Über das Buch:
Es ist der Name, der Michael Hunter in den malerischen Küstenort Hope Harbor zieht. Einen Hafen der Hoffnung kann der ausgebrannte Geschäftsmann aus Chicago nun gut brauchen. Doch dann hat das einzige Motel im Ort geschlossen und er bringt, kaum in der Stadt, eine Fahrradfahrerin zu Fall. Kann eigentlich noch mehr schiefgehen?

Zum Glück ist Tracy Campbell nicht nachtragend. Sie verpflichtet ihn kurzerhand für ihre Wohltätigkeitsorganisation und bringt ihn außerdem dazu, auf ihrer Cranberryfarm zu helfen. Und schon bald weht eine Brise der Veränderung durch Hope Harbor, die nicht nur für Michael und Tracy, sondern auch für etliche andere Menschen Heilung und Hoffnung mit sich bringt.

Über die Autorin:
Irene Hannon studierte Psychologie und Journalistik. Sie kündigte ihren Job bei einem Weltunternehmen, um sich dem Schreiben zu widmen. In ihrer Freizeit spielt sie in Gemeindemusicals mit und unternimmt Reisen. Die Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann in Missouri.

Kapitel 8

„Ich kann Ihnen beiden nicht genug danken. Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht zu einem zweiten Glas Limonade und einem Stück Schokokuchen überreden kann? Es ist noch genug da und ich weiß, dass Sie Schokolade mögen, Tracy.“

Sie umarmte Eleanor. „Nein, danke, aber der Kuchen schmeckt köstlich.“

„Das kann ich nur bestätigen.“ Michael trat zu der alten Frau.

Tracy überließ ihm ihren Platz und schaute ihm zu, als er die Hand der älteren Frau in seine nahm. Dieser Mann war es offenbar gewohnt, mit älteren Leuten umzugehen. Er hatte lauter gesprochen, als er gemerkt hatte, dass Eleanor trotz ihres Hörgeräts nicht immer alles verstand. Und seine sanfte Berührung jetzt zeigte, dass er wusste, wie empfindlich die Haut von älteren Leuten war.

Er war in seinem Beruf bestimmt sehr gut.

„Sie können Ihren jungen Mann gerne jederzeit mitbringen, Tracy.“ Die alte Frau musterte Michael von Kopf bis Fuß, dann zwinkerte sie Tracy zu. Das Funkeln in ihren Augen war trotz ihres Alters ungetrübt. „Sie sollten ihn nicht wieder gehen lassen.“

Tracy verkniff sich ein Stöhnen. Jetzt hatte Eleanor schon zum dritten Mal erwähnt, dass Michael „Ihr junger Mann“ war. Und sosehr Tracy ihr auch widersprochen hatte, sie hatte sich nicht davon abbringen lassen.

„Er ist nur für ein paar Wochen zu Besuch hier, Eleanor.“

„Aber ich werde auf jeden Fall versuchen, Sie noch einmal zu besuchen.“ Michael nahm den Hammer, der auf dem Geländer lag. „Ich bringe Ihre Leiter in den Schuppen zurück.“

„Danke.“ Die Frau trat näher zu ihm vor, stützte sich schwer auf ihren Stock und deutete mit dem Kopf auf Tracy. Obwohl sie die Stimme senkte, waren ihre Worte in der stillen Abendluft gut zu hören. „Geben Sie sie nicht auf, hören Sie? Sie meint zwar vielleicht, dass das Thema Männer für sie abgeschlossen wäre, aber wenn Sie es richtig anpacken, ist sie dafür bestimmt wieder offen. Und es lohnt sich unbedingt, sich diese Mühe zu machen. Glauben Sie mir. Sie hat ein gutes Herz, sie ist einfühlsam, bildhübsch und klug. Sie ist Buchhalterin, wissen Sie.“

Oh, meine Güte!

Tracy packte Michael am Arm und zog ihn zu den Verandastufen. „Bis bald, Eleanor. Rufen Sie an, wenn Sie etwas brauchen.“

„Das mache ich, liebes Kind. Aber machen Sie sich keine Sorgen um mich. Konzentrieren Sie sich lieber darauf, Ihren jungen Mann hier glücklich zu machen.“

Endlich waren sie zur Tür hinaus.

Sie zerrte Michael den Gehweg entlang und blieb erst stehen, als sie bei ihren Autos ankamen.

Sie zog die Schlüssel aus der Tasche, schloss die Faust darum und zwang sich, Michael in die Augen zu schauen. „Entschuldigen Sie bitte. Ich weiß nicht, was in Eleanor gefahren ist. Ich hatte keine Ahnung, dass sie so direkt sein kann.“

„Machen Sie sich deshalb keine Sorgen.“ Michael wirkte eher belustigt als verärgert, als er ihr den Hammer zurückgab, den er sich aus dem mageren Werkzeugbestand in ihrem Cottage geliehen hatte. „Ich finde, sie ist eine sehr nette Frau.“

„Das ist sie. Und normalerweise benimmt sie sich auch viel diskreter.“

„Ich schätze, in ihrem Alter nimmt man sich die Freiheit, die Dinge beim Namen zu nennen.“

Was sollte das jetzt heißen?

Tracy schaute ihn fragend an, aber die untergehende Sonne hinter ihm warf einen Schatten auf sein Gesicht.

Falls er damit sagen wollte, dass sich zwischen ihnen mehr entwickeln könnte, musste sie die Dinge unbedingt klarstellen.

Und zwar sofort.

„Hören Sie, Michael …“ Sie drehte sich von Eleanors Haus weg, um der 87-jährigen Kupplerin den Blick zu versperren, falls die alte Frau zufällig aus dem Fenster schauen und sie beobachten sollte. „Für den Fall, dass Sie meinen, ich würde … wir könnten … unsere Beziehung könnte …“ Sie brach ab. Dann atmete sie tief aus. „Tut mir leid. Ich bin bei so persönlichen Dingen nicht sehr gut.“

Die Belustigung verschwand aus seinem Gesicht. „Keine Sorge. Ich verstehe, was Sie sagen wollen. Ich kann Sie beruhigen. Ich liebe meine Frau immer noch. Eleanors Verkupplungsversuche waren zwar amüsant, aber ich bin auch nicht auf der Suche nach einer neuen Liebe. Meine Zukunft ist ohne Partnerin geplant.“ Er vergrub die Hände in seiner Hosentasche. „Ich hoffe, das nimmt Ihnen den Druck.“

„Ja.“ Und noch etwas anderes, auch wenn sie es nicht genau benennen konnte, war plötzlich verschwunden und ließ eine gewisse Leere zurück. „Danke für Ihre Offenheit.“

Leichte Nebelschwaden schoben sich zwischen sie. Michael deutete mit dem Kopf zum Meer. „Es zieht sich zu. Ich sollte lieber in mein Apartment zurückfahren, solange ich die Straße noch sehen kann. Geben Sie mir bitte Bescheid, wenn der Vorstand einen Termin festgelegt hat, an dem wir über die übrigen Fragen sprechen können. Danach kann ich Ihnen in ein bis zwei Tagen letzte Empfehlungen zukommen lassen.“

„Das wäre herrlich. Noch einmal danke für die Tacos. Und für die Reparatur der Regenrinne.“

Sein Lächeln erreichte nicht seine Augen. „Ich helfe immer gern, wenn Hilfe nötig ist.“

„Eine bewundernswerte Eigenschaft.“

Seine Lippen wurden schmaler. „Nicht immer.“

Was meinte er damit?

Aber bevor sie eine diplomatische Möglichkeit fand, ihm diese Frage zu stellen, marschierte er schon zu seinem Auto.

Eine halbe Minute später fuhr er mit einem Winken an ihr vorbei, verschwand im Nebel und ließ sie mit seiner sonderbaren Bemerkung stehen.

Warum sollte es keine bewundernswerte Eigenschaft sein, anderen zu helfen?

Während sie sich langsam hinter das Steuer ihres Autos setzte und den Schlüssel ins Zündschloss steckte, ging ihr das Gespräch über Rätsel und Geheimnisse durch den Kopf. Annas untypisches Verhalten und auch die Geschichte, die hinter dem Verschwinden ihres Sohnes stand, gehörten zu den großen Rätseln.

Aber auch Annas neuer Mieter.

Aus seiner Bemerkung vor einigen Minuten schloss Tracy, dass er seine Vergangenheit wohl eher für sich behalten würde. Solche Dinge vertraute man nur sehr engen, guten Freunden an. Oder einer Frau, an der man größeres Interesse hatte. Aber das hatte er nicht. Das hatte er gerade unmissverständlich klargestellt.

Zu derselben Schlussfolgerung war sie auch schon gekommen.

Was für ein Glück! Jetzt bräuchte sie sich nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, dass die Sache schwierig oder kompliziert werden würde.

Sie warf die Schultern zurück, legte den Gang ein und fuhr los.

Während das Haus mit der romantischen alten Frau hinter ihr verschwand, fühlte sie sich aber so gar nicht erleichtert. Sondern es war plötzlich so, als wäre ihr etwas genommen worden.

* * *

Termin für Vorstandssitzung von Helfende Hände Donnerstag, 19 Uhr. Bitte geben Sie mir Bescheid, ob Ihnen dieser Termin passt.

Michael las die E-Mail von Tracy noch einmal. Sie war professionell. Sachlich. Knapp.

Und genauso lauwarm wie der Kaffee, den er mit nach Hause genommen hatte, als er einkaufen gewesen war.

Konnte er nach ihrem angespannten Abschied vor zwei Tagen bei Eleanor etwas anderes erwarten?

Mit einem Seufzen stellte er seinen Kaffee in die Mikrowelle, um ihn aufzuwärmen, schrieb Tracy, dass ihm dieser Termin passte, und schickte die Mail ab.

Sie hatte ihm am Sonntag eine Abfuhr erteilt. Vielleicht hätte er etwas diplomatischer darauf reagieren sollen.

Nein, das stimmte nicht ganz.

Eine Abfuhr war es nicht. Das war zu hart ausgedrückt.

Sie hatte nur versucht klarzustellen, dass sie trotz Eleanors Andeutungen kein Interesse an einer festen Beziehung zu einem Mann hatte. Das war nicht persönlich gegen ihn gewesen. Und er hatte die gleiche Einstellung. Er hatte auch nicht vor, sich wieder zu binden.

Warum hatte es ihn dann so irritiert, als sie die Grenzen für ihre Beziehung aufgestellt hatte?

Und warum hatte er so übertrieben reagiert und ihr gesagt, dass er seine Zukunft ohne Partnerin plane?

Er lehnte sich an die Arbeitsplatte, während sich der Teller in der Mikrowelle drehte. Es war Unsinn, dass er sich jetzt den Kopf über ihr Gespräch zerbrach. In wenigen Wochen war er wieder fort und würde Hope Harbor und seine Bewohner weit hinter sich lassen. Tracys plötzliche Distanziertheit spielte auf lange Sicht keine Rolle.

Aber seine abweisenden Worte hatten sie getroffen. Das hatte er ihr angemerkt. So als hätte er ihr einen Schlag in die Magengrube verpasst.

Er machte die Augen zu und versuchte, ihr schmerzverzerrtes Gesicht aus seinem Gedächtnis zu löschen.

Aber wo war die Löschtaste? Er konnte sie nicht finden.

Vergiss es, Hunter. Wenn du wieder in Chicago bist, wirst du sie nie wiedersehen. Wahrscheinlich siehst du sie schon nach der Vorstandssitzung am Donnerstag nicht mehr.

Das stimmte.

Warum fühlte er sich also nicht besser?

Die Mikrowelle klingelte und er nahm die Tasse heraus. Er trank einen Schluck und wartete, bis das Koffein wirkte.

Aber es wirkte nicht.

Stattdessen breitete sich die Müdigkeit und Verzweiflung aus, die er in Chicago hatte zurücklassen wollen. Er war dreitausend Kilometer gefahren, um Antworten zu finden. Doch stattdessen hatte er jetzt noch mehr Fragen.

Der Kaffee schwappte über und er stellte fest, dass seine Hände zitterten. Ein sichtbarer Beweis dafür, dass seine Flucht nach Hope Harbor ein Flop war.

Er verdrängte eine weitere Welle von Melancholie, die ihn überrollen wollte, und nahm sein Buch zur Hand. Wenn er für eine Stunde in seinen spannenden Krimi eintauchte, bekam er vielleicht den Kopf frei und konnte seine verworrenen Gedanken entwirren.

Mit dem Buch in der einen und dem Kaffee in der anderen Hand schob er mit der Schulter die Hintertür auf und ging über den Rasen.

Auf halbem Weg zur Terrasse blieb er stehen.

Wann war dieser zweite Stuhl an den Tisch gestellt worden?

Er runzelte die Stirn. Als er gestern herausgekommen war, um eine Stunde zu lesen, war der Stuhl noch nicht da gewesen. Und als er heute Morgen zu seinem Spaziergang am Strand aufgebrochen war, hatte er auch noch nicht dagestanden.

Erwartete Anna Besuch?

Nein. Das passte nicht zu dem Bild, das er und alle anderen in Hope Harbor von ihr hatten.

Aber was konnte es sonst bedeuten?

Egal. Sie hatte ihm gesagt, dass er die Terrasse benutzen könne. Warum sollte er sich also nicht auf einen der Stühle setzen, bis er aufgefordert wurde, die Terrasse zu räumen?

Keine fünf Minuten später, als er gerade anfangen wollte, in die düstere Welt der Spionage und des politischen Komplotts einzutauchen, ging die Schiebetür hinter ihm auf.

So viel zu seiner Flucht vor der Realität!

Er unterdrückte seine Enttäuschung, klappte das Buch zu, nahm seinen Kaffeebecher und drehte sich um.

Anna hatte ein Tablett in der Hand. Darauf war ein Teller mit Brownies, eine Tasse und eine Handvoll Servietten. „Bleiben Sie ruhig sitzen.“

Er war schon halb aufgestanden und zögerte jetzt. „Sind Sie sicher? Ich möchte nicht in Ihre Privatsphäre eindringen.“

„Ich habe da drinnen genug Privatsphäre.“ Sie deutete mit dem Kopf zum Haus, während sie den Teller auf den Tisch stellte und die Servietten danebenlegte, ihn aber nicht anschaute. „Ich dachte, ich könnte mich eine Weile zu Ihnen setzen, wenn Sie nichts dagegen haben, und wir könnten ein paar Marmorbrownies essen.“

Sie lud ihn ein, sich zu ihr zu setzen? Sie wiederholte jetzt die Einladung, die er vor ein paar Tagen ausgesprochen hatte?

Erstaunlich.

Er setzte sich wieder und bemühte sich, seine Überraschung nicht zu zeigen. „Sehr gerne.“

Mit dem Kinn deutete sie auf den Teller und setzte sich auf den zweiten Stuhl. „Bedienen Sie sich.“

Er nahm einen Brownie und biss hinein, während sie sich ebenfalls einen nahm.

„Die schmecken gut.“ Er versuchte, den leichten, aber doch unverkennbaren Geschmack auf seiner Zunge zu deuten. Es gelang ihm nicht.

„Danke. Ich habe das Rezept schon jahrelang. John hat diese Brownies geliebt. Und sie waren bei den Gemeindeessen immer der Renner, zusammen mit meinem Kartoffelgratin.“

„Sie haben einen einmaligen Geschmack.“ Michael betrachtete den Rest seines Brownies. „Es schmeckt wie Mandeln. Aber die Nüsse sehen aus wie Pekan- oder Walnüsse.“

„Es sind Walnüsse. Der Geschmack ist Amaretto.“

Amaretto?

Wer hätte gedacht, dass seine puritanische Vermieterin Alkohol im Haus hatte und ihn sogar zum Backen verwendete?

„Die Brownies enthalten Alkohol?“

„Keine Sorge. Sie werden davon nicht betrunken.“ Ein gewisser Humor schwang in ihren Worten mit. „Auf das ganze Blech kommen nur zwei Teelöffel. Lediglich die Köchin steht in Gefahr, betrunken zu werden, falls sie während des Backens wiederholt daran nippt. Aber das mache ich nie.“

Michael schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an. War das ein Anflug von Humor in ihren Augen?

Das konnte nicht sein.

„Egal, welche Zutaten Sie hineingetan haben, das sind die besten Brownies, die ich je gegessen habe. Darf ich?“ Er deutete zu dem Teller, während er den Rest seines ersten Stücks in den Mund schob.

„Natürlich. Deshalb habe ich sie ja mit auf die Terrasse gebracht.“

Sie kauten schweigend, während Michael nach einem Gesprächsthema suchte, das die Frau aus der Reserve locken könnte. Aber sie ersparte ihm die Mühe.

„Erzählen Sie! Was haben Sie so gemacht, seit Sie in Hope Harbor sind.“

Die wortkarge Anna wollte mit ihm plaudern?

Dieser Tag steckte voller Überraschungen.

Er kam ihrer Aufforderung nach und schilderte ihr seinen Besuch auf der Cranberryfarm, seine Arbeit für Helfende Hände, seine täglichen Spaziergänge am Strand, seine häufigen Besuche bei Charley.

„In nicht mal zwei Wochen haben Sie sehr viel unternommen.“

„Mehr, als ich erwartet habe, wenn ich ehrlich bin.“

„Ja.“ Sie schaute ihn musternd an. „Ich hatte den Eindruck, dass Sie Ihre Ruhe haben wollten. Und viel Zeit für sich.“

„Ja, das stimmt.“ Er nippte an seinem Kaffee. „Es ist schon sonderbar, dass es im Leben selten so kommt, wie wir es planen, nicht wahr? Ich rege mich über die unerwarteten Zwischenfälle oft auf, aber meine Frau hat sie immer Gottes Vorsehung genannt.“

„Mein George auch.“ Sie brach ein Stück von ihrem Brownie ab. „Wirklich interessant, dass Sie das sagen. Ein ähnliches Gespräch hatte ich neulich mit Pastor Baker und Charley.“ Mit den Fingerspitzen sammelte sie ein paar Krümel auf, die auf dem Tisch lagen, und legte sie in einem sauberen Häufchen auf ihre Serviette. „Übrigens meint Charley, dass Sie und ich Freunde sein könnten.“

Michael ließ sich das durch den Kopf gehen, während er seinen zweiten Brownie verdrückte. „Er könnte recht haben. Charley scheint ein sehr aufmerksamer Mensch zu sein. An dem Tag, an dem ich hier ankam, hat er mir ein Bibelzitat gegeben. Es ist mir ein Rätsel, woher er wusste, dass ich diese Worte brauchte.“ Eines von vielen Rätseln in einer immer länger werdenden Liste, aber das behielt er für sich.

„Wie lautete es?“

„Es war aus dem Buch Hiob.“ Er stellte seinen Kaffee ab, nahm sein Smartphone zur Hand, scrollte ein wenig hin und her und zeigte es ihr.

Sie las den Vers schweigend. Schließlich hielt sie ihm das Handy wieder hin. „Ich kannte diese Stelle nicht. Aber ich würde gern glauben, dass sie wahr ist.“

„So geht es mir auch. Ich denke, solange ein Mensch lebt, ist ein Neuanfang immer möglich. Nur der Tod kann uns diese Gelegenheit rauben.“ Seine Stimme erstickte. Mit den Händen umschloss er seine Kaffeetasse, während sein Blick in die Ferne wanderte.

Einen Moment später berührte eine Hand mit von Arthritis gezeichneten Fingerknöcheln seinen Unterarm. „Ich gehe nicht mehr zur Kirche, Michael. Gott und ich haben nicht gerade das beste Verhältnis.“ Anna sprach mit sanfter Stimme. In demselben Tonfall sprach sie auch mit ihren geretteten Tieren. „Aber ich glaube allmählich, dass er Sie aus einem bestimmten Grund in mein Leben geführt hat. Und dass für uns beide etwas Gutes dabei herauskommen wird.“ Sie tätschelte seine Schulter und stand auf. „Ich überlasse Sie jetzt Ihrem Buch. Den Rest der Brownies können Sie mitnehmen. Sie sollen wissen, dass ich zwar schon lange nicht mehr gebetet habe, aber ich werde Gott bitten, Ihnen zu helfen, das zu finden, was Sie in Hope Harbor suchen.“

Er blieb sitzen, während sie zum Haus zurückging, und hatte Mühe, diese überraschenden Worte zu verarbeiten.

Anna Williams, die zurückgezogene Witwe, die mit so wenigen Menschen wie möglich sprach und sich von Gott und ihren Mitmenschen isoliert hatte, wollte für ihn beten.

Egal, ob ihm seine Reise die Antworten gab, die er suchte, oder nicht. Wenigstens nahm er dieses eine Wunder mit.

* * *

„Ich glaube, das war’s mit ihr, Tracy.“ Onkel Bud richtete sich auf und schaute sie über den defekten Traktor hinweg an. „Das Getriebe hat endgültig den Geist aufgegeben. Es hätte keinen Sinn, mehrere Tausend Dollar in ein neues Getriebe zu stecken. Dafür ist Bessie schon zu alt und hat einfach zu viele andere Wehwehchen.“

Tracy rechnete im Geist und unterdrückte einen Anflug von Panik. Sie hatten nicht genug Geld auf dem Konto, um Bessie durch ein gebrauchtes Modell zu ersetzen.

„Nancy und ich können privat etwas zuschustern, Liebes.“

Tränen traten ihr in die Augen. Das sah ihrem Onkel ähnlich. Die Farm kam für ihn immer an erster Stelle. Seine eigenen Bedürfnisse stellte er dafür gern zurück. Dieser Mann war so selbstlos.

„Ich will nicht, dass ihr euer Rentenkonto plündert. Die magische 65, auf die du zusteuerst, ist nicht mehr weit.“ Tracy versuchte, ruhig zu bleiben, aber das Beben in ihrer Stimme konnte sie nicht ganz verhindern.

„Dann arbeite ich eben noch ein oder zwei Jahre länger. Das ist keine große Sache. Ehrlich gesagt, bin ich gar nicht so sicher, ob der Ruhestand wirklich so schön ist, wie alle sagen. Außerdem will ich dich mit den ganzen Belastungen dieser Farm nicht alleinlassen. Das ist zu viel für einen allein.“

Dem konnte sie nur schwer widersprechen. Sie hatten leider auch kein Geld, um eine Teilzeitkraft einzustellen.

Aber es war auch nicht fair, Onkel Bud zu bitten, über die 64 hinaus noch zu arbeiten. Er hatte sich ein paar sorglose Jahre verdient, in denen er angeln und reisen konnte. Diese persönlichen Interessen hatte er immer zurückgestellt. Ganz zu schweigen davon, dass er Zeit für seine Frau brauchte, mit der er noch nicht lange verheiratet war.

„Wenn wir diese Farm wieder auf die Beine stellen können, schaffe ich es mit einer Saisonkraft. Das ist mein Ziel. Ich will, dass du in Rente gehen kannst.“ Sie stieß mit der Schuhspitze gegen den bockigen Traktor. „Was Bessie angeht, können wir uns wahrscheinlich nicht allzu sehr beschweren. Sie hat uns weit über ihre normale Lebenserwartung hinaus gute Dienste geleistet, weil du dich immer selbst um die Reparaturen gekümmert hast. Aber ich hatte gehofft, wir würden diese Saison noch auf Bessie setzen können und ein paar Monate herausschinden, bis wir eine Idee haben, wie es nach Bessie weitergehen kann.“

„Wie viel haben wir auf dem Farmkonto?“

Sie nannte ihm den traurigen Betrag. „Bei mir stehen noch einige Rechnungen für das zweite Quartal aus. Dieses Geld dürfte in den nächsten zwei Wochen eintrudeln. Wenn wir alle unsere Ressourcen anzapfen, können wir das überstehen. Außerdem habe ich einen neuen Kunden gewonnen. Das hilft uns auf längere Sicht, aber im Moment müssen wir unsere Reserven auf null fahren. Wenn noch eine weitere unerwartete Ausgabe kommen sollte …“ Sie rieb sich die Schläfe, um die lästigen Kopfschmerzen loszuwerden.

„Wir sollten nicht zu pessimistisch sein.“ Onkel Bud ging um den Traktor herum und legte den Arm um seine Nichte. Sein Griff war stark, beruhigend und tröstend. „Wir haben gesagt, dass wir die Dinge in Gottes Hand legen. Ich schlage vor, dass wir an diesem Plan festhalten.“

„Er scheint uns im Moment nicht sehr zu helfen.“

„Du hinterfragst Gott?“ Er drückte sie beruhigend an sich.

„Fragst du dich nicht manchmal, warum so viel Schlimmes passiert?“ Sie blickte in seine mitfühlenden Augen. Sein freundliches Lächeln und sein Leben auf den Feldern hatten tiefe Falten in seinen Augenwinkeln hinterlassen.

„Natürlich. Ich bin auch nur ein Mensch. Aber am Ende gebe ich die Sache an Gott ab. Wir werden nie ganz verstehen, wie er handelt. Wir können nur unser Bestes tun und vertrauen, dass er bei allem, was passiert, bei uns ist und alles in der Hand hat.“

Früher war das auch einmal ihre Lebensphilosophie gewesen. Bevor eine Tragödie, Trauer und Schuldgefühle ihr Vertrauen zu Gott erschüttert hatten.

Sie lehnte sich an ihren Onkel und fand in seiner ruhigen, unerschütterlichen Stärke Trost. „Dann sollten wir uns jetzt um unser aktuelles Problem kümmern und beten, dass für den Rest der Saison nichts mehr passiert.“

„Amen dazu.“ Onkel Bud drückte noch einmal ihre Schulter und ging zu seiner Werkbank. „Willst du das Unkraut von Hand sprühen, da Bessie kaputt ist? Ich kann dir helfen. Aber vorher muss ich ein paar Sprinklerköpfe gängig machen. Wenn es nicht regnet, müssen wir morgen gießen.“

„Klar.“ Sie nahm ihre Arbeitshandschuhe und ging an das Regal mit den beiden 20-Liter-Sprühbehältern, die man sich auf den Rücken schnallte. „Heute Abend rufe ich einige Nachbarn an und frage, ob jemand einen älteren Traktor verkauft. Falls das zu keinem Erfolg führt, suche ich im Internet.“

„Ich bin sicher, dass wir bei der schweren wirtschaftlichen Lage, in der jeden Tag Betriebe aufgeben müssen, einen finden werden.“ Er wandte sich ab, blieb dann aber noch einmal stehen. „Das hätte ich fast vergessen: Ich soll dich von Nancy fragen, ob du morgen Abend zum Essen kommst.“

„Sag ihr, dass ich gern kommen würde, aber wir haben bei Helfende Hände eine Sondervorstandssitzung. Ich werde nach der Arbeit nur kurz duschen und hinfahren.“

„Was gibt es denn Besonderes?“

Sie zog einen Kanister vom Regal. „Michael Hunter will einige Punkte mit uns besprechen, bevor er seinen Abschlussbericht schreibt. Er hatte noch ein paar Fragen, die ich ihm nicht beantworten konnte.“

Onkel Bud unterbrach seine Tätigkeit an der Werkbank und schenkte ihr seine volle Aufmerksamkeit. „Du hast also noch einmal mit ihm gesprochen, seitdem er neulich hier war?“

Sie konzentrierte sich darauf, das Unkrautvernichtungsmittel vorzubereiten. „Einmal. Hauptsächlich lief unsere Kommunikation per E-Mail und war rein geschäftlich.“ Er musste ja nicht unbedingt wissen, dass sie zusammen in ihrem Wohnzimmer Tacos gegessen hatten.

„Es könnte sich lohnen, ihn besser kennenzulernen. Er scheint ein netter Mann zu sein.“

„Vergiss es, Onkel Bud. Er hat unmissverständlich klargestellt, dass er kein Interesse an einer festen Beziehung hat.“

„Wirklich?“ Er verschränkte die Arme. „Das hört sich so an, als hättet ihr über viel mehr als nur über Geschäftliches gesprochen.“

In diese Sackgasse hatte sie sich jetzt selbst hineinmanövriert.

Rudere zurück, Tracy.

Sie gab sich teilnahmslos und zuckte mit einer Achsel. „Er hat erwähnt, dass er seine Frau immer noch sehr liebt. Das war alles.“ Sie steckte die Arme in die Tragegurte, schob sich den Kanister auf den Rücken und ging zur Tür.

„Ich habe deine Tante auch sehr geliebt, aber als ich Nancy kennenlernte, habe ich erkannt, dass uns Gott manchmal eine unerwartete zweite Chance gibt.“

Ihre Schritte verlangsamten sich. An der Tür blieb sie stehen und drehte sich langsam noch einmal zu ihm um. „Ich denke, es ist möglich, sich irgendwann von der Trauer zu erholen und in die Zukunft zu blicken. Bei Schuldgefühlen ist das etwas anderes. Sie lassen einen nie los.“ Sie konnte nicht weitersprechen und schluckte schwer. Das hatte sie noch nie einem anderen Menschen eingestanden, doch das Mitgefühl in den sanften Augen ihres Onkels verriet ihr, dass er genau wusste, welche Last sie niederdrückte.

„Doch, das ist möglich. Wenn diese Schuldgefühle unberechtigt sind.“

„Meine sind aber berechtigt.“

„Vielleicht würde es dir helfen, wenn du …“

„Ich muss jetzt mit der Arbeit anfangen. Sonst bin ich heute Abend immer noch nicht fertig.“ Sie hatte ihm zwar endlich ihre Schuldgefühle gestanden, aber sie war nicht bereit, darüber zu sprechen. Und Ratschläge brauchte sie auch keine. „Bis später.“

Er ließ sie gehen, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Als sie an der frischen Luft war, blinzelte sie, um wieder klar sehen zu können, und eilte zu den Feldern, die ihr schon immer Trost gespendet hatten. Sie konzentrierte sich auf das gleichmäßige Summen der Bienen. Auf den fröhlichen Gesang der Meisen. Auf das verspielte Bellen der Hunde in der Ferne. Die ganz normalen Alltagsgeräusche, die sie schon immer beruhigt und getröstet hatten.

Aber heute konnte sie die Nervosität, die sie erfasst hatte, nicht von sich abschütteln.

Warum nur hatte sie Onkel Bud von ihren Gefühlen erzählt und diese Büchse der Pandora geöffnet? Es war viel besser, das alles für sich zu behalten. Jetzt würde ihr Onkel ihr klarmachen wollen, dass es nicht ihre Schuld gewesen sei. Es wäre so leicht, das zu glauben und sich von ihm überzeugen zu lassen, dass sie keine Schuld traf.

Aber sie wusste es besser.

Und Gott auch.

Daran konnten auch noch so viele gut gemeinte Worte nichts ändern. Selbst wenn ein attraktiver Geschäftsführer aus Chicago in ihr den Wunsch weckte, sie könnten es ändern.

Kapitel 9

So etwas Dummes!

Anna schluckte ihre Verärgerung hinunter und warf einen finsteren Blick auf Klopfer. So hatte Michael ihn genannt. Der Hase schaute sie aus kurzer Entfernung an.

„Das ist alles deine Schuld.“

Seine Schnurrhaare zuckten. Es sah fast so aus, als würde er sich ein Lachen verkneifen.

„Das ist nicht lustig.“

Der Unfall, den ihr pelziger Freund verursacht hatte, war absolut nicht lustig. Sie hätte nicht nach ihm springen sollen, als er einen zweiten Fluchtversuch unternommen hatte. Im Grunde hätte sie ihn schon vor Tagen freilassen sollen. Er war mehr als bereit, sich selbst durchs Leben zu schlagen.

Und jetzt hatte sie sich seinetwegen in diese Situation gebracht! Sie lag mit dem Rücken auf dem Boden und ihre Schulter schrie bei jedem Atemzug, den sie mühsam machte, vor Schmerzen.

Sie musste sich etwas gebrochen haben.

Schweißperlen traten ihr auf die Stirn und ihr Herz begann zu hämmern.

Sie brauchte Hilfe.

Und zwar schnell.

Sie versuchte, ihren Körper so wenig wie möglich zu bewegen, während sie langsam den Kopf drehte und sich in der Küche nach ihrem Handy umsah. Es lag nicht auf der Arbeitsplatte. Auch nicht neben ihrer Handtasche. Auch in der Ladestation war es nicht. Da! Es lag auf dem Wohnzimmertisch.

Nur drei Meter entfernt, aber trotzdem unerreichbar für sie.

Klopfer hüpfte näher heran. Nahe genug, dass ihre Finger sein weiches Fell streicheln konnten. Er spürte wohl, dass sie gerade nicht in der Lage war, ihn einzufangen und wieder in seinen Käfig zu sperren. War er gekommen, um sie zu trösten?

Sie streichelte seinen Rücken. Er war ein freundlicher, kleiner Kerl. Gesellig.

Wirklich schade, dass er ihr nicht das Telefon bringen konnte.

Und wirklich schade, dass sie nicht einfach bleiben konnte, wo sie lag, und warten konnte, bis jemand nach Hause kam und sie fand.

Aber außer ihr kam niemand mehr in dieses Haus. Es rief auch niemand mehr an. Außer Organisationen, die um Spenden baten, und Computerstimmen, die ihr eine neue Kreditkarte andrehen wollten.

Pater Murphy und Pastor Baker würde auffallen, wenn sie nicht zum Kochen kam, und nach ein paar Tagen würde sich Charley fragen, warum sie nicht auftauchte, um sich einen Taco zu kaufen. Aber sie konnte nicht warten, bis einer von ihnen merkte, dass etwas nicht stimmte.

Sie musste selbst Hilfe suchen.

Konzentriert richtete sie ihren Blick auf das Handy und versuchte, die Situation einzuschätzen. Wenigstens lag es auf der Tischkante. In Reichweite, falls sie es schaffte, sich aufzusetzen und hinüberzurutschen. Wenn sie es erst einmal in der Hand hatte, konnte sie problemlos die Notrufnummer wählen.

Sie konnte es schaffen.

Sie musste es schaffen.

Entschlossen biss sie die Zähne zusammen und rollte sich auf die rechte Seite.

Sie stöhnte laut, als sie das Gefühl hatte, ihre Schulter würde von Messerstichen durchbohrt und ihr würde die Luft abgeschnitten. Kalter Schweiß brach ihr aus und sie begann zu zittern. Es hörte gar nicht mehr auf.

Es war aussichtslos. Bis zum Tisch würde sie es auf keinen Fall schaffen. Sie würde vorher das Bewusstsein verlieren.

Aber welche andere Wahl blieb ihr?

Eine Träne lief ihr aus dem Augenwinkel. Mit zitternden Fingern wischte sie sie weg. Es war ihre eigene Schuld, dass sich niemand um sie kümmerte. Sendete sie nicht seit Jahren das eindeutige Signal: Lasst mich in Ruhe. Ich brauche niemanden.

Jetzt ließ man sie in Ruhe und sie war sich allein überlassen.

Das stimmt nicht. Ich bin immer bei dir.

Ihr stockte der Atem.

Warum ging ihr diese Verheißung aus der Bibel gerade jetzt durch den Kopf? Kam diese tröstliche Erinnerung von Gott?

Nein. Das war sehr unwahrscheinlich. Warum sollte er mit einer starrköpfigen Frau sprechen, die seit fast zwei Jahrzehnten nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte?

Wenn Gott bei ihr war, würde er ihr vielleicht die nötige Kraft geben, um zum Telefon zu gelangen?

Sie betrachtete die drei Meter Entfernung, die sie von ihrem Handy trennten. Dieser Abstand war genauso schwer zu bewältigen wie eine fünfzig Kilometer lange Wanderung. Sie bräuchte definitiv mehr Kraft, als sie selbst besaß, um diesen Weg zurückzulegen.

Und da ihr niemand sonst zu Hilfe kommen würde, konnte sie die Sache nur in Gottes Hände legen und das Beste hoffen.

* * *

„Michael, im Namen von Pater Kevin und dem gesamten Vorstand danke ich Ihnen noch einmal für Ihre Analyse und die Empfehlungen, die Sie erarbeitet haben, und dafür, dass Sie die letzten eineinhalb Stunden bei uns waren. Sie sind für uns eine Gebetserhörung.“

Während Pastor Baker die Sitzung abschloss und die Vorstandsmitglieder applaudierten, begann Michaels Gesicht zu glühen. „So viel habe ich auch wieder nicht gemacht. Außerdem werden Sie über meine Vorschläge nicht allzu glücklich sein, fürchte ich. Nach allem, was ich gehört habe. Ich werde Ihnen mehrere Möglichkeiten vorstellen, aber angesichts Ihrer begrenzten Ressourcen wäre es vielleicht die praktischste Lösung, einfach Ihre Dienste einzuschränken.“

„Mit diesem Gedanken haben wir auch schon gespielt, aber es ist schwer, Menschen, die uns um Hilfe bitten, abzuweisen.“ Pater Kevin legte seine gefalteten Hände auf den Besprechungstisch und schaute ihn sorgenvoll an.

„Ich kann Ihr Dilemma gut nachvollziehen.“ Viel besser, als er ahnte. „Aber in einem eingeschränkten Rahmen weiterzuarbeiten und einigen Menschen zu helfen ist besser, als ganz zuzumachen und überhaupt niemandem zu helfen. Ich weiß, dass einige Ihrer Vorstandsmitglieder mit Anfragen von Helfende Hände bereits an den Rand ihrer Belastbarkeit gehen.“ Sein Blick wanderte über die Personen, die um den Tisch saßen, und blieb einen Moment an Tracy hängen.

Sie senkte das Kinn und schob die Papiere zusammen, die vor ihr ausgebreitet waren.

„Das stimmt.“ Pastor Baker nickte. „Und es fällt uns vielleicht leichter, eine so harte Entscheidung zu treffen, wenn die Empfehlung von einem erfahrenen Profi wie Ihnen kommt.“ Er stand auf und deutete auf einen Tisch an der Seite, auf dem Gebäck und Getränke standen. „Ich hoffe, Sie bleiben noch ein paar Minuten, um einen Happen zu essen und unseren Mitgliedern Gelegenheit zu geben, Ihnen persönlich zu danken.“

„Das tue ich sehr gerne.“ Michael erhob sich ebenfalls.

Während sich die Sitzung auflöste und mehrere Personen auf ihn zukamen, um sich mit ihm zu unterhalten, hielt der Pfarrer sein Handy ans Ohr und trat ein wenig von den anderen zurück.

Als Michael mit Kuchen und Kaffee abgefüllt war, beendete der Pfarrer das Gespräch und winkte Pater Kevin und Tracy zu sich. Während sich Michael weiter mit den anderen Vorstandsmitgliedern unterhielt, behielt er die drei in der Ecke im Auge. Aus ihrem Stirnrunzeln und ihrer ernsten Diskussion schloss er, dass wieder eine neue Anfrage bei Helfende Hände eingegangen war.

So viel zu seinem Plan, ein paar Worte mit Tracy zu wechseln!

Aber vielleicht war es so besser. Was sollte er auch sagen? Bei ihrem letzten Gespräch vor Eleanors Haus hatte er die Tür zu allen persönlichen Themen zugeschlagen. Und seine Arbeit für Helfende Hände war bald beendet. Es gab kein Grund mehr, Tracy anzusprechen.

Bis auf die Tatsache, dass er gern in ihrer Nähe war.

Das war die Wahrheit, auch wenn dieser Wunsch Schuldgefühle auslöste und gefährlich war.

Und auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er damit umgehen sollte.

Er hatte sein Stück Kuchen gegessen und die anderen Vorstandsmitglieder hatten sich bereits von ihm verabschiedet. Aber die zwei Geistlichen und Tracy hatten ihr Gespräch immer noch nicht beendet. Und da ihm kein Vorwand mehr einfiel, warum er noch länger hier herumstehen sollte, warf er seinen Becher und seinen leeren Pappteller in den Abfalleimer, nahm seine Mappe mit den Unterlagen von Helfende Hände und seinen Notizblock und verließ den Gemeindesaal.

Dichter Nebel war aufgezogen. Er stellte seinen Mantelkragen auf und war froh, dass er heute Abend nicht zu Fuß gekommen, sondern den Wagen genommen hatte.

Als er die Sitzungsunterlagen neben sich auf den Beifahrersitz gelegt hatte, ließ er den Motor an, legte den Gang ein und …

Er kniff die Augen zusammen und schaute durch die Windschutzscheibe. Gehörte das Fahrrad, das an der Kirche lehnte, Tracy?

Er schaute es genauer an. Es sah aus wie das Rad, mit dem sie bei dem Unfall unterwegs gewesen war. Bei dem schwachen Licht konnte er das jedoch nicht mit Sicherheit sagen. Aber sie war tatsächlich in letzter Minute etwas außer Atem und mit leicht gerötetem Gesicht in die Sitzung geeilt, als hätte sie kräftig in die Pedale getreten, um nicht zu spät zu kommen.

Mit gerunzelter Stirn trommelte er auf das Lenkrad. Die Heimfahrt bergauf über den Klippen außerhalb der Stadt wäre anstrengend und gefährlich, da die Dunkelheit und der Nebel ihre Sicht beeinträchtigten.

Dieser Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht.

Sein Motor lief im Leerlauf, während die übrigen Vorstandsmitglieder aus dem Gebäude kamen. Pater Kevin marschierte über den Rasen zum Pfarrhaus. Pastor Baker eilte zu seinem Wagen.

Michael wartete immer noch.

Mehrere Minuten vergingen. Er öffnete das Fenster einen Spaltbreit, weil sich die Scheiben beschlugen. Das alles ging ihn wirklich nichts an. Er sollte nach Hause fahren.

Aber er fuhr nicht.

Sondern er schaltete den Motor wieder aus.

Zehn Minuten später erschien Tracy. Sie zog die Tür hinter sich zu und eilte zu ihrem Fahrrad.

„Tracy!“ Er stieg aus dem Auto.

Sie fuhr herum. Obwohl eine Außenleuchte angegangen war, als sie aus dem Gebäude gekommen war, lag ihr Gesicht im Schatten. Aber die Überraschung war ihrer Stimme anzuhören. „Michael?“

„Ja.“ Er ging auf sie zu. Zu dumm, dass er sich nicht vorher überlegt hatte, was er sagen wollte. Jetzt musste er spontan etwas aus dem Ärmel schütteln. „Ich, ähm, dachte, dass das Ihr Fahrrad wäre. Das Wetter ist nicht ideal zum Radfahren.“ Hatte er sie erschreckt? Oder freute sie sich, dass er gewartet hatte?

„Ich bin dieses Wetter gewohnt.“

„Sie sind aber bei diesem Wetter nass und durchgefroren, bevor Sie zu Hause sind, auch wenn Sie die hier haben.“ Er deutete auf ihre Regenjacke.

Sie hielt ihre Mappe von Helfende Hände wie einen Abwehrschild vor sich. „Ich komme schon klar. Und ich muss jetzt fahren. Es hat sich eine schwierige Situation ergeben, die sich nicht aufschieben lässt.“

„Ich habe bemerkt, dass Sie und die zwei Geistlichen vorhin etwas miteinander besprochen haben. Hat es mit Helfende Hände zu tun?“

„Ja. Ist etwas kompliziert.“

„Wollen Sie darüber sprechen?“

Sie zögerte. „Hier draußen ist es zu feucht, um lange herumzustehen und zu reden, und das Gemeindehaus habe ich schon abgeschlossen.“

„Wir könnten uns auch in mein Auto setzen.“ Wenn er sie so weit bringen konnte, würde sie sich vielleicht von ihm nach Hause fahren lassen. Ihr Fahrrad konnte sie auch morgen früh noch abholen.

„Danke, aber es gibt nicht viel zu sagen. Über die Hotline kam ein Anruf von einer Mutter, die gerade erfahren hat, dass ihre sechzehnjährige Tochter schwanger ist. Sie ist völlig überfordert, ihr Mann tobt und die Tochter will am liebsten von zu Hause weglaufen. Sie versucht, einen neutralen Platz für ihre Tochter zu finden, wo sie eine Weile wohnen kann, bis sich alle beruhigt haben und in Ruhe überlegen können, was zu tun ist.“

„Schwierig.“

„Ja. Die Tochter hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen.“

„Was haben Sie jetzt vor?“

„Ich gehe die Liste der ehrenamtlichen Mitarbeiter von Helfende Hände durch und schaue, ob ich jemanden finden kann, der bereit ist, sie ein paar Wochen bei sich aufzunehmen.“

„Hat diese Familie denn keine Verwandten?“

„Hier in der Gegend nicht. Sie sind erst vor Kurzem hierher gezogen. Außerdem wollen sie nicht, dass sich das überall herumspricht.“ Tracy massierte sich die Schläfe. „Jetzt muss ich aber wirklich gehen. Ich muss heute Abend noch die Lohnabrechnung für einen Klienten machen.“

Lohnabrechnung? Eleanor hatte gesagt, dass Tracy Buchhalterin war, aber …

„Ich dachte, Sie arbeiten auf der Cranberryfarm.“

„Die Buchhaltung ist ein Nebenjob, der mir hilft, die Rechnungen zu zahlen.“ Der Nieselregen wurde stärker und sie wich zurück. „Nochmals danke für das Angebot, mich mitzunehmen. Der Vorstand ist auf Ihre Empfehlungen gespannt.“

Sie winkte kurz und eilte zu ihrem Fahrrad. Sie verstaute ihre Mappe in einer Satteltasche und verschwand. Wenige Sekunden später war das Licht ihres Scheinwerfers im Nieselregen nicht mehr zu sehen.

So viel zu seiner Überredungsgabe!

Ein Regentropfen tropfte von seiner Nase und zwang ihn, schnell wieder in sein Auto zu steigen. Falls sich dieser Nieselregen zu einem richtigen Guss steigerte, wäre Tracy trotz ihrer Regenjacke binnen weniger Minuten bis auf die Haut durchnässt.

Zum Glück wurde der Regen während seiner kurzen Fahrt zu Annas Apartment nicht stärker. Tracy hatte auch keinen allzu weiten Weg. Ungefähr einen Kilometer. Wenn sie kräftig in die Pedale trat, konnte sie …

Er trat auf die Bremse, als er in Annas Straße bog und ein blaues Warnlicht vor ihm aufflackerte. Trotz des Nebels konnte er einen Polizeiwagen und einen Krankenwagen ausmachen.

Beide standen vor Annas Haus.

Sein Magen zog sich zusammen, als er eilig weiterfuhr, in die Einfahrt bog und zu der offenen Haustür lief. In diesem Moment trugen zwei Sanitäter eine Trage aus dem Haus.

Es war Anna, die mit tiefen Sorgenfalten im Gesicht darauflag.

„Was ist denn passiert?“ Er richtete seine Frage an den ersten Sanitäter.

„Sind Sie ein Verwandter?“

„Nein. Er ist mein Gast.“ Anna schaute den Mann finster an. „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich keine Verwandten habe. Mein Körper tut zwar weh, aber mein Verstand funktioniert bestens.“

Der Sanitäter grinste. „Das Schmerzmittel scheint zu wirken.“

„Was ist passiert?“, versuchte es Michael noch einmal.

Anna richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihn. „Ich bin gestürzt und habe mich an der Schulter verletzt.“

„Wohin bringt man Sie?“

„Nach Coos Bay.“ Diese Information gab ihm der zweite Sanitäter, der jetzt an ihm vorbeiging.

Michael ging neben Annas Trage her. „Soll ich jemanden anrufen?“

„Das haben wir sie schon gefragt“, sagte der erste Sanitäter, der sich dem Krankenwagen näherte.

„Nein. Es … gibt niemanden, den man anrufen könnte.“ Ihre Stimme war jetzt leiser.

„Sind Sie sicher?“ Er berührte ihre eiskalte Hand.

Sie schloss zitternd die Augen und schluckte. „Ja.“

„Wir müssen sie einladen. Bitte gehen Sie jetzt zur Seite.“

Er zögerte. Eine Fahrt nach Coos Bay hatte er an diesem Donnerstagabend um halb zehn eigentlich nicht geplant. Aber wen hatte Anna sonst?

„Ich folge Ihnen.“

„Michael, nein. Das ist zu weit.“ Ihre Worte waren kaum noch zu hören, da sie jetzt im Krankenwagen verschwand.

„Geben Sie mir bitte den Namen und die Adresse des Krankenhauses.“ Michael merkte sich die Daten auswendig, die einer der Sanitäter herunterratterte, bevor er die Tür schloss. Einige Momente später rollte das Fahrzeug die Straße entlang zur 101.

„Wenn Sie dem Krankenwagen folgen wollen, sperre ich hier zu.“ Ein Polizist tauchte mit einem Funkgerät aus dem Schatten auf.

„Danke. Das wäre sehr nett.“

Michael kehrte zu seinem Wagen zurück, gab den Namen des Krankenhauses in sein Navi ein und versuchte, sich innerlich auf die kurvenreiche Straße und den dichten Nebel einzustellen.

Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen.

Seine Hände umklammerten das Lenkrad und er zögerte. Anna hatte gesagt, dass er ihr nicht folgen solle. Und er würde den Rest seines Abends viel lieber mit einer Tasse Kaffee, einem Amaretto-
brownie und dem Roman, in dem er nicht weiterkam, verbringen. Das klang viel reizvoller als eine sterile, nach Desinfektionsmitteln riechende Notaufnahme.

Aber Anna hatte sonst niemanden. Wenigstens niemanden, zu dem sie Kontakt aufnehmen wollte. Und sie war auf ihn zugegangen. Sie hatte angeboten, für ihn zu beten.

Er musste fahren.

Seufzend trat er aufs Gaspedal und lenkte das Auto zur Hauptstraße.

Wie in aller Welt hatte er es nur geschafft, sich in nur zwei Wochen so sehr auf diese Kleinstadt einzulassen?

Das ergab einfach keinen Sinn.

Aber wenn Anna wieder zu Hause war, wenn er Helfende Hände seine Empfehlungen übergeben hatte, dann würde er sich auf das konzentrieren, wozu er eigentlich nach Hope Harbor gekommen war: Er würde sich Zeit für sich nehmen. Mehr am Strand spazieren gehen. Nachdenken. Planen. Vielleicht sogar selbst ein wenig beten. Er war hierhergekommen, um sein Leben auf den Prüfstand zu stellen und über seine Zukunft nachzudenken. Davon wollte er sich nicht ablenken lassen.

Er wollte vergessen: Anna und ihren Sohn, zu dem sie keinen Kontakt hatte, die sorgengeplagte Organisation Helfende Hände und die Cranberryfarmerin, die sich heute die Nacht um die Ohren schlug, um einer Familie in einer Krise zu helfen und gleichzeitig zwei Jobs zu bewältigen. Aber das Vergessen würde gar nicht so einfach sein.

Doch versuchen musste er es. Das Letzte, was er in seinem Leben brauchte, waren weitere Komplikationen.

Als der Regen immer stärker wurde und die Sicht noch weiter erheblich einschränkte, stellte er seine Scheibenwischer schneller. Ein Straßenschild nach Coos Bay tauchte kurz vor seinen Scheinwerfern auf und verschwand dann wieder in der Dunkelheit hinter ihm.

Komisch.

Vor zwei Wochen hatte er unbedingt in Hope Harbor bleiben wollen und ein nettes Hotel in Coos Bay abgelehnt. Annas Einladung war ihm wie ein Geschenk des Himmels erschienen.

Jetzt war er sich da nicht mehr so sicher.

Annas Großzügigkeit war vielleicht doch kein so großer Segen. Denn sie lenkte ihn von dem eigentlichen Grund ab, aus dem er hierhergekommen war.