Vier Wünsche ans Universum

Erin Entrada Kelly

Vier Wünsche ans Universum

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Erin Entrada Kelly

Erin Entrada Kelly ist in Lake Charles, Louisiana, aufgewachsen und lebt heute in Philadelphia, Pennsylvania. Sie ist Autorin von hochgelobten Kinderbüchern. Für »Vier Wünsche ans Universum« wurde sie mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.

 

www.erinentradakelly.com

Über das Buch

VIRGIL SALINAS ist schüchtern und fühlt sich von seiner Familie missverstanden.

VALENCIA SOMERSET ist klug und dickköpfig.

KAORI TANAKA schaut für andere in die Zukunft und deutet die Sterne.

CHET »DER BULLE« BULLENS ist ein Fiesling, der die anderen ärgert.

Die vier sind keine Freunde, sie gehen noch nicht mal auf dieselbe Schule, doch als Chet Virgil auf unglaubliche Art und Weise einen bösen Streich spielt und sein Meerschweinchen Gulliver dadurch fast zu Tode kommt, kreuzen sich ihre Wege auf dramatische Weise.

Nur ein Zufall? Oder Schicksal?

 

Ein spannendes Abenteuer, eine große Freundschaftsgeschichte und der Beginn einer ersten großen Liebe. Zart, leicht und witzig erzählt.

 

Erin Entrada Kelly in der Reihe Hanser

»Charlotte und Ben«

Impressum

1. Auflage 2021

Text: © 2017 Erin Entrada Kelly

Published by Arrangement with Pippin Properties, Inc.

througt Rights People, London

Titel der Originalausgabe: Hello, Universe

(Greenwillow Books, an imprint of HarperCollins Publishers, New York)

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© 2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,

München

Umschlag- und Innenillustartionen: Isabel Roxas

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43484-3 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-62750-4

 

ISBN (epub) 9783423434843

Fußnoten

Kind

Guten Morgen

respektvolle Anrede für eine ältere Frau

Oh mein Gott!

Also wirklich!

 

 

 

 

Für Carolanne, meine wunderbar
vielfacettige Wassermannfrau,
und für Jen Breen – Zwilling, Phönix, Visionärin


Riesenversager

Der elfjährige Virgil Salinas dachte schon jetzt mit Schrecken an seine restliche Mittelschulzeit, dabei hatte er gerade erst die sechste Klasse abgeschlossen, also sein erstes Jahr in dieser Schule, und noch zwei weitere vor sich. Er stellte sich diese Zeit wie eine lange Reihe von Hürden vor, jede höher, dicker und schwieriger zu nehmen als die vorige. Und vor diesen Hürden stand er, Virgil, auf seinen schwachen, mageren Beinen. Hürdenlauf war überhaupt nicht sein Ding. Das hatte er leidvoll im Sportunterricht erfahren, wo er als der Kleinste leicht übersehen und immer als Letzter in eine Mannschaft gewählt wurde.

Eigentlich sollte er bester Laune sein: Der letzte

»Ay, Virgilio«, sagte seine Großmutter – seine Lola –, als er in die Küche kam. Sie war gerade dabei, eine Mango zu schälen, und schaute nicht auf. »Komm her, nimm dir eine. Deine Mutter hat mal wieder viel zu viele gekauft. Ein Sonderangebot, natürlich, also kauft sie gleich zehn Stück. Wozu, frage ich dich, brauchen wir zehn Mangos? Außerdem kommen sie nicht einmal von den Philippinen, sondern aus Venezuela. Deine Mutter geht hin und kauft zehn venezolanische Mangos! Wozu? Diese Frau würde sogar Judasküsse kaufen – Hauptsache, sie wären im Sonderangebot.« Sie schüttelte den Kopf.

Virgil stellte sich etwas gerader hin, damit Lola nicht gleich Verdacht schöpfte und fragte, ob irgendetwas los sei. Dann nahm er sich eine Mango aus der Obstschale. Sofort trafen sich Lolas Augenbrauen in der Mitte. Richtige Augenbrauen waren das allerdings nicht, die hatte sie sich längst ausgezupft.

»Was für ein Gesicht denn?«, fragte Virgil zurück.

»Du weißt schon.« Lola gab nicht gerne Erklärungen ab. »Hat dieser Junge mit dem Boxergesicht dich wieder geärgert in der Schule?«

»Nein, Lola.« Ausnahmsweise einmal bereitete ihm dieser Mitschüler die geringsten Sorgen. »Alles in Ordnung.«

»Hmm«, machte Lola. Sie wusste, dass eben nicht alles in Ordnung war. Sie durchschaute Virgil immer. Zwischen ihnen beiden gab es ein geheimes Band. Das war schon so seit dem Tag, als Lola von den Philippinen hergekommen war, um bei Virgil und seiner Familie zu leben. Am Morgen ihrer Ankunft hatten sich Virgils Eltern und die eineiigen Zwillinge, seine Brüder, sofort auf Lola gestürzt, um sie zu begrüßen und zu umarmen. So waren sie nun mal in der Familie Salinas, mit Ausnahme von Virgil – lauter Menschen mit großen, übersprudelnden Herzen, die an überkochende Suppe erinnerten. Neben ihnen fühlte Virgil sich stets wie eine trockene Scheibe Toast.

»Ay, Herr Jesus«, hatte Lola gesagt und sich die Fingerspitzen an die Schläfen gedrückt, »meine ersten Minuten in Amerika, und ich habe rasende Kopfschmerzen!« Sie hatte Virgils ältere Brüder zu

Joselito und Julius waren gleich losgeflitzt – hilfsbereit wie immer –, und Virgils Eltern hatten der Großmutter ihren Jüngsten vorgestellt, so als wäre er ein seltenes Ausstellungsstück, das sie nicht so richtig verstanden.

»Und das ist Turtle«, hatte seine Mutter gesagt.

So nannten seine Eltern ihn nämlich: Turtle, wie die Schildkröte. Weil er »nie unter seinem Panzer hervorkommt«. Jedes Mal, wenn sie das sagten, zerbrach etwas in ihm.

Lola hatte sich vor ihn gehockt und ihm etwas ins Ohr geflüstert: »Du bist mein Liebling, Virgilio.« Dann hatte sie sich einen Finger auf die Lippen gelegt und hinzugefügt: »Aber kein Wort davon zu deinen Brüdern!«

Sechs Jahre war das jetzt her, aber Virgil wusste, er war noch immer Lolas Liebling, auch wenn sie das nie mehr gesagt hatte.

Lola konnte er vertrauen. Vielleicht würde er ihr irgendwann sein Geheimnis anvertrauen, das Geheimnis, das ihn zu diesem Riesenversager machte. Aber nicht jetzt. Nicht heute.

»Gib her, ich schneide sie für dich auf«, sagte sie.

Virgil stellte sich neben sie und sah zu. Lola war schon alt, und die Haut ihrer Finger fühlte sich wie Papier an, doch im Aufschneiden von Mangos war sie eine Künstlerin. Sie fing langsam an und ließ sich Zeit. »Weißt du was?«, begann sie. »Letzte Nacht habe ich wieder von dem Steinjungen geträumt.«

Seit Tagen träumte sie jetzt schon von diesem Steinjungen, immer denselben Traum: Ein schüchterner Junge – ein bisschen so wie Virgil – fühlt sich schrecklich einsam. Eines Tages geht er im Wald spazieren und bittet einen Fels, ihn zu verschlingen. Dieser Fels, der größte im Wald, öffnet auch wirklich seinen finsteren Mund, der Junge springt hinein und wird nie wieder gesehen. Als seine Eltern den Stein finden, können sie nichts tun. Virgil war sich sowieso nicht sicher, wie sehr seine eigenen Eltern sich anstrengen würden, um ihn aus dem Stein herauszuholen, doch Lola, das wusste er, würde den Fels notfalls mit einem Steinmeißel von Hand zerlegen.

»Ich verspreche dir, dass ich nicht in irgendwelche Felsen springe«, sagte Virgil zu Lola.

»Ich seh dir doch an, dass etwas nicht stimmt mit dir. Du machst ein Gesicht wie Federico der Kummervolle.«

»Das war ein König, der noch ein Junge war und immerfort traurig. Aber niemand sollte wissen, dass er traurig war, alle sollten ihn für einen starken König halten. Eines Tages jedoch konnte er seinen Kummer nicht mehr in sich behalten, und alles sprudelte aus ihm heraus wie bei einem Springbrunnen.«

Lola hob beide Hände in die Luft, um das hochsprudelnde Wasser nachzumachen. In der einen Hand hielt sie noch immer das Obstmesser. »Federico weinte und weinte, bis das ganze Land unter Wasser stand und alle Inseln voneinander wegtrieben. Am Ende war Federico ganz allein auf einer Insel. Irgendwann kam ein Krokodil und fraß ihn.«

Lola hielt Virgil eine köstlich aussehende Mangoscheibe hin. »Hier.«

Virgil nahm sie. »Lola, kann ich dich was fragen?«

»Nur heraus damit.«

»Wie kommt es, dass in so vielen von deinen Geschichten Jungen von irgendwas gefressen werden, von Felsen oder Krokodilen?«

»Es sind gar nicht immer Jungen, die gefressen werden. Manchmal sind es auch Mädchen.«

Lola warf ihr Messer ins Spülbecken und zog ihre nicht mehr vorhandenen Augenbrauen hoch. »Wenn

»Okay«, sagte Virgil. »Aber jetzt gehe ich erst mal in mein Zimmer. Mal sehen, ob es Gulliver gut geht.«

Gulliver, sein Meerschweinchen, freute sich immer, ihn zu sehen. Virgil wusste: Sobald er die Tür aufmachte, würde Gulliver anfangen zu zwitschern. Vielleicht würde Virgil sich dann nicht mehr ganz so sehr wie ein Versager fühlen.

»Wieso sollte es ihm nicht gut gehen?«, rief Lola ihm nach, als er die Küche verließ. »Meerschweinchen haben selten Probleme, anak[1]

Lolas Lachen hallte in Virgil noch nach, während er durch den Flur ging und sich die Mangoscheibe in den Mund schob.


Valencia

Ich habe keine Ahnung, wie Gott aussieht. Ich weiß auch nicht, ob es im Himmel einen ganz großen Gott gibt oder zwei oder drei oder dreißig oder vielleicht auch einen für jeden Menschen auf der Welt. Ich bin mir nicht sicher, ob Gott ein Junge ist oder ein Mädchen oder ein alter Mann mit einem weißen Bart. Aber das macht auch nichts. Ich fühle mich einfach sicher, wenn ich weiß, dass mir jemand zuhört.

Meistens rede ich mit dem heiligen Renatus. Sein richtiger Name war René Goupil. Er war ein französischer Missionar in Kanada. Als er über den Köpfen indianischer Kinder das Kreuzzeichen schlug, dachten die Erwachsenen, er wolle die

Das alles weiß ich überhaupt nur deshalb, weil ich zu meinem zehnten Geburtstag von dieser Roberta ein Buch bekommen habe, das Berühmte gehörlose Menschen in der Geschichte hieß. Umgekehrt hätte ich Roberta ja niemals ein Buch geschenkt mit dem Titel Berühmte Blondinen oder Berühmte Menschen, die zu viel quasselten oder Berühmte Menschen, die versucht haben, beim Diktat abzuschreiben – obwohl das alles auf Roberta zutraf. Aber ein Gutes hatte das Buch immerhin: Dadurch habe ich vom heiligen Renatus oder, wie ich ihn nenne, dem heiligen René erfahren.

Ich beherrsche die Zeichensprache nicht, aber wenigstens das Alphabet dazu habe ich mir beigebracht, und so habe ich mir einen Namen in Zeichensprache für den heiligen René ausgedacht. Dabei kreuze ich den Mittel- und den Zeigefinger – das Zeichen für R – und tippe mir dreimal auf die Lippen. Das ist so ziemlich das Erste, was ich abends tue, wenn ich meine Hörhilfen herausgenommen habe und ins Bett gehe. Dann schaue ich zur Decke hoch und stelle mir vor, wie meine Gebete aufsteigen, immer höher, und noch eine Weile über meinem Bett schweben, bevor sie schließlich durchs Dach entschwinden. Dann stelle

Als ich noch jünger war, glaubte ich, irgendwann würde die Wolke so schwer werden, dass all meine Gebete zurück auf die Erde fallen würden. Dann hätte ich alles, was ich mir je gewünscht hätte. Aber jetzt bin ich elf und weiß es besser. Trotzdem stelle ich mir immer noch vor, wie sie zur Decke segeln. Schadet ja nicht, so ein Gedanke.

Ich bete nur abends, denn das ist die Tageszeit, die ich am wenigsten mag. Dann ist alles still und dunkel, und ich habe zu viel Zeit zum Nachdenken. Ein Gedanke führt zum nächsten, und auf einmal ist es zwei Uhr morgens, und ich habe noch kein Auge zugetan. Und wenn ich doch geschlafen habe, dann nicht gut.

Das war nicht immer schon so, dass ich die Nächte gehasst habe.

Früher habe ich mich ins Bett gelegt, und schon war ich eingeschlafen. Ohne Probleme.

Mit der Dunkelheit hat das nichts zu tun. Die hat mir sonst nie was ausgemacht. Mit meinen Eltern war ich mal in einer riesigen unterirdischen Höhle, den Crystal Caves oder Kristallhöhlen. Da konnte man nicht die Hand vor Augen sehen, aber Angst hatte ich keine. Im Gegenteil, ich fand’s toll. Wie

Es ist also nicht die Dunkelheit, die mich wach hält.

Es ist der Albtraum.

 

Dieser Albtraum geht so:

Ich stehe am Rand einer Wiese, einer, auf der ich noch nie gewesen bin. Das Gras unter meinen Füßen ist gelb und braun, und ich bin umgeben von einer riesigen Menschenmenge. Im Traum weiß ich, wer die Leute sind, dabei sehen sie niemandem ähnlich, den ich im wirklichen Leben kenne. Alle sehen mich aus runden schwarzen Augen an. Augen ohne das kleinste bisschen Weiß darin. Dann tritt ein Mädchen in einem blauen Kleid aus der Menge heraus. Sie sagt nur ein einziges Wort: »Sonnenfinsternis.« Ich weiß, was sie sagt, dabei habe ich meine Hörhilfen nicht an, und sie bewegt auch nicht die Lippen beim Sprechen. In Träumen ist das manchmal so.

Das Mädchen zeigt zum Himmel hinauf.

Aber etwas ist merkwürdig an solchen Träumen.

Irgendwie weiß mein Albtraum-Ich, dass die Sache nicht gut ausgeht. Sobald der Mond an der Sonne vorbeigezogen ist, rauscht das Blut in meinen Ohren, und meine Handflächen sind feucht von Schweiß. Ich senke den Blick – langsam, ganz langsam, ich will es nicht sehen –, und es ist, wie ich es vermutet hatte: Alle sind weg. Die Menschenmenge, auch das Mädchen im blauen Kleid. Nichts bewegt sich mehr, nicht einmal ein Grashalm. Die Wiese erstreckt sich meilenweit. Der Mond hat alle weggezogen. Alle außer meinem Albtraum-Ich.

Ich bin der einzige Mensch auf der Erde.

 

Ich weiß nicht, wie spät es ist, aber spät auf jeden Fall. Nach Mitternacht. Ich hab mir ganz fest vorgenommen, nicht an den Albtraum zu denken, und was tue ich? Ich liege im Bett und denke an nichts anderes. Ich schüttele meine Glaskugel aus den Kristallhöhlen und sehe zu, wie die Fledermäuse darin

»Nächstes Mal male ich dir eine Lakritzdecke«, sagte er oft. Lakritzstangen gehörten zu seinen Leibspeisen, behauptete er, doch ich schüttelte nur den Kopf und sagte: »Schokolade, Schokolade, Schokolade.«

Das war ein Spiel zwischen uns. Aber so was machen wir nicht mehr.

Ich glaube, er weiß einfach nicht, was man so macht als Vater einer Elfjährigen. Ein Mädchen von elf Jahren kann man sich nicht einfach mehr auf die Schultern setzen, schon gar nicht, wenn sie vor allem aus Knien und Ellenbogen besteht und einsfünfundsechzig groß ist. Man kann auch nicht mehr Kakao für sie kochen oder Bilderbücher vorlesen oder mit ihr zusammen auf den Weihnachtsmann warten.

Trotzdem war es schön, sich an die Popcorn-Lakritz-Schokolade-Decke zu erinnern.

Auf jeden Fall besser, als an einen Albtraum zu denken.

Ich mache die Augen zu und spüre den

Versteh mich nicht falsch. Manchmal kann man ganz vernünftig mit ihr reden. Wenn man einen guten Tag erwischt, an dem sie nicht allzu gluckenhaft drauf ist. Aber ich weiß vorher nie, in welcher Verfassung sie gerade ist. Manchmal ist sie überbeschützend, übermächtig, überalles. Irgendwann habe ich sie ganz direkt gefragt, ob sie mich deswegen so behandelt, weil ich gehörlos bin. Denn so fühlt es sich für mich an.

»Ich bin nicht überbeschützend, weil du gehörlos bist. Ich bin überbeschützend, weil ich deine Mutter bin«, sagte sie.

Aber etwas in ihrem Blick sagte mir: Das war nicht die Wahrheit. Jedenfalls nicht die ganze.

Ich bin gut darin, Blicke zu lesen. So wie ich auch Lippen lesen kann.

Meine Mutter darf auf keinen Fall von meinen Albträumen erfahren. Sie würde sofort anfangen, mich jeden Morgen und jeden Abend auszufragen, und darauf bestehen, dass ich zu einem Psychiater gehe oder so.

Vielleicht könnte ich dann endlich schlafen.

Augen auf. Augen zu.

Denk an was Nettes.

An den Sommer, der gerade beginnt. Also gut, daran werde ich jetzt denken. Das sechste Schuljahr ist vorüber, und ein schöner, fauler Sommer liegt vor mir. Okay, ich habe vielleicht nicht eine Million Freunde, mit denen ich abhängen könnte. Na und? Ich mach mir mein eigenes Unterhaltungsprogramm. Ich werde den Wald erkunden und mir in meinem zoologischen Tagebuch Notizen machen. Vielleicht ein paar Vögel zeichnen.

Es gibt jede Menge zu tun.

Ich brauche keine Million Freunde.

Nicht mal einen Freund brauche ich.

Ich brauche nur mich selbst, stimmt’s?

Solo – das ist überhaupt das Beste.

Erspart einem viel Ärger.


Hilfe anderer Art

Gulliver war ein guter Freund, Meerschweinchen hin oder her. Virgil konnte ihm alles erzählen, ohne dass Gulliver eine Meinung dazu äußerte. Das tat Virgil gut, aber er brauchte mehr. Er brauchte ganz praktische Ratschläge.

Er brauchte Hilfe anderer Art.

Lola hatte Virgil einmal eine Geschichte erzählt, die von einer Frau namens Dayapan handelte. Diese Frau hatte sieben Jahre lang Hunger gelitten, da ihr Volk nicht wusste, wie man Lebensmittel anbaut. Eines Tages weinte Dayapan, denn sie wünschte sich so sehr etwas zu essen, und wenn es nichts weiter als ein Reiskörnchen und eine Erbsenschote wäre. Um sich die Tränen abzuwaschen, nahm sie ein Bad

Virgil wünschte sich, er hätte auch so einen großen Geist, der ihm genau sagte, was er tun sollte, doch er hatte nur Kaori Tanaka.

Virgil fütterte Gulliver und ging dann zum Frühstück. Auf dem Weg durch den Flur schrieb er eine SMS an Kaori. Normalerweise würde er niemandem morgens um Viertel vor acht schreiben, schon gar nicht am ersten Tag der Sommerferien, aber an Kaori war nichts normal. Davon abgesehen schien sie zu jeder Tageszeit wach zu sein.

Brauche Termin
heute Nachmittag, falls o.k.

Virgil steckte sein Handy in die Pyjamatasche und folgte den unverwechselbaren Morgengeräuschen seiner Eltern und seiner Brüder. Joselito und Julius waren Frühaufsteher, denn irgendwie hatten sie andauernd Fußballtraining. Alle waren sie daher schon in der Küche, tranken Orangensaft und ließen ihr Temperament übersprudeln, während Virgil versuchte, sich einen Weg durch das donnernde Leben

»Guten Morgen, Virgil!«, sagte Joselito.

»Guten Morgen, Turtle«, sagten seine Eltern fast wie aus einem Munde.

Schließlich noch Julius: »Maayong buntag[2], Brüderchen.«

Virgil brummelte etwas, das nach Hallo klang. Seine Eltern saßen an der Küchentheke auf Hockern mit hohen Rückenlehnen. Lola saß am Frühstückstisch und las die Zeitung.

»Deine Mutter hat zu viele Clementinen gekauft, also iss, so viel du kannst«, sagte sie, ohne aufzublicken, und schnalzte wegen dieser Verschwendung mit der Zunge. Virgil nahm zwei Clementinen in jede Hand und passte gut auf, dass ihm bloß keine runterfiel, als er sich neben Lola setzte. Im selben Moment surrte das Handy in seiner Schlafanzugtasche.

»Was liest du da, Lola?«, fragte Virgil. Er ordnete die Clementinen in einer vollkommen geraden Reihe an, bevor er auf sein Telefon schaute.

Ich hab Zeit. Sei um zwölf hier.
Pünktlich!

»Tod und Zerstörung im ganzen Universum«, sagte Lola. »Gottlosigkeit hinter jeder Ecke.«

Julius drehte sich zu ihnen um. »Also echt, Lola, sei nicht so eine Spaßbremse!«

Virgil hegte schon lange den Verdacht, dass seine Brüder aus einer Fabrik stammten, die perfekte, supersportliche, von früh bis spät glückliche Kinder produzierte, während er selbst aus irgendwelchen übrig gebliebenen Bauteilen zusammengesetzt war. Der einzige Hinweis darauf, dass eine Kleinigkeit schiefgegangen war bei seinen Brüdern, waren die kleinen Finger der beiden, die leicht nach innen gebogen waren.

Während Virgil sich eine Clementine schälte, musterte er genau seine eigenen Hände. Seine Finger waren schlank und ganz gerade. Keiner war nach innen gebogen.

»Lola, kennst du dich mit Händen aus?«, fragte er mit einem vorsichtigen Seitenblick zu seinen Brüdern hinüber, doch die waren schon wieder in ein Gespräch über Fußball vertieft. Auch ihr Vater war kürzlich in einen Fußballverein für Erwachsene eingetreten. Alle Welt war verrückt nach Fußball. Nur Virgil nicht.

»Wie meinst du das – meistens?«

»In meinem Dorf gab’s mal ein Mädchen mit zwei Daumen an einer Hand.«

»Wirklich? Und was hat man mit ihr gemacht? Ist sie zum Arzt gegangen, und er hat ihr den zweiten Daumen abgehackt?«

»Nein, ihre Familie war arm. Einen Arzt konnten die sich nicht leisten.«

»Ja, aber – was haben sie dann gemacht?«

»Nichts. Der zweite Daumen blieb dran.«

»Hat sie sich wie ein Monster gefühlt?«

»Vielleicht. Aber ich habe ihr gesagt, dass Gott sicher etwas weiß, was sie selbst nicht weiß, deshalb hätte er das so gemacht.«

»Vielleicht wollte er, dass sie gut per Anhalter fahren konnte.«

»Vielleicht. Oder sie war wie Ruby San Salvador.«

»Wer war das?«

»Auch ein Mädchen aus meinem Dorf. Sie hatte sieben Schwestern. Jedes der Mädchen wurde nach seiner Geburt von den Eltern zu einer Hellseherin gebracht, die ihm die Zukunft vorhersagen sollte. Aber als Ruby San Salvador an der Reihe war, konnte niemand ihre Zukunft voraussehen. Alle, die es versuchten, sahen nur ein leeres Bild vor sich.

Virgil dachte an die arme Ruby San Salvador, die zusehen musste, wie alle ihre Schwestern etwas bekamen, was sie nicht haben konnte.

»Und was ist aus ihr geworden?«, wollte Virgil wissen.

»Sie ist fortgegangen, um es selbst herauszufinden. Im Dorf war es jedenfalls sehr viel ruhiger ohne ihre dauernde Fragerei.« Lola kniff die Augen zusammen. »Was hast du nur, Virgil? Wieso fragst du ausgerechnet nach Händen?«

»Mir ist nur eben aufgefallen, dass meine Finger schön gerade sind. Findest du nicht?«

Er legte die Clementinenschalen beiseite und beide Hände flach auf den Tisch, um sie Lola zu zeigen.

Lola nickte. »Stimmt, du hast sehr schöne Hände. Die Hände eines begnadeten Pianisten. Du solltest Klavierstunden bekommen. Li!«, rief sie. Li war der Name von Virgils Mutter. »Li!«

»Ja, manang[3]?«, antwortete Virgils Mutter, die

»Wieso bekommt Virgil eigentlich keinen Klavierunterricht? Er hat die Hände eines Pianisten.«

Virgils Vater antwortete anstelle seiner Frau. »Weil Jungen nun mal Sport treiben und nicht auf so einem albernen Klavier rumklimpern. Stimmt’s, Turtle?«

Virgil schob sich eine halbe Clementine in den Mund.

Mr. Salinas hob sein Glas mit dem Orangensaft. »Er muss nur endlich ein bisschen Speck auf die Rippen kriegen.«

Lola schaute weiter auf Virgils Hände und schüttelte den Kopf. »Ay, Herr Jesus«, murmelte sie. »Du solltest wirklich Klavier spielen, anak. Mit deinen Händen könntest du Konzerte im Madison Square Garden geben! Ganz sicher!«

»Vielleicht fang ich wirklich mit Klavier an«, sagte Virgil mit vollem Mund.

»Ja! Mach das! Gute Idee!«, sagte Lola. Dann wanderte ihr Blick zu Virgils Gesicht hoch, und sie betrachtete es aufmerksam. »Geht’s dir heute besser, anak

Virgil schluckte die halbe Clementine hinunter und nickte.

»Hm«, machte Lola. »Wie geht’s deinem Tierchen?«

»Und?«

»Und – Gulliver ist allein.«

»Ist es das, was dir Sorgen macht?«

Gulliver hatte mit Virgils großem Versagen gar nichts zu tun. Normalerweise log Virgil auch nicht. Aber dies war eine Situation, in der man mit dem Wörtchen Ja zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte (oder zwei Vögel mit einem Samenkorn füttern, wie Kaori gern sagte). Vielleicht würde er ein zweites Meerschweinchen bekommen, und Lola würde endlich aufhören, ihn danach zu fragen, weshalb er ein so trauriges Gesicht machte.

Also sagte er: »Ja.«

Lola nickte. Sie verstand zwar nicht, wieso irgendjemand sich ein Meerschweinchen wünschte. Aber was Einsamkeit war, das wusste jeder.

»Ich spreche mit deiner Mutter«, sagte sie.


Glocken eines buddhistischen Klosters