Sigríður Hagalín Björnsdóttir

Blackout Island

Roman

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Suhrkamp

Blackout Island

Für Gummi

No man is an Iland, intire of it selfe; every man is a peece of the Continent, a part of the maine; if a Clod bee washed away by the Sea, Europe is the lesse, as well as if a Promontorie were, as well as if a Mannor of thy friends or of thine owne were; any mans death diminishes me, because I am involved in Mankinde: And therefore never send to know for whom the bell tolls; It tolls for thee.

John Donne, 1572-1631

Prolog

Hört mir zu.

Wir sind hier. Wir leben.

Wir sind über tausend verschiedene Wege miteinander verbunden; Worte, Stimmen, Berührungen, Blutsbande, Geschichten, Lieder, Kabelstränge, Straßen, digitale Mitteilungen. Manchmal auch einfach nur, weil wir dieselbe Sonne über den Himmel wandern sehen, dasselbe Lied im Radio hören, denselben Text vor uns hin summen, gedankenverloren, während wir die Teller vom Abendessen abspülen.

So ist es, wenn man einer Gesellschaft angehört. Oder einer Nation, oder der Menschheit.

Und manchmal passiert etwas, das uns noch fester zusammenschweißt. Hochzeiten, Geburten und Todesfälle verbinden Familien; Katastrophen, Kriege und Sportwettkämpfe vereinen Nationen, bringen die Menschen dazu, im Gleichschritt zu marschieren.

Und manchmal passiert etwas, das die gesamte Menschheit vereint, unser aller Schicksal miteinander verknüpft, als wäre die Gravitation ins Schlingern geraten und die Welt für einen kurzen Moment geschrumpft, enger geworden. Später weiß jeder, wo er war, als es geschah, als die Meldung kam.

Und manchmal wird die Welt so klein, dass sie nur noch aus einem einzigen Menschen besteht. Ein einsamer Mann in einem verlassenen Fjord.

Svangi

Das Licht bricht durch das Grau, strahlt über den Bergrücken und ergießt sich wie Milch in den Fjord. Das zweite Lamm kommt heraus und fällt auf den steinigen Strand, es ist rostbraun, genau wie das erste.

Blödes Vieh, runter zum Meer zu laufen, zum Gebären, man könnte meinen, es wollte die armen Kleinen ertränken. Ich spüle mir das Blut von den Händen, während das Lamm zusammen mit seinem Geschwisterchen zum Euter wankt. Beide sind munter, obwohl die Mutter ausgemergelt ist, führen einen heldenhaften Kampf gegen die Schwerkraft, zittern auf ihren dünnen Beinchen, mühen sich ab, zur Zitze zu gelangen.

Die Hündin gähnt und legt den Kopf auf die Vorderpfoten, sie ist erschöpft von der Suche nach dem entlaufenen Schaf. Ich halte Ausschau nach Raben und Möwen und anderen ungebetenen Gästen, befürchte, sie könnten sich die Lämmer am Hof schnappen. Wir müssen zurück nach Hause.

Móra fixiert mich mit misstrauischen Schafaugen, kein Hauch von Dankbarkeit oder Gehorsam im Blick. Sie ist mein bestes Schaf, führt stets die Herde an, und die anderen folgen ihr blind. Es verheißt nichts Gutes, dass sie nicht zu Hause gebären will, sondern runter zum Strand läuft, als wollte sie mitten in der Geburt hinaus aufs Meer.

Ich klemme mir unter jeden Arm ein Lamm und mache mich auf den Rückweg. Týra läuft voraus, und die Aue folgt uns blökend, lässt es sich aber nicht nehmen, die ersten blassen Halme auszurupfen. Der Frühling kommt zeitig dieses Jahr. Vielleicht wird es ein trügerischer Frühling mit Frost bis in den Juni. Hier ist nicht viel zu holen.

Tau tropft vom welken Gras, die Straße hat sich in ein Bachbett verwandelt, hin und wieder hört man donnernde Erdrutsche an Felshängen und Klippen, wenn der Winter den Fjord aus seinen Klauen entlässt und Schneewechten und Bruchgestein ins Meer stürzen. Jedes Mal steht das Herz für einen Moment still, und der geschundene Leib zuckt zusammen – jetzt kommen sie, jetzt haben sie mich entdeckt, zur Hölle mit ihnen.

Noch nicht.

Die Rastlosigkeit hat mich schon mehrmals fjordauswärts die Hänge hinaufgetrieben, um von dort über mein kleines Königreich zu blicken, diesen kargen Grund. Ich muss mich vergewissern, dass es zwischen Felsen und Gestrüpp gut versteckt liegt, das verlassene Gehöft, in dem seit Jahrzehnten niemand mehr gelebt hat, das Haus, das einst einen anderen, optimistischeren Namen trug, aber nun Svangi, der Hungrige, heißt. Der Name wird das Schicksal nicht herausfordern, darauf vertraue ich.

Der wolkenlose Himmel wirft keinen Schatten, ich sehe nirgends Rauch, höre weder Hundegebell noch menschliche Stimmen oder Motorengeräusche. Doch ich traue der Stille nicht, ruhig Blut, husche zum Haus wie ein Fuchs in seinen Bau, wie ein Flohkrebs unter einen Stein, wie ein Geächteter mit zwei gestohlenen Lämmern. Das Tageslicht ist ein verräterischer Freund, aber ich hüte mich davor, es zu verfluchen, nach dem schwarzen, nicht enden wollenden Winter.

Ich lasse Móra und die Lämmer auf die Wiese zu den anderen Schafen, will dann ins Haus. In der Türöffnung bleibe ich stehen, schließe die Augen und atme tief ein, der Geruch im Haus ist erdig und merkwürdig tröstlich, es riecht nach Feuchtigkeit, Schafmist und nassem Hund. Früher war der Türrahmen einmal weiß gestrichen, aber jetzt ist das Holz schmutziggrau, fühlt sich glatt und geschmeidig an wie der Arm einer Frau, und ich streiche darüber, als ich ins Haus gehe. Eine Marotte, eine von tausend kleinen Angewohnheiten, die mein Dasein ausfüllen, die mich ablenken, wenigstens ein bisschen.

Acht Stufen führen hinauf zum Dachboden und in die alte Wohn- und Schlafstube, wo mein Tagebuch auf dem Schreibpult unter dem kleinen Fenster auf mich wartet. Die Seiten sind vergilbt und feucht, heute ist der 15. Mai, grob geschätzt. Wolkenlos, windstill, acht Grad. Móra hat zwei rostrote Zibbenlämmer geboren. Könnte schlimmer sein.

Ich wickele mich in die Decken, nehme die Fingerhandschuhe aus der Schublade und vermeide es, zu dem kleinen gusseisernen Ofen zu schauen. Das Wetter ist zu schön, um ihn anzuzünden, da könnte ich gleich eine Signalrakete abschießen.

Es gibt nichts zu tun außer schreiben, sich erinnern und schreiben. Früher bezeichnete ich mich immer als Dokumentar der Gegenwart und fand das ziemlich cool. Das passt gut, denn jetzt kann ich eine Chronik der zurückliegenden Ereignisse schreiben, das Verlorene beweinen, die Vergangenheit bezwingen, mir ins Gedächtnis rufen, wie die Verbindung abriss, wie das Licht schwächer wurde, wie die Dunkelheit hereinbrach.