Über das Buch:
Die Französin Anna und der Brite Edward kennen sich kaum, als sie im Süden Frankreichs nichtsahnend ein uraltes Schwert berühren – und sich plötzlich auf Malta wiederfinden, mitten im Jahr 1564! Mitten in der Zeit von Rittern, Galeeren und Schwertkämpfen. Mitten in der Zeit, in der ein Großangriff der Osmanen bevorsteht und die Ritter des Johanniterordens fest entschlossen sind, um der Verteidigung ihres Glaubens willen notfalls sogar ihr Leben zu lassen.
Dem draufgängerischen Briten und der zurückhaltenden Französin bleibt nichts anderes übrig, als sich zusammenzutun – trotz aller Unterschiedlichkeit und Meinungsverschiedenheiten. Während Ed im Schwertkampf und Anna in spätmittelalterlicher Heilkunde unterrichtet wird, suchen sie verzweifelt nach einer Möglichkeit, wieder nach Hause zu gelangen. Doch die Ereignisse überschlagen sich und eine Rückkehr in die Gegenwart erscheint unwahrscheinlicher als jemals zuvor …

Über die Autorin:
Tanja Riegel ist ausgebildete Physiotherapeutin und Schneiderin, hat aber schon immer davon geträumt, eines Tages als Autorin tätig zu sein. Mit »Schwert der Hoffnung« legt sie nun ihren ersten Roman vor. Zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter lebt sie im Kanton Thurgau in der Schweiz.

Kapitel 6

„Es freut mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen, Anna.“ Die kleine drahtige Frau schaute sie warmherzig an. „Ich bin Schwester Maria und werde Euch hier in die Infermeria einführen.“

Wie mit dem Großmeister vereinbart, hatte sich Anna bei der Krankenstation gemeldet. Ed hatte sie begleitet. Seine Bergseenaugen hatten voller Vorfreude geglänzt, als er zum Trainingsplatz weitergegangen war. Sie konnte nicht behaupten, dass sie sich auf ihre bevorstehende Aufgabe freute. Mittelalterliche Medizin. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter, als sie an mit Exkrementen versetzte Arzneien dachte.

„Kommt mit, ich zeige Euch das Hospital. Es ist das größte hier auf der Insel. Zwei weitere kleinere Einrichtungen befinden sich in der Dependance der italienischen Zunge und in Mdina.“ Maria war in ein schwarzes Kleid gehüllt und ihre Haare waren unter einem dunkelblauen Tuch versteckt. In dem langen Flur, den sie nun entlanggingen, kamen ihnen immer wieder Brüder entgegen in ihren typischen Kutten mit dem Kreuz. Sie trugen Tabletts mit Essen, grüßten sie und verschwanden in den Zimmern. In einem älteren Herrn erkannte Anna den Großmeister. Auch er trug ein Silbertablett mit Brot und Obst.

„Maria, Madame de la Martignière …“ Er nickte ihnen freundlich zu.

„Eure Eminenz“, erwiderte Maria den Gruß und Anna neigte ihren Kopf. Er verschwand ebenfalls in einem der Zimmer.

„Jeder im Orden hat die Pflicht, den Herren Kranken zu dienen, ungeachtet seiner Stellung“, erklärte Maria und öffnete einen Raum. Zehn Betten standen darin, jedes mit einem roten Baldachin im Kopfbereich und mit weißen Leinendecken bezogen. Eine sorgfältig zusammengelegte Wolldecke lag am Fußende. Dazwischen standen Stühle, auf denen Schaffelle lagen, und darunter standen ein paar Schuhe. An den Wänden hingen Wandteppiche, die biblische Szenen darstellten. Es sah in der Tat so ähnlich wie in einem Krankenhaussaal aus. Aber der Geruch erinnerte Anna an alte Kapellen.

„Das ist sehr beeindruckend“, sagte sie schließlich, als sie Marias leuchtendem Blick begegnete.

„Ich weiß, in Frankreich und anderen Ländern ist die Medizin noch anders. Wir richten uns nach den Lehren von Hippokrates und Galen. Wir achten auf Sauberkeit und Diätetik. Deshalb bekommt jeder Patient sein eigenes Bett und viel zu essen. Ihr müsst wissen, der Orden entstand in Jerusalem, um die Pilger zu pflegen. Das, was Ihr heute seht, ist das Herzstück des Ordens. Unsere Einrichtungen gehören zu den besten in Europa.“

Was die Lehren von Hippokrates und Galen wohl besagten?

„Die vorderen Zimmer sind die Säle für die Ritter. Dort dürfen nur die Brüder ihren Dienst tun. Hier hinten befinden sich die Betten für die Einwohner. Im linken Zimmer sind die Frauen, im rechten die Männer.“

„Weshalb dürfen wir nicht die Ritter pflegen?“

Maria senkte die Stimme und schaute sie mit ihren kleinen, dunklen Augen spitzbübisch an. „Damit die Herren Ritter nicht in Versuchung geraten. Wie Ihr sicherlich wisst, mussten sie ein Keuschheitsgelübde ablegen.“

Klar, das hätte sie sich denken können. Als ob sie als unscheinbare Kreatur je einen Reiz auf einen Mann ausüben könnte.

Maria steuerte auf den hintersten Raum zu. Auf einem großen Tisch in der Mitte standen unzählige Fläschchen und Töpfchen. Die Wände waren mit Regalbrettern gesäumt, auf denen noch mehr Medizin, Beutel, Schwämme und Werkzeuge ordentlich sortiert eingeräumt waren. Annas Blick glitt über die grob anmutenden Geräte. Operationsbesteck. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter, als sie sich diese Werkzeuge in Aktion vorstellte. In ihrer Zeit hätte sie sie eher einer Mechanikerwerkstatt zugeordnet als einem Krankenhaus.

„Dies ist der Ärzteraum. Hier mischen wir die Medikamente“, erklärte Maria.

Auf der rechten Seite erblickte Anna nun auch eine Nische mit einem Ofen, auf dem mehrere kleine Töpfe standen und vor sich hinblubberten. Vier Männer waren damit beschäftigt, die Medizin auf Tabletts bereitzustellen, und ließen sich von ihnen in ihrer Arbeit nicht unterbrechen. Ein älterer Herr, vielleicht um die vierzig, fünfzig Jahre alt, saß am Tisch und schrieb in ein Pergamentbuch.

„Monsieur Paré, dies hier ist Madame de la Martignière, sie wird uns in nächster Zeit unterstützen. Anna, das hier ist einer der besten Ärzte der Welt.“

Der Arzt blickte auf. Sein rundes Gesicht mit den nahe stehenden Augen und der Stupsnase war Anna auf Anhieb sympathisch. Er trug keine übliche Ordenskutte. Mit seinen dünnen Lippen lächelte er sie warmherzig an. „Nicht doch, Maria, Ihr schmeichelt mir zu sehr. Madame de la Martignière, sehr erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen. Kennt Ihr Euch aus in der Medizin?“

„Ich fürchte nicht sehr gut.“ Trotz ihres Praktikums im letzten Frühling im Krankenhaus in Toulouse wusste sie wahrscheinlich nicht viel Hilfreiches für diese Zeit.

„Maria wird Euch viel beibringen können, wenn Ihr gewillt seid zu lernen.“

„Das bin ich und ich werde mein Bestes geben.“

„Das höre ich gerne.“ Damit wandte er sich wieder seinen Studien zu. Ein anderer Mann füllte mithilfe eines Trichters eine braune Tinktur in eine kleine Flasche und stellte sie vor den Arzt hin. Er nahm sie und hielt sie gegen das Licht. Dann nickte er zufrieden.

„Kommt, ich zeige Euch noch die restlichen Räume.“

Nachdem Anna auch die Küche und die Wäscherei gesehen hatte, war sie die nächsten Stunden damit beschäftigt, Maria zu assistieren. Sie wusch Behälter zum Aderlassen und rieb sie mit Alkohol aus und lernte das wichtigste Heilmittel kennen, den schwarzen Pilz, der nur auf der Nachbarinsel Gozo auf einem speziellen Felsen wuchs und zur Behandlung von Blutungen, Wunden und der Ruhr eingesetzt wurde. Er lagerte in einem großen, tönernen Behälter und war zu einem schwarzen Pulver zerstoßen.

„Zurzeit sind nur zwei Frauen hier und keine Männer. Genug Zeit also, Euch in die Heilkunde einzuführen. Wenn es zutrifft, was unsere Männer aus Konstantinopel berichten, sehen wir einer längeren Belagerung entgegeben. Darum ist es nötig, dass Ihr die wichtigsten Kriegsbehandlungen kennen lernt.“

* * *

Während Edward lässig auf das Trainingsgelände schlenderte, hallte Annas helles Lachen in ihm nach. Er ertappte sich dabei, wie er sich wünschte, sie mehr lachen zu hören und ihre Augen funkeln zu sehen.

Er entdeckte Vitellino an derselben Stelle, an der er gestern schon trainiert hatte. Vor ihm lagen verschiedene Waffen ausgebreitet.

„Wie ich sehe, habt Ihr der Aufforderung des Großmeisters Folge geleistet.“

„Wie könnte ich ein solch großzügiges Angebot ausschlagen? Ich fürchte, ich habe eine Menge zu lernen, wenn ich bei der Belagerung von Nutzen sein soll.“

Vitellino warf ihm einen prüfenden Blick zu. „Die Knappen haben heute zuerst Mathematik, so habe ich Zeit für Euch. Habt Ihr schon einmal mit einer dieser Waffen gekämpft?“ Er zeigte auf die Auswahl, die vor ihm lag. Dolche in verschiedenen Größen, ein Rapier, ein Kurzschwert, eine Lanze, eine Axt und eine Kugel mit ganz vielen spitzen Stacheln.

„Mit dem Messer kann ich recht gut umgehen“, erwiderte Ed und zeigte auf einen kurzen Dolch. Unzählige Straßenschlachten hatte er mit einem Klappmesser geschlagen. Normalerweise war es sein ständiger Begleiter, aber wegen der Sicherheitsvorkehrungen im Flughafen London hatte er es zu Hause zurücklassen müssen.

Ohne das vertraute, kalte Gefühl des Stahls in seiner Hosentasche fühlte er sich nackt. Andererseits hatte er in Frankreich nichts zu befürchten gehabt. In Londons Straßen musste er immer alle Sinne wach halten. Auch wenn seine Gang nicht zu den Offensiven gehörte, waren die „bösen Jungs“ oft nicht weit weg.

Ein Knall riss ihn aus seinen Gedanken. Er zuckte zusammen. Vitellino grinste und zeigte auf das Ende der Wiese. „Die Arkebusier. Sie üben heute ebenfalls. Aber es wird nicht lange dauern. Sie haben nur drei Schuss pro Mann. Parisot ist darauf bedacht, sparsam mit der Munition umzugehen.“ Er reichte ihm einen kurzen Dolch.

„Parisot?“

„So nennen wir den Großmeister in seiner Abwesenheit.“

Das P in den Initialen. Der letzte Beweis, dass die gefundene Kiste und das Schwert tatsächlich dem Großmeister gehörten!

„Dann zeigt mir mal, wie Ihr mit einem Dolch umgehen könnt. Der Kampf ist beendet, wenn einer von uns Einhalt gebietet.“

Edward nickte. „Verstanden.“

Vitellino nahm ein Messer aus seinem Ledergürtel. Ohne Vorwarnung griff er an, doch Ed wich ihm geschickt aus. Sie umkreisten sich und Ed versuchte, den Ritter zu lesen. Aber das war schwerer als bei den Jungs auf der Straße, deren Reaktion meist von den Drogen verlangsamt war.

Plötzlich schlug Vitellino nach seiner Hand und das Messer flog davon. Ein überhebliches Lächeln glitt über das Gesicht des Ritters. Aber Ed ließ sich nicht irritieren. Er wollte nicht noch einmal eine Schlappe einstecken. Sein Gegenüber entspannte kurz und das war seine Chance. Er sprang auf ihn zu, packte mit beiden Armen seine Messerhand und verdrehte den Arm blitzschnell, sodass die Waffe ebenfalls im Dreck landete. Doch der Ritter hatte die Überraschung schnell weggesteckt, entwand sich seinem Griff und entzog ihm das Gleichgewicht. Doch Ed hatte ihn umklammert und er fiel mit ihm zu Boden. Nicht lange und Vit war über ihm. Instinktiv schnellten seine Hände um den Hals des Ritters und drückten zu.

Er fühlte die harten Muskeln, die der Mann sofort anspannte. Ungeachtet seiner Hände setzte er ihm das Messer an den Hals.

Ed lockerte seinen Griff.

„Verliert nie eure Waffe. Ich hätte Euch umbringen können.“ Vit stand auf und reichte ihm die Hand. Rote Striemen zogen sich über seinen Hals. Ed schluckte, als er sich seiner Kraft bewusst wurde. Wäre das ein Gegner aus seiner Zeit gewesen, hätte der kaum eine Chance gehabt. Aber die Konstitution dieser Männer musste eine ganz andere sein.

„Das war trotzdem nicht schlecht für den Anfang. Aus Euch können wir einen fähigen Kämpfer machen.“ Der Ritter bewegte seinen Kopf, eine Hand im Nacken, während er weiterredete. „Welche Taktik habt Ihr angewandt, als ich Euch das Messer aus der Hand geschlagen habe?“

„Keine Ahnung. Ich habe einfach reagiert.“

„Ihr habt mich in einem unbedachten Moment überrascht. Macht das Unvorhergesehene zu Eurem Freund und Ihr werdet länger überleben.“

Ed grinste. Das klang alles so abgedreht. Vitellino zog missbilligend die Augenbrauen hoch. „Habt Ihr etwas dagegen einzuwenden?“

„Nein, mitnichten.“ Er konnte ihm schließlich schlecht sagen, dass er längst wieder in Frankreich sein und dort weiter den Schuppen seiner Großeltern entrümpeln würde, bevor es hier zu irgendeiner Art Schlacht kam.

„Gut, dann wenden wir uns dem Rapier zu.“ Vitellino erklärte ihm die Haltung der Hand und der Schulter, lehrte ihn, die Bewegungen mit dem ganzen Körper auszuführen, und zeigte ihm verschiedene Stellungen und deren Vorteile.

Den weiteren Vormittag verbrachte Ed damit, zu üben und schneller zu werden, bis sein Hemd völlig durchnässt war.

Als die Kirche zwölf schlug, brach der Ritter ab und sie gingen gemeinsam zurück. Bei der Herberge verabschiedeten sie sich.

„Seid mit Eurer Gemahlin um vier Uhr vor der italienischen Auberge. Das letzte Haus vor Fort St. Angelo“, erinnerte ihn der Ritter, der nicht im Geringsten verschwitzt war.

„Wir werden da sein.“

* * *

„Pierre, kommst du auf eine Runde mit?“, fragte Vitellino seinen besten Freund nach dem Mittagessen.

Der Franzose mit den glatten, braunen Haaren und dem kantigen Gesicht grinste ihn an. „Immer gerne.“

Obwohl es nicht üblich war, dass die Brüder der verschiedenen Nationalitäten enge Freundschaften pflegten, war Pierre sein bester Freund geworden. Er mochte den draufgängerischen Franzosen, mit dem er lachen konnte und der ihn besser kannte als irgend jemand anderer.

Gemeinsam gingen sie zu den Ställen, wo sie eines ihrer Pferde sattelten und zu den Corradinohöhen ritten, die sich hinter Birgu befanden.

„Du bist ganz schön beschäftigt in letzter Zeit.“

„Fürwahr. Die Knappen halten mich ganz schön in Atem. Aber bis zum Frühjahr werden sie noch viel lernen müssen.“ Der kühle Wind wehte den Duft von Pinien herüber und vermischte sich mit dem Geruch seines Pferdes. Sein kleiner, ausdauernder Brauner war gerade richtig für diesen Ausflug. Er war ein Geschenk seines Vaters gewesen zu seinem Eintritt in den Orden vor acht Jahren.

„Und was ist mit diesem neuen Mann, den du heute trainiert hast?“

„Edward. Du solltest ihn eigentlich kennen. Er ist auch ein de la Martignière.“

Pierre starrte ihn an und runzelte die Stirn. „Ein de la Martignière?“

„Dies hat er zumindest behauptet. Obwohl, er hat den Namen seiner Gemahlin angenommen. Folglich müsstest du eigentlich jemanden mit Namen Anna kennen.“

Auf der Höhe angekommen, sattelten sie auf einer großen Wiese ab und ließen ihre Pferde am spärlichen Gras knabbern. Vitellino setzte sich auf einen der zahlreichen Felsbrocken. Pierre hatte die Hände hinter dem Rücken gefaltet, seine Stirn in Falten gelegt und die Lippen geschürzt.

„Du weißt selbst, dass ich meine Familie schon seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, eine Anna in meiner Verwandtschaft zu haben, die in unserem Alter ist. Sie sind doch nicht viel jünger als wir?“

Vitellino ließ seinen Blick über das graue Meer schweifen. Die Schleierwolken hoben sich nur wenig vom hellblauen Himmel ab. Der November nahte mit großen Schritten. Er blickte seinen Freund an, der nun vor ihm stehen geblieben war. „Edward ist vielleicht etwa vier, fünf Jahre jünger als wir. Laut seinen Ausführungen hatte Anna vier Brüder und ihr Vater konnte sich keine Ritter leisten zur Verteidigung seines Anwesens, sodass selbst Anna einen Bogen schießen kann.“

Pierre schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. „Eine solche Familie ist mir nicht bekannt.“

„Du hast keine Korrespondenz erhalten?“

Pierre schüttelte den Kopf.

Genau das hatte Vitellino befürchtet. Er stützte die Hände auf dem Felsen hinter sich ab und seufzte.

„Du glaubst, sie sind Späher?“

„Ich weiß es nicht. Den Namen eines bekannten französischen Adelsgeschlechtes anzunehmen, wäre in diesem Fall nicht sehr klug. Außerdem erinnert mich etwas an Edward an dich. Parisot meinte, sie hätten ein Geheimnis, und hat mir die Aufgabe zugewiesen, sie zu beobachten und sicherzustellen, dass sie keine Nachricht absetzen oder die Insel verlassen.“

Ein Schwarm Möwen gellte und flog dicht an ihnen vorbei aufs offene Meer.

„Was hast du beobachtet?“

„Nicht viel. Er kann nicht mit einem Schwert umgehen, dafür aber gut ringen.“ Vitellino kippte den Spitzenkragen seines Hemdes nach unten, sodass Pierre die roten Streifen sehen konnte.

Sein Freund pfiff durch die Zähne. „Der hat dich aber ordentlich zugerichtet.“

„Es geht. Er hat Kraft, aber er kann sich nicht mit uns messen. Was mich vielmehr beschäftigt, ist die Tatsache, dass sie nicht mit der Siciliana gekommen sind, aber dennoch erst seit gestern auf der Insel sind. Ich habe sie beobachtet, als sie sich vor der Ankunft des Schiffes versteckt hatten, um sich dann unter die Leute zu mischen. Das ergibt für mich keinen Sinn. Anna hatte keine Kopfbedeckung und kurze Haare. Wozu sich verstecken, wenn sie sich so auffällig verhält?“

Die Möwen kehrten in einem weiten Bogen zurück.

„Das alles wirkt nicht gerade vertrauenerweckend.“

„Du sagst es. Aber das ist noch nicht alles. Gestern Nacht bin ich Edward ans Ufer gefolgt und habe ihn zur Rede gestellt. Er betonte, dass sie nur dem Orden dienlich sein wollten, dass er aber nicht sagen könne, wie sie auf die Insel gekommen sind.“

„Warum war er nachts draußen?“

„Er sagte, er könne nicht schlafen. Natürlich habe ich ihn beobachtet. Er ging tatsächlich nach einer Weile wieder in die Herberge. Ich behalte ihn auf alle Fälle weiter im Auge, aber ich muss mich morgen wieder um die Knappen kümmern. Könntest du dich seiner annehmen? Die Siciliana legt morgen früh ab. Dann sollte er beschäftigt sein, damit er nicht auf das Schiff gehen kann.“

„Das kann ich gerne übernehmen. Vielleicht sagt er mir die Wahrheit, wenn er erfährt, dass ich ein de la Martignière bin.“

Vitellino stand auf und streckte sich.

„Hoffen wir es.“

Kapitel 7

Erst im Zimmer prustete sie los und auch Edward stimmte mit ein. Das Mittagessen war gelinde gesagt eine Tortur gewesen. Es war ihr nur mit Mühe gelungen, ihre Maskerade aufrechtzuerhalten und die Unwissende zu spielen.

„Darf ich Euch gratulieren?“, ahmte sie Chantalle mit ihrem Augenaufschlag nach. Ed grinste breit, sodass sich kleine Lachfältchen um seine Augen bildeten.

„Wenn Eure Gemahlin in nächster Zeit etwas wehleidig ist oder schnell in Tränen ausbricht, dann gehört das dazu“, sagte er mit tiefer Stimme und einem verschwörerischen Glitzern in seinen Augen. Anna hielt sich die Hand vor den Mund, um ihr Lachen zu dämpfen.

„Ich bin froh, dass wir das nun geschafft haben.“

Ed stand lässig ans Fenster gelehnt da, seine Hände verschränkt, und sein unwiderstehliches, breites Grinsen überzog sein Gesicht. Anna atmete tief ein. Wenn sie ihn anblickte, waren die Schmetterlinge im Bauch nie weit weg. Sie versuchte, das Gefühl zu ignorieren.

Vor drei Tagen – waren es wirklich erst drei Tage? – hatte er auch so an ein Fenster gelehnt dagestanden, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Sie hatte einen finsteren, tätowierten Typen erwartet, aber Edward hatte sich in seinen abgetragenen Jeans und dem grau-blauen Shirt umgewandt und sie mit einem Grinsen angesehen – unnahbar und spöttisch –, und trotzdem war sie von seinem Charisma unweigerlich angezogen worden. Es war einfach nicht fair, dass sie nun hier mit ihm festsaß und ihm nicht aus dem Weg gehen konnte, sondern sogar noch dieses alberne „Verheiratetsein-Spiel“ mitmachen musste.

„Heute treffen wir uns um vier Uhr vor der italienischen Auberge. Vit will deine Bogenkünste begutachten.“

Sie schaute ihn entgeistert an. „Vit?“

„Vitellino. Mein Trainer.“

„Und weshalb weiß der, dass ich Bogen schieße?“

Ed zuckte lässig mit den Schultern. „Ich habe es wohl erwähnt.“

Anna verdrehte die Augen und seufzte. „Du weißt schon, dass ich eine Frau bin?“

Er legte einen Finger auf seine geschürzten Lippen, als denke er nach. „Tja, wenn ich es recht bedenke …“ Sein spöttisches Grinsen meldete sich wieder zurück.

Sie bekämpfte den Drang, aufzustampfen oder etwas nach ihm zu werfen. „Dein Trainer hat das einfach so geschluckt?“

„Na ja, er fand es schon ein bisschen außergewöhnlich. Aber ich habe ihn dann mit einer Geschichte besänftigt.“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Und die wäre?“

Während Ed sie auf den neusten Stand ihrer erfundenen Geschichte brachte, spürte Anna, wie sich ihre Fingernägel ins Fleisch ihrer Handballen bohrten. Ihr Herz klopfte unregelmäßig und sie konnte nicht mehr still sitzen. Wie ein Tiger in einem Käfig ging sie vor dem Bett auf und ab. Warum nur hatte Ed dem Ritter so etwas erzählt?

Als sie seinem Blick begegnete, waren seine Augen zwei schmale Schlitze. „Du kannst doch Bogen schießen oder war das gelogen?“

„Ja! Nein! Ich kann Bogen schießen, aber die Bögen hier werden ziemlich anders sein. Die Mittelalterbögen haben ein sehr viel höheres Zuggewicht als heutige Recurvebögen. Ich hoffe, ich kann die spannen.“

Edward runzelte die Stirn. „Re-was für Bögen?“

„Recurvebögen sind flache Bögen, deren Enden in die entgegengesetzte Richtung gebogen sind. So braucht man weniger Kraft zum Spannen.“

„Du scheinst dich ja wirklich auszukennen.“

Anna seufzte und blieb vor ihm stehen, die Hände in die Seiten gestemmt. „Ich mache das seit acht Jahren. Aber ich weiß nicht, ob ich den Erwartungen hier gerecht werde.“

„Du musst ihm ja nichts beweisen.“

Sie schaute ihn ungläubig an. „Du meinst, er lädt uns einfach ein, um ein wenig Spaß mit uns zu haben?“

„Nö, er will dich testen, genauso wie mich, damit er weiß, was wir für Gegner sind, Kleine.“

„Wir sind aber keine Feinde! Und es wäre besser, wenn wir hier gute Freunde hätten und das Vertrauen, von dem du gesprochen hast, aufbauen könnten!“

Edward stieß sich vom Fenster ab.

„Das werden wir. Sei einfach du selbst.“

Haha, sei einfach du selbst. Klar. Wenn sie erst sahen, wie gut sie als Frau schießen konnte – obwohl sie sich sicher war, dass sie nicht annähernd so gut war wie die Armbrustschützen hier –, wäre das sicher ein weiteres Indiz, dass Edward und sie eher Staatsfeinde als Freunde waren.

* * *

Anna hatte Mühe, sich auf die Ausführungen von Maria zu konzentrieren.

Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu diesem ominösen Bogenschießen-Meeting zurück. Endlich war es kurz vor vier Uhr und sie machte sich auf den Weg zur Auberge d’Italy.

Ed und ein Ritter warteten bereits auf sie. Vage erinnerte sie sich an den jungen Mann, den sie am Hafen gesehen hatte. Seine Schultern wirkten im Gegensatz zu seinem schmalen Gesicht breit. Seine dunklen Augen fixierten sie.

„Madame de la Martignière, ich bin erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen.“ Er verbeugte sich galant. Sein wohlklingender Tenor überraschte sie.

„Nennt mich doch Anna.“

„Ich bin Vitellino, Ritter der italienischen Zunge. Euer Gemahl hat mir berichtet, dass Ihr mit Pfeil und Bogen umgehen könnt?“

Sie fühlte sich unbehaglich unter seinem forschenden Blick.

„In der Tat. Aber ich weiß nicht, ob meine Fertigkeiten Euren Anforderungen genügen werden.“

„Wir werden sehen.“ Er wandte sich um und ging zu drei Pferden, die vor den Ställen angebunden waren. Sie folgten ihm. Mussten sie wirklich reiten? Annas Magen verknotete sich. Eines der Pferde war beladen mit Langbögen und Pfeilen. Es war mehrere Jahre her, seit sie mit einem ähnlichen Gerät geschossen hatte. Im Klub gab es einige Mittelalterfans, die nachgebaute Bögen besaßen. Zum Spaß hatte sie es ausprobiert, war aber schnell müde gewesen. Und Präzision konnte sie damit vergessen.

Vitellino gab ihr die Zügel eines gedrungenen Pferdes. Schon immer hatte sie Respekt gehabt vor diesen großen Tieren und ihre Nähe gemieden. Das Pferd schaute sie aus großen, dunklen Augen an. Die langen Wimpern strahlten etwas Weiches, Freundliches aus. Vielleicht war es doch nicht so gefährlich? Unschlüssig stand sie mit den Zügeln in den Händen da und beobachtete Edward unauffällig, der einen Fuß in den Steigbügel stellte und sich scheinbar mühelos auf das Tier schwang. Ob sie das mit diesem Rock auch so elegant hinkriegen würde? Sie nahm ihren Mut zusammen und stellte den Fuß in den Steigbügel. Wo sollte sie sich festhalten? An der Mähne? Und was machte sie mit den Zügeln?

„Ich kenne die Sitten in England nicht, aber hier helfen wir einer Madame in den Sattel.“

Der scharfe Ton des Ritters ließ sie innehalten. Seine Augen drückten Missfallen aus, als er Ed auf seinem Ross anstarrte. Sie stellte ihren Fuß wieder auf die Erde.

„Es ist in der Tat ein wenig anders.“ Ed wirkte zerknirscht und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu.

Vitellino umfasste ihren linken Knöchel und stellte ihn in den Steigbügel. Anna beschloss, die Zügel gehen zu lassen, während sie ihre Finger in die Mähne des Tieres krallte. Noch ehe sie sich Gedanken machen konnte, was als Nächstes geschehen würde, umfassten die Hände des Ritters ihre Taille und hoben sie mit einer Leichtigkeit in den Sattel, die sie sprachlos machte.

Als das Pferd sich hinter denen der Männer her in Bewegung setzte, schnappte Anna erschreckt nach Luft. Es war eine ruckartige Bewegung, bei der sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.

Vit lenkte sein Pferd neben das ihre. „Ihr seid nicht oft geritten?“

„Ihr habt mich durchschaut. Ich zog es stets vor, zu Fuß zu gehen.“

„Nehmt die Zügel in die Hand, setzt Euch aufrecht hin und gebt Euch einfach den Bewegungen des Tieres hin. Reiten ist nicht so schwer.“

Anna lächelte gequält. Das konnte er so einfach sagen!

„Ihr macht das sehr gut.“

Entweder war Ed ein Naturtalent oder er konnte reiten. Jedenfalls sahen seine Reitkünste nicht so steif aus, wie es sich bei ihr anfühlte.

Vitellino übernahm die Führung an der Spitze, als sie einen schmalen Küstenweg einschlugen. Dann bog er vom Pfad ab und führte sie einen kargen Hügel hinauf auf eine Ebene. Dort stoppte er und sprang elegant von seinem schwarzen Pferd ab. Ed tat es ihm gleich und beide kamen auf sie zu. Einen Moment starrten sie sich wie zwei Kontrahenten an, dann trat Vitellino taktvoll einen Schritt zurück.

Was war das denn gewesen? Hatte sie eben tatsächlich einen Moment lang im Zentrum männlicher Aufmerksamkeit gestanden?

Ed fasste sie um die Taille, als sie das rechte Bein über den Pferderücken schwang und absattelte. Seine Hände waren warm und fest und lösten ein Kribbeln aus. Unbewusst hielt Anna den Atem an.

Der Italiener hatte sich indes der Ausrüstung zugewandt. Er händigte ihnen die Bögen und Köcher aus.

Ed wehrte ab. „Ich kann das nicht.“

„Dann werdet Ihr es lernen. Betrachtet es als eine Vorübung auf die Armbrust.“

Edwards Gesicht verzog sich zynisch, aber er sagte nichts. Anna fuhr mit ihren Fingern über das dunkle Holz. Es war glatt. Sie testete die Sehne. Wie sie erwartet hatte, war das Zuggewicht einiges höher, als sie es gewohnt war. Der Ritter zeigte auf eine Baumgruppe, die in etwa zehn Metern Entfernung stand. Der Wind wehte den Geruch von Salz und Pinien herüber und Anna atmete tief ein.

„Auf den breitesten Baum!“

Sie legte den Pfeil auf die Sehne und zögerte kurz. Ihr Bogen zu Hause hatte ein deutliches Zeichen, wo sie den Pfeil aufzulegen hatte. Als sie das Holz näher begutachtete, erblickte sie die abgeschabte Stelle, an der die Pfeile vorbeigeflogen waren, legte ihren Pfeil auf die Sehne, zielte und ließ ihn fliegen. Er traf den Baum gerade noch knapp. Für den Anfang war das gar nicht schlecht.

Vitellino schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln. Dann wandte er sich Ed zu und erklärte ihm die Grundtechnik. Eds Pfeile gingen weit daneben.

„Ich glaube nicht, dass der Bogen meine Disziplin ist“, sagte er nach einer Weile frustriert.

„Es ist gut für die Kraft Eurer Arme und Schultern. Das kommt Euch beim Schwertkampf zugute.“

Beim fünften Pfeil begannen Annas Arme zu brennen und ihre Schultern zitterten. Doch entgegen ihren Befürchtungen verfehlte sie den Baum nie. Sie begann sogar, den Bogen zu mögen. Es war, als wäre sie zu den Wurzeln ihres Lieblingssports zurückgekehrt. Die Einfachheit begeisterte sie und sie machte weiter, übte die Schnelligkeit.

Die zweite Serie genoss sie einfach und merkte, wie der Fokus zurückkam, wie sie ruhig wurde, bis es nur noch sie und den Bogen gab.

Kapitel 8

„Meinst du, wir werden noch lange hier sein?“

Ed, der gerade in seine unbequemen Schuhe geschlüpft war, schaute auf. Anna stand am Fenster und die ersten Sonnenstrahlen des Tages tauchten ihr Gesicht in flüssiges Gold. Im Gegenlicht bemerkte er zum ersten Mal ihre langen, geschwungenen Wimpern. Ihre Hände waren ineinander verschlungen und bewegten sich unruhig. Unglaublich, wie sie mit ihren grazilen Fingern gestern den Bogen geschossen hatte. Während er kläglich gescheitert war, war sie die Ruhe in Person gewesen. Aufmerksam und konzentriert, als gäbe es nur sie und das Ziel. Nicht zu vergleichen mit dem Nervenbündel, das nun vor ihm stand.

Mit zusammengepressten Lippen starrte sie auf den Hafen. Er unterdrückte den Drang, zu ihr hinüberzugehen und sie in den Arm zu nehmen. Nicht, dass sie das jemals zugelassen hätte. Außerdem musste er sie nur heil zurückbringen. Für ihre Gefühlswelt war er nicht verantwortlich.

„Ich weiß es nicht. Meine Hoffnung ist, dass ich Jean de Valette auf dem Waffenplatz begegnen werde und ihm das Schwert irgendwie entlocken kann“, versuchte er sie dennoch zu beruhigen.

Anna sah ihn an. Unsicherheit flackerte in ihren Rehaugen. „Falls du es in die Hände kriegst und ich in der Infermeria bin – meinst du, ich komme dann ebenfalls zurück?“

Darüber hatte er sich noch nie Gedanken gemacht. Der Geruch seines verschwitzten Hemdes stieg ihm unangenehm in die Nase. Vielleicht könnte er heute eine Runde schwimmen. „Ich werde dich hier nicht hängen lassen, Kleine.“ Davon hing seine Zukunft ab. Und die der Gang.

Nicht mal der verhasste Spitzname konnte sie aus ihrer Angst holen. Sie biss sich auf die Unterlippe und blickte zu Boden.

„Ich werde dich rufen lassen oder ich komme dich holen. Ich werde das Schwert nicht ohne dich anfassen. Vertrau mir.“ Er legte seinen ganzen Ernst in seine Augen. Was hatte Anna nur an sich, dass er sich immer weniger hinter seinem Spott verstecken konnte?

Sie nickte und wandte sich ab, um das grüne Tuch um ihren Kopf zu binden. Mit einem etwas gezwungenen Lächeln fragte sie: „Bereit, ein letztes Mal Chantalle und Alexandre zu treffen?“

Ed verzog den Mund zu einer Grimasse. „Darauf könnte ich verzichten. Soll ich das Frühstück wieder holen? Hab gehört, dass die Schwangerschaftsübelkeit am Morgen am stärksten ist.“

„Kann sein. Ich habe keine Erfahrung darin.“

„Tja, da könnte man nachhelfen …“, zog er sie auf.

Ihre Augen verengten sich und ihre Wangen bekamen rote Flecken. Irgendwie sah sie süß aus, wenn sie wütend war.

„Du bist so ein …!“

Er grinste breit und hob beschwichtigend die Arme. „Schon gut, war nur ein Witz.“

Sie schüttelte resigniert den Kopf, als sei ihm nicht mehr zu helfen. Aber die Anspannung war aus ihrem Gesicht gewichen. Wut war immer besser als Angst.

„Ich hol uns dann mal Frühstück.“

Céline war gerne bereit, ihnen ein Tablett zu richten. Die anderen zwei traf er nicht.

„Frühstück für Madame“, redete er gegen die verschlossene Tür.

Anna öffnete ihm mit einem ehrlichen Lächeln, als sei er ein Held. „Ich muss schon sagen, der Zimmerservice hier ist nicht schlecht“, scherzte sie.

Er grinste und stellte das Essen auf den kleinen Tisch.

„Ich habe mir gedacht, dass wir heute vielleicht einige Besorgungen machen müssen“, sagte sie, während sie sich ein Stück Brot schnappte.

„Einkäufe?“

„Na ja, ich weiß, dass man hier andere hygienische Vorstellungen hat, aber willst du tatsächlich tagelang in denselben Klamotten rumlaufen?“

Klar, sein Hemd war nach dem gestrigen Tag nicht mehr frisch. Aber deswegen neue Kleider kaufen, wo sie doch sicher bald wieder zurückgingen? Da hatte er schon Schlimmeres erlebt. „Ich dachte daran, einfach im Meer schwimmen zu gehen – mit den Kleidern.“ Er kaute auf dem trockenen Brot. Butter und Marmelade wären jetzt nicht schlecht. Und ein starker Kaffee.

Anna schaute ihn mit einem „Ich-weiß-es-besser“-Blick an. „Das würde ich dir nicht raten. Spätestens nach zwei Stunden willst du aus den Kleidern raus, weil das Salz auf der Haut juckt und sich alles fettig anfühlt.“

Okay, darauf konnte er verzichten. Er nahm einen Schluck Wein. „Wir sind doch erst zwei Tage hier. Denkst du nicht, wir können diese Dinger noch etwas länger tragen?“

Sie verzog das Gesicht, als fände sie diese Vorstellung grässlich.

„Wir sind sicher bald zurück. Dann können wir wieder duschen und jeden Tag frische Klamotten anziehen.“

Anna nickte, während sie auf die Schüssel mit Porridge starrte und gedankenverloren darin herumrührte.

„Du hast recht. Es ist nur so …“, sie suchte nach dem richtigen Wort, „… ungewohnt. Ich fühle mich unwohl und schmutzig – und ich stinke wahrscheinlich auch.“ Sie lächelte entschuldigend.

„Dann sind wir schon zwei. Kann ich mal vom Porridge haben?“

Sie reichte ihm die Schüssel und er aß ein paar Löffel von dem süßen Brei. Nicht seine erste Wahl, aber war Hafer nicht gut für die Muskeln? Das konnte er nämlich brauchen. Alles schmerzte nach den ungewohnten Übungen von gestern. Und so wie er die Ritter einschätzte, kannten die keine Gnade mit dem Training.

Nachdem sie mit dem Frühstücken fertig waren und er Anna zur Infermeria begleitet hatte, schlug Ed den Weg zum Übungsplatz ein, vorbei an den Fischern, die stolz ihren Fang präsentierten. Die kühle, feuchte Morgenluft milderte den strengen Fischgeruch etwas.

Vit war schon da. Neben ihm stand ein etwa gleichaltriger Mann.

„Ed, darf ich Euch Pierre de la Martignière vorstellen?“

Eds Herz setzte einen Moment aus.

„Pierre, das ist Edward de la Martignière.“

Er gab ihm die Hand. Sein Händedruck war fest, seine Augen etwas kühl. Aber er wies das typische breite Martignière-Gesicht auf. Wie krass war das denn, dass er hier tatsächlich jemanden traf, der den gleichen Nachnamen trug wie er. Ob er ein direkter Vorfahre war? Nein, das war so gut wie ausgeschlossen, denn die Ritter waren ja an das Keuschheitsgelübde gebunden. Obwohl – wenn die Enkelin des Großmeisters eine seiner Vorfahrinnen gewesen war, wie sein Großvater behauptet hatte, dann wäre es theoretisch auch möglich, dass dieser Mann in irgendeinem Verwandtschaftsverhältnis zu ihm stand.

„Pierre wird heute Euer Training übernehmen, da ich mich um die Knappen kümmern muss.“ Vit wandte sich der Schar von Jungs zu, während Pierre Ed ein Holzschwert zuwarf, das dieser im letzten Moment auffing. Hoffentlich würde Pierre keine Fragen stellen. Zumindest schien es ihn nicht aus der Fassung gebracht zu haben, einem unbekannten Verwandten gegenüberzustehen.

„Zeigt mir, was Ihr noch wisst.“

Ed repetierte die Stellungen und Schläge, die er gestern gelernt hatte. Den Oberhau, indem er das Schwert von oben führte, als wolle er dem Gegner den Schädel zertrümmern, und den Unterhau, indem er es von unten her Richtung Kehle zog.

„Gut, dann lasst uns den Versatz üben.“

Versatz, das wusste Ed von Vit, war der alte Begriff für parieren. Den ersten Oberhau blockte er locker, doch dann musste er seine ganze Konzentration aufbringen, um den schneller werdenden Schlägen entgegenzuwirken. Doch noch ehe er sichs versah, zielte die Holzspitze des gegnerischen Schwertes auf seine Kehle.

„Ihr seid ein toter Mann. Wie sagte Fiori? ‚Wer den Hieben nachgeht, darf sich seiner Kunst wenig freuen.‘ Ihr müsst den ganzen Körper einsetzen, nicht nur den Arm!“

Pierre zeigte ihm den Unterschied und beim zweiten Mal konnte er das Feld länger behaupten. Doch schon bald fand er sich mit dem Holzschwert an seiner Achsel wieder.

„Auch wenn Ihr eine Rüstung hättet, wäret Ihr nun tödlich verwundet.“

„Dann schätze ich mich glücklich, dass Ihr ein Holzschwert habt.“

Ed grinste, doch Pierre blieb ernst und verlagerte die Spitze des Schwertes auf seine Brust. Seine Augen waren nun zwei schmale Schlitze. „Sagt mir, ob ich recht handle, wenn ich Euch nicht umbringe. Ich kenne keinen Edward in meiner Familie.“

Edward schluckte, während er versuchte, das Schwert von seiner Brust zu bekommen. Aber Pierre machte einen Satz nach vorne, sodass er rückwärts in den Sand fiel. Noch ehe er reagieren konnte, spürte er kaltes Metall an seiner Kehle.

Angstschweiß brach ihm aus, als er in Pierres wild funkelnde Augen blickte. „Ich habe den Namen meiner Frau angenommen – von Anna.“ Er hoffte – und betete? –, dass es eine Anna in seiner Familie gab.

„Ich kenne auch keine Anna.“

Der Druck an seiner Kehle nahm zu und Ed merkte, wie ihm das Blut in den Kragen lief. Er schloss die Augen und überlegte fieberhaft. Dieser Ritter würde nicht zögern, ihn umzubringen. Und dann wäre Anna allein hier … Die vierte Grundtechnik. Indes genannt. Finde die Schwäche des Gegners und nutze sie aus.

Was war Pierres Schwäche? Familienehre?

„Ihr wollt meinem Sohn eines Tages nicht ins Gesicht sehen und sagen müssen, dass Ihr seinen Vater ohne Grund umgebracht habt.“ Er legte seine ganze Entschlossenheit in seine Augen und starrte kalt zurück. Und dies schien Pierre tatsächlich einen Moment zu verunsichern. Für einen Bruchteil nahm der Druck an seinem Hals ab und Ed reagierte blitzschnell, indem er die Hand, die das Messer hielt, wegdrückte und sich gleichzeitig auf die Seite wälzte.

Pierre öffnete seine Hand, als Ed ihm den Arm verdrehte und sich mit voller Wucht auf ihn fallen ließ. Der Ritter schnappte nach Luft.

„Ich kann Euch die genauen Umstände leider nicht verraten, die mich zu einem de la Martignière gemacht haben. Wir wollen uns hier ein neues Zuhause aufbauen und werden bald eine Familie sein. Wagt es nicht, unser Leben hier zu zerstören. Ihr wisst, wozu ein Martignière fähig ist.“

Er war selber erstaunt, wie gefährlich, selbstsicher und echt das aus seinem Mund herausgekommen war und wie gut es sich anfühlte, ein Zuhause und eine Familie zu erwähnen. Auch wenn es nur ein Traum war.

Mit einer schnellen, starken Bewegung warf Pierre Ed auf den Rücken. Er sprang auf, bereit, einen weiteren Angriff zu kontern.

Doch Pierre musterte ihn und Ed hielt seinem Blick stand. Ein schiefes Grinsen überzog das Gesicht seines Vorfahren. Er klopfte sich den Sand aus den Hosen.

„Ihr könnt Euch ganz gut verteidigen, wie es sich für einen echten Martignière gehört. Noch ein bisschen schwach, aber das wird schon werden.“

Schwach? Er gehörte in London zu den Stärksten. „Dann bringt mir alles bei, damit ich bei der Belagerung überlebe und meinen Sohn sehe.“

Das Grinsen in Pierres Gesicht wurde breiter. Er hatte richtig geraten mit der Familienehre.

„Nun denn, nehmt Euren Stand ein.“

* * *

„Heute machen wir einen Hausbesuch in Mdina bei meiner Schwester.“ Maria packte im Ärzteraum eine Tasche, während Anna unschlüssig herumstand. Musste sie einmal mehr auf ein Pferd steigen?

„Ist sie krank?“

„Ihre Tochter Isabelle hat Fieber. Sie bat mich vorbeizukommen.“

„Ich dachte, in Mdina gibt es auch ein Hospital?“

„Das stimmt, aber meine Schwester Gabriella ist ein wenig eigen. Sie vertraut nur wenigen Menschen.“ Maria führte sie durch den vorderen Ausgang in Richtung Meer. In einem kleinen Nebengebäude befanden sich mehrere Pferde. Ein Ordensbruder hatte zwei der Tiere für sie gesattelt und half ihnen auf.

„Wie lange reiten wir?“

„Wir müssen schon mit anderthalb Stunden rechnen.“

Anna schluckte. Mehr als eine Stunde reiten. Sie konzentrierte sich darauf, die Bewegungen des Pferdes zu finden. Zum Glück schlug Maria einen gemächlichen Gang ein. Die Tiere suchten sich den Weg zwischen halb vertrocknetem Gras und Felsbrocken. Immer wieder kamen sie an kleinen Baumgruppen vorbei. Einmal konnte Anna in der Ferne die Häuser eines Dorfes ausmachen. Feiner Rauch kringelte sich in der Luft. Und immer wieder trafen sie auf Herden weidender Schafe und Ziegen. Hirten saßen vor kleinen Steinhäusern, die sie an Iglus erinnerten. Ihre Gesichter waren von der Sonne gegerbt, ihre zumeist schwarzen Haare zerzaust.

Nach einer Weile konnte Anna die gewaltigen Mauern einer größeren Stadt ausmachen. Das musste Mdina sein. Aber die klare Luft täuschte die Nähe vor. Erst eine geraume Zeit später ritten sie durch das mächtige Stadttor. Dahinter befand sich eine weitere, ebenso dicke Umwallung.

Im Inneren der Stadt reihten sich die Häuser dicht an dicht. Eine seltsam majestätische Atmosphäre umgab sie. Es schien, als hätte die Stadt auf dem Berg schon manches erlebt und gesehen, sodass sie nichts so schnell aus der Ruhe bringen konnte. Die Hufe klapperten über das Kopfsteinpflaster, als Maria ihr Pferd vor ein Haus in der Nähe des Stadttores lenkte. Es war so unscheinbar wie die anderen.

Eine große, schlanke Frau öffnete auf ihr Klopfen. Blondes Haar umrahmte ihr Gesicht, ehe das typisch dunkle Kopftuch die Haarpracht verschlang. Sie schien das Gegenteil ihrer kleinen, dunklen Schwester zu sein. Ihre Stimme war wider Erwarten tief. „Maria, komm herein.“

„Gabriella, ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich eine Schülerin mitgebracht habe. Sie wird mir zuschauen.“

Die anmutige Frau streifte Anna mit einem kühlen Blick. „Nein, natürlich nicht.“

Das Haus war ähnlich aufgebaut wie die Herberge. Doch im Gegensatz zur äußerlichen Schlichtheit des Gebäudes säumten prunkvoll aussehende Vasen und Amphoren die Wände und Teppiche dämpften ihre Schritte.

Anna erhaschte einen Blick in den Innenhof, als sie an einem Bogenfenster vorbei zum Zimmer der Tochter gingen. Mit seinen Bäumen und Büschen, Steinbänken und Springbrunnen erinnerte er sie an einen Park.

Gabriella öffnete eine Tür und gab ihnen den Vortritt. Als Anna an der Frau vorbeischritt, fiel ihr Blick auf das fein gearbeitete Collier, das sich mit dem warmen Goldton leuchtend vom Rot des Kleides abhob. Maria zog die schweren Damastvorhänge zurück, die das Zimmer verdunkelten. Das Licht fing die kleinen Staubpartikel auf, die im Zimmer tanzten.

Das schmale Gesicht der Patientin war unter den vielen Decken kaum zu erkennen.

Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn und schwarze Löckchen klebten ihr an den Schläfen. Maria befreite sie von den dicken Decken und befühlte ihre Stirn. „Isabelle, kannst du mich hören?“

Das etwa zwölfjährige Mädchen schlug die glasigen Augen auf und bewegte den Mund, aber es kam nur ein Krächzen heraus.

„Seit wann hat sie Fieber?“

„Seit zwei Tagen.“

„Hat sie Trank oder Speise zu sich genommen?“

„Nur sehr wenig.“

Marias Hände tasteten den zierlichen Körper ab, während sie ihrer Nichte zulächelte. „Tut dir etwas weh?“

„Der Hals“, krächzte die Kleine heiser.

Maria wühlte in ihrer Leinentasche und beförderte ein Säckchen und einen Salbentigel zutage. „Mach ihr täglich einen Krug Kamillentee und streiche ihre Brust mit dieser Salbe ein.“

Gabriella, die auf die andere Seite des Bettes getreten war, nahm die Arzneien entgegen. Liebevoll strich sie ihrer Tochter die schwarzen Haare hinter die Ohren, Sorgen in ihren blauen Augen. Wie kam es, dass Schwestern nur so unterschiedlich aussehen konnten?

„Beunruhige dich nicht. In ein paar Tagen wird sie wieder gesund sein.“ Maria verabschiedete sich von ihrer Nichte und sie verließen den Raum.

„Ich danke dir, dass du gekommen bist.“

„Das habe ich doch gerne gemacht.“

„Sag meinem Mann bitte nichts. Wenn es so ist, wie du sagst, dann gibt es keinen Grund, ihn zu beunruhigen. Er hat genug andere Sorgen.“

Was hatte Maria mit Gabriellas Mann zu schaffen?

Maria lächelte und nahm die Hand ihrer jüngeren Schwester. „Sei getrost. Lass es mich wissen, wenn ihr Gesundheitszustand sich verschlechtert.“

Als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten und sich auf den langen Abstieg begaben, fragte Anna: „Wohnt ihr Mann nicht bei ihr?“

Maria lächelte. „Neugier ist eine gesunde Gabe. Aber sie hat ihre Grenzen. Ich bin nicht befugt, diese Sache mit Euch zu teilen.“

Wie seltsam. Ein geheimnisvoller Mann. Jetzt war Annas Neugier erst recht geweckt, aber sie wagte es nicht weiterzufragen. Der Duft der nächsten Ziegenherde stieg ihr in die Nase und lenkte sie ab. Die Tiere stoben auseinander, als sie die Pferde nahen sahen.

„Wie kommt es, dass Eure Schwester so anders aussieht?“

„Mein Vater war ein nordischer Seemann und kam eines Tages auf die Insel. Er hat sich in meine Mutter verliebt und ist einige Jahre geblieben, bis der Ruf des Meeres unwiderstehlich wurde. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Gabriella ist sein Ebenbild, während ich unserer maltesischen Mutter treu geblieben bin.“

Anna war froh, als sie endlich vom Pferderücken steigen konnte. Steifbeinig und mit knurrendem Magen folgte sie Maria in die Küche der Infermeria.

„Bedient Euch, es gibt genug.“ Die ältere Frau wies auf die dampfenden Töpfe und Anna entschied sich für den Fleischeintopf.

Im kleinen Ärztezimmer machte sie sich gierig darüber her. Maria hatte sich neben sie gesetzt und löffelte eine Suppe.

„Morgen bei Sonnenaufgang werdet Ihr mit Bruder Pietro nach Gozo gehen, um den Pilz zu sammeln. Es wird das letzte Mal in diesem Jahr sein, dass wir ihn holen können.“

Mit etwas Glück würde sie morgen schon wieder zu Hause sein.

„Nehmt einen Umhang mit, die Nächte sind bereits recht kalt.“

Anna schluckte. Handelte es sich etwa nicht nur um einen Tagesausflug? „Wie lange werde ich dort sein?“

„In der Regel werdet Ihr zwei Nächte bleiben müssen, je nach Wetter.“

Ein unangenehmes Gefühl beschlich sie, als sie daran dachte, von dem einzigen Menschen getrennt zu sein, der sie mit der Zukunft verband. Gab es eine Möglichkeit, sich davor zu drücken? Aber noch ehe sie sich eine Geschichte einfallen lassen konnte, stürmte ein kleiner Junge in den Raum.

„Monsieur de la Martignière wünscht, dass seine Frau auf den Trainingsplatz kommt.“

Anna stand hastig auf. Wenn das nicht ein Geschenk des Himmels war. Morgen würde sie tatsächlich nicht mehr hier sein.

Kapitel 9

„Hol bitte Anna de la Martignière – sie arbeitet in der Infermeria. Sag ihr, dass ihr Gemahl sie am Trainingsplatz zu sehen wünscht“, raunte Ed einem kleinen Jungen zu, der am Rand der Wiese herumlungerte.

Der Kleine schaute ihn mit großen Augen an. Doch dann nickte er und rannte weg.

Pierre hatte das Training mit Ed unterbrochen, um einem Freundschaftskampf mit de Valette beizuwohnen. Auch andere hatten ihr Training unterbrochen und bildeten einen Ring um die zwei kämpfenden Brüder.

„Das ist Romegas. Er ist unser bester Schiffskommandant. Ein sehr erfahrener Mann“, raunte Pierre ihm zu.