Iwan Turgenjew

Die schönsten Liebesgeschichten

Insel Verlag

Inhalt

Der Kreisarzt

Das Stelldichein

Drei Begegnungen

Faust. Erzählung in neun Briefen

Ein Briefwechsel

Asja

Erste Liebe

Das Lied der triumphierenden Liebe. (MDXLII)

Nach dem Tode. (Klara Militsch)

Textquellennachweise

Der Kreisarzt

Einmal erkältete ich mich im Herbst auf der Rückfahrt aus einem sehr abgelegenen Jagdgebiet und wurde krank. Ich kann noch von Glück sprechen, daß mich das Fieber in der Kreisstadt packte, im Gasthof; ich schickte nach dem Doktor. Eine halbe Stunde später erschien der Kreisarzt, ein kleiner Mann, schwarzhaarig und hager. Er verschrieb mir das übliche schweißtreibende Mittel, hieß mich ein Senfpflaster auflegen und ließ sehr geschickt meinen Fünfrubelschein in seinem Ärmelaufschlag verschwinden, wobei er jedoch trocken hüstelte und beiseite blickte. Er wollte sich gerade auf den Heimweg machen, da kam er, ich weiß nicht wie, mit mir ins Gespräch und blieb. Mich plagte das Fieber; ich sah eine schlaflose Nacht voraus und war froh, mit dem guten Mann ein wenig plaudern zu können. Ich ließ Tee bringen, und mein Doktor kam ins Erzählen. Er war kein dummer Mensch und drückte sich gewandt und recht launig aus. Sonderbar geht es in der Welt zu: Mit manchem Menschen lebt man lange zusammen, man steht mit ihm in freundschaftlichen Beziehungen, spricht aber nie frei und offenherzig mit ihm; mit einem andern aber ist man kaum bekannt geworden ‒ und sieh da, schon hast du ihm oder hat er dir, wie bei der Beichte, die tiefsten Geheimnisse ausgeplaudert. Ich weiß nicht, womit ich mir das Vertrauen meines neuen Freundes verdient hatte, jedenfalls erzählte er mir ohne besondere Veranlassung und ohne selbst recht zu wissen, wie er dazu kam, ein ziemlich merkwürdiges Erlebnis. Ich will seine Erzählung nunmehr dem geneigten Leser wiedergeben. Ich werde mich dabei bemühen, mich mit den Worten des Arztes auszudrücken.

»Sie kennen wohl nicht zufällig«, begann er mit leiser und zitternder Stimme ‒ die Wirkung von unvermischtem Berjosower Tabak ‒, »Sie kennen wohl nicht zufällig den hiesigen Richter, Mylow, Pawel Lukitsch? ‒ Sie kennen ihn nicht. Nun, das macht nichts.« Er räusperte sich und rieb sich die Augen. »Also, sehen Sie, die Sache trug sich ‒ was soll ich Ihnen sagen, ich will nicht lügen ‒ zu den großen Fasten zu, mitten im schlimmsten Tauwetter. Ich sitze so bei ihm, bei unserem Richter, und spiele Preference. Unser Richter ist ein braver Mann und ein leidenschaftlicher Preferencespieler. Plötzlich« ‒ mein Arzt gebrauchte sehr oft das Wort »plötzlich« ‒ »wird mir gesagt: ›Ein Mann fragt nach Ihnen.‹ Ich sage: ›Was will er denn?‹ ‒ ›Er bringt einen Brief‹, sagt man, ›wahrscheinlich von einem Kranken.‹ ‒ ›Gib den Brief her‹, sage ich. Und so war es auch, er war von einem Kranken. Na schön. Sie verstehen, das ist unser Brot. Es handelte sich um folgendes: Eine Gutsbesitzerin, eine Witwe, schrieb mir, ihre Tochter liege im Sterben. ›Kommen Sie‹, schrieb sie, ›um unseres Herrgotts willen; die Pferde‹, schrieb sie, ›sind schon nach Ihnen geschickt.‹ Nun, das ist alles noch nichts Besonderes. Aber sie wohnte zwanzig Werst weit von der Stadt weg, draußen war es Nacht, und die Wege waren einfach fürchterlich! Und sie selber war arm, mehr als zwei Silberrubel hatte ich nicht zu erwarten, und auch das war noch zweifelhaft, vielleicht mußte ich mich mit Leinwand oder irgendwelchen Kleinigkeiten begnügen. Aber die Pflicht geht allem andern vor, Sie verstehen: Es lag ein Mensch im Sterben. Ich übergebe also plötzlich meine Karten dem ständigen Ratsmitglied Kalliopin und mache mich auf den Heimweg. Vor der Freitreppe sehe ich schon einen klapprigen Wagen stehen, Bauernpferde davor, dickbäuchig, sehr dickbäuchig, mit wolligem Haar, richtigem Filz, und der Kutscher sitzt da und hat aus Respekt die Mütze abgenommen. Na, denke ich, man sieht, Bruder, deine Herrschaft ißt nicht von goldenen Tellern. Sie lachen, aber ich sage Ihnen: Ein armer Teufel wie unsereiner muß alles in Betracht ziehen … Wenn der Kutscher wie ein Fürst dasitzt, statt untertänig nach der Mütze zu greifen, spöttisch unter seinem Bart hervorlächelt und mit der Peitsche spielt ‒ dann kann man schon mit zwei Banknoten rechnen! Aber hier, das merkte ich gleich, sah es nicht danach aus. Aber, denke ich, das ist nicht zu ändern, die Pflicht geht allem vor. Ich packe die nötigsten Arzneien zusammen und fahre los. Ob Sie es glauben ‒ nur mit Müh und Not kam ich bis hin. Der Weg war höllisch: Bäche, Schnee, Dreck, tiefe Pfützen, an einer Stelle war plötzlich ein Damm gebrochen ‒ es war fürchterlich! Aber endlich bin ich da. Das Haus ist klein, mit Stroh gedeckt. Die Fenster sind erleuchtet, man wartet also schon. Eine alte Frau, sehr ehrwürdig, eine Haube auf dem Kopf, kommt mir entgegen.

›Retten Sie sie‹, sagt sie, ›sie stirbt!‹

Ich sage:

›Ängstigen Sie sich nicht. Wo ist die Kranke?‹

›Bemühen Sie sich, bitte, hier herein.‹

Ich sehe mich um: ein sehr sauberes Stübchen, in der Ecke die Ewige Lampe, im Bett ein Mädchen von vielleicht zwanzig Jahren, bewußtlos. Hitze strahlt von ihr aus, sie atmet schwer ‒ sie hat hohes Fieber. Noch zwei andere Mädchen sind da, ihre Schwestern, ganz verstört und in Tränen.

›Gestern war sie noch vollkommen gesund‹, sagen sie, ›und aß mit Appetit; heute morgen klagte sie über Kopfschmerzen, und gegen Abend war sie plötzlich in diesem Zustand.‹

Ich sage wiederum: ›Ängstigen Sie sich nicht!‹ ‒ Sie wissen, das ist die Pflicht des Arztes ‒ und gehe ans Werk. Ich ließ sie zur Ader, verordnete Senfpflaster und verschrieb eine Mixtur. Unterdessen blickte ich sie an … Ich blickte sie an, wissen Sie, nun, bei Gott, ein solches Gesicht hatte ich noch nie gesehen … Mit einem Wort, eine Schönheit! Mitleid überkam mich. Diese angenehmen Züge, diese Augen … Nun, Gott sei Dank, sie wurde ruhiger; der Schweiß brach aus, sie schien wieder zur Besinnung zu kommen. Sie blickte um sich, lächelte, strich sich mit der Hand übers Gesicht. Die Schwestern beugten sich über sie und fragten:

›Wie geht dir's?‹

›Ganz gut‹, sagte sie und wandte sich ab.

Ich sah, sie war eingeschlafen.

›Nun‹, sagte ich, ›jetzt müssen wir die Kranke in Ruhe lassen.‹

Und so gingen wir alle auf Zehenspitzen hinaus; nur das Stubenmädchen blieb für alle Fälle zurück. Im Salon stand schon der Samowar auf dem Tisch, und auch Jamaikarum stand da; in unserem Beruf kommt man ohne das nicht aus. Man schenkte mir Tee ein und bat mich, über Nacht zu bleiben. Ich war einverstanden ‒ wohin sollte ich jetzt auch fahren! Die alte Frau stöhnte in einem fort.

›Was haben Sie‹, sagte ich, ›sie wird wieder gesund, ängstigen Sie sich nicht, ruhen Sie sich lieber selbst mal aus, es geht auf zwei Uhr.‹

›Aber Sie lassen mich wecken, wenn etwas vorfallen sollte?‹

›Gewiß, gewiß.‹

Die Alte ging, und auch die Mädchen begaben sich in ihr Zimmer. Für mich war im Salon ein Bett aufgeschlagen worden. Und so legte ich mich nieder. Aber ich fand keinen Schlaf. Was war das nur! Ich hatte mich doch wirklich zur Genüge abgeplagt. Die ganze Zeit über ging mir meine Kranke nicht aus dem Kopf. Endlich hielt ich es nicht mehr aus und stand plötzlich auf. Ich will mal gehen, dachte ich, und sehen, was mein Patient macht. Ihr Schlafzimmer lag nämlich neben dem Salon. Ich stand also auf und öffnete leise die Tür. Das Herz klopfte mir nur so. Ich sehe: Das Stubenmädchen schläft, hat den Mund weit offen und schnarcht auch noch, der Trampel! Die Kranke aber liegt mit dem Gesicht zu mir und hat die Arme weit von sich gestreckt, das arme Ding! Ich trete näher … Da schlägt sie plötzlich die Augen auf und starrt mich an!

›Wer ist das? Wer ist das?‹

Ich gerate in Verwirrung.

›Erschrecken sie nicht, gnädiges Fräulein‹, sage ich, ›ich bin der Doktor, ich komme nur, um nachzusehen, wie es Ihnen geht.‹

›Sie sind der Doktor?‹

›Ja, der Doktor, der Doktor. Ihre Frau Mutter hat nach mir in die Stadt geschickt. Wir haben Sie zur Ader gelassen, gnädiges Fräulein. Jetzt belieben Sie zu ruhen, und so nach zwei Tagen etwa werden wir Sie mit Gottes Hilfe wieder auf die Beine stellen.‹

›Ach, ja, ja, Doktor, lassen Sie mich nicht sterben ‒ bitte!‹

›Was sagen Sie da, Gott sei mit Ihnen!‹

Sie hat wieder Fieber, denke ich bei mir. Ich fühle ihr den Puls ‒ richtig, Fieber. Sie sieht mich an, und plötzlich nimmt sie meine Hand.

›Ich will Ihnen sagen, warum ich nicht sterben möchte, ich will es Ihnen sagen, ich will es Ihnen sagen … Jetzt sind wir allein. Aber, bitte, Sie dürfen es niemandem … Hören Sie zu …‹

Ich beugte mich zu ihr hinab; sie brachte ihre Lippen ganz dicht an mein Ohr, ihre Haare berührten meine Wange, ich gestehe, mir drehte sich alles im Kopf, dann begann sie zu flüstern. Ich verstand kein Wort … Ach, sie phantasierte wohl nur! Sie flüsterte und flüsterte, aber so hastig und anscheinend gar nicht auf russisch. Als sie geendet hatte, erschauerte sie, ließ den Kopf kraftlos aufs Kissen sinken und drohte mir mit dem Finger: ›Hören Sie, Doktor, niemandem …‹ Mit Mühe gelang es mir, sie zu beruhigen. Ich gab ihr zu trinken, weckte das Stubenmädchen und ging hinaus.«

Hier schnupfte der Arzt wieder erbittert seinen Tabak und saß dann einen Augenblick lang wie erstarrt da.

»Indessen«, fuhr er fort, »am nächsten Tag ging es der Kranken, entgegen meinen Erwartungen, nicht besser. Ich überlegte und überlegte und entschloß mich plötzlich zu bleiben, obwohl mich noch andere Patienten erwarteten. Sie wissen ja, man darf da nicht nachlässig sein, darunter leidet die Praxis. Aber erstens befand sich die Kranke wirklich in Gefahr, und zweitens ‒ ich muß schon die Wahrheit sagen ‒ empfand ich eine starke Zuneigung zu ihr. Außerdem gefiel mir überhaupt die ganze Familie. Die Leute waren zwar unvermögend, aber man kann sagen: gebildet, wie man es selten findet. Der Vater war ein gelehrter Mann gewesen, ein Schriftsteller, und natürlich in Armut gestorben, aber seinen Kindern hatte er eine ausgezeichnete Erziehung zuteil werden lassen; und auch viele Bücher hatte er hinterlassen. War es nun, weil ich mich so eifrig um die Kranke bemühte, oder mochte es irgendwelche andere Ursachen haben, jedenfalls darf ich sagen, daß man mich in dem Hause liebgewann wie einen Verwandten. Unterdessen waren infolge des Tauwetters die Wege grundlos geworden; alle Verkehrsverbindungen waren sozusagen völlig abgebrochen; sogar die Arznei konnte aus der Stadt nur mit Mühe beschafft werden. Das Befinden der Kranken besserte sich nicht. Tag um Tag verging, Tag um Tag … Aber da, auf einmal …« Der Arzt schwieg eine Weile. »Wirklich, ich weiß nicht, wie ich Ihnen das auseinandersetzen soll.« Er schnupfte abermals, hüstelte und trank einen großen Schluck Tee. »Ich will es Ihnen ohne Umschweife sagen, meine Kranke … Nun, sie hatte mich eben liebgewonnen ‒ oder nein, nicht gerade liebgewonnen … Im übrigen … wirklich, das ist, wie soll ich sagen …« Er senkte den Kopf und errötete.

»Nein«, fuhr er lebhaft fort, »was heißt liebgewonnen! Man muß schließlich wissen, wer man ist. Sie war ein gebildetes Mädchen, klug, belesen, und ich habe sogar mein Latein, man kann sagen vollständig, vergessen. Und was mein Äußeres betrifft« ‒ der Arzt blickte lächelnd an sich hinunter ‒, »so kann ich damit, wie es scheint, ebenfalls nicht prahlen. Doch hat mich der Herrgott auch nicht als Dummkopf in die Welt gesetzt; ich nenne weiß nicht schwarz und kapiere schon dieses und jenes. Ich begriff zum Beispiel sehr gut, daß Alexandra Andrejewna ‒ sie hieß Alexandra Andrejewna ‒ keine Liebe für mich empfand, sondern sozusagen eine freundschaftliche Zuneigung, so etwas wie Achtung. Obwohl sie sich in dieser Hinsicht vielleicht täuschte ‒ aber in was für einem Zustand befand sie sich denn, urteilen Sie selbst … Übrigens«, fügte der Arzt hinzu, der all diese abgerissenen Sätze ohne Atem zu holen und mit offensichtlicher Verlegenheit hervorbrachte, »mir scheint, ich bin ein wenig durcheinandergeraten. So werden Sie überhaupt nichts verstehen. Ich will Ihnen jetzt, wenn Sie erlauben, alles der Reihe nach erzählen.«

Er leerte ein Glas Tee und sprach dann mit ruhigerer Stimme weiter.

»Ja, so war das. Meiner Kranken ging es immer schlechter, immer, immer schlechter. Sie sind kein Mediziner, mein Herr; Sie können nicht verstehen, was in unsereinem vorgeht, besonders in den ersten Jahren, wenn man zu ahnen beginnt, daß man der Krankheit nicht Herr wird. Wo bleibt da das Selbstvertrauen! Plötzlich wird man so verzagt, daß es sich gar nicht beschreiben läßt. Es kommt einem vor, als hätte man alles vergessen, was man wußte, als vertraute einem der Kranke nicht mehr, als fingen die anderen schon an zu merken, daß man nicht mehr aus noch ein weiß, als teilten sie einem die Krankheitssymptome nur ungern mit, als blickten sie einen stirnrunzelnd an und tuschelten miteinander ‒ abscheulich! Es gibt doch bestimmt ein Mittel gegen diese Krankheit, denkt man, man muß es nur finden. Ob es das hier ist? Man versucht es ‒ nein, das ist es nicht! Man läßt der Arznei nicht mehr die Zeit, gehörig zu wirken. Man greift nach dem und jenem, versucht eins nach dem andern. Man nimmt das Rezeptbuch her. Da muß es doch stehen! denkt man. Wahrhaftig, manchmal schlägt man es aufs Geratewohl auf, vielleicht will es das Schicksal, denkt man … Und unterdessen liegt der Kranke im Sterben. Ein anderer Arzt könnte ihn vielleicht noch retten. ›Es ist eine ärztliche Beratung nötig‹, sagt man, ›ich kann die Verantwortung nicht allein auf mich nehmen.‹ Als was für ein Narr steht man in solchen Fällen da! Nun, mit der Zeit gewöhnt man sich daran, es macht einem nichts mehr aus. Stirbt der Mensch, so ist es nicht deine Schuld, du hast nach deinen Vorschriften gehandelt. Es gibt aber noch etwas, was einen besonders quält: Man sieht das blinde Vertrauen, das einem entgegengebracht wird, und fühlt selbst, daß man nicht imstande ist zu helfen. Und eben ein solches Vertrauen setzte Alexandra Andrejewnas ganze Familie in mich; sie hatten fast vergessen, daß die Tochter in Gefahr war. Ich versicherte ihnen auch meinerseits, daß es nicht schlimm sei, obwohl ich selbst allmählich allen Mut verlor. Um das Unglück voll zu machen, waren die Wege so schlecht geworden, daß der Kutscher manchmal ganze Tage unterwegs war, um eine Arznei zu holen. Ich aber kam aus dem Zimmer der Kranken gar nicht mehr heraus, ich konnte mich nicht losreißen. Ich erzählte ihr alle möglichen lustigen Geschichten, wissen Sie, und spielte Karten mit ihr. Auch die Nächte saß ich bei ihr. Die Alte dankte mir unter Tränen, während ich bei mir dachte: Ich bin deines Dankes nicht wert. Ich gestehe es Ihnen ganz offen ‒ jetzt brauche ich es ja nicht mehr zu verbergen ‒, ich hatte mich in meine Kranke verliebt. Auch Alexandra Andrejewna hing an mir. Es kam vor, daß sie niemanden zu sich ins Zimmer ließ außer mir. Sie fing an, sich mit mir zu unterhalten, sie fragte mich aus, wo ich studiert hätte, wie ich lebe, wer meine Verwandten seien, mit wem ich verkehre. Und dabei fühlte ich, daß es nicht gut für sie war, sich zu unterhalten, aber es ihr verbieten, einfach resolut verbieten, wissen Sie, das konnte ich nicht. Manchmal griff ich mir an den Kopf: Was tust du nur, du Räuber! Aber dann nahm sie meine Hand und hielt sie fest und sah mich an; lange, lange sah sie mich an, wandte sich ab, seufzte und sagte: ›Wie gut Sie sind!‹ Ihre Hände waren so heiß, ihre Augen so groß und sehnsuchtsvoll …

›Ja‹, sprach sie, ›Sie sind gut, sie sind ein lieber Mensch, nicht so wie unsere Nachbarn … Nein, Sie sind nicht so … Wie kommt es nur, daß ich Sie bisher nicht gekannt habe!‹

›Alexandra Andrejewna, beruhigen Sie sich‹, sagte ich, ›glauben Sie mir, ich fühle es, ich weiß nicht, womit ich es verdient habe … Nur beruhigen Sie sich, um Gottes willen, beruhigen Sie sich … Alles wird gut, Sie werden wieder gesund …‹

Und dabei muß ich Ihnen sagen«, fügte der Arzt hinzu, wobei er sich vorbeugte und die Brauen hochzog, »daß sie mit ihren Nachbarn wenig Umgang hatten, denn die kleinen Gutsbesitzer paßten nicht zu ihnen, und mit den reichen zu verkehren verbot ihnen ihr Stolz. Ich sage Ihnen, es war eine ungewöhnlich gebildete Familie, und so war es für mich auch sehr schmeichelhaft, wissen Sie. Die Arznei nahm sie nur aus meiner Hand … Sie richtete sich mit meiner Hilfe auf, die Ärmste, nahm die Arznei und blickte mich an … Mein Herz, das pochte nur so. Dabei ging es ihr immer schlechter, immer schlechter. Sie wird sterben, dachte ich, sie wird ganz bestimmt sterben. Ob Sie es glauben, ich hätte mich lieber selber ins Grab gelegt. Und die Mutter, die Schwestern beobachteten alles, sahen mir in die Augen ‒ und das Vertrauen schwand.

›Nun? Wie ist es?‹

›Nichts, nichts Besonderes.‹

Aber was heißt da nichts, man konnte den Verstand dabei verlieren!

So sitze ich eines Nachts, wieder allein, bei der Kranken. Das Stubenmädchen sitzt auch da und schnarcht aus Leibeskräften. Nun ja, dem unglückseligen Mädchen konnte man es nicht übelnehmen, sie rackerte sich auch ab. Alexandra Andrejewna hatte sich schon den ganzen Abend gar nicht wohl gefühlt, das Fieber quälte sie. Bis Mitternacht warf sie sich fortwährend hin und her; endlich schien sie eingeschlafen zu sein, wenigstens bewegte sie sich nicht mehr und lag still. Vor dem Heiligenbild in der Ecke brannte das Ewige Lämpchen. Ich sitze da, wissen Sie, lasse den Kopf hängen und nicke schließlich auch ein. Plötzlich ist mir, als hätte mich jemand in die Seite gestoßen, ich wende mich um ‒ Herr mein Gott! Alexandra Andrejewna starrte mich mit großen Augen an, die Lippen standen offen, die Wangen glühten.

›Was ist Ihnen?‹

›Doktor, nicht wahr, ich muß sterben?‹

›Gott bewahre!‹

›Nein, Doktor, nein, bitte, sagen Sie mir nicht, daß ich am Leben bleiben werde … Sagen Sie es nicht … Wenn Sie wüßten … Hören Sie, verbergen Sie mir um Gottes willen meinen Zustand nicht!‹ Und dabei atmet sie ganz hastig. ›Wenn ich genau weiß, daß ich sterben muß, dann werde ich Ihnen alles sagen, alles!‹

›Alexandra Andrejewna, ich bitte Sie!‹

›Hören Sie, ich habe doch gar nicht geschlafen, ich habe Sie nur immerzu angesehen … Um Gottes willen, ich glaube Ihnen, Sie sind ein guter Mensch, ein ehrlicher Mensch, ich beschwöre Sie bei allem, was es Heiliges auf der Welt gibt, sagen Sie mir die Wahrheit! Wenn Sie wüßten, wie wichtig das für mich ist. Doktor, sagen Sie mir um Gottes willen: Bin ich in Gefahr?‹

›Was soll ich Ihnen sagen, Alexandra Andrejewna, ich bitte Sie!‹

›Ich flehe Sie an, um Gottes willen!‹

›Ich kann es Ihnen nicht verhehlen, Alexandra Andrejewna, Sie sind wirklich in Gefahr, aber Gott ist barmherzig.‹

›Ich werde also sterben, ich werde sterben.‹ Es war, als freue sie sich, ihr Gesicht heiterte sich auf. Ich erschrak. ›Nein, fürchten Sie nichts, fürchten Sie nichts, mich schreckt der Tod gar nicht.‹ Sie richtete sich plötzlich auf und stützte sich auf den Ellbogen. ›Jetzt … nun, jetzt kann ich Ihnen sagen, daß ich Ihnen von ganzem Herzen dankbar bin, daß Sie ein guter, lieber Mensch sind, daß ich Sie liebe.‹ Ich sah sie an wie ein Irrer, mir graute, wissen Sie. ›Hören Sie denn nicht, ich liebe Sie!‹

›Alexandra Andrejewna, womit habe ich das verdient?‹

›Nein, nein, Sie verstehen mich nicht … du verstehst mich nicht.‹

Und plötzlich streckte sie die Arme aus, schlang sie um meinen Kopf und küßte mich … Ob Sie es glauben, ich hätte beinahe aufgeschrien. Ich warf mich auf die Knie und barg meinen Kopf in ihr Kissen. Sie schwieg; ihre Finger zitterten auf meinem Haar; ich hörte, daß sie weinte. Ich tröstete sie, redete ihr zu, ich weiß wirklich nicht mehr, was ich ihr alles gesagt habe.

›Sie werden das Mädchen aufwecken, Alexandra Andrejewna‹, sagte ich. ›Ich danke Ihnen … Glauben Sie mir … Beruhigen Sie sich …‹

›Ach, laß doch, laß doch‹, antwortete sie, ›Gott mit ihnen, mögen sie aufwachen, mögen sie kommen, das ist mir gleich, ich werde ja doch sterben. Warum bist du denn so verzagt, wovor fürchtest du dich? Heb den Kopf ‒ oder lieben Sie mich vielleicht gar nicht, habe ich mich vielleicht getäuscht? In diesem Fall, bitte verzeihen Sie mir.‹

›Alexandra Andrejewna, was sagen Sie da! Ich liebe Sie, Alexandra Andrejewna!‹

Sie sah mir fest in die Augen und breitete die Arme aus.

›So umarme mich!‹

Ich sage Ihnen offen: Ich verstehe nicht, daß ich in jener Nacht nicht den Verstand verloren habe. Ich fühle, daß sich meine Kranke selber zugrunde richtet; ich sehe, daß sie nicht ganz bei Sinnen ist; ich begreife auch, daß sie, wenn sie sich nicht dem Tode geweiht wüßte, gar nicht an mich denken würde. Denn nicht wahr, es ist doch schrecklich, mit fünfundzwanzig Jahren sterben zu müssen, ohne je einen Menschen geliebt zu haben. Denn das war es doch, was sie quälte, und nur deswegen, aus Verzweiflung, klammerte sie sich an mich. Verstehen Sie jetzt? Nun, sie ließ mich nicht aus ihren Armen.

›Schonen Sie mich, Alexandra Andrejewna, und schonen Sie auch sich selbst‹, sagte ich.

›Wozu‹, sagte sie, ›weshalb schonen? Ich muß ja doch sterben.‹ Das wiederholte sie unablässig. ›Ja, wenn ich wüßte, daß ich am Leben bleiben und wieder ein ehrsames Fräulein sein würde, dann würde ich mich schämen, wirklich schämen, aber so?‹

›Und wer hat Ihnen gesagt, daß Sie sterben werden?‹

›Ach, nicht, hör auf, du täuschst mich nicht, du verstehst nicht zu lügen, sieh dich nur selber an!‹

›Sie werden leben, Alexandra Andrejewna, ich werde Sie wieder gesund machen. Dann wollen wir Ihre Mutter um ihren Segen bitten, wir werden uns für immer verbinden und glücklich sein.‹

›Nein, nein, ich habe Ihr Wort, daß ich sterben muß. Du hast es mir versprochen, du hast es mir gesagt.‹

Mir war schwer ums Herz, aus mehr als einem Grunde. Urteilen Sie selbst: Es sind zuweilen so belanglose Dinge, die man erlebt, es hat anscheinend gar nichts zu bedeuten, aber es tut doch weh. Es fiel ihr plötzlich ein, mich nach meinem Namen zu fragen, nicht nach dem Familiennamen, sondern nach dem Vornamen. Nun will es doch das Unglück, daß ich Trifon heiße. Jawohl, ja, Trifon, Trifon Iwanytsch. Im Hause nannten mich alle nur Doktor. Da half nun nichts, ich sagte also: ›Trifon, gnädiges Fräulein.‹ Sie blinzelte, schüttelte den Kopf und flüsterte etwas auf französisch, ach, es war wohl nichts Gutes, und dann lachte sie, das war auch nicht schön. So verbrachte ich fast die ganze Nacht bei ihr. Frühmorgens verließ ich sie, ganz benommen, und kam erst am Tag, nach dem Tee, wieder zu ihr ins Zimmer. Mein Gott, mein Gott! Sie war nicht wiederzuerkennen: vom Tode gezeichnet. Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, ich verstehe jetzt nicht mehr, ich verstehe absolut nicht, wie ich diese Folter ausgehalten habe. Drei Tage und drei Nächte hielt sich meine Kranke noch am Leben ‒ und was waren das für Nächte! Was hat sie mir nicht alles gesagt! … Und in der letzten Nacht, stellen Sie sich vor, sitze ich neben ihr und bitte Gott nur um eines: Nimm sie recht bald zu dir und mich gleich mit dazu! Da tritt plötzlich die alte Mutter ins Zimmer. Ich hatte ihr, der Mutter, schon am Abend gesagt, daß wenig Hoffnung sei und daß es wohl gut wäre, den Geistlichen zu holen. Sowie die Kranke ihre Mutter erblickte, sagte sie:

›Ja, es ist gut, daß du kommst. Da, sieh uns an, wir lieben uns, wir haben einander das Wort gegeben.‹

›Was sagt sie, Doktor, was hat sie?‹

Ich erstarrte.

›Sie phantasiert‹, sagte ich, ›es ist das Fieber.‹

Darauf sie:

›Hör auf, hör auf, du hast mir soeben etwas ganz anderes gesagt, und den Ring hast du von mir genommen … Warum verstellst du dich? Meine Mutter ist gut, sie wird uns verzeihen, sie wird verstehen, und ich, ich sterbe doch ‒ ich brauche nicht zu lügen. Gib mir die Hand …‹

Ich sprang auf und stürzte hinaus. Die Alte erriet natürlich alles.

Ich will Sie jedoch nicht länger ermüden, es ist auch für mich selbst schwer genug, offen gestanden, mich an all das zu erinnern. Meine Kranke verschied am folgenden Tag. Das Himmelreich sei ihr beschieden!« setzte der Arzt hastig und mit einem Seufzer hinzu. »Vor ihrem Tode bat sie ihre Angehörigen, hinauszugehen und mich mit ihr allein zu lassen. ›Vergeben Sie mir‹, sagte sie, ›ich bin vielleicht schuldig vor Ihnen … Die Krankheit … Aber, glauben Sie mir, ich habe nie jemanden mehr geliebt als Sie … Vergessen Sie mich nicht … und bewahren Sie meinen Ring …‹«

Der Arzt wandte sich ab; ich nahm ihn bei der Hand.

»Ach ja«, sagte er, »sprechen wir von etwas anderem, oder hätten Sie Lust, eine Partie Preference mit kleinem Einsatz zu spielen? Unsereiner, wissen Sie, soll sich nicht so erhabenen Gefühlen hingeben. Unsereins hat nur daran zu denken, daß die Kinder nicht schreien und die Frau nicht schimpft. Seit jener Zeit bin ich nämlich, wie man so sagt, eine gesetzliche Ehe eingegangen … Nun ja, ich habe eine Kaufmannstochter geheiratet: siebentausend Mitgift. Sie heißt Akulina, das paßt zu Trifon. Ich muß Ihnen sagen, ein böses Weib, aber zum Glück schläft sie den ganzen Tag … Also, wie wär's mit einer Partie Preference?«

Wir setzten uns zum Spiel, die Partie um eine Kopeke. Trifon lwanytsch gewann mir zwei und einen halben Rubel ab und ging spät fort, sehr zufrieden mit seinem Sieg.

Das Stelldichein

Im Herbst, um die Mitte des September, saß ich einmal in einem Birkenwäldchen. Seit dem frühen Morgen fiel ein feiner Regen, der zeitweilig mit warmem Sonnenschein abwechselte; das Wetter war unbeständig. Bald überzog sich der Himmel mit lockerem weißem Gewölk, bald klärte er sich plötzlich stellenweise für einen Augenblick auf, und dann zeigte sich zwischen den auseinandergeschobenen Wolken das klare, heitere Blau wie ein herrliches Auge. Ich saß da, blickte um mich und lauschte. Die Blätter rauschten leise über meinem Kopf; schon an ihrem Rauschen konnte man erkennen, welche Jahreszeit war. Es war nicht das fröhliche, lachende Beben des Frühlings, nicht das sanfte Geflüster, das lange Gemurmel des Sommers, nicht das spröde und kalte Stammeln des Spätherbstes, sondern ein kaum hörbares, schläfriges Geplauder. Ein schwacher Wind strich fast unmerklich durch die Wipfel. Das Innere des regenfeuchten Wäldchens veränderte sich fortwährend, je nachdem, ob die Sonne schien oder eine Wolke sie verhüllte; zuweilen leuchtete es auf, als beginne alles in ihm zu lächeln. Die dünnen Stämme der nicht allzu dicht stehenden Birken nahmen unversehens den zarten Glanz von weißer Seide an, die auf dem Erdboden liegenden zierlichen Blätter färbten sich mit einemmal bunt und funkelten wie Dukatengold, die schönen Wedel der hohen, gekräuselten Farne, die sich schon mit ihrer Herbstfarbe geschmückt hatten, die der Farbe überreifer Weintrauben gleicht, waren von Licht durchflimmert und kreuzten und verwirrten sich vor dem Blick; dann bekam plötzlich alles ringsum einen bläulichen Ton: Die hellen Farben erloschen jäh, die Birken standen ganz weiß und ohne Glanz da, weiß wie frischgefallener Schnee, den der kalt spielende Strahl der Wintersonne noch nicht berührt hat; und heimlich, verstohlen begann der feine Regen durch den Wald zu rieseln und zu flüstern. Das Laub an den Birken war noch fast grün, obwohl schon merklich verblichen; nur hier und da stand ein einzelnes junges Bäumchen ganz rot oder ganz golden dazwischen, und man muß einfach gesehen haben, wie es in der Sonne grell aufflammte, wenn ihre Strahlen plötzlich, gleitend und alles färbend, durch das dichte Netz der dünnen Zweige drangen, die der blinkende Regen soeben gewaschen hatte. Nicht ein einziger Vogel war zu hören: Alle hatten sich verkrochen und waren verstummt; nur bisweilen erklang wie ein stählernes Glöckchen die spöttische Stimme einer Meise. Bevor ich in diesem Birkenwäldchen haltmachte, war ich mit meinem Hund durch einen hohen Espenhain gewandert. Ich muß gestehen, ich liebe diesen Baum ‒ die Espe ‒ nicht übermäßig, diesen Baum mit seinem blaßlila Stamm und seinem graugrünen metallisch glänzenden Laub, das er so weit wie möglich emporreckt und wie einen zitternden Fächer in der Luft entfaltet; ich liebe das ewige Geschaukel seiner runden, unregelmäßigen Blätter nicht, die so plump an den langen Stielen sitzen. Schön sieht die Espe nur an manchen Sommerabenden aus, wenn sie, einzeln aus niedrigem Gebüsch aufragend, von den brandroten Strahlen der untergehenden Sonne getroffen wird und, von der Wurzel bis zum Gipfel gleichmäßig mit rötlichgelbem Licht übergossen, leuchtet und zittert oder wenn sie sich an einem klaren, windigen Tag vor dem blauen Himmel rauschend in die Windströmung schmiegt und jedes ihrer Blätter, von diesem Drang ergriffen, sich losreißen, davonflattern und in die Ferne treiben zu wollen scheint. Aber im allgemeinen liebe ich diesen Baum nicht, und darum hatte ich auch nicht in dem Espenhain haltgemacht, um zu rasten, sondern war bis zu dem Birkenwäldchen weitergegangen, hatte mich unter einem Baum niedergelassen, dessen Äste dicht über dem Erdboden ansetzten und mich folglich vor dem Regen schützen konnten, und war, nachdem ich den Anblick der mich umgebenden Landschaft genossen hatte, in jenen sorglosen und sanften Schlaf gesunken, den nur die Jäger kennen.

Ich kann nicht sagen, wie lange ich geschlafen habe, aber als ich die Augen aufschlug, war das Innere des Waldes ganz von Sonne erfüllt, und überall schimmerte und funkelte durch das freudig rauschende Laub der leuchtendblaue Himmel; die Wolken waren verschwunden, vom auffrischenden Wind vertrieben; das Wetter hatte sich aufgeklärt, und in der Luft spürte man jene besondere trockene Frische, die das Herz mit Munterkeit erfüllt und fast immer einen friedlichen und klaren Abend nach einem regnerischen Tag ankündigt. Ich wollte schon aufstehen und von neuem mein Jagdglück versuchen, als meine Augen plötzlich an einer regungslosen menschlichen Gestalt hängenblieben. Ich sah genauer hin: Es war ein junges Bauernmädchen. Sie saß zwanzig Schritt von mir entfernt, hatte den Kopf sinnend gebeugt und beide Hände in den Schoß sinken lassen; in der einen, halb geöffneten Hand lag ein dicker Strauß Feldblumen, der bei jedem ihrer Atemzüge immer mehr auf den gewürfelten Rock hinabglitt. Das saubere weiße Hemd, das am Hals und an den Handgelenken zugeknöpft war, schmiegte sich in kurzen, weichen Falten um ihren Körper; große gelbe Glasperlen hingen in zwei Schnüren von ihrem Hals auf die Brust hinab. Sie war sehr hübsch. Ihr dichtes, helles Haar, das von wunderschöner aschblonder Farbe war, trat in zwei sorgfältig gekämmten Halbkreisen unter einem schmalen hellroten Band hervor, das fast bis in die Stirn gezogen war, die weiß war wie Elfenbein; der übrige Teil ihres Gesichtes wies jene ganz leichte goldene Sonnenbräune auf, die nur eine zarte Haut annimmt. Ihre Augen konnte ich nicht sehen ‒ sie hob die Lider nicht, aber deutlich sah ich ihre schmalen, hohen Brauen, ihre langen Wimpern: Sie waren feucht, und auf einer ihrer Wangen glänzte in der Sonne die ausgetrocknete Spur einer Träne, die erst an den leicht erblaßten Lippen haltgemacht hatte. Ihr ganzes Köpfchen sah lieblich aus; selbst die etwas zu dicke und runde Nase verdarb den Eindruck nicht. Besonders gefiel mir der Ausdruck ihres Gesichtes: Er war so offen und sanft, so traurig und so voll kindlicher Ratlosigkeit der eigenen Traurigkeit gegenüber. Offenbar wartete sie auf jemanden. Im Wald knackte etwas leise. Sofort hob sie den Kopf und sah sich um; in dem durchsichtigen Schatten erglänzten ihre Augen vor mir, große, helle, scheue Augen wie die einer Hindin. Ein paar Augenblicke lauschte sie, ohne die weit geöffneten Augen von der Richtung abzuwenden, aus der das schwache Geräusch gekommen war; dann seufzte sie, drehte still den Kopf, beugte sich noch tiefer hinab als zuvor und begann langsam die Blumen zu ordnen. Ihre Augenlider röteten sich, die Lippen zuckten schmerzlich, und eine neue Träne rollte unter den dichten Wimpern hervor und blieb, hell blinkend, an der Wange hängen. So verging eine ganze Weile; das arme Mädchen rührte sich nicht, nur hin und wieder rang sie sehnsüchtig die Hände und lauschte, lauschte nur immer … Wieder raschelte etwas im Wald ‒ sie schreckte hoch. Das Geräusch erstarb nicht, es wurde deutlicher, näherte sich, und schließlich hörte man feste, eilige Schritte. Sie richtete sich auf und schien befangen zu werden; ihr aufmerksamer Blick zitterte und erglühte vor Erwartung. Zwischen dem Gesträuch sah man rasch die Gestalt eines Mannes auftauchen. Das Mädchen blickte unverwandt zu ihm hin, errötete jäh, lächelte froh und glücklich, wollte aufstehen und sank doch gleich wieder in sich zusammen, erblaßte, wurde verwirrt und hob den bebenden, beinahe flehenden Blick erst dann zu dem herankommenden Mann empor, als dieser neben ihr stehenblieb.

Neugierig betrachtete ich ihn aus meinem Hinterhalt. Ich muß gestehen, er machte auf mich keinen guten Eindruck. Es war allen Anzeichen nach der verwöhnte Kammerdiener eines jungen, reichen Gutsherrn. Seine Kleidung verriet die Absicht, Geschmack und eine stutzerhafte Nachlässigkeit zu zeigen: Er trug einen kurzen, bis oben zugeknöpften bronzefarbenen Paletot, der sicherlich einst im Schrank des Gutsherrn gehangen hatte, eine rosa Halsbinde mit lila Enden und eine Schirmmütze aus schwarzem Samt mit goldenen Litzen, die tief in die Stirn gezogen war. Der runde Kragen seines weißen Hemdes rieb ihm unbarmherzig die Ohren und schnitt ihm in die Backen, und die gestärkten Manschetten bedeckten die ganze Hand bis zu den roten, krummen Fingern, an denen silberne und goldene Ringe mit Vergißmeinnichtblüten aus Türkisen prangten. Sein rotbäckiges, frisches und freches Gesicht gehörte zu den Gesichtern, die, soviel ich habe beobachten können, bei Männern fast immer Widerwillen hervorrufen und den Frauen leider sehr oft gefallen. Er bemühte sich offensichtlich, seinen groben Zügen einen verächtlichen und gelangweilten Ausdruck zu geben; fortwährend kniff er seine ohnehin winzigen, milchiggrauen Augen zusammen, runzelte die Stirn, zog die Mundwinkel herab und gähnte gezwungen; mit achtloser, jedoch nicht ganz gekonnter Lässigkeit glättete er seine rotblonden, eitel geringelten Schläfenhaare oder zupfte an den gelben Härchen, die auf seiner dicken Oberlippe sprossen ‒ kurz, er benahm sich unerträglich albern und affektiert, und zwar erst, seitdem er das junge Bauernmädchen erblickt hatte, das ihn erwartete. Langsam, mit wiegendem Schritt näherte er sich ihr, blieb ein Weilchen vor ihr stehen, zuckte die Achseln, steckte beide Hände in die Taschen seines Paletots und ließ sich, das arme Mädchen kaum eines flüchtigen und gleichgültigen Blickes würdigend, auf die Erde nieder.

»Na«, begann er, während er noch immer zur Seite blickte, mit dem Fuß wippte und gähnte, »bist du schon lange hier?«

Das Mädchen vermochte ihm nicht gleich zu antworten.

»Ja, schon lange, Wiktor Alexandrytsch«, sagte sie schließlich mit kaum hörbarer Stimme.

»Aha!« Er nahm die Mütze ab, fuhr sich mit großspuriger Gebärde über das dichte, stark gewellte Haar, das fast unmittelbar über den Brauen ansetzte, blickte würdevoll um sich und bedeckte dann wieder behutsam sein kostbares Haupt. »Und ich hätte es beinahe ganz vergessen. Dazu noch der Regen!« Er gähnte wieder. »Ich habe noch eine Unmenge zu tun; auf alles kann man einfach nicht achten, und der schimpft auch noch. Morgen fahren wir …«

»Morgen?« brachte das Mädchen hervor und richtete den erschrockenen Blick auf ihn.

»Ja, morgen … Na, na, na, ich bitte dich«, unterbrach er sich schnell und ärgerlich, als er sah, daß sie am ganzen Körper zitterte und langsam den Kopf senkte, »bitte, Akulina, weine nicht. Du weißt, ich kann das nicht leiden.« Dabei rümpfte er seine stumpfe Nase. »Sonst gehe ich gleich fort … Was sind das für Dummheiten ‒ zu heulen!«

»Ich weine nicht, ich weine nicht«, sagte Akulina schnell und schluckte mühsam ihre Tränen hinunter. »Also morgen fahren Sie?« fügte sie nach einem kurzen Schweigen hinzu. »Wann wird Gott es fügen, daß wir uns wiedersehen, Wiktor Alexandrytsch?«

»Wir werden uns schon wiedersehen. Wenn nicht nächstes Jahr, dann eben später. Der Herr will, glaube ich, in Petersburg in den Staatsdienst treten«, fuhr er fort, indem er die einzelnen Wörter nachlässig und ein wenig durch die Nase aussprach, »aber vielleicht reisen wir auch ins Ausland.«

»Sie werden mich vergessen, Wiktor Alexandrytsch«, sagte Akulina traurig.

»Nein, weshalb denn? Ich werde dich nicht vergessen: Sei du nur vernünftig, mach keine Dummheiten, gehorche deinem Vater … Ich werde dich nicht vergessen, nein, nein.« Und er reckte sich seelenruhig und gähnte wieder.

»Vergessen Sie mich nicht, Wiktor Alexandrytsch«, fuhr sie flehend fort, »ich habe Sie doch so geliebt, ich habe doch alles für Sie … Sie sagen, ich soll meinem Vater gehorchen, Wiktor Alexandrytsch … Aber wie soll ich denn dem Vater gehorchen …«

»Was denn sonst?«

Diese Worte klangen, als kämen sie aus seinem Magen; er lag auf dem Rücken und hatte die Hände unter den Kopf gelegt.

»Wie soll ich denn … Wiktor Alexandrytsch, Sie wissen selbst …«

Sie verstummte. Wiktor spielte mit seiner stählernen Uhrkette.

»Du bist doch ein gescheites Mädchen, Akulina«, fing er endlich wieder an, »darum rede keinen Unsinn. Ich will dein Bestes, verstehst du mich? Natürlich, du bist doch nicht dumm, nicht durch und durch Bäuerin, sozusagen; und deine Mutter war ja auch nicht immer Bäuerin. Aber du hast doch immerhin keine Bildung ‒ also mußt du gehorchen, wenn man dir etwas sagt.«

»Ich habe solche Angst, Wiktor Alexandrytsch.«

»I, so ein Unsinn, mein liebes Kind: Wovor denn Angst? Was hast du da?« fügte er hinzu und rückte näher an sie heran. »Blumen?«

»Ja, Blumen«, antwortete Akulina niedergeschlagen. »Ich habe da Rainfarn gepflückt«, fuhr sie etwas lebhafter fort, »der ist gut für die Kälber. Und das hier ist Zweizahn ‒ der ist gegen Skrofeln. Und sehen Sie mal, was das für ein wunderhübsches Blümchen ist; so ein hübsches Blümchen habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Das hier sind Vergißmeinnicht, und das sind Veilchen … Und das hier habe ich für Sie gepflückt«, fügte sie hinzu und holte unter dem gelben Rainfarn ein kleines Sträußchen blauer Kornblumen hervor, die mit einem dünnen Grashalm zusammengebunden waren. »Wollen Sie es?«