Freundin zu trennen. Über die Gründe weiß, wenn überhaupt, nur er selbst Bescheid. Und trotzdem ist und bleibt es ein seltsamer Gedanke: Trennung. Während sie um ihn herum einen Kommunisten nach dem anderen aus den Verstecken rausziehen und das Abreißen der Verbindungen nicht mehr aufhören will. Aber was kann er tun? Hasso Grabner entschließt sich, zu seiner Freundin zu gehen, um sich selbst zu entfernen. Doch als er ankommt, ist sie weg. Die Gestapo hat die Verbindung, die er kappen wollte, bereits auf ihre Weise gekappt.

Als Hasso Grabner endlich Nachricht von seiner Freundin erhält, erfährt er, dass man sie ins Gefängnis gebracht und dort untersucht hat. Das Ergebnis lässt sich in einem Wort zusammenfassen: schwanger.

Als die Freundin Monate später für die Geburt kurzzeitig aus dem Gefängnis freikommt, entschließt sich Hasso Grabner, aus der Trennung eine Trauung zu machen. Er will nicht, dass sein Sohn als uneheliches Kind aufwächst. Sie heiraten am 30. April ’34. Dann geht seine Frau zurück in den Knast. Hasso Grabner ist verheiratet, getrennt und gebunden.

Was folgt, ist der Sommer. Lang und heiß und alles verklebend. Ein Sommer wie ein Klischee. Ein Sommer, der sich auf Papier drucken lässt. In den Daten und Fakten zur Leipziger Stadtgeschichte ist auf Seite 53, in der Spalte »Jahresmittel in °C«, das Kästchen hinter dem Jahr 1934 grau unterlegt. Dazu eine Zahl: 11,1 Grad. Höchstwert. Bis heute. Weil der Sommer so lang und so heiß war. Fünfundsechzig Tage am Stück soll die Sonne in die Stadt hineingebrannt haben. An einem von ihnen wird Hasso Grabner verhaftet.

Um genau zu sein, ist es der 31. Juli, und Hasso Grabner ist nicht der Einzige, den die nationalsozialistischen Häscher an diesem Tag aus den Tiefen irgendeiner Hinterhofwohnung ziehen und in das gleißende Licht eines Gestapo-Kellers stellen. Neben ihm, an der Wand, stehen dreißig weitere Kommunisten, die Augen aufgerissen und weiß wie das Licht, schaudernd und farblos und frierend.

Die Anklage ist einfach, die Taten glasklar: Ganze Straßenzüge haben die Jungkommunisten mit Flugblättern austapeziert, riesige Losungen gegen den Faschismus mit roter Farbe auf die Dächer gemalt und sämtliche Briefkästen der Stadt bis zum Rand mit illegalen Zeitungen gefüllt.

So stellt man sich das vor. Aber so ist es nicht. So ist es ganz und gar nicht.

Es ist alles viel kleiner, viel banaler – und das ist das Drama dieser Geschichte, die im Mai ’35 vor dem Oberlandesgericht Dresden als Sammelprozess wegen Vorbereitung zum Hochverrat initiiert wird, sich tatsächlich aber nur abspielt, sich entrollt wie ein Abspann, der längst schon geschrieben worden ist.

In dem Protokoll, das während der Verhandlung entsteht, gibt es keine Dächer, keine rote Farbe, und selbst die Briefkästen der Stadt bleiben leer. Und das müssen sie auch, denn es sind, so steht es geschrieben, meist nicht mehr als ein Dutzend Flugblätter oder Zeitungen, die da pro Aktion von Hand zu Hand gehen, wobei nicht wenige direkt nach, manche sogar schon vor dem Lesen von den Jungkommunisten verbrannt werden, indes andere revolutionäre Druckschriften ihr Zuhause in Hausfluren oder auf Fenstersimsen finden, wo sie freilich nur kurzzeitig liegen, und selbst die, die an Wände geklebt oder über eine Mauer auf ein Betriebsgelände geworfen werden, bringen nur selten eine Antwort und nie, niemals, auch nur einen einzigen Mann.

Und so bleibt man unter sich und im Grunde allein, und statt wie noch vor Jahren mit Zehntausenden auf großen Plätzen zu stehen und lauthals Parolen zu rufen, treffen sich die Jungkommunisten jetzt in den Wäldern rund um die Stadt, um das abzuhalten, was man eine konspirative Sitzung, eine Versammlung, nennt. Dabei ist meist nur eine Handvoll von ihnen anwesend, und das Einzige, was noch von der großen weiten Welt und der einstigen Macht der KPD kündet, sind ein paar namenlose Kuriere, die zu den unmöglichsten Zeiten mit ihren Motorrädern auftauchen und auch gleich wieder verschwinden, um nichts zu hinterlassen als ein paar Pakete voller Sehnsucht, Flugblätter und Druckschriften, die Namen wie Rote Fahne oder Junge Garde tragen.

Und Hasso Grabner? Der war laut seiner vor Gericht protokollierten Aussage im technischen Apparat eingesetzt, doch auch das klingt unendlich viel größer, als es eigentlich ist. Von den Zeitschriften, die er zusammen mit anderen hergestellt hat, sind oft kaum mehr als hundert Stück unter die Leute gelangt, und mitunter auch gar keine, denn bisweilen hat Hasso Grabner diejenigen, die für die Verteilung der Schriften bestimmt waren, gar nicht mehr angetroffen. Dann hat er sich der brisanten Fracht selbst angenommen, hat sie in einem Schweinestall am Rande der Stadt deponiert und am nächsten Tag erneut versucht, jemanden für ihre Verteilung zu finden.

Und so entschlüsselt sich die Geschichte von selbst und zeigt in ihren Banalitäten die Abgründe auf: Zwischen dem in den revolutionären Publikationen niedergeschriebenen Anspruch und dem Möglichkeitsraum der Wirklichkeit klafft bei den illegal operierenden Kommunisten ein Loch, das so groß ist wie die Geschichte ihrer Partei. Und doch werden Hasso Grabner und seine dreißig Mitangeklagten im Mai ’35 verurteilt, werden aus ihren kleinen, im Nachgang geradezu verzweifelt anmutenden Taten gigantische Umsturzvorhaben gemacht.

Denn das ist die andere Seite der Geschichte. Zwischen der Wirklichkeit des Möglichkeitsraums der Leipziger Jungkommunisten und ihren im Anklageprotokoll niedergeschriebenen Taten klafft ein Loch, das so groß ist wie die Macht der Nationalsozialistischen Partei. Und in genau dieses Loch werden Hasso Grabner und seine dreißig Mitangeklagten gesteckt.

In der Logik der Nationalsozialisten liest sich die Geschichte dann so:

»Soweit die Angeklagten je in mehreren Einzelakten tätig geworden sind, handelt es sich durchweg nur um unselbständige Teile eines von ihnen als Einheit gedachten und äußerlich auch so erscheinenden Unternehmens. Diese Einzelakte fließen daher bei jedem der Angeklagten jeweils zu einer einzigen fortgesetzten Tat der Vorbereitung des Hochverrats zusammen.«

Der Schuldspruch ist damit nur Formsache, allein die Höhe der Strafe überrascht. Volle vier Jahre brummen sie Hasso Grabner auf.

Er hätte es billiger haben können. Aber weil er vor Gericht genauso selbstbewusst aufgetreten ist wie damals, als er bei Max Altmann zur Tür reingeplatzt ist, gibt ihm der Richter die volle Packung – und diesmal schließt sich die Tür.

Hinter den Mauern – die Stadt