Abschottung

Tim Marshall

Abschottung

Die neue Macht der Mauern

Aus dem Englischen von Hans-Peter Remmler

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Mit Karten und Abbildungen

Inhaltsverzeichnis

Über Tim Marshall

Tim Marshall ist ein anerkannter Experte für Außenpolitik. Er war Redakteur beim britischen Nachrichtensender Sky News und hat für die BBC aus mehr als dreißig Ländern und Regionen berichtet. Er war lange Korrespondent für Europa und den Nahen Osten und wurde für seine Berichterstattung vielfach ausgezeichnet. Seine Bücher wurden in über zehn Sprachen übersetzt, ›Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt‹ ist ein internationaler Bestseller.

Über das Buch

Ein Drittel aller Länder der Welt schottet sich heute mit befestigten Grenzen ab, die Hälfte davon ist seit dem Jahr 2000 entstanden. Das gilt auch für Europa, lange Zeit das Leuchtturmprojekt für eine offene Gesellschaft. Mauern prägen nicht nur die geographische, sondern auch die politische Landschaft.

Tim Marshall zeigt die Reaktionen auf Migration in den USA, in Europa und auf dem indischen Subkontinent, er untersucht den Nationalismus vor allem in China, Großbritannien und Afri-ka und die Spannungen zwischen Religion und Politik in Israel und im Nahen Osten.

Impressum

Aktualisierte Taschenbuchausgabe 2020

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Copyright © 2018 Tim Marshall

Titel der Originalausgabe:

›Divided. Why We’re Living in an Age of Walls‹,

erschienen bei Elliot and Thompson Ltd., London 2018

© der deutschsprachigen Ausgabe:

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München 2018

Umschlaggestaltung: dtv unter Verwendung von Fotos von

Shaul Schwarz/Getty Images (West Bank Separation Wall)

und Reza Estakhrian/Getty Images

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook 978-3-423-43470-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-34974-1

 

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ISBN (epub) 9783423434706

 

 

 

Für meine Mutter Margaret McDonald,

die ihr ganzes Leben mit dem Bau

von Brücken zugebracht hat

EINLEITUNG

Die Grenzmauer zwischen IsraelIsrael und PalästinaIsrael und dem PalästinaWestjordanlandWestjordanland gehört zu den abschreckendsten und feindseligsten Grenzbefestigungen der Welt. Aus der Nähe, ganz gleich von welcher Seite, ragt sie unmittelbar vor dem Betrachter auf, bedrückend und überwältigend. Vor dieser blanken Wand aus Stahl und Beton kommt man sich winzig vor, nicht nur wegen ihrer schieren Größe, sondern vor allem wegen ihrer Aussage. Auf der einen Seite stehst du – auf der anderen »die«.

Vor 30 Jahren wurde eine DeutschlandBerliner MauerBerliner MauerMauer niedergerissen – ein Ereignis, das ein Zeitalter der Weltoffenheit und Internationalität einzuläuten schien. 1987 trat Präsident Ronald Reagan, RonaldReagan ans Brandenburger Tor im geteilten Berlin und rief seinem Gegenüber in der SowjetunionSowjetunion jenen berühmten Satz zu: »Mister Gorbatschow, MichailGorbatschow, reißen Sie diese Mauer ein!« Zwei Jahre später fiel die Mauer tatsächlich. Berlin, Deutschland und dann auch EuropaEuropa waren wieder vereint. In diesen aufregenden Zeiten prophezeiten nicht wenige Intellektuelle schon ein Ende der Geschichte. Allein, Geschichte endet niemals.

Seit ein paar Jahren geht der Ruf nach dem Einreißen von Mauern zusehends in der allgegenwärtigen Festungsmentalität unter. Er wird kaum noch vernommen, kommt nicht mehr an gegen die erschreckenden Ausmaße der Massenmigration, den Widerstand der Globalisierungsgegner, den wiedererstarkten NationalismusNationalismus, den Kollaps des Kommunismus und all die Spätfolgen der Anschläge vom 11. September 2001. Diese Verwerfungen werden unsere Welt auf Jahre hinaus prägen.

Es ist viel die Rede von der Mauer in Israel, der Grenzmauer zwischen den USA und Mexiko und einigen vergleichbaren Projekten in Europa, aber die wenigsten nehmen wahr, dass weltweit neue Grenzmauern hochgezogen werden. Überall auf der Welt sind im 21. Jahrhundert Tausende Kilometer an neuen Mauern und Zäunen entstanden. Mindestens 65 Länder, mehr als ein Drittel aller Staaten der Welt, haben Barrieren an ihren Grenzen errichtet. Die Hälfte aller Grenzbefestigungen, die seit dem Zweiten Weltkrieg entstanden, datieren aus dem Jahr 2000 und danach.

Allein in Europa könnte es innerhalb weniger Jahre mehr Kilometer an Mauern, Zäunen und Barrieren geben als zum Höhepunkt des Kalten Krieges. Es begann mit den Grenzen zwischen GriechenlandGriechenland und MazedonienMazedonien, MazedonienMazedonien und SerbienSerbien, dann SerbienSerbien und UngarnUngarn, und – der Schrecken ob der neuen Stacheldrähte war kaum gewichen – es ging immer so weiter. SlowenienSlowenien schloss die Grenze zu KroatienKroatien, ÖsterreichÖsterreich schottete sich von SlowenienSlowenien ab, SchwedenSchweden errichtete Barrieren gegen illegale Einwanderer an der Grenze zu DänemarkDänemark. EstlandEstland, LettlandLettland und LitauenLitauen wiederum haben allesamt begonnen, Verteidigungsstellungen an der Grenze zu RusslandRussland aufzubauen.

Aber die Europäer sind gewiss nicht die Einzigen: Die Vereinigten Arabischen Emirate haben einen Zaun an der Grenze zum Oman gebaut, KuwaitKuwait desgleichen an der Grenze zum IrakIrak. Den IrakIrak trennt eine massive Grenze vom IranIran, dasselbe gilt für die kompletten 700 Kilometer zwischen IranIran und Pakistan. In Zentralasien hat sich Usbekistan, obwohl komplett landumschlossen, von seinen fünf Nachbarn AfghanistanAfghanistan, Tadschikistan, Kasachstan, Turkmenistan und Kirgisistan abgeschottet. Die Grenze zu Tadschikistan ist sogar vermint. Und so geht es immer weiter, über die Barrieren, die Brunei von Malaysia, Malaysia von Thailand, PakistanGrenze zu IndienPakistan von Indien, Indien von BangladeschBangladeschOstpakistanBangladesch, ChinaChina von Nordkorea, Nord- von Südkorea trennen, und wo sonst noch auf der Welt.

All diese Mauern sagen uns eine Menge über internationale Politik, doch die Ängste, für die sie stehen, gehen weit über die Staatsgrenzen hinaus, an denen sie errichtet wurden. Der Hauptgrund für die Mauern, die überall in EuropaEuropa aus dem Boden schießen, ist das Aufhalten der Migrationswelle – zugleich aber sagen sie sehr viel aus über die tiefgreifende Spaltung und die Instabilität innerhalb der Europäischen UnionEuropäische Union (EU) und innerhalb der Mitgliedsstaaten selbst. Die von Präsident Trump, DonaldTrump angekündigte Mauer an der Grenze zwischen den USAUSA und MexikoMexiko soll Migranten aus dem Süden stoppen, nutzt jedoch auch eine tiefer liegende Furcht vor demographischen Veränderungen, die viele seiner Anhänger umtreibt.

Trennlinien prägen die Politik auf allen Ebenen – auf der persönlichen, der lokalen, der nationalen und der internationalen. Jede Geschichte hat zwei Seiten, ebenso jede Mauer. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, was uns getrennt hat und uns weiterhin trennt. Nur dann können wir verstehen, was in der Welt von heute vor sich geht.

 

Denken Sie an den Anfang des Films ›2001: Odyssee im Weltraum‹,2001: Odyssee im Weltraum‹ jenes Science-Fiction-Meisterwerk von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1968. Die Sequenz ist betitelt mit ›The Dawn of Man‹, Aufbruch der frühe SiedlungenMenschheit. In der prähistorischen afrikanischen Savanne hat sich eine kleine Horde Menschenaffen friedlich an einem Wasserloch versammelt, als eine andere Horde auftaucht. Unsere tierischen Urahnen teilen, was sie haben, gerne innerhalb der eigenen Gruppe – aber nicht mit dieser anderen, fremden, »neuen« Gruppe. Unter großem Gekreische entwickelt sich ein Kampf, in dessen Verlauf die neue Horde das Wasserloch erobert und die bisherigen Besitzer vertreibt.

Hätten die Neuankömmlinge zu diesem Zeitpunkt die Fähigkeit besessen, ein paar Ziegelsteine zu fertigen und etwas Zement anzurühren, wären sie in der Lage gewesen, ihren neuen Besitz mit einer Mauer vor Konkurrenten zu schützen. Da das Ganze jedoch vor ein paar Millionen Jahren spielt, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich dem nächsten Kampf zu stellen, als die erste Horde, diesmal mit Knochen bewaffnet, ein paar Tage später zurückkommt, um ihr Territorium zurückzuerobern.

Wir haben uns schon immer unserer Umgebung verbunden gefühlt. Sich zu Gruppen zusammenzuschließen, durch Fremde in großer Zahl alarmiert zu sein oder auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren, all dies sind zutiefst menschliche Verhaltensweisen. Wir schließen Bündnisse, die fürs Überleben wichtig sind, aber auch für den sozialen Zusammenhalt. Wir entwickeln eine Gruppenidentität, was nicht selten zu Konflikten mit anderen führt. Unsere Gruppen konkurrieren um Ressourcen, aber das Ganze hat auch Elemente eines Identitätskonflikts – die alte Geschichte des »wir« auf der einen Seite und »die« auf der anderen.

In der Frühgeschichte der Menschheit waren wir Jäger und Jäger und SammlerSammler: Wir hatten uns weder irgendwo angesiedelt noch permanente, feste Ressourcen angeeignet, die Begehrlichkeiten bei »den anderen« hätten wecken können. Dann begannen in der Region, die wir heute als TürkeiTürkei und den Nahen Osten kennen, die Menschen mit der Landwirtschaft. Anstatt auf der Suche nach Nahrung weit umherzustreifen oder Vieh zu weiden, pflügten sie Felder und warteten ab, was dabei herauskam. Plötzlich (im Kontext der Evolution) sahen sich immer mehr von uns genötigt, Barrieren zu errichten: Wände und Dächer als Behausung für uns selbst und für das Vieh, Zäune zum Abstecken unseres Geländes, Festungen, in die man sich zurückziehen konnte, falls Eindringlinge das Territorium überrannten, und Wachposten zum Schutz des neuen Systems. Diese Mauern hatten einen bestimmten Zweck – den sie oft erfüllten.

Das Zeitalter der Mauern war über uns gekommen und diese eindrucksvollen Befestigungsanlagen haben für lange Zeit unsere Vorstellungswelt geprägt. Noch heute erzählen wir uns Geschichten über die Mauern von Troja, Jericho, Babylon, die Chinesische Chinesische MauerMauer, Groß-SimbabweSimbabwe, den HadrianswallHadrianswall, die Mauern der Inka in PeruPeru, Konstantinopels Mauern und viele andere mehr. Sie erstrecken sich durch alle Zeiten, Regionen und Kulturen, bis auf den heutigen Tag – nur kommen jetzt auch noch Suchscheinwerfer, Elektrizität und Überwachungskameras dazu.

Diese physischen Trennlinien finden indessen ihre Entsprechung in den Köpfen – gemeint sind die großen Ideen, die unsere Zivilisationen geleitet und uns ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelt haben, etwa das große Schisma des ChristentumsChristentum, die IslamSpaltung von Sunniten und SchiitenAufspaltung des Islam in SunnitenSunniten und SchiitenSchiiten und in jüngerer Vergangenheit die titanischen Schlachten zwischen Kommunismus, Faschismus und Demokratie.

Der Titel von Thomas Friedmans Buch ›Die Welt ist Die Welt ist flach (T. Friedman)flach‹ aus dem Jahr 2006 basierte auf dem Glauben, die GlobalisierungGlobalisierung würde uns unweigerlich näher zusammenbringen. Sie hat in der Tat den Welthandel angekurbelt: Wir können per Knopfdruck veranlassen, dass jemand in Shanghai etwas in ein Paket legt und an uns verschickt – aber das hat nicht unbedingt etwas mit Einheit zu tun. Die Globalisierung hat uns auch dazu gebracht, Barrieren zu errichten, insbesondere nach der Finanzkrise des Jahres 2008, als das Geld knapp wurde. Angesichts weiterer wahrgenommener Bedrohungen – Terrorismus, gewaltsame Konflikte, Flüchtlinge, Einwanderung, die immer tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich – klammern sich die Menschen noch fester an ihre jeweilige Gruppe. Das neue Zeitalter der Spaltung, in dem wir uns wiederfinden, wird durch die Entwicklungen der digitalen Welt widergespiegelt und verschärft.

Mark Zuckerberg, MarkZuckerberg, der Mitbegründer von FacebookFacebook, nahm an, die sozialen soziale MedienMedien würden uns einen. Er hat später eingeräumt, dass er falsch lag. In mancherlei Hinsicht haben sie uns näher zusammengebracht, gleichzeitig haben sie jedoch neuen Cyber-Sippen eine Stimme und eine Operationsbasis verliehen, und manche davon verbringen ihre Zeit größtenteils damit, ihre beleidigenden und spalterischen Äußerungen im World Wide Web auszukotzen. Heute scheint es mindestens so viele Sippen und entsprechend viele Konflikte zwischen diesen zu geben wie eh und je. Die Frage, vor der wir heute stehen, lautet: Welche Gestalt nehmen unsere modernen Sippen, Gruppen, Horden am Ende an? Definieren wir uns nach Gesellschaftsschicht, nach Abstammung, nach Religion, nach Nationalität? Und ist es für diese Gruppen überhaupt möglich, zu koexistieren?

Manchmal sprechen »die anderen« eine andere Sprache, haben eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder überhaupt andere Glaubensgrundsätze. Ein entsprechendes Beispiel konnte ich vor Kurzem in London beobachten, als ich mit einer Gruppe junger Journalisten aus aller Welt zusammen war, die ich bei einer Schulung betreute. Ich hatte den IranIran-IrakIrak-Iran-Irak-KriegKrieg erwähnt, in dem bis zu eine Million Menschen ihr Leben gelassen hatten, und benutzte irgendwann die vielleicht etwas unglückliche Formulierung »Moslems töten Moslems«. Ein junger Journalist aus ÄgyptenÄgypten sprang auf und rief, er könne nicht zulassen, dass ich so etwas sage. Ich verwies auf die statistischen Daten zu jenem furchtbaren Krieg, und er gab zurück: »Ja, aber die IranIraner sind doch gar keine Moslems.« Da fiel bei mir der Groschen, und ich sackte innerlich zusammen. Die Iraner sind mehrheitlich SchiitenSchiiten, ich fragte ihn also: »Wollen Sie damit sagen, SchiitenSchiiten seien keine Moslems?« »Genau, SchiitenSchiiten sind keine Moslems«, lautete seine Antwort.

Derlei Spaltungen haben nichts mit dem Streit um Ressourcen zu tun, sondern nur mit dem Beharren darauf, das jeweils eigene Denken stelle die einzige, absolute Wahrheit dar, und Menschen, die diese Ansicht nicht teilen, seien von minderem Rang. Bei solcher Gewissheit über die eigene Überlegenheit wachsen Mauern schnell. Kommt dann noch der Kampf um Ressourcen dazu, werden die Mauern nur noch höher. Genau an dem Punkt scheinen wir nun angelangt zu sein.

Die Welt ist in vielerlei Hinsicht ein besserer Ort als jemals zuvor. In den vergangenen Jahrzehnten konnten Hundertmillionen Menschen aus extremer Armut befreit werden; die Anzahl der Malariaerkrankungen sinkt; Kinderlähmung ist beinahe ausgerottet; die Kindersterblichkeit nimmt ab. Würden Sie lieber im 16. oder im 21. Jahrhundert leben? Trotz all ihres Reichtums und Wohlstands litt Queen Elisabeth I. viel stärker unter extremen Zahnschmerzen als alle Menschen heute in der westlichen Welt es je tun. Doch wir riskieren viel von diesem Fortschritt. Auf die Nachkriegszeit, die im Fall der Berliner Mauer kulminierte, folgte ein neuer Zeitabschnitt, in dem die politische Mitte immer stärker unter Druck gerät, während der Sirenengesang der Extremisten anschwillt. Wir machen nicht zwangsweise Rückschritte, aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, verstehen – und manchmal sogar akzeptieren – welche Trennlinien es gibt, wenn wir die Einheit als Ziel haben.

In diesem Buch steht der Begriff »Mauer« nicht nur für Mauern aus Stein, sondern für Barrieren, Zäune und Trennlinien aller Art. Wir sprechen in jedem einzelnen Kapitel von physischen Mauern – für die meisten davon braucht es Bausteine und Mörtel, oder Beton und Drahtzäune –, aber diese Mauern beschreiben das »Was« einer Spaltung, nicht das »Warum«, und sie sind erst der Anfang.

Ich konnte nicht auf jede geteilte Region der Welt eingehen. Vielmehr habe ich mich auf diejenigen konzentriert, an denen sich die Herausforderungen in Bezug auf die (eigene) Identität in einer globalisierten Welt am besten aufzeigen lassen: die Auswirkungen der Migration (USAUSA, EuropaEuropa und der indische Subkontinent); NationalismusNationalismus als zugleich einende und trennende Kraft (China, Großbritannien, Afrika) und die Schnittstellen von Religion und Politik (IsraelIsrael und der Nahe Osten).

In ChinaChina sehen wir einen starken Nationalstaat mit einer ganzen Reihe von Spaltungen innerhalb der eigenen Grenzen – etwa regionale Unruhen und das Wohlstandsgefälle –, die eine Gefahr für die nationale Einheit darstellen, den wirtschaftlichen Fortschritt und die Wirtschaftskraft insgesamt bedrohen; deshalb muss die Regierung das Volk der Chinesen unbedingt unter strenger Kontrolle halten. Auch die USA sind gespalten, wenn auch aus ganz anderen Gründen: Die Ära Trump, DonaldTrump hat die USARassenkonflikteRassenkonflikte im »Land of the Free« verschärft, aber auch einen in dieser Heftigkeit nie gesehenen Riss zwischen USARepublikanerRepublikanern und Demokraten offengelegt, die sich unversöhnlicher denn je gegenüberstehen.

Die Bruchlinien zwischen IsraelIsrael und PalästinaWestjordanlandPalästinaIsrael und Palästina sind nur zu bekannt. Bei den vielen weiteren Unterteilungen innerhalb der einzelnen Bevölkerungsgruppen ist es nahezu unmöglich, auch nur zu versuchen, sich einer Lösung anzunähern. An religiösen und ethnischen Grenzlinien entzündet sich Gewalt im gesamten Nahen Osten und unterstreicht dabei den zentralen IslamSpaltung von Sunniten und SchiitenDisput zwischen Schiitenschiitischen und Sunnitensunnitischen Muslimen – jeder einzelne Vorfall ist das Ergebnis komplexer Faktoren, aber vieles davon lässt sich auf die Religion zurückführen, insbesondere die regionale Rivalität zwischen Saudi-ArabienSaudi-Arabien und dem IranIran. Auf dem indischen Subkontinent offenbaren Wanderungsbewegungen heute und in den kommenden Jahren die Not derjenigen, die vor religiöser Verfolgung fliehen, aber auch der zahlreichen Wirtschafts- und KlimaflüchtlingeKlimaflüchtlinge.

In Afrika erweisen sich die vom KolonialismusKolonialismus hinterlassenen Grenzen als kaum vereinbar mit der nach wie vor starken Identität der verschiedenen Tribalismus und StammeskulturAfrikaTribalismus und StammeskulturVolksstämme. In EuropaEuropa ist der Grundgedanke der EU in Gefahr, während neue Mauern hochgezogen werden. Diese zeigen, dass die Differenzen aus der Zeit des Kalten Kalter KriegKriegs keineswegs vollständig überwunden sind und der NationalismusEuropäische Union (EU)NationalismusNationalismus im Zeitalter des Internationalismus niemals wirklich gewichen ist. Und während Großbritannien der EU den Rücken kehrt, deckt der Vereinigtes KönigreichBrexitBrexitBrexit Bruchlinien im gesamten und gar nicht so vereinigten Königreich auf – lang etablierte regionale Identitäten, aber auch die aktuellen, sozial und religiös bedingten Spannungen, die im Zeitalter der GlobalisierungGlobalisierung entstanden sind.

In Zeiten der Angst und Instabilität werden sich die Menschen auch weiterhin zu Gruppen zusammenschließen, um gegen wahrgenommene Bedrohungen gewappnet zu sein. Diese Bedrohungen kommen nicht nur von außerhalb der Grenzen. Sie können auch von innen kommen – und China weiß das nur zu gut …

1. DIE GROSSE FIREWALL:

China

»Wie in der realen Welt braucht es auch im Cyberspace sowohl Freiheit als auch Ordnung.«

Präsident Xi JinpingXi Jinping

Die ChinesischeChinesische Mauer Mauer erstreckt sich über 21 000 Kilometer und verläuft ungefähr entlang der Grenze zwischen Zentralchina und der Inneren Mongolei.Mongolei, innere

Chinesische Kaiser hatten seit jeher alle Mühe, ihre disparaten und geteilten Lehensgüter zu einem geschlossenen Ganzen zu vereinen. Präsident Xi JinpingXi Jinping geht es da nicht anders. Er mag vielleicht nicht Kaiser genannt werden, aber seine offiziellen Titel sagen eigentlich alles – Generalsekretär der Kommunistischen Kommunistische ParteiChinaPartei Chinas, Präsident der Volksrepublik China, Vorsitzender der Zentralen Kommission für integrierte militärische und zivile Entwicklung – die Liste ließe sich fast beliebig verlängern. Er ist nicht einfach nur der Oberste Führer, er ist der Alleroberste Führer.

Alles unter seiner Führung ist riesig – einschließlich der Herausforderungen, vor denen er steht. Chinas fünf Zeitzonen stehen für eine geographische Ausdehnung, die derjenigen der USA entspricht. Auf dem Staatsgebiet leben 1,4 Milliarden Menschen verschiedener Ethnien, die Dutzende von Sprachen sprechen; es ist ein multiethnisches Reich mit den Eigenschaften des kommunistischen China. Zwar gibt es fünf geographische Zeitzonen, aber nur eine ist die offizielle. Die Antwort auf die Frage nach der Uhrzeit lautet: »Es ist immer so spät, wie Beijing sagt.« Dieser Zentralismus existiert schon lange, doch der Herrscher des 21. Jahrhunderts genießt einen Luxus, der nur wenigen seiner Vorgänger vergönnt war. Er kann sein Reich von der Luft aus überwachen – und zwar nicht nur die Region vom HimalayaHimalaya bis zum Japanischen Meer, zur Wüste Gobi und hinunter bis zum Südchinesischen Meer, sondern heute auch ein Wirtschaftsimperium, das den gesamten Planeten umspannt.

Xi JinpingXi ist ein Meister in der Kunst der Machtprojektion. Er reist mehr als die meisten seiner Vorgänger. Er fliegt in die Hauptstädte der Welt, voller Vertrauen auf die geballte Wirtschaftskraft des neuen China, aber schon der Weg zum Flughafen erinnert ihn stets daran, wie sorgfältig Chinas ChinaRegierungFührung darauf bedacht sein muss, das Zentrum zusammenzuhalten. Um dies sicherzustellen, versteht sie sich meisterhaft darauf, unbemerkt Einheit durch Teilung zu erzeugen.

Bei der Fahrt von Beijing auf der Flughafen-Schnellstraße in nordwestlicher Richtung zur Großen ChinaChinesische MauerMauer sind die Spaltungen innerhalb der Bevölkerung für den Fremden zunächst nur schwer auszumachen, aber dann werden sie immer offenkundiger. Für Xi JinpingXi ist das leicht erkennbar, denn viele dieser Spaltungen sind in seiner Zeit entstanden, manche gar unter seiner Führung.

Vom Stadtzentrum mit seinen im Neonlicht glitzernden Konsumtempeln und teuren Apartmentblocks für die Gutbetuchten führt die Straße kilometerlang an Hochhäusern mit Wohnungen für die unablässig wachsende Mittelschicht vorbei. Weiter draußen leben die Fabrik- und Handel und IndustrieChinaChinaHandel und IndustrieIndustriearbeiter, die Jahr für Jahr vom Land in die Hauptstadt und andere Großstädte strömen. Ein Einheimischer erkennt gleich, in welchen Blocks die finanzielle UngleichheitChinaChinafinanzielle UngleichheitBesserverdienenden zu Hause sind und welche eher hastig hochgezogen wurden, um den enormen Zustrom an Menschen unterzubringen. Weiter draußen, wenn es durch Kleinstädte und Dörfer geht, sieht man kaum noch Neonlicht und noch weniger Kommerzialisierung. In diesem Teil Chinas wirken die Städte trist und öde, spartanische Orte mit wenigen Annehmlichkeiten; das allgegenwärtige erdrückende Grau ist für das Auge des Fremden der alles überlagernde Eindruck. Und hier liegt vielleicht die tiefste Spaltung in China: diejenige zwischen Chinawachsende StadtbevölkerungStadt und ChinaStadt-/LandgefälleLand, zwischen Reich und Arm. Wie wir später noch sehen werden, bereitet sie der herrschenden Kommunistischen Kommunistische ParteiChinaPartei eine Menge Kopfzerbrechen. Die Partei weiß sehr wohl, dass die Einheit und Stabilität der Volksrepublik in hohem Maß von der Überbrückung dieser Kluft abhängt und dass ihr der eiserne Griff, in dem sie das Volk hält, entgleiten wird, wenn ihr dies nicht gelingt.

Einheit ist seit jeher ein entscheidendes Element chinesischen Erfolgs und zugleich eine der schwierigsten Herausforderungen für das Land. In der Vergangenheit gab es eine Sache, die physisch wie symbolisch eine entscheidende Rolle für die Einheit des Landes spielte: die Große ChinaChinesische MauerMauer. Würde Xi JinpingXi am Flughafen vorbei auf der Schnellstraße weiterfahren, ginge es auf einer achtspurigen Autobahn in Richtung Nordosten, und schließlich gelangte er zu jenem Bauwerk, das die menschliche Fantasie seit jeher fasziniert.

Auf dem Weg zum Mutianyu-Abschnitt der ChinaChinesische MauerMauer wird aus der breiten Autobahn eine schlichte zweispurige Straße, immer weniger Gebäude säumen die Strecke links und rechts, die Landschaft wird grüner. Ein paar Kilometer vor der Mauer führt die Straße auf einen Parkplatz, wo die Besucher in einen Bus umsteigen, der sie bis ans Ende der Straße bringt. Dort angekommen hat man die Wahl zwischen einer Seilbahn und einer drei Kilometer langen Wanderung, wobei auf dem steilen Weg nach oben auch die Begleitung durch eine Ziegenherde nicht auszuschließen ist. Die ungeführte Tour mit den Ziegen können Sie nicht buchen – wenn Ihnen die Ziegen folgen wollen, tun sie’s, wenn nicht, dann nicht. Aber ganz gleich, welchen Weg Sie wählen: Am Ende erwartet Sie etwas, das die Mühe in jedem Fall wert ist.

Zunächst fand ich dieses Bauwerk, wie es sich über viele Kilometer die Berggipfel entlangschlängelt, längst nicht so spektakulär wie, sagen wir, den Anblick des Grand Canyon. Ich war auch nicht so überwältigt wie vom Anblick des höchsten Gebäudes der Welt, des Burj Khalifa in Dubai. Zudem konnte ich nichts von der politischen Ideologie verspüren, die die Mauer ausstrahlen sollte, anders als beim Besuch der Berliner Berliner MauerMauer zu Zeiten des Kalten Kalter KriegKriegs. Aber da war noch etwas anderes. Ich fühlte, zu Recht oder zu Unrecht, dass ich China jetzt ein kleines bisschen besser verstand als zuvor.

Ein Chinaexperte war ich damit noch lange nicht, doch in dem Moment konnte ich mit Begriffen wie »antike Kultur« und »die größte Leistung in der Geschichte der Menschheit« wesentlich mehr anfangen, ebenso mit der Vorstellung, dass viele Menschen in der Volksrepublik die Welt nach wie vor in »Chinesen« und »Nichtchinesen« unterteilen. Schließlich war das Fundament dieser ChinaChinesische MauerMauer ja ein ganz simpler Gedanke: Diesseits der Mauer war die Zivilisation zu Hause, jenseits davon die Barbarei.

Hinter mir, in südlicher Richtung, lag das Kernland des Reichs der Mitte, in dem das Han-VolkChinaHan-VolkHan-Volk beheimatet ist. Nach Norden zu, weit weg hinter den Bergen, begann die Steppen- und Wüstenlandschaft der MongoleiMongolei, zur Rechten lag die MandschureiMandschurei, die Region Xinjiang (Region)Xinjiang zur Linken.

Bevor es die Mauer gab, also vor rund 2500 Jahren, boten die Berge im Norden dem Han-VolkChinaHan-VolkHan-Volk einen gewissen Schutz. Die Han-VolkChinaHan-VolkHan hatten sich in den fruchtbaren Regionen der nordchinesischen Ebene angesiedelt. Plündernde Horden und gelegentlich auch ganze Armeen aus allen drei Regionen fanden jedoch immer wieder Wege durch die Bergpässe in das bewirtschaftete Flachland der Feudalstaaten und Städte wie Beijing, Luoyang und Kaifeng. Und so entwickelten die Chinesen über die Jahrhunderte diesen in Stein gemeißelten Inbegriff des »wir hier, die anderen dort«.

Dem hervorragenden amerikanischen Sinologen John King Fairbank verdanken wir vielleicht eine der besten Beschreibungen der Großen ChinaChinesische MauerMauer – er nannte sie »eine Demarkationslinie, die die Steppe vom Ackerland trennt, das Nomadentum von der Landwirtschaft und die Barbarei von der Zivilisation«. Das passt sehr gut zur vorherrschenden Haltung des »Sinozentrismus« jener Zeit – dem Glauben, China sei das kulturelle Zentrum der Welt und die fortschrittlichste aller Zivilisationen. Die Han-VolkChinaHan-VolkHan glaubten auch, der Kaiser von China sei der einzige Herrscher auf der Erde, der direkt vom Himmel beauftragt und damit der legitime Herrscher der Welt wäre. Daraus folgte, dass nicht nur alle anderen Regenten ihm untergeordnet, sondern auch alle anderen Zivilisationen von minderem Status waren. Unmittelbare Nachbarn unterschiedlicher Ethnien waren der Herrschaft des Kaisers einzuverleiben, auch wenn sie durchaus ihre örtlichen Anführer behalten durften. Nahe gelegene Barbarenländer konnten Könige haben, mussten aber anerkennen, dass der chinesische Kaiser auf höherer Stufe stand. Und sogar weiter entfernte Gebiete wie Xinjiang (Region)Xinjiang, Java und JapanJapan galten als »tributpflichtige Länder«, mussten mithin Zahlungen an das Reich der Mitte entrichten. Mit dieser Weltsicht macht man sich gewiss keine Freunde, aber sie verfehlt ihre Wirkung auf die Menschen nicht, und über lange Zeit hat sie ja auch funktioniert.

Die ChinaChinesische MauerMauer hat über viele Jahrhunderte die Sicherheit Chinas gestärkt, die politische Einheit des Landes begründet und die Stabilität geschaffen, die es braucht, um Ackerland in den Regionen im Westen und Norden zu bewirtschaften. Mit der Ausdehnung der Mauer nach Westen diente sie auch dem Schutz der SeidenstraßeSeidenstraße und damit dem wirtschaftlichen Gedeihen. In der Zeit ihrer größten Ausdehnung maß diese Befestigung einschließlich der parallel dazu errichteten Mauern über 21 000 Kilometer. Nur damit Sie eine Vorstellung vom schieren Ausmaß bekommen: Das entspricht vier nebeneinander aufgestellten Mauern von der Ostküste der USA bis zum Pazifik – und da würden noch eine Menge Steine übrig bleiben.

Auch wenn die ChinaChinesische MauerMauer ihre physische Rolle bei der Vereinigung des Landes über die Jahre verlor, blieb sie doch ein wichtiges Symbol im Nationalbewusstsein. Das ging so weit, dass nach der Machtübernahme der Kommunistische ParteiChinaKommunisten 1949 Mao ZedongMao Zedong die Mauer in einem Gedicht über den »Langen Marsch« verewigte. In dem Gedicht mit dem Titel ›Das Liupan-›Das Liupan-Gebirge‹ (Mao Zedong)Gebirge‹ heißt es:

Der Himmel ist hoch, die Wolken sind leicht,

Die nach Süden ziehenden Wildgänse sind nicht mehr zu sehen.

Wer noch nicht an der Großen Mauer war, ist kein Held,

An den Fingern abgezählt war die Strecke 20 000 Li …

Die vorletzte Zeile fand später Eingang in ein beliebtes Sprichwort: »Wer noch nicht an der Großen Mauer war, ist kein Held« soll heißen: »Ein Held ist nur, wer es schafft, größte Schwierigkeiten zu überwinden.«

Das Gedicht führte im neuen Regime zu Problemen, da die Kommunistische ParteiChinaKommunisten offenbar andere Ansichten über die ChinaChinesische MauerMauer hatten – viele sahen darin ein Symbol für die Feudalherrschaft früherer Zeiten und waren der Meinung, das gehöre der Vergangenheit an, ermunterten gar dazu, die Mauer zu zerstören. Da jedoch Mao ZedongMao darüber geschrieben hatte, wollten andere Kommunisten das Bauwerk besuchen und damit ihre Verbundenheit mit dem Geist des Großen Vorsitzenden Mao ZedongMao zeigen. Wenn Sie den Mauerabschnitt von Mutianyu besuchen, werden Sie die Worte »Loyalität zum Vorsitzenden Mao ZedongMao« in gigantischen weißen Schriftzeichen am Berggipfel geschrieben sehen. Und die Mauer wurde auch in der Nationalhymne erwähnt, auf die man sich 1949 geeinigt hatte. Damit stand fest, dass die Partei ihre kulturelle und historische Bedeutung anerkannte. Man beschränkte sich weitgehend darauf, sie zu ignorieren – jedenfalls vorerst. Während der Kulturrevolution, chinesischeChinaKulturrevolutionKulturrevolution machten sich jedoch die eifrigsten unter den Rotgardisten daran, Abschnitte der ChinaChinesische MauerMauer aktiv zu zerstören – für sie war sie nichts als ein Teil der »Vier Alten«, die im neuen China keinen Platz haben sollten: alte Gewohnheiten, alte Kultur, alte Sitten und alte Denkweisen. Mao ZedongMao starb 1976 und mit ihm die Kulturrevolution, chinesischeKulturrevolution. Nach 1978 begann der neue Führer Deng XiaopingDeng Xiaoping mit der methodischen Sanierung der ChinaChinesische MauerMauer. Er ließ es langsam angehen – die frühen Jahre nach Mao ZedongMao waren eine Zeit der Vorsicht –, aber um 1984 hatte er genug Selbstvertrauen, um zu verkünden: »Wir wollen unser China lieben und unsere Große Mauer wieder aufbauen.« Es ist anzunehmen, dass Deng XiaopingDeng bei diesem Vorhaben mit einem Auge auch Tourismus und Devisen im Blick hatte. Die Kommunistische ParteiChinakommunistische ChinaRegierungFührung begann, Elemente des Kapitalismus zu übernehmen, und ihr war vollkommen klar, wie weit das Land hinter anderen Teilen der Welt in Rückstand geraten war. Also erließ sie Gesetze, die das Beschädigen, Entfernen oder Verunstalten der Mauer mit Graffiti unter Strafe stellte, dazu wurden Anstrengungen unternommen, die Mauer zu erneuern (mit gemischtem Erfolg) und für Besucher attraktiver zu machen.

Die Große ChinaChinesische MauerMauer spielt seit jeher eine gewichtige Rolle in der Vorstellungswelt der Menschen – bei den Chinesen wie beim Rest der Bevölkerung. Allerdings argumentieren manche Historiker, die Europäer hätten es damit sogar wichtiger als die Chinesen, und gerade deshalb sei die Wahrnehmung und die Identifikation mit dem Bauwerk in China selbst größer, als dies sonst der Fall wäre. Somit war und ist die Mauer ein definierendes Merkmal Chinas, von außen betrachtet wie auch innerhalb der Grenzen, die sie umschließt.

In Wirklichkeit war die ChinaChinesische MauerMauer militärisch gesehen allenfalls ein Teilerfolg. Ohne Zweifel sorgten ihr Frühwarnsystem, ihre Befestigungen und die strategischen Stützpunkte für ein gewisses Maß an Schutz, aber wie wir sehen konnten, war sie keinesfalls undurchdringlich. Als Symbol für die Verteidigung und als Schutzschild des Han-VolkChinaHan-VolkHan-Volkes gegen »Eindringlinge« war sie dagegen von überragender Bedeutung. Bis heute ist sie die Ikone einer großen, antiken Kultur.

 

Aber wie sieht es mit der großen, modernen Kultur aus?

Qin Shi Qin Shi HuangHuang, Gründer der Qin-Qin-DynastieChinaQin-DynastieDynastie, vereinigte mit Erfolg im Jahr 221 vor unserer Zeitrechnung sieben einander bekriegende Staaten zu einem China – aber nur weil dieses China 23 Jahrhunderte überdauert hat, muss das nicht heißen, dass es noch ein weiteres halten wird.

Die Chinesen reden nicht gern mit Ausländern über die Probleme und Spaltungen in ihrem Land. Sie werden beispielsweise in Großbritannien oder FrankreichFrankreich keine Schwierigkeiten haben, jemanden zu finden, der Ihnen sagt, sein Land gehe vor die Hunde. In China hingegen gilt es als unpatriotisch und als Gesichtsverlust, den Staat zu kritisieren. Außerdem könnte es in einem China, das nach wie vor eine Einparteiendiktatur ist, natürlich auch gefährlich sein, so etwas zu äußern.

Bevölkerungsanteil der Han in den chinesischen Provinzen (2010)

Und doch gibt es sie, die Spaltungen und Bruchlinien in den 23 Provinzen, vier Großstadtregionen, fünf autonomen Regionen und zwei Sonderverwaltungsgebieten. Eine der tiefsten tut sich zwischen dem Han-VolkChinaHan-VolkHan-Kernland und den es halbkreisförmig umgebenden anderen Regionen auf.

 

Dies sind die MandschureiMandschurei im Nordosten, die Innere Mongolei, innereMongolei im Norden, Xinjiang (Region)Xinjiang im Nordwesten und TibetChinaTibetTibet im Westen. Diese Regionen sind entscheidend für die Sicherheit, die Bodenschätze und den Handel und IndustrieChinaChinaHandel und IndustrieHandel, nicht alle aber sind mit der chinesischen Herrschaft einverstanden. Die MandschureiMandschurei steht heute unter völliger Kontrolle der Han-VolkChinaHan-VolkHan, die anderen Gebiete pflegen jedoch weiter ihre Eigenständigkeit in Sachen Identität, Sprache, Tradition und, im Fall von Xinjiang (Region)Xinjiang und TibetTibet, Religion (Islam und BuddhismusBuddhismus), und es gibt dort nach wie vor separatistische Bewegungen.

China versucht seit Jahrhunderten, Xinjiang (Region)Xinjiang und das dort beheimatete Volk der UigurenChinaUigurenUiguren unter seine Kontrolle zu bekommen, dennoch hat die Bevölkerung die Herrschaft Beijings niemals vollständig akzeptiert. Es gab eine Reihe von Aufständen im 18. und 19. Jahrhundert und in den 1930er-Jahren sogar für kurze Zeit eine Republik Ostturkestan, RepublikOstturkestan. Mao ZedongMao annektierte schließlich Xinjiang (Region)Xinjiang im Jahr 1949, und heute macht die Provinz rund ein Sechstel des chinesischen Territoriums aus. Um eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie karg und dünn besiedelt Xinjiang (Region)Xinjiang ist: Die Region ist flächenmäßig etwa halb so groß wie Indien, hat aber weniger als ein Fünfzigstel an Einwohnern.

Zwischenzeitlich hat Xinjiang (Region)Xinjiang eine massenhafte Zuwanderung von Han-VolkChinaHan-VolkHan-Siedlern erlebt, und in ein paar Jahren werden sie vermutlich fast die Hälfte der gegenwärtigen Bevölkerung von 22 Millionen ausmachen. Das blieb nicht ohne Widerstand. Die UigurenChinaUigurenUiguren beklagen, von besseren Jobs ausgeschlossen und durch Milizen verfolgt zu werden, die innerhalb der staatlich kontrollierten Bauindustrie gebildet wurden, und gelegentlich kommt es zu Unruhen und ethnischen Auseinandersetzungen. Opposition funktioniert bisweilen im Rahmen des Rechtssystems, es existiert allerdings auch eine kleine Terrorismusradikaler Islamterroristische Bewegung, teilweise befeuert durch muslimische Kämpfer, die aus dem IrakIrak und SyrienSyrien zurückgekommen sind. Man nimmt an, dass Dschihaddschihadistische dschihadistische OrganisationenOrganisationen in den zentralasiatischen Republiken diese Aktivisten finanziell unterstützen und ihnen, falls notwendig, Unterschlupf bieten. Sämtliche Alarmglocken schrillten, als die Terroristen des Islamischer Staat (IS)IS ein Video veröffentlichten, das UigurenTerrorismusUiguren in ChinaIslamuigurische Muslimeuigurische Männer beim Training im IrakIrak zeigte. Diese gelobten, die Islamischer Staat (IS)IS-Flagge in China zu hissen, und drohten, es würden »Ströme von Blut« fließen.

Im Frühjahr 2017 kam es zu gewalttätigen ethnischen Auseinandersetzungen zwischen UigurenChinaUigurenUiguren und Han-VolkChinaHan-VolkHan in der Region. Was folgte, war eine massive Machtdemonstration schwerbewaffneter Regierungstruppen. Die regionalen ChinaRegierungFührer der Kommunistischen Kommunistische ParteiChinaPartei empfahlen, die Soldaten sollten »die Leichen der Terroristen im riesigen Meer des Volkskriegs beerdigen«. Präsident Xi JinpingXi war etwas zurückhaltender und beschied sich mit dem Aufruf zum Bau einer »großen eisernen Mauer« zum Schutz von Xinjiang (Region)Xinjiang, verbunden mit der Warnung, eine ethnische Spaltung würde nicht hingenommen – »So wie man seine Augen liebt, muss man die ethnische Einheit des Volkes lieben«, ließ er verlauten. Anfang 2018 manifestierte sich Xi’s Vorstellung von dieser Einheit in einem Erlass, durch den eine Million Parteifunktionäre dazu verpflichtet wurde, bei ortsansässigen Uiguren-Familien zu leben. Die Betroffenen dieses erzwungenen »Gastaufenthaltes« werden dazu angehalten, ihren Teil zur ethnischen Beziehungspflege beizutragen und ihre »Gäste« mit detaillierten Informationen zu den eigenen politischen Einstellungen zu versorgen. Es ist eine Mischung aus chinesischem B&B und George Orwells »Ministerium für Liebe«, wobei das eigene Wohnzimmer zu »Zimmer 101« wird.

Trotz der Unruhen sind die Aussichten, dass Beijing seinen eisernen Griff lockert, nahezu gleich null. Die Region dient als Pufferzone, liegt an der neuen SeidenstraßeSeidenstraße und ist damit wichtig für den Handel und IndustrieChinaChinaHandel und IndustrieHandel, außerdem verfügt sie über große Kohlereserven, auf die das energiehungrige China so dringend angewiesen ist. Und dennoch machen sich die Behörden ernsthafte Sorgen wegen der Vorkommnisse dort. Solche Spaltungen und Unstimmigkeiten untergraben das Ansehen der Kommunistischen Kommunistische ParteiChinaPartei als einziger Machtquelle und Beschützer des Volkes.

Gleiches gilt für TibetChinaTibetTibet. Strategisch dient es als Pufferzone für das Kernland und hindert IndienIndien daran, die Hochebene entlang der Grenze zu beherrschen – eigentlich stellt eher der HimalayaHimalaya die natürliche Barriere dar, und das ist vielleicht auch der Grund, warum es zwischen den beiden Ländern nie zu einem wirklich ernsthaften Konflikt kam. So kann China zudem seine ChinaWasserversorgungWasserquellen schützen – TibetTibet wird bisweilen als »Wasserturm Asiens«Wasserturm Asiens bezeichnet, denn zahllose Flüsse entspringen in dieser Region.

Gemessen an den drei tibetischen Provinzen umfasst TibetTibet etwa 2,5 Millionen Quadratkilometer, also etwa die vierfache Fläche Frankreichs. Das macht immerhin ein Viertel der chinesischen Landmasse aus. Im offiziellen Sprachgebrauch Beijings bezeichnet TibetTibet jedoch stets das Autonome Gebiet TibetTibet, das nach dem Sieg Chinas über die tibetische Armee im Jahr 1950 eingerichtet wurde. Es besteht aus weniger als der Hälfte der Fläche der ursprünglichen drei Provinzen, da der Rest der Region von anderen chinesischen Regionen aufgesogen wurde, und dort lebt auch nur ein Drittel der ethnischen TibetTibeter in China.

Wie die uigurischen Muslime pflegen auch die tibetischen ChinaBuddhistenBuddhisten ein starkes, von den Han-VolkChinaHan-VolkHan-Chinesen getrenntes Identitätsbewusstsein. In beiden Regionen gibt es jedoch so gut wie keine Hoffnung auf Selbstverwaltung mehr. In TibetChinaTibetTibet sind heute geschätzt bereits die Hälfte der Einwohner Han-VolkChinaHan-VolkHan-Chinesen. Genaue Zahlen sind schwer zu bekommen, man geht aber davon aus, dass insgesamt ca. sechs Millionen TibetTibeter und sechs Millionen Han-VolkChinaHan-VolkHan in dem Gebiet leben. In den größeren Städten leben sie Seite an Seite, wenn auch oft in verschiedenen Wohnvierteln. In den ländlichen Gebieten sind die TibetTibeter noch in der Überzahl.

Der ChinaRegierungStaat glaubt, mit diesen ethnischen Spaltungen klarkommen zu können, solange sich die Konflikte innerhalb der Han-VolkChinaHan-VolkHan selbst ausbügeln lassen. Und genau diese Spaltungen sind es, die die größte Gefahr für die langfristige Entwicklung von Wohlstand und Einheit Chinas darstellen könnten. Die Kommunistische Kommunistische ParteiChinaPartei nimmt diese Gefahr jedenfalls sehr ernst. Sie hat ihre Lektion aus der Geschichte gelernt und weiß, was passiert, wenn der Zusammenhalt des Staates durch eine zersplitterte Bevölkerung geschwächt wird.

Im 19. Jahrhundert erlebte China eine entscheidende Umstellung in der Funktionsweise seines Handel und IndustrieChinaChinaHandel und IndustrieHandels. Die Handelsrouten über Land, quer durch Zentralasien, hatten immer ökonomische Priorität genossen, nun aber wurden die Seewege zur primären Handelsroute. Diese Umstellung geschah nicht ganz freiwillig – die Briten und andere fremde Mächte hatten mit ihrer Militärmacht China diese für sie günstigeren Handelsbedingungen aufgezwungen. In der Folge verlagerte sich der Handelsschwerpunkt an die Pazifikküste. Das förderte die Entwicklung der Städte in dieser Region, schwächte aber die Handelschancen im Landesinneren, was wiederum dazu führte, dass dort weniger in die Infrastruktur investiert wurde. Während also die Küstenregionen prosperierten, blieben die bettelarmen Bauern im Binnenland bettelarm – und die Fremden gewannen immer mehr Macht. Dies untergrub die Kontrolle des Zentralstaats über die Regionen und war teilweise verantwortlich für die Zersplitterung des Staates. Angesichts einer derart gespaltenen Bevölkerung war es unmöglich, das Zentrum beisammenzuhalten. Ein nun massiv geschwächtes China stand zunächst den »barbarischen« Kolonialisten, dann dem ChinaBürgerkriegBürgerkrieg und schließlich der 1931 begonnenen Invasion des Erzfeindes JapanJapan hilflos gegenüber.

Nach dem Zweiten Zweiter WeltkriegWeltkrieg und nachdem die Kommunisten den Bürgerkrieg für sich entschieden hatten, war ihnen klar, dass sie das Land irgendwie wieder zusammenbringen mussten. Kommunistische ChinaRegierungRegime sind weder für freiheitliche Tendenzen noch für ihren lockeren Umgang mit Vorschriften und dem Teilen von Macht bekannt. Also warf man die Fremden aus dem Land und besetzte die regionalen Hauptstädte mit Parteikadern. Unter Mao ZedongMao erstickten diese Kader brutal jedes Zeichen von Abweichung, das aus den Regionen kam, und bündelten alle Macht in der Parteizentrale in Beijing, das seit 1949 wieder die Hauptstadt des Landes ist.

Viele Handelsbeziehungen mit Handel und IndustrieChinaChinaHandel und IndustrieIndustriestaaten wurden gekappt, womit zumindest teilweise jenes große kommunistische Ideal erreicht wurde: Gleichheit. Langsam, aber sicher wurden die Küstenregionen fast genauso arm wie das Landesinnere, und damit war diese Form der Ungleichheit zwischen den Regionen natürlich beseitigt. Abgesehen von der höheren Führungsriege blieben die meisten Menschen mehrere Jahrzehnte lang einfach arm, während Mao ZedongMao seine Macht konsolidierte und die nicht von Han-VolkChinaHan-VolkHan bewohnten Territorien unter seine Kontrolle brachte.

Mao ZedongMao mag auch das Land insgesamt wieder geeint haben, aber das ging auf Kosten der Entwicklung und geschah just zu der Zeit, als andere Länder in der Region in die Weltwirtschaft hineinwuchsen und rasche Fortschritte machten. JapanJapan, Südkorea, Singapur und andere ließen China wirtschaftlich klar hinter sich, manche sogar auch als Militärmacht. Wenn dieser Trend anhielte, würde das nicht nur die Landesverteidigung schwächen, sondern ebenso Chinas inneren Zusammenhalt, sobald offenkundig würde, wie weit die Chinesen hinter die anderen zurückgefallen waren.

Maos Nachfolger Deng XiaopingDeng Xiaoping atmete erst einmal tief durch und entschied sich dann für ein riskantes Spiel: Wenn Chinas Verbraucher zu arm waren, um sich viele der von China produzierten Waren leisten zu können, musste sich die Wirtschaft erneut für die Außenwelt öffnen. Das bedeutete Handel und IndustrieChinaChinaHandel und IndustrieHandel an der Pazifikküste, sodass die Wirtschaft an den Küstenregionen wieder schneller erblühte als im Binnenland, was natürlich die Gefahr einer erneuten Spaltung wie schon im 19. und 20. Jahrhundert heraufbeschwor.

Das Ganze war und ist ein Wettlauf gegen die Zeit – und zugleich eine Strategie auf der Grundlage einer ChinaHandel und IndustrieWirtschaftspolitik, die ohne Rücksicht auf Verluste ihr atemberaubendes Tempo beibehält. China muss einfach weiter Waren produzieren. Die Welt muss weiter diese Waren kaufen. Nimmt die Nachfrage ab, kann es sich China anders als »normale« kapitalistische Systeme nicht leisten, die Fertigung ganz herunterzufahren. Die Produktion muss weiterlaufen, die Schornsteine müssen rauchen, die Banken gestützt werden; Überschussproduktion? Macht nichts, dann muss man eben versuchen, die Erzeugnisse zu Schleuderpreisen irgendwo im Ausland loszuschlagen, und noch mehr davon an den Teil der eigenen Bevölkerung verkaufen, der es sich leisten kann. Nur das System darf auf keinen Fall ins Stocken kommen, sonst steht vielleicht am Ende das ganze Land still.

Das Pro-Kopf-Einkommen im Jahr (2010)

Das stellt eine faszinierende kapitalistische Version des alten Systems im Sowjetkommunismus dar. Dort wurden so viele Traktoren hergestellt, wie die Regierung vorgab, unabhängig davon, wie viele tatsächlich gebraucht wurden. Das System holte Hunderte Millionen Chinesen aus der Armut – allerdings auf Kosten massiver Umweltzerstörung und der neuerlichen Vertiefung der Kluft zwischen den Küstenregionen und dem Landesinneren, zwischen Reich und Arm.

Die finanzielle UngleichheitChinaChinafinanzielle UngleichheitEinkommensschere zwischen Industrie- und Landarbeitern hat sich in den letzten Jahren wieder etwas geschlossen, doch selbst jetzt kann ein Städter davon ausgehen, dreimal so viel zu verdienen wie ein Arbeiter auf dem Land.

 

Die Einkommensungleichheit ist fast nirgendwo auf der Welt so extrem wie in China, was einem das Gefühl vermittelt, die chinesische Geldmaschine hat nicht den vielen, sondern nur einigen wenigen zu Wohlstand verholfen – oder eben der »Familie »Familie Zhao«Zhao«, wie die Chinesen diejenigen nennen, die das Sagen haben, oder »den oberen Zehntausend«. Der Ausdruck hat seine Wurzeln in einer beliebten Novelle aus dem Jahr 1921, ›Die wahre Geschichte des Ah Die wahre Geschichte des Ah Q (Lu Xun)Q‹ von Lu Xun. Darin kommt die Zeile vor: »Glaubst du, du bist es wert, den Namen »Familie Zhao«2015chinesischen Internet»Familie Zhao«Nicht-»Familie Zhao«