Über das Buch:
Hudson Valley, 1898: Sophie van Riijn ist fasziniert von der Arbeit des neu gegründeten Wetteramts und dem Versuch, genaue Wetterprognosen zu erstellen. Jeden Tag ermittelt sie akribisch die neuesten Wetterdaten ihres Heimatortes und meldet diese an die Zentrale. Ihre Wetterstation hat sie wie gefordert am höchsten Punkt des Dorfes errichtet. Auf dem Dach von Dierenpark, einer verlassenen Villa auf einer Klippe über dem Hudson River.

Als überraschend ein Angehöriger des Besitzers auftaucht, ist dieser alles andere als begeistert darüber, dass Sophie sich unerlaubt an dem Gebäude zu schaffen gemacht hat. Quentin ist fest entschlossen, die Villa abreißen zu lassen und all den finsteren Legenden, die sich um das Anwesen ranken, ein für allemal den Garaus zu machen. Er hat nicht mit dem Widerstand von Sophie gerechnet …

Über die Autorin:
Elizabeth Camden ist eine preisgekrönte Autorin von fünf Romanen, darunter Against the Tide (2012), für den sie den RITA Award, den Christy Award und den Daphne du Maurier Award bekam. Camden studierte Geschichte und Bibliothekswissenschaft und arbeitet tagsüber als Bibliothekarin, bevor sie sich abends an den Schreibtisch setzt. Sie wohnt mit ihrem Mann in Florida. Weitere Informationen über Elizabeth Camden auf www.elizabethcamden.com.

Kapitel 7

Am nächsten Morgen begegnete Sophie Quentin in der Bibliothek beim Ausmessen der Säulen, die die Galerie trugen. Es war ein langer, schmaler Raum mit Bücherregalen auf der einen Seite und großen Rundbogenfenstern auf der anderen. Quentins finstere, grübelnde Miene passte überhaupt nicht zum hereinflutenden Morgenlicht. Konzentriert schrieb er seine Ergebnisse in das kleine Notizbuch, das er immer bei sich zu tragen schien.

„Haben Sie sich beim Wetteramt über mich beschwert?“

Er hielt inne. „Ich habe in einem Telegramm darum gebeten, dass die unrechtmäßig installierten Gerätschaften an einen neuen Ort kommen. Und ich wollte verifizieren, ob Sie tatsächlich für dieses Amt tätig sind.“

„Sie glauben, ich würde Sie anlügen?“

„Damals schon. Jetzt, wo ich Sie besser kenne, weiß ich, dass Sie sich nur allzu bereitwillig ausnutzen lassen.“

Sophie straffte die Schultern und ging ein paar Schritte auf ihn zu. „Sie können sich nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die etwas aus reiner Begeisterung tun? Natürlich weiß ich, dass ich die Wetterstation nicht ohne Erlaubnis hätte einrichten dürfen. Aber ich bin davon ausgegangen, dass Ihre Familie nie zurückkehren würde, und außerdem hat die Wetterstation keinen Schaden angerichtet. Natürlich hätte ich trotzdem Ihre Anwälte um Erlaubnis bitten sollen. Es tut mir leid.“ Sie holte tief Luft, damit ihre Stimme nicht noch mehr zitterte. Mit seinem Telegramm an das Wetteramt hatte er mehr Schaden angerichtet, als ihm offensichtlich klar war.

„Ich habe das ganze Jahr daran gearbeitet, das Wetteramt davon zu überzeugen, in ein erweitertes Wetterobservatorium in New Holland zu investieren. Und zwar ganz allein, ohne fremde Hilfe oder Fürsprache. Ich habe Anträge geschrieben und Unterschriften gesammelt. Ich habe mich von allen Seiten als unvernünftige Idealistin belächeln lassen. Niemand, noch nicht einmal mein Vater glaubt, dass ich es schaffe, das Wetteramt zu überzeugen. Ich habe wirklich hart dafür gearbeitet. Und nun haben Sie an einem einzigen Nachmittag meinen Ruf aus purer Gemeinheit ruiniert.“ Sophie war selten so unfreundlich, aber noch nicht einmal das hatte irgendeine Auswirkung auf seine versteinerte Miene.

„Wieso bedeutet Ihnen das so viel?“

Wie sollte sie ihm all die Jahre erklären, in denen sie sich nutzlos gefühlt hatte, ohne Halt. Wer mit dem Namen Vandermark auf die Welt kam, der hatte von Anfang an alle Chancen und Möglichkeiten, während Leute wie sie um jede einzelne kämpfen mussten. Und in einem aussterbenden Dorf war das kein Kinderspiel.

„Weil ich einen Sinn in meinem Leben brauche.“ Wieso war sie so dumm, ihm ihre wahren Gefühle zu offenbaren? Ein abschätziges Lächeln umspielte seine Lippen und das tat weh.

„Seltsam. Ich hatte den Eindruck, Sie hätten schon seit Längerem einen Sinn gefunden.“ Quentin umklammerte seinen Stock und humpelte zum Schreibtisch aus Walnussholz, der am Ende des Raumes stand. „Kommen Sie. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“

Er ließ sich auf den Stuhl fallen und zog eine Fotografie aus einem Schubfach, die er ihr hinwarf. Es war die Postkarte, die an die Touristen verkauft wurde. Darauf war Sophie als Fünfjährige zu sehen, im großen Salon, wie sie einen Tulpenstrauß vor sich hielt, der fast so groß war wie sie.

„Was für ein zauberhaftes Mädchen Sie damals waren“, sagte er kühl.

Sophie erstarrte. Sie war ein Kind gewesen. Er konnte ihr unmöglich einen Vorwurf daraus machen. Die Richtung, die dieses Gespräch nahm, gefiel ihr überhaupt nicht. „Was wollen Sie hören?“

„Wer hat die Aufnahme gemacht?“

Mein Vater. Sie hatte nicht die Absicht, Quentin das zu verraten. Sein stechender Blick war unmissverständlich. Er wollte, dass Köpfe rollten.

„Ich war damals fünf. Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich mich daran noch erinnere?“

Er stemmte sich am Schreibtisch hoch, packte seinen Stock und humpelte in seinem typisch schrägen Gang um den Tisch. Sophie fühlte sich wie ein Insekt in einem Spinnennetz. Ihr Mund war auf einmal trocken und sie machte einen Schritt zurück, aber er schien gar nicht wütend zu sein, sondern ... nur neugierig.

„Der Rest der Welt hält Sie vielleicht für ein unschuldiges Lämmchen im Wald, aber Sie sind viel cleverer, als Sie sich anmerken lassen. Ich bezweifle, dass Ihnen irgendetwas entgeht. Wer hat die Aufnahme gemacht?“

Sie blinzelte überrascht über sein dubioses Kompliment. „Wieso sollte ich Ihnen das verraten?“

„Miss van Riijn, der Hausfriedensbruch ist längst verjährt. Der Fotograf hat nichts mehr zu befürchten. Sie sagen, Sie seien fünf Jahre alt gewesen. Das fällt doch auf die Zeit, als Ihr Vater zum ersten Mal Bürgermeister in New Holland wurde. Ein Zufall?“

Jeder Versuch, ihm auszuweichen, würde ihn nur noch mehr anstacheln. „Sie wissen, dass es nicht so war“, gab sie zu.

Sein selbstzufriedenes Lächeln glich einem Zähnefletschen. „Meine Männer haben eine ganze Menge über diesen Ort und seinen abenteuerlichen Bürgermeister herausgefunden. Wie es scheint, beschloss der kühne Jasper van Riijn, die Rettung der Stadt selbst in die Hand zu nehmen, als er dabei zusehen musste, wie die Touristen an New Holland vorbei zu den bekannteren Urlaubsorten segelten. Das Haus der Vandermarks war sein Dreh- und Angelpunkt, um sie zu ködern, und er beschloss, es nach Strich und Faden auszunutzen.“

„Wieso sind Sie uns gegenüber so feindlich eingestellt? Nicht jeder wurde mit einem goldenen Löffel im Mund geboren. Mein Vater hat nur versucht, die Stadt zu erhalten, die er so liebt.“

„Dann habe ich allen Grund dazu, ihn wegen Schadensersatz zu verklagen. Er hat zwei Jahrzehnte lang aus dem Haus meiner Vorfahren unrechtmäßigen Profit geschlagen.“

„Aber was ist mit der Verjährungsfrist? Sie haben doch selbst gesagt, dass die Fotografie zu alt ist, um gegen ihn verwendet zu werden.“

„Die Aufnahme ist verjährt, aber nicht die unrechtmäßige Verwertung. Diese ging unvermindert weiter bis vor zwei Wochen, als ich herkam und die Leute vor die Tür setzte, die Fotografien unseres Hauses verschacherten und ohne jede Erlaubnis Führungen anboten. Dafür kann ich ihn sehr wohl noch verklagen. Sie haben sich in den vergangenen zwanzig Jahre ziemlich viel herausgenommen, was dieses Haus betrifft, Miss van Riijn. Ich habe gehört, dass Sie mit den Kindern der Gärtner aufgewachsen sind. Sie haben auf unseren Wiesen Verstecken gespielt. Unsere Blumen gepflückt und unsere Austern geerntet. Und als Sie es konnten, haben Sie fast jedes Buch in unserer Bibliothek gelesen.“

Ihr Gesicht glühte. Alles, was er sagte, stimmte. Ja, sie hatte die Bibliothek geplündert. Die Bücher hatten ihr Flügel verliehen und sie war nicht bereit, sich dafür zu entschuldigen, die eingestaubten Buchdeckel aufgeklappt zu haben.

„Am liebsten habe ich die Romane von Ann Ratcliffe gelesen“, sagte sie stolz.

„Es überrascht mich keineswegs, dass selbst die Wahl Ihrer Lektüre wunderlich und sentimental ausfällt.“

Sophie wandte sich ab. Dierenpark war ihr in Leib und Seele übergegangen, aber er machte es unmöglich, hier noch länger zu bleiben. Anstatt Dierenpark zu retten, brachte sie ihre Familie in Gefahr.

„Mr Vandermark, ich halte es nicht für angebracht, Ihren Sohn weiter zu unterrichten, wenn ich meinen Vater einem Schadensersatzverfahren aussetze. Ich werde dafür sorgen, dass die Wetterstation umgehend abgebaut wird. So hat sich zumindest eine Ihrer Sorgen erledigt.“

„Kein Grund, eine solche Eile an den Tag zu legen.“

„In der kurzen Zeit, die wir uns kennen, haben Sie mir mit einem Gerichtsverfahren gedroht, meinen Ruf beim Wetteramt beschädigt, meinen Glauben beleidigt und meinen Literaturgeschmack ins Lächerliche gezogen. Ich habe Ihre Gastfreundschaft überbeansprucht. Ich werde noch das Mittagessen für Ihre Angestellten zubereiten und dann in die Stadt gehen, um für die Wetterstation einen neuen Ort zu finden.“

Es tat ihr in der Seele weh, das zu sagen. Sie erwartete von Quentin einen triumphalen Blick, aber er drückte sich empört vom Tisch ab.

„Sie können jetzt nicht einfach so gehen!“, donnerte er. Wäre sie nicht so aufgebracht, dann hätte sie die Ungläubigkeit in seinem Gesicht belustigt. Er sah aus, als wollte er quer über den Tisch springen und sie zu Boden werfen, um sie davon abzubringen, jetzt zu gehen.

„Sie können mich nicht zwingen, für Sie zu kochen.“

„Ich habe Sie nicht als Köchin eingestellt. Sondern als Tutorin für meinen Sohn.“

„Pieter kann mich gern besuchen, sobald ich eine neue Wetterstation errichtet habe. Er soll nicht dafür bestraft werden, dass Sie jedem gleich ein Verfahren anhängen wollen, den Sie sehen.“

Es war schwer, aber sie bewahrte Haltung, verließ die Bibliothek und schloss leise hinter sich die Tür.

* * *

Quentin wartete geschlagene zehn Minuten, bevor er ihr folgte. Er kämpfte gegen den inneren Drang, ihre Diskussion in der Küche fortzusetzen. Das würde ihr nur in die Hände spielen und außerdem verraten, wie sehr er ihre Anwesenheit genoss.

Alles an ihr faszinierte ihn. Ihr Charme, ihre Schönheit, ihre skurrile Mischung aus Intellekt und Unschuld. Sie sah so unschuldig aus wie ein Gänseblümchen, wobei er vermutete, dass sie an ihrer unbefleckten Würde womöglich sogar Gewehrkugeln abprallen lassen konnte. Ihre Lebhaftigkeit stieß ihn zugleich ab und zog ihn doch an.

Es war verblüffend, wie Sophies fröhliche Art und ihre Scherze sich durch seinen Panzer fraßen. Er war es nicht gewohnt, die Anwesenheit einer Frau zu genießen. Diesen Teil seines Herzens hatte er ignoriert, seit Portia gestorben war, aber Sophies Gegenwart erinnerte ihn an das Loch, das schon so lange in ihm klaffte. Wenn sie nicht da war, konnte er es unbeachtet lassen, aber sobald er sie erblickte, wurde die alte Sehnsucht nach dem Funkeln einer Frau wach, nach Sommerabenden an der Küste, nach Picknicks auf der Decke mit Blick in den Wolkenhimmel und nach dem Vertrauen darauf, dass die Welt noch größer und tiefgründiger war als das, was man sehen und anfassen konnte.

Eine so anmutige Frau wie Sophie würde niemals an ihm Interesse zeigen und es ärgerte ihn, dass er seine kleinen Tagträume nicht abstellen konnte, aber wegen einer Meinungsverschiedenheit wollte er nicht ihre Zeit mit seinem Sohn aufs Spiel setzen. Er hatte nicht wirklich vor, ihren Vater wegen der Postkarten zu verklagen, er hatte sie nur ein wenig reizen wollen. Dass sie gleich das Handtuch warf, damit hatte er nicht gerechnet.

Quentin blieb am Schreibtisch sitzen, knetete die Hände und arbeitete an seiner Strategie. Die Situation war ... nun, sie war auf einmal ganz und gar unangenehm. Wenn Sophie merkte, wie sehr er sie brauchte, würde sie den Einsatz erhöhen und sich mit ihm wegen des Erhalts des Hauses herumstreiten, was das Einzige war, wo ihm die Hände gebunden waren.

Nach zehn Minuten zwang er sich zu einer desinteressierten Miene und ging in Richtung Küche. Er hörte Sophie, bevor er sie sah. Es klang, als würde sie einen Sandsack verprügeln. Quentin blieb im Durchgang stehen und spähte um die Ecke. Sie warf einen Teigball auf die bemehlte Arbeitsfläche und schlug mit der Faust ein Loch hinein.

„So, wie Sie auf den Teig einschlagen, erinnert mich das daran, wie Rom auf Karthago losging. Ich hoffe doch inständig, dass ich nicht der Grund für diesen plötzlichen Ausbruch bin.“

Sie tat, als würde sie ihn nicht hören. Selbst als Quentin die Küche durchquerte, ignorierte sie ihn. Er stellte sich ans Fenster, durch dessen Spalt Luft hereinkam.

„Sieht aus, als würde es heute noch regnen“, sagte er beiläufig.

„Wird es aber nicht.“ Sie wendete den Teig und beförderte ihn dann mit geübten Händen in eine Schüssel. Dann legte sie ein Tuch darüber. „Es ist den ganzen Tag bewölkt, aber es regnet erst am Abend. Danach wird es sich für zwei, drei Tage aufklaren.“

Sie klang so selbstbewusst, dass Quentin es nicht lassen konnte, ein wenig nachzubohren. „Dann sehe ich keinen Grund, wieso Sie nicht meinem Sohn zwei, drei Tage auf dem Dach etwas beibringen könnten.“

„Vielleicht ja, weil ich Gefahr gehe, verklagt zu werden?“ Sie trug die Schüssel zum Fenstersims und vermied nach wie vor jeden Blickkontakt. Dann wusch sie sich die Hände und trocknete sie ab. Die gekonnte Bewegung ihrer Hände fand er seltsam anziehend. Sie tat nichts Kompliziertes, aber alles doch mit so viel Eleganz, dass es ihn beeindruckte.

Er biss die Zähne zusammen. Ließ er sich hier tatsächlich dazu hinreißen, eine Frau zu bewundern, weil sie sich so schön die Hände waschen konnte? Es war haarsträubend, aber wahr.

Sie machte sich daran, eine Schüssel Erdbeeren zu entstielen, und angesichts ihrer flinken Finger blieb ihm der Mund offen stehen. Er beugte sich vor, um besser sehen zu können.

Nun, dann hatte er wohl den einen Teil der zerbrechlichen, gertenschlanken Sophie van Riijn entdeckt, der keinen Schönheitspreis gewann. Sie hatte die Hände einer Bauersfrau, mit kurzen Nägeln und Schwielen. Ihre Handrücken waren von kleinen Brandmalen und Narben gekerbt. Vermutlich hatten alle Köchinnen solche Spuren an den Händen, aber aus welchem Grund auch immer hatte er sie bei Sophie nicht erwartet. Damit gefiel sie ihm sogar noch besser.

„Und wenn ich Ihnen zusichere, dass ich Ihren Vater wegen dieser lächerlichen Fotografien nicht verklage?“, bot er an.

„Das reicht nicht“, sagte sie und knöpfte sich die nächste Erdbeere vor. „Sie finden irgendeinen anderen uralten Grund, ihn zu verklagen.“

„Es gibt davon eine ganze Menge, nicht wahr?“

Sie ließ das Messer fallen. „Sehen Sie? Genau das meine ich. Egal, was ich sage, Sie verdrehen mir jedes Wort im Munde. In ihrer Gegenwart traue ich mir selbst nicht mehr. Je schneller ich aus diesem Haus weg bin, desto besser.“

So wurde das nie etwas. Anstatt sie davon zu überzeugen, dass es besser war zu bleiben, verunsicherte er sie noch mehr. Den größten Teil seines Lebens hatte er unter knallharten Industriellen verbracht, die bei einem verbalen Schlagabtausch nicht einmal mit der Wimper zuckten. Er war es nicht gewohnt, sich bei jemandem zu entschuldigen. Dabei fühlte er sich entblößt und schwach. Er konnte sie nicht einmal ansehen. Wie furchtbar, ihr ausgeliefert zu sein, aber er mochte sie nun mal und wollte nicht, dass sie ging. Und Pieter brauchte sie. Quentin schluckte und nahm all seinen Mut zusammen.

„Ich war aufbrausend zu Ihnen und unhöflich“, räumte er ein. „Ich versichere Ihnen, keinerlei Verfahren anzustrengen wegen jedweder Übertretung, die vor meiner Ankunft auf Dierenpark geschah, vorausgesetzt, Ihr Vater verbreitet künftig keine Gerüchte mehr über meine Familie. Und setzt dem Postkartenverkauf ein Ende.“

Das sollte sie endgültig besänftigen. Aber sie schob nur die Erdbeerblätter in eine Abfallschüssel und ging damit nach draußen. Quentin sah ihr durch die offene Tür nach, wie sie die Blätter auf den Kompost warf, und legte sich seine nächsten Worte zurecht.

„Ich habe schon oft gehört, Frauen seien wie Elefanten, wenn es um Unrecht geht. Sie vergessen nie, ganz gleich, wie aufrichtig die Entschuldigung ist.“

„Das war eine Entschuldigung? Verzeihen Sie, für mich klang das nach einer weiteren Klausel.“

„Es war eine Entschuldigung. Ich bin es nicht gewohnt, sie anzubringen, und vielleicht stelle ich mich dabei ein wenig unbeholfen an.“

Ihr Mund zuckte. Er musste es einfach schaffen, ihre Abwehr zu durchbrechen, was es auch kostete. Mit mürrischer Miene schnitt sie ein Brot auf und er hatte noch immer keinen nennenswerten Fortschritt erzielt.

„König Salomo hatte siebenhundert Frauen“, warf er ein. „Ich gehe jede Wette ein, dass er im Entschuldigen sehr geübt war. Frauen können in diesen Dingen so verflucht kleinlich sein.“

Sie schnitt weiter Brot, ohne ihn anzusehen, und Quentin fühlte sich wie ein Idiot. Er war im Unrecht und sie hatte eine ordentliche Entschuldigung verdient.

„Bitte“, sagte er und ließ jeden Zynismus fallen. „Ich habe keinerlei Interesse daran, Sie oder Ihren Vater zu verklagen, und mein Sohn braucht Sie wirklich. Ich brauche Sie. Ich kann ein ziemlich ungehobelter Genosse sein und das tut mir leid. Was muss ich tun, damit Sie Pieter weiter unterrichten?“

Mehr Geld, kürzere Arbeitszeiten ... er war zu allem bereit. Sie antwortete nichts und schnitt weiter in erstaunlichem Tempo das Brot. Typisch Sophie van Riijn. Ob furchteinflößende Leibwächter, ob wilde Bienen, Sophie meisterte auch diese einfache Tätigkeit mit Geschick und Leichtigkeit.

„Ich bin bereit, unter einer Bedingung“, hörte er sie plötzlich sagen.

Er zog eine Augenbraue hoch und fragte sich, wieso sie auf einmal so nervös schien.

„Es gibt eine verlassene Sägemühle draußen vor der Stadt“, sagte sie.

„Ich weiß. Mein Urgroßvater hat sie bis zu seinem Tod bewirtschaftet.“

„Und seitdem ist das Gebäude verlassen. Ich möchte sie Ihnen gern zeigen.“

„Wieso?“

„Ich denke, sie könnte sich dazu eignen, sie in ein modernes Wetterobservatorium auszubauen. Das Wetteramt würde Ihnen sicher ein hübsches Pachtsümmchen bezahlen.“

Er hatte kein Interesse daran, noch mehr Reichtümer anzuhäufen, aber er spürte, wie wichtig ihr das war. Sie erzählte ihm von den vielen Anträgen, die sie bereits für ein Observatorium gestellt hatte, und dass ihr die ehemalige Sägemühle zum Durchbruch in den Verhandlungen verhelfen könnte. Es war faszinierend zu sehen, wie auf einmal ihre Augen vor Begeisterung sprühten. Sie schien eine schier unerschöpfliche Quelle von Träumen und Zielen in sich zu haben, die nur darauf wartete, angezapft zu werden, selbst wenn es sich nur um eine Wetterstation für die Regierung handelte.

Er presste die Hand um den Griff seines Stocks und versuchte, nicht an einen jungen Architekten zu denken, der einst von ähnlichen Ideen und Träumen erfüllt gewesen war, die freilich an den Haaren herbeigezogen waren. „Wenn ich mir die Mühle ansehe, unterrichten Sie dann Pieter weiter?“

„Ich hoffe schon, dass Sie mehr tun, als sie sich nur anzusehen“, entgegnete sie. „Ich habe in meinem Antrag natürlich alle Vorzüge für ein Observatorium in New Holland aufgelistet. Wenn ich einen gebrauchsfertigen Ort vorschlagen kann, wird der Antrag umso überzeugender. Ich möchte, dass Sie die Sägemühle besichtigen und darüber nachdenken, meinem Antrag Ihre Zustimmung zu geben. Wenn Sie das tun, erteile ich Pieter mit Vergnügen weiterhin Unterricht.“

„Sind Sie in der Vergangenheit mit Erpressung schon durchgekommen?“

„Das ist mein erstes Mal. Aber ich habe Hoffnung.“

„Wir fahren noch heute Nachmittag dorthin.“

Der Gedanke, von ihr in die Wildnis gezerrt zu werden, gefiel ihm nicht. Der Rest der Bewohner New Hollands mochte sie unterschätzen, aber er hatte damit aufgehört. Ihre ständige Hoffnung war für ihn gefährlich. Sie warf ein Licht auf die unbarmherzigen Einschränkungen seines Lebens. Er konnte Sophies fröhlichen Optimismus und ihren Glauben an eine bessere Welt nur aus der Distanz betrachten, aber sich nicht darauf einlassen.

Sie wäre entsetzt, wenn sie je herausfand, wie sehr er sich von ihr angezogen fühlte. Deswegen musste er seine Gefühle tief in sich vergraben. Sein Sohn brauchte sie und er konnte es sich nicht erlauben, sie wegen seiner verrückten, unangemessenen und unwillkommenen Schwärmerei zu vergraulen.

Kapitel 8

Die Straße war von Schlaglöchern übersät und halb zugewachsen und ließ die Federn der Kutsche bei jeder Unebenheit quietschen und ächzen. Sophie war es etwas unangenehm, auf so engem Raum mit Quentin eingepfercht zu sein, aber sie war bereit, alles zu ertragen, wenn sie damit seine Zustimmung zum Antrag auf das Observatorium gewann.

Ein dichter, duftender Wald umgab sie. Das Land war damals, als die Mühle noch in Betrieb gewesen war, gerodet worden, aber der Wald hatte es sich in den vergangenen sechzig Jahren zurückerobert. Brombeergestrüpp streifte an der Kutschenwand und der Geruch von feuchtem, lehmigem Boden lag in der Luft.

„Das ist weit genug“, sagte Sophie zu Mr Ratface, der sich als Kutscher betätigte. Sie waren an der kleinen Landzunge angekommen, die in den Fluss hinausragte und von der aus die alte Sägemühle einst Städte in aller Welt mit Holz versorgt hatte. Der Wald umgab sie hier nur an drei Seiten. Vor ihnen stand ein weitläufiges Gebäude, das in der Stadt fast einen ganzen Häuserblock einnehmen würde. Es hatte zwei Stockwerke, mit großen Fenstern im oberen Stock, die jedoch fast alle zerbrochen waren.

„Ich weiß, von außen sieht es nicht besonders gut aus, aber das Gebäude ist stabil und steht ideal, um vom anliegenden Fluss zu profitieren.“ Sie redete wie ein Wasserfall. Quentin hielt sich mit finsterer Miene an einem Halteriemen fest und streckte behutsam sein schlimmes Bein aus der Kutschtür. Es war ihm sichtlich unangenehm, als Mr Ratface vortrat und Quentins Arm mit seiner Schulter stützte, um seinem Arbeitgeber vorsichtig aus der Kutsche zu helfen. Sophie wandte sich diskret ab und wartete, bis Quentin seine Kleidung zurechtgerückt hatte.

„Gehen wir hinein“, sagte Quentin und nahm Kurs auf die Halle. Er wollte die Besichtigung vermutlich so schnell wie möglich hinter sich bringen. Sophie überlegte derweil, wie sie die ganze Sache noch attraktiver darstellen konnte. Das Schloss war längst durchgerostet und Quentin stieß das quietschende Tor auf.

Im Innern sah es weniger schlimm aus. Quentin verscheuchte ein Insekt aus seinem Gesichtsfeld und nahm die Sägemühle neugierig in Augenschein. Er schien nicht gelangweilt zu sein, sondern das Gebäude mit den Augen eines Architekten zu vermessen und die Holzrutschen und das Wirrwarr aus Schwungrädern über ihnen zu prüfen.

„Hier sieht man erst, wie groß das Gebäude wirklich ist“, sagte sie. „Wenn die Bandsägen erst ausgebaut sind, bleibt jede Menge Platz für die großen Wetterkarten. Und das Beste sind die kilometerlangen Holzrutschen durch den Wald. Alles ist sozusagen schon bereit für Telegrafendrähte.“

Regentropfen trommelten aufs Dach und zerbrachen die Stille. „Ich dachte, Sie sagten, es würde erst am Abend regnen.“

„Die Wettervorhersage ist leider immer noch ein Schätzwert.“ Sophie sah besorgt aus dem Fenster. Die Regentropfen waren groß und schwer. In wenigen Augenblicken würde es anfangen zu schütten.

„Der arme Mr Ratface wird noch ganz nass. Sollen wir ihn nicht hereinbitten?“

„Sein Name ist einfach Ratface. Ich kann Ihnen versichern, dass er es Ihnen nicht übel nehmen wird, wenn Sie ihn so nennen.“

„Das kann doch unmöglich sein richtiger Name sein.“

„Aber so nennt er sich selbst.“ Der Regen hatte nun eingesetzt und es schien ihr falsch, einen Mann dort draußen stehen zu lassen, wenn man hier in der Mühle trocken blieb.

„Trotzdem hoffe ich, dass er nicht nass wird.“

„Natürlich wird Ratface nass. Er bekommt das doppelte Salär wie andere in seiner Position und er ist sehr froh über seine Anstellung.“

Sophie eilte zum Tor und spähte nach draußen. Mittlerweile goss es in Strömen. Der Leibwächter stand neben der Kutsche und hielt sich eine Pferdedecke über den Kopf. Es war ihr egal, wie groß und furchteinflößend er war, er sah ganz und gar erbärmlich aus, wie er unter der tropfenden Decke ausharrte. Ohne nachzudenken, rannte sie nach draußen und schrie auf, als das kalte Wasser ihr auf Hände und Gesicht prasselte und in die Augen lief. Es war so eisig! Sie sprang über immer größer werdende Pfützen und war wenige Augenblicke später bei Mr Ratface.

„Kommen Sie!“, rief sie und versuchte, die kalten Rinnsale im Nacken zu ignorieren. „Kommen Sie rein. Hier draußen werden Sie noch ertrinken!“

Das ließ sich Mr Ratface nicht zweimal sagen. Er drückte sich von der Kutsche ab, teilte sich mit Sophie die Pferdedecke und rannte auf die sichere Sägemühle zu.

* * *

Quentin sah entsetzt zu, wie Sophie durch den Regen sprang. Alles, was er wollte, war, Pieters Stunden zu retten, und nun steckte er mitten im Nirgendwo in einem heftigen Regenguss. Feuchtes Wetter ließ sein schlimmes Bein bis in die Knochen schmerzen. Er nahm einen Schluck von dem konzentrierten Weidenrindensud, den er immer für diesen Fall in einem kleinen Fläschchen bei sich hatte. Er schmeckte nach Baumrinde, aber half wenigstens gegen den Schmerz.

Das Tor wurde aufgestoßen und Sophie kam mit durchnässtem Kleid herein. Es war durch den Regen merklich kühler geworden und sie würde sich sicher eine Lungenentzündung holen und alle auf Dierenpark anstecken. Noch vor dem Ende der Woche würden sie alle dahingerafft sein. Und das nur, weil sie nicht davon ablassen konnte, Ratface unter ihre Fittiche zu nehmen. Er ließ seine Jacke an sich heruntergleiten und reichte sie ihr. „Hier, ziehen Sie das an. Sie werden sich noch den Tod holen.“

Sie lachte und wrang ihre Röcke aus. „Zuerst will ich ein wenig trocknen. Tut mir leid, Mr Ratface, dass Sie so nass werden mussten.“ Sie lächelte den Leibwächter an.

Ratface trat von einem Bein aufs andere. „Ähm ... nur Ratface, Ma’am.“

„Aber ich nenne Sie viel lieber Mr Ratface.“

Ratface sah Quentin verwirrt an. Dann räusperte er sich. „Mein richtiger Name ist Pureheart, Ma’am. Aber bitte, nennen Sie mich Ratface.“

Quentin verschluckte sich vor Lachen am Tee und versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Ratface sah noch betretener drein. „Meine Mutter liebte diesen einen Vers aus der Bibel. Es ging um ein reines Herz und um Gottes Angesicht. Deswegen wohl Pureheart.“

„‚Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen‘?“

„Genau der“, gab Ratface zu. „Meine Mutter war eine gute Frau, aber von ganzem Herzen wünschte ich mir, sie hätte mir einen vernünftigen Namen gegeben.“

Sophie zuckte zusammen. „Mein richtiger Name ist Sophronia. Ich kann Sie verstehen, glauben Sie mir. Aber kommen Sie, ich zeige Ihnen beiden die Sägemühle.“

Sie gingen in einen Bereich, wo man Büroräume einbauen konnte und wo genügend Platz für die großen Wetterkarten war. Mit atemloser Stimme und mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen führte Sophie ihre Gedanken aus. Sie musste jämmerlich frieren, war pitschnass und lächelte trotzdem. Ihre ganze Person strahlte eine Wärme und Fröhlichkeit aus, die die verlassene Mühle erfüllte.

Ratface und er liefen der plappernden Sophie nach, aber Quentin hörte längst nicht mehr zu. Ihr Wunsch, aus der verlassenen Sägemühle ein Wetterobservatorium zu machen, war aller Ehren wert, aber nicht sein Problem. Er war nur hier, weil sie sonst Pieter nicht weiter unterrichtete. Draußen regnete es noch immer in Strömen und der Wind rüttelte so stark an den Bäumen, dass immer wieder die silbrige Unterseite der Blätter zu sehen war. Wahrscheinlich steckten sie hier noch stundenlang fest.

„Also wussten Sie, dass es regnen würde“, warf er ein, als sie gerade vom Duft einer frisch zersägten Weymouth-Kiefer schwärmte.

„Die Herren in Washington liegen um einen halben Tag daneben, aber, ja, ich wusste, dass es ein wenig regnen wird.“

„Die Wunder der Wissenschaft. Wie kann eine fromme Christin wie Sie überhaupt an die Meteorologie glauben? Widerlegt die Fähigkeit des Menschen, das Wetter vorherzusagen, nicht die Existenz Gottes?“

Sophie schien keinen Anstoß an seiner Frage zu nehmen. „Wetterereignisse werden durch eine Analyse der Veränderungen im atmosphärischen Druck vorhergesagt. Der Allmächtige hat der Natur ihre Regeln gegeben und wir werden allmählich immer besser darin, sie zu verstehen. Das heißt aber nicht, dass er nicht ihr Schöpfer ist.“

„Aber wieso sollte der Schöpfer sein Werk im Stich lassen?“ Eins seiner stärksten Argumente gegen die Religion war stets die Frage gewesen, wieso Gott, wenn er denn existierte, sich manchen Menschen so offen zeigte, anderen gegenüber verbarg er sich hartnäckig. Es schien reichlich unfair und ergab keinen logischen Sinn. „Ihr Allmächtiger hat mit Mose und Abraham offenbar nach Belieben geplaudert. Wieso nicht mit unsereins?“

„Vielleicht plaudert er ja, aber Sie hören nicht zu.“

Quentin humpelte zu einer alten Bank, setzte sich und streckte das schlimme Bein aus. Der Schmerz, jetzt, wo das Blut wieder freier zirkulieren konnte, ließ ihn zusammenzucken. „Das reicht nicht, Miss van Riijn. Dahinter steckt keine Logik. Wenn es Gott gibt, wieso zeigt er sich dann nicht einfach und sagt uns, was er von uns will? Wieso müssen wir nach staubigen Schriftrollen suchen, die in Sprachen geschrieben sind, die niemand mehr lesen kann, und erraten, was sie bedeuten? Wieso beweist er uns nicht einfach, dass er existiert?“

Eigentlich verschwendete er selten Zeit damit, mit Bibelverfechtern, die der Vernunft gegenüber nicht aufgeschlossen waren, über Theologie zu debattieren, aber sie waren hier bis zum Ende des Regens gefangen und da war ein Thema so gut wie das andere.

Sophie schien die Frage etwas aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie dachte nach. „Was, wenn der Regen plötzlich aufhörte, die Wolken sich teilten und Gott am Himmel erschiene, Sie finster ansähe und sagte, Sie sollen sich gefälligst benehmen? Dann hätten Sie keine andere Wahl, als an ihn zu glauben und ihm zu gehorchen. Sie würden seiner Lehre nicht mehr aus freien Stücken folgen, sondern aus Angst. Es steckt sogar ziemlich viel Logik dahinter. Man muss nur offen dafür sein.“

„Sie werfen mir tatsächlich vor, engstirnig zu sein?“ Dabei war er der offenste, fortschrittlichste Mann der Welt, vernunftgesteuert und bei klarem Verstand. „Ich bin bereit, über alles nachzudenken, solange die Fakten dafür sprechen.“

„Aber Sie betrachten alles nur mit Ihrem Verstand. Ich glaube vielmehr, dass Gott uns viele Wege gegeben hat, die Welt zu erfahren. Sehen, Hören, Fühlen ... und auch das Herz. Wenn ich meine Gedanken und mein Verhalten an Jesus ausrichte, spüre ich ihn in meinem Herzen und die Art, wie ich die Welt sehe, verändert sich.“

„Mein Herz hat schon genug damit zu tun, meinen lädierten Körper am Leben zu halten. Da kann ich nicht auch noch kryptische Nachrichten von Jesus Christus entziffern, mit Verlaub.“

„Sie und Ihr Zynismus.“ Sophie sah aus den zerbrochenen Fenstern. Ihr Profil war so schön wie auf einer Kamee. Wie musste es sein, die Welt durch ihre Augen zu sehen? Neid machte sich in ihm breit.

Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.

Er sah weg. Dieser Text war wie gemacht für Sophie. Nicht, dass er selbst für Religion nichts übrig hatte. Er war ihr nur viel zu häufig ausgesetzt gewesen, als er seinem Großvater quer über den Erdball von Heiligenschrein zu Heiligenschrein gefolgt war, von einer vermeintlichen Erleuchtung zur nächsten. Als Kind war er mit Nickolaas nach Indien gereist, auf der Suche nach Buddha. Ein Jahr darauf war sein Großvater davon überzeugt gewesen, dass das Goldene Vlies existierte. Also hatten sie sich von einer griechischen Insel zur nächsten gehangelt. Nie waren sie länger als einige Monate geblieben. Nickolaas hatte immerzu darauf gebrannt, herauszufinden, was hinter dem Horizont lag. Sie hatten tibetanische Kloster besucht, waren durch Tulpenfelder in Holland gelaufen und hatten Löwen in Kenia beobachtet. „Fernweh“, hatte sein Großvater immer gesagt. Kaum hatte Quentin sich in ihrem neuen Quartier eingewöhnt und sich mit den Hotelangestellten angefreundet, hatte ihn Nickolaas aus seiner Umgebung gerissen und sich auf die nächste spirituelle Suche gemacht.

Manchmal hatte sich Portias Familie zu ihnen gesellt, was sicher der Grund dafür gewesen war, dass ihre Freundschaft sich stetig verfestigt hatte. Sie waren zwei entwurzelte Kinder gewesen, die einander verstanden. Abgesehen von seinem Großvater war Portia die einzige Konstante in seinem Leben gewesen. Ihre Freundschaft hatte ihm unendlich viel bedeutet. Seine Erinnerungen an all die fernen Augenblicke waren bis heute von bittersüßen Gedanken an Portia geprägt.

Portia. Allein schon ihr Name löste eine Welle schmerzhafter Erinnerungen aus. Acht Jahre war sie nun schon tot, aber er hatte seither keinen Gedanken an Wiederheirat verschwendet. Wenn schon er und Portia es nicht geschafft hatten, eine gute Ehe zu führen, wie sollte er sich da ein zweites Mal auf sein Gefühl verlassen?

Er sah Sophie an, deren Gesicht trotz des Dämmerlichts in der Sägemühle zu leuchten schien, während sie Ratface erklärte, wie die Entrindungsmaschine funktionierte. Irgendwie erinnerte sie ihn an sein früheres Ich, noch bevor Krankheit und Verzweiflung seine Welt zerstört hatten. Hoffnung war eine gefährliche Sache und er hatte längst aufgehört, damit herumzuspielen. Er musste auf Distanz von Sophie bleiben.

Das bedeutete jedoch nicht, dass er ihren Träumen im Weg stehen musste. Diese verlassene Sägemühle gehörte nicht zum Grundstück von Dierenpark und es war seinem Großvater sicher egal, was Quentin damit tat. Es gab keinen vernünftigen Grund, warum er Sophies Wunsch zunichtemachen sollte, das Wetteramt hierherzulocken.

Sophie und Ratface beobachteten gerade belustigt, wie ein Eichhörnchen sich draußen auf das schmale Fensterbrett rettete, um nicht völlig durchnässt zu werden. Ihr Kichern ging ihm auf die Nerven.

„Sobald es aufhört zu regnen, verlassen wir diesen Ort wieder“, unterbrach er ihr Gespräch. „Nutzen Sie die Mühle, wie Sie wollen, es ist mir egal. Aber hören Sie bloß mit diesem fürchterlichen Kichern auf, bevor ich noch den Verstand verliere.“

Kaum waren die Worte aus seinem Mund, bereute er sie schon. Wieso konnte er nicht ein Mal Sophie etwas Gutes tun, ohne es gleich wieder mit seiner gemeinen Art zunichtezumachen? Sein Bein schmerzte, sein Kopf dröhnte und er konnte ihren leichtfertigen Optimismus nicht mehr ertragen. Die Melancholie zog wieder herauf, er spürte es.

* * *

Eine ungemütliche Stille machte sich breit, bis der Regen nach zwanzig Minuten nachließ. Ohne Grund war er unhöflich und schroff zu Sophie gewesen, aber er würde es wiedergutmachen. Er würde alles tun, was nötig war, um eins dieser neumodischen Wetterobservatorien in die Stadt zu holen.

Als sie wieder auf Dierenpark waren, ließ Quentin Mr Gilroy in die Orangerie holen, den einzigen Ort, wo sie für sich sein konnten. Es war lästig, jeden seiner Schritte von einem Spion seines Großvaters beobachtet zu wissen, aber zumindest leugnete Mr Gilroy es nicht mehr. Noch besser, Mr Gilroy setzte sein beträchtliches Talent hin und wieder für Quentin ein. Quentin erzählte Mr Gilroy von Sophies Herzenswunsch und davon, dass er den Vandermark’schen Einfluss dazu nutzen wollte, um das Observatorium Wirklichkeit werden zu lassen. Der erste Schritt musste sein, herauszufinden, wer in Washington die Entscheidungen traf.

„Finden Sie alles über den Direktor des Wetteramts heraus“, trug Quentin Mr Gilroy auf. „Wo er zur Schule ging, was er im Herrenzimmer trinkt, wie seine Frau heißt. Tragen Sie an ihn heran, dass ich bereit bin, ein wissenschaftliches Projekt zu finanzieren und dass ich seinen Besuch auf Dierenpark erwarte. Das sollte ihm den Mund wässrig machen.“ Ein wenig Bestechung konnte viel bewirken in dieser Welt, obwohl Quentin immer darauf achtete, solcherlei Handlungen als wohltätige Spenden oder Höflichkeiten zu kaschieren, indem er beispielsweise die richtigen Leute einander vorstellte.

„Betrachten Sie die Sache als erledigt“, erwiderte Mr Gilroy kühl.

Quentin blieb noch lange allein in der Orangerie. Den anderen im großen Haus gegenüberzutreten, erschien ihm undenkbar. Wieder hatte ihn eine dieser düsteren Stimmungen erfasst. Wie lange würde sie dieses Mal dauern? Einen Tag? Einen Monat? Wer wusste das schon. Er verstand nicht, wieso und weshalb ihn diese melancholischen Phasen ereilten.

Er war sich nur einer Sache ganz sicher: Sophie war ein durch und durch guter Mensch. Sie war die Freundlichkeit in Person. Wenn jemand derart Reines wie sie ihn nicht aus dieser dunklen Ödnis retten konnte, dann konnte es niemand. Es beschämte ihn, aber wenn ihn diese schlechte Laune in ihren Fängen hatte, hielt er es in ihrer Gegenwart nicht aus. Sie erinnerte ihn an seine verlorene, glückliche Jugend. An eine Welt voller Sonnenstrahlen, Chancen und an endlose Sommertage. Etwas an ihr entfachte eine solche Hoffnung in ihm, dass er mehr vom Leben erwarten wollte als die engen Grenzen, in die ihn sein gebrochener Körper und Geist zwängten.

Die Schmerzen in seinem Bein waren unerträglich. Quentin griff nach seinem Stock, biss die Zähne zusammen und stand auf. Genug des Selbstmitleids. Es war Zeit, zurück ins Haus zu gehen und um Pieters willen seine Pflicht zu erfüllen. Im Augenblick bedeutete das, Sophie zu ertragen, weil sie auf Pieters Ängste eine Art Zauberwirkung hatte. Und wenn er sie mit einem exklusiven Wetterobservatorium glücklich machen konnte, dann konnte dieser Kauf ja vielleicht auch seine eigene Laune verbessern. Wenn er ehrlich war, zauberte schon allein der Gedanke daran ein kleines Lächeln auf seine Lippen.

Sophie weckte in ihm das Bedürfnis, ein besserer Mensch zu werden, und das hatte er schon seit Ewigkeiten nicht mehr gespürt.