Über das Buch:
Niederlande, 1943: Mentje de Vries ist 9 Jahre alt, als ihr Vater verhaftet wird, weil er Juden versteckt hat. Erst harrt sie allein auf dem väterlichen Bauernhof aus, doch als die Soldaten wiederkommen, weiß sie: Sie braucht Hilfe. Aber wem kann sie trauen?

Der Einzige, der ihr einfällt, ist der Anwalt, der die jüdische Familie bei ihnen versteckt hat. Er bringt Mentje im »Versteckten Dorf« unter, einer geheimen Ansammlung von Häusern im Wald, in der Juden unterstützt von Widerständlern den Krieg zu überleben hoffen. Mentje taucht ein in eine völlig fremde Welt, immer hoffend, dass ihr Vater wiederkommt. Als sie einem alliierten Soldaten das Leben rettet, ahnt sie nicht, dass dies für sie der Anfang eines wunderbaren Weges ist ...

Über die Autorin:
Irma Joubert ist Historikerin und lebt in Südafrika. Sie war 35 Jahre lang Lehrerin. Nach ihrer Pensionierung fing sie mit dem Schreiben an. Über ihre Heimat hinaus haben sich ihre Romane auch in den Niederlanden, den USA und in Deutschland zu Bestsellern entwickelt und sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.

6. Kapitel

Das Dunkel der Nacht beginnt endlich aufzuweichen, langsam, beinahe unmerklich. Mentje steht vor dem Fenster; die Vorhänge sind bis auf einen kleinen Spalt zugezogen.

„Morgen bringen wir dich an einen sicheren Ort“, hat Herr von Baumhauer gestern Abend gesagt. Das Haus, in dem sie mit ihrem Vater gewohnt hat, ist nicht mehr sicher. Und wenn sie hierbleibt, das ist ihr heute Nacht ganz von selbst deutlich geworden, dann werden die Soldaten Herrn und Frau von Baumhauer ebenfalls abholen.

Immer wieder dröhnt die schwere Stimme in ihren Ohren: „Hier muss noch ein Kind sein …“ Noch ein Kind.

Sie hat Kopfschmerzen und ihr Hals ist geschwollen und rau. Sie versucht an die Wiesen zu denken, an die sanften Augen der Kühe, an den Geruch von gemähtem Gras und frischer Milch. Doch ihr Magen ist in Aufruhr und sie fürchtet, dass sie sich in diesem fremden weißen Zimmer übergeben muss.

Sie sehnt sich so nach ihrem Vater.

Die Sonne ist noch nicht ganz aufgegangen, als jemand an ihre Zimmertür klopft. „Mädchen, bist du fertig?“

Sie nehmen den Pass-Auf-Weg und lassen Vierhouten immer weiter hinter sich. Weiter und weiter weg von dem Bauernhof ihres Vaters.

Hier kennt sich Mentje nicht mehr aus. Die Bäume auf beiden Seiten des Weges bilden eine beinahe undurchdringliche grüne Mauer, sodass man keine fünf Meter in den Wald hineinsehen kann. Das ist bestimmt die Stelle, wo die Wegelagerer früher die Menschen überfallen haben, denkt Mentje, während sie das dunkle Dach aus Zweigen über ihrem Kopf betrachtet. In hohen Ästen sitzen keine Strauchdiebe. Und auch keine Soldaten.

Plötzlich bückt sich Herr von Baumhauer und hebt einen überhängenden Ast hoch. „Krieche hier unten durch.“

Jetzt sind sie im dichten Wald, einem finsteren Labyrinth aus rauen Tannenbäumen und undurchdringlichem Unterholz. Die abgestorbenen Blätter bilden einen dicken, schmierigen Teppich, und als Mentje darübergeht, steigt ihr der Geruch von verrottetem Laub in die Nase. Ich hoffe bloß, dass sich Herr von Baumhauer in diesem Wald auskennt, denkt sie, sonst verlaufen wir uns noch schlimmer als Hänsel und Gretel. Sie möchte auf keinen Fall noch hier sein, wenn die Nacht hereinbricht.

Hier und da müssen sie unter dem Unterholz hindurchkriechen. Die klebrigen Blätter pappen an ihren Knien und Händen. Zweimal fällt sie über eine Wurzel; schnell steht sie wieder auf, weil sie Angst hat, zurückgelassen zu werden. Alles ist schummrig, die Sonne ist ein ferner Feuerball, dessen Licht nicht durch das dichte Blätterwerk dringen kann. Alles riecht nach Wald.

Der bittere Geschmack der Angst weicht nicht aus ihrem Mund.

Plötzlich sieht sie direkt vor sich eine Waldarbeiterhütte aus Holz. Mentje läuft fast dagegen, bevor sie sie bemerkt. Die hölzernen Wände scheinen geradezu mit den Bäumen zu verschmelzen.

Im Augenwinkel sieht sie links von der Hütte jemanden laufen. Ein Wegelagerer? Ein Soldat?

„Ich bringe euch eine neue Bewohnerin!“, ruft Herr von Baumhauer.

„Hierher?“, will eine grobe Männerstimme wissen. „Wir haben keinen Platz mehr, wirklich.“

„Nicht für hier, sondern für das Zelt“, lautet die knappe Antwort.

Wohnen hier denn Menschen? So tief im Wald?

Herr von Baumhauer fällt in einen zügigeren Laufschritt; nur mit Mühe kann Mentje mit ihm mithalten. Ihre Holzschuhe stolpern über die dicken Baumwurzeln, ihre Füße bleiben im dichten Unterholz stecken.

Plötzlich bleibt Herr von Baumhauer stehen. Er deutet mit dem Zeigefinger in eine Richtung. Mentje erschrickt – droht etwa Gefahr? Ein Soldat? Oder ein wildes Tier? Vorsichtig stellt sie sich neben ihn und schaut in die Richtung, in die er zeigt.

Kaum zu erkennen befindet sich im dunklen Wald ein ziemlich großes Armeezelt. „Hier kannst du eine Weile wohnen.“

Mentje erschrickt. „In dem Zelt?“

Herr von Baumhauer geht zum Zelt, aber Mentje bleibt zögernd stehen. Ein Zelt mitten im Wald? „Komm, Kind.“

Zaudernd tritt sie näher heran.

„Schwabbelbauch! Was machst du denn hier?“

Mit einem Ruck dreht Mentje sich um. Ihr fällt vor Überraschung die Kinnlade herunter. Aber das ist doch … Walter! Der Junge mit den rabenschwarzen Locken und dunklen Augen, der einige Zeit in ihre Klasse gegangen ist. Wie kommt der denn hierher?

„Hey, Schwabbelbauch, bist du auf den Mund gefallen? Ich habe dich gefragt, was du hier machst!“

Was für ein abscheulicher Junge war das doch, auch damals schon. Vom ersten Tag an hat er sie Schwabbelbauch genannt, wenn alle dabei waren. Die halbe Klasse hat sich darüber kaputtgelacht.

„Kennt ihr euch?“, will Herr von Baumhauer wissen.

„Die ist in Vierhouten mit mir in die Schule gegangen“, erklärt Walter.

Walter Bartfeld. Über den die Kinder später gesagt haben, er sei Deutscher, obwohl er Jude ist. Der so wütend geworden ist, als er den großen gelben Davidsstern hat tragen müssen. „Wo ist dein Stern?“, will Mentje wissen.

Er wirft ihr einen giftigen Blick zu, doch bevor er etwas erwidern kann, kommen schon zwei Frauen hinter dem Zelt zum Vorschein. Die eine ist schon etwas älter; sie betrachtet Mentje mit einem abschätzigen Blick. Die andere ist eigentlich noch ein Mädchen; sie sieht etwas freundlicher aus, sogar ein wenig neugierig.

„Guten Morgen, Frau Bartfeld, Fräulein Hamburger“, begrüßt Herr von Baumhauer die beiden in sachlichem Ton. „Das ist Mentje de Vries. Sie zieht bei Ihnen ein. Ihr Vater …“

Die ältere Frau – das muss Walters Mutter sein – macht eine abwehrende Handbewegung. „Das geht nicht, wir haben keinen Platz für noch ein Kind. Suchen Sie für sie ein Plätzchen in der Hütte.“

Die Frau will mich hier nicht haben, begreift Mentje. Ihr Herz wird klein und sie bekommt das Gefühl, sie müsse sich übergeben. Ihr Vater sagt immer …

„Da ist noch weniger Platz“, entgegnet Herr von Baumhauer. Eigentlich duldet er keinen Widerspruch. „Ich kümmere mich darum, dass noch heute ihr Bettzeug gebracht wird.“

„Wir finden schon einen Platz“, verkündet die jüngere Frau mit den dunklen Haaren. Genauso wie Herr von Baumhauer sieht sie nicht so aus, als könnte man ihr Unsinn erzählen. Sie wirft Mentje ein schiefes Lächeln zu. „Hannie Hamburger oder kurz: Han. Willkommen im Pas-Opkamp, dem ‚Pass-Auf-Lager‘.“

Alles geschieht wie hinter einem Schleier, so als wäre es nicht wirklich, sondern nur ein Traum. Herr von Baumhauer verschwindet wieder im Wald und Frau Bartfeld wendet sich ab. Han geht ins Zelt. „Du bist doch gar keine Jüdin, was willst du dann hier?“, erkundigt sich Walter hinterhältig.

Alles riecht fremd.

Die Sonne lässt sich nicht sehen.

Im Lauf des Vormittags kommen ein paar unbekannte Menschen, die eine Matratze und ein Bündel mit Bettzeug bringen. Die Matratze ist ein Jutesack, den Mentje selbst mit Stroh vollstopfen muss. „Du musst es gleichmäßig verteilen, sonst schläfst du auf Beulen“, erläutert Walters Schwester Erni, die ihr zeigt, wie man das macht. „Und kleckere nicht so mit dem Stroh herum, sonst wird mein Vater böse.“

Im Zelt versuchen Frau Bartfeld und Han ihr einen Platz freizuräumen. Mentje schaut sich im Zelt um. Walters Mutter hat recht, denkt sie, hier ist es schon mehr als voll. In der einen Ecke liegen die Matratzen der Familie Bartfeld aufeinander. Zu der Familie gehören der Vater, die Mutter, Walter und seine Schwester Erni. In der anderen Ecke liegen die Schlafutensilien von Han und noch jemandem. Vorn im Zelt befindet sich ein Regal mit einem Topf, einem Kessel, Geschirr, Nahrungsmitteln und Seife. Und in der Mitte des Zeltes steht ein Tisch mit vier Stühlen. Auf dem Tisch stehen ein Butangasbrenner, eine Gaslampe und ein Kerzenständer mit einer Kerze darin.

Die Familie Friedman hatte auf dem Heuboden viel mehr Platz als die Menschen hier.

Walters Mutter drückt sich die Hände in die Seiten. „Nun, ich weiß es wirklich nicht.“

„Hier links vorn vielleicht?“, schlägt Han vor.

Es ist ja nur für eine Übergangszeit, bis sie meinen Vater gefunden haben, möchte Mentje sagen. Herr von Baumhauer wird ihn sicher finden, und dann wird er sagen, dass er kein Jude ist, und dann können sie wieder in ihr eigenes Haus.

Nur für eine oder zwei Wochen, länger nicht.

Später am Tag kommen dieselben unbekannten Menschen mit einem Kissenbezug voller Sachen zurück, und als Mentje darin ihre eigenen Kleidungsstücke und die Stoffpuppe findet, die die Nachbarin Lenie für sie gemacht hat, als sie noch klein war, und ihre eigene Bibel, die sie von ihrem Vater zu ihrem siebten Geburtstag bekommen hat, da bricht eine Flut von Tränen aus ihr heraus.

Erni möchte noch etwas sagen, aber Han zieht sie zur Seite. „Lass Mentje einen Augenblick in Ruhe.“

Die Nächte sind das Schlimmste; finster und einsam. Voller Erinnerungen. Voller Fragen und Ungewissheit und Sehnsucht. Voller Angst, Angst, Angst.

Sie liegt auf ihrer dünnen Matratze in der Ecke. Das Zelt ist voller Gerüche: das Essen vom Abend zuvor, der Atem der Menschen, getragene Schuhe. Sie hört die Schnarchgeräusche unruhig schlafender Menschen, die Zweige, die an der Zeltplane kratzen, eine Maus, die irgendwo unter den Blättern herumwühlt.

Doch auch als das Tageslicht die Dunkelheit vertreibt, wird es nicht viel besser. Mentje versucht sich zu beschäftigen, das hilft, ihre Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. Doch die Beengtheit des Waldes bedrückt sie. Und auch die Fremdheit, der Zweifel, der Kummer. Und die furchtbare Angst.

„Komm, Mentje, wir gehen Beeren pflücken“, fordert Han sie am frühen Morgen auf. Han ist klein von Gestalt und kräftig gebaut. Sie hat schwarze Kräusellocken und schaut hell aus ihren dunklen Augen.

Erni kommt auch mit. Sie ist etwas älter als Walter und längst nicht so ein Plagegeist. Trotzdem beklagt sie sich über alles und führt sich auf, als wäre sie der Boss. „Diese roten Früchte hier heißen Preiselbeeren, daraus kann man Marmelade kochen“, erklärt sie Mentje.

„Dazu braucht man aber Zucker“, erwidert Mentje. Sie weiß das, weil sie der Nachbarin Lenie einmal beim Marmeladeeinkochen geholfen hat.

„Na und? Das ist doch logisch, du Döskopp.“

„Schaut doch mal, was ich gefunden habe“, verkündet Han ein bisschen weiter den Weg hinauf. Sie spricht leise, denn im stillen Wald sind Geräusche weit zu hören. „Pilze, lecker. Schaut doch mal, ob ihr noch mehr finden könnt. Hier, kratzt doch die Blätter ein bisschen weg.“

Rund ums Zelt hilft Mentje, so gut es geht. Wenn ich ganz schnell meine Arbeit erledige, denkt sie, findet es Walters Mutter vielleicht gut, dass ich hierbleibe, bis mein Vater zurückkommt. Zum Glück ist Han auch hier, die ist nett, genau wie ihr Verlobter Bart Eckstein; ihn mag Mentje sehr gern. Er ist genau wie Han von kleiner Gestalt, aber seine Haare sind heller. Er hat eine tiefe Bassstimme und ist eher ruhiger Natur und er studiert Medizin. Wenn er tagsüber kein Holz hackt oder Wasser holt, lehnt er sich auf einem sonnigen Plätzchen mit dem Rücken gegen einen Baum und liest. Abends sitzt er beim Schein der Butangaslampe über seine Bücher gebeugt. Sogar bei Kerzenlicht, wenn der Docht in der Lampe mal wieder kaputt ist. „Kein Mensch kann schlafen, wenn einem dauernd dieses Licht in die Augen scheint“, beschwert sich Walters Mutter.

Mentje schält Kartoffeln und schneidet Bohnen klein. Keine Zwiebeln, denn der Geruch von gebratenen Zwiebeln verbreitet sich im ganzen Wald, geradezu bis in deutsche Nasen hinein. Sie hilft beim Abwasch, sammelt Reisig und versucht Walters Vater nicht über den Weg zu laufen. Sie ist sehr auf der Hut vor ihm, denn er ist streng und erwartet, dass alle tun, was er sagt. „Er ist und bleibt ein Deutscher, obwohl er Jude ist“, brummt Han bei einer Gelegenheit in sich hinein.

Auch in der Nähe von Walters Mutter bewegt sich Mentje auf Zehenspitzen. Nichts kann man ihr wirklich recht machen, sodass sich Mentje immer ein bisschen schuldig vorkommt.

Tagsüber gelingt es ihr meistens, an andere Dinge zu denken. Doch nach dem Abendessen, wenn der Abwasch erledigt ist und sie alle ihre Matratzen bereitgelegt haben und wenn Bart spät am Abend das Licht gelöscht hat, dann überfällt sie der große Kummer. Totenstill liegt sie dann im Stockfinsteren da und lauscht auf die Atemzüge all der Menschen, auf Walters Mutter, die stöhnt und sich herumwälzt, bis sie einschläft, auf Walters Vater, der dumpfe Nasengeräusche von sich gibt, sobald er in Tiefschlaf gefallen ist, auf Bart und Han, die leise miteinander flüstern und kichern.

Dann kommt sie sich in diesem Zelt voller Menschen mutterseelenallein vor.

Und zusammen mit ihrem Vater ist auch der Gott ihres Vaters verschwunden.

Alle zwei oder drei Tage kommt ein Kurier und bringt Nahrungsmittel. Das ist auch gut so, denn im Wald gibt es nicht viel Essbares zu finden. „Das wird alles durch den Widerstand organisiert“, erklärt Han leise, während sie zu der Essensgrube am Waldrand unterwegs sind. „Jeder hilft mit beim Nahrungsmittelsammeln: Bauern, Ladenbesitzer, Hausfrauen … Gemeinsam halten sie uns am Leben.“

Wenn Papa von den Menschen im Wald gewusst hätte, hätte er ihnen sicher auch Nahrungsmittel gebracht. Sahnige Milch, Eier, vielleicht ein paar Bohnen …

Sie denkt nicht weiter; denn das macht ihren Kummer nur noch größer.

Die Essensgrube befindet sich rund dreißig Meter neben der Brandschneise, damit die Kuriere die Nahrungsmittel ziemlich einfach dort ablegen können. Die Grube ist ein Loch im Boden, das mit Zweigen und Blättern zugedeckt wird. Han schiebt beides zur Seite. „Hilf mir doch mal schnell, die Kiste herauszuheben.“

Unten in der Grube sind zwei Kisten. Die kleine ist für ihr Zelt bestimmt, die große für die Waldwächterhütte.

In der Waldwächterhütte wohnen elf oder zwölf Menschen, doch die kennt Mentje nicht weiter. Die beiden Gruppen von Untergetauchten haben nichts miteinander zu tun, weil das zu gefährlich wäre. Jedes Geräusch und jede Bewegung könnte die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich ziehen. „Und wenn jetzt die Soldaten durch die Brandschneise patrouillieren?“, will Mentje wissen, während sie den schmalen Pfad im Auge behält.

Han schüttelt den Kopf. „Das tun sie nicht. Sie haben zu viel Angst vor dem Wald.“

Mentje beruhigt das nicht. „Wovor sollten sie denn Angst haben?“ Die Wildschweine trauen sich doch nur nachts heraus. Ganz abgesehen davon haben die Soldaten doch immer ihre großen Gewehre bei sich. „Wenn man sich nur in der Brandschneise bewegt, kann man sich doch gar nicht verlaufen.“

„Sie haben aber Angst davor, dass die Leute vom Widerstand aus dem dichten Wald heraus auf sie schießen. Das sind halt Schisser.“

Genau wie damals die Wegelagerer, denkt Mentje.

„Bart meint, wenn wir immer vorsichtig sind, dann seien wir hier sicher“, erklärt Han. Sie stellt die schwere Kiste ab, damit sie eine kleine Pause machen können.

Immer still sein und leise laufen, denn die Geräusche kann man weithin hören. Leise sprechen, selbst wenn man wütend ist. Tagsüber in der Nähe des Zeltes bleiben. Tagsüber kein Feuer machen, denn jemand könnte den Rauch sehen. Mit allem sparsam sein: Essen, Wasser, Gas, sogar mit Kerzen. Und wenn man das Plumpsklo gebraucht hat, muss man alles mit einer Schaufel Sand zudecken, sonst zieht es die Fliegen an.

Alle diese Regeln kennt Mentje mittlerweile sehr gut.

Sie vermisst die Freiheit der offenen Weidelandschaft, wo einem die Sonne warm auf den Rücken scheint und das Gras frisch duftet. So wie an dem Tag, an dem die Soldaten gekommen sind. Und ihren Vater zusammen mit der Familie Friedman mitgenommen haben.

Die Nahrungsmittel können durch Fahrradkuriere gebracht werden, Wasser ist jedoch ein großes Problem. Manchmal bringt Herr von Baumhauer – die Untergetauchten nennen ihn „den Baum“ – mit seinem Pferdewagen bis kurz vor das Lager Milchkannen, die mit Wasser gefüllt sind. Doch meistens müssen sich die Untergetauchten selbst abends beim Haus von Herrn de Vos Wasser pumpen.

Herr de Vos wohnt mit seiner Familie im Haus der Forstverwaltung, dem Huize Pas-Op, dem Pass-Auf-Haus, an der Ecke vom Pass-Auf-Weg und dem Tongerenseweg. Mentje erinnert sich noch sehr gut an das Haus mit dem bedrohlichen Namen. Hinten im Garten steht eine Wasserpumpe.

„Das ist gefährlich, verstehst du?“, warnt Walter sie ein bisschen von oben herab, während sie eines Abends zusammen mit ihm und Bart mitgeht, um Wasser zu holen. Sie muss ihre Kleider waschen, und Walters Mutter beschwert sich ständig über die Wassermenge, die sie verbraucht. Manchmal wagt es Mentje nicht einmal, einen Becher Wasser zu trinken.

Dass das zu gefährlich ist, weiß sie schon lange. Die Pumpe im Garten hinter dem Haus von Herrn de Vos steht nahezu direkt am Tongerenseweg, auf dem die Polizei beinahe täglich Streife läuft.

„Wenn es nicht sicher ist, hängt Frau de Vos ein Wäschestück auf die Leine und lässt den Hund nach draußen, damit er bellt“, erläutert Walter.

„Wenn also der Hund drinnen eingeschlossen ist und keine Wäsche an der Leine hängt, ist demnach die Luft rein?“, will Mentje zur Sicherheit noch einmal wissen.

„Das sage ich doch.“

So ein Besserwisser!

Als sie fast dort angekommen sind, müssen Walter und Mentje sich im Wald verstecken, während Bart vorsichtig weitergeht.

Mentjes Herz schlägt wie wild. Es hängt keine Wäsche an der Leine und es läuft auch kein bellender Hund draußen herum. Trotzdem lässt sie den Weg keine Sekunde aus den Augen. Vor allem Wachtmeister Doeven dreht hier ständig seine Runde, hat Walters Mutter berichtet. Er muss irgendwie Lunte gerochen haben.

Bart kommt jedoch zügig mit zwei Eimern Wasser wieder. „Nehmt die schnell mit ins Lager“, fordert er sie auf. Er selbst zieht mit der Milchkanne wieder los, um auch die zu füllen.

Die schweren Eimer zum Zelt zu tragen, ist eine elende Schinderei. Mentje versucht so wenig wie möglich zu verschütten, weil sie das Wasser braucht, um ihre Kleidung heute Abend einzuweichen, damit sie sie morgen ausspülen kann. Doch zuerst wird sie einen Becher nach dem anderen trinken, damit sie nie mehr Durst bekommt.

Als sie endlich am Zelt ankommen, hat der Griff des Eimers eine tiefe Kerbe in Mentjes Hand geschnitten und es kommt ihr so vor, als würde ihr der Arm gleich abfallen. Doch jetzt hat sie wenigstens einen Eimer Wasser für sich.

Am nächsten Morgen ist um elf Uhr das Wasser wieder alle. „Du musst lernen, sparsamer mit dem Wasser umzugehen“, behauptet Walters Mutter. „Ganz abgesehen davon teilen wir in diesem Zelt alles miteinander. Du kannst also nicht einfach einen Eimer Wasser nur für dich selbst behalten.“

Mentje erwidert darauf nichts. Sie weiß sehr gut, dass sie einfach nur eine Last ist.

Ich bin eine Untergetauchte im Pass-Auf-Lager mitten in den Wäldern von Soerel, wird es ihr nach ein paar Wochen klar. Herr von Baumhauer wird ihren Vater finden, das muss sie glauben. Doch solange ihr Vater nicht zurück ist, ist sie einfach nur das soundsovielte Kind, das der Krieg in seinen Klauen hat und das nun sehen muss, wie es überlebt.

7. Kapitel

Für den Winter brauchen wir eine bessere Unterkunft“, gibt Walters Vater eines Abends zu bedenken. „Ich schlage vor, wir bauen eine Hütte.“

„Han und ich haben auch schon darüber gesprochen“, stimmt Bart ihm zu. „Eine Holzhütte mit doppelten Wänden mit Stroh für die Isolation dazwischen. Das hält die Kälte draußen und dämpft die Geräusche.“

Mentje sitzt auf ihrer Matratze und hört zu. Das klingt nach einem vernünftigen Vorschlag.

Herr Bartfeld erwidert nichts, er spricht sich allerdings auch nicht dagegen aus, was bedeutet, dass er einverstanden ist.

Bart holt einen Bogen Papier, fingert einen Bleistift aus seiner Hosentasche und fängt an zu zeichnen. Han stellt die Teller in die Waschschüssel, gießt ein bisschen Wasser aus dem Kessel darüber und geht damit nach draußen. „Ich kann dir gern beim Abtrocknen helfen“, verkündet Mentje sofort.

„Meine Knochen tun weh“, klagt Erni.

„Dann bleibst du schön im Bett liegen“, sagt Han, ohne sich umzudrehen. Es klingt kurz angebunden.

„Sie hat schon einmal eine Knochenmarksentzündung gehabt, weißt du, im Sommer 1937“, schießt Frau Bartfeld unmittelbar in die Höhe. „Sie ist sehr krank gewesen.“

„Ja, das haben Sie uns schon erzählt.“

Draußen stellt Han die Schüssel mit dem schmutzigen Geschirr mit einem Rums auf einen Baumstumpf und fängt so energisch an abzuwaschen, dass das Wasser über den Rand spritzt. Mentje trocknet einen Teller nach dem anderen ab und stapelt sie auf einem anderen Baumstumpf aufeinander. Ihr Magen ist ein brennender Knoten. Dieses ständige Hickhack untereinander und das unaufhörliche Herumgeraunze sind für sie eine neue Erfahrung. Sie sehnt sich nach ihrem Vater und ihrem freundlichen Zuhause, nach dem Geruch des Holzes im Ofen, nach Vaters kräftiger Stimme, mit der er jeden Abend aus der Bibel vorgelesen hat.

„Was stehst du da so verträumt herum?“, fragt Han auf einmal.

„Oh, tut mir leid“, sagt Mentje, während sie den nächsten Teller nimmt. Über ihren Vater möchte sie lieber nicht sprechen.

Lange nachdem das Geschirr abgetrocknet ist, sitzt sie immer noch draußen. Drinnen haben sich Walters Vater und Bart über die Baupläne gebeugt. Die Stimme von Herrn Bartfeld kann sie deutlich hören: „Das klappt nie.“

Was Bart entgegnet, hört sie nicht.

„Das ist in jeder Hinsicht unpraktisch.“ Herrn Bartfelds Stimme wird immer lauter.

Mentje betet, dass sie mit dem Gezanke aufhören mögen, damit sie schlafen kann, aber es geht immer weiter. „Und wie sollten wir das deiner Meinung nach auf die Reihe bekommen? Wir müssen …“

So geht es bis tief in die Nacht.

Als Herr von Baumhauer in der Woche darauf zu Besuch kommt, fällt Walters Vater direkt mit der Tür ins Haus: „Wir können unmöglich länger in diesem Zelt wohnen, lieber Baum. Im Augenblick ist es zwar noch Sommer, aber wenn erst der Winter kommt …“

Der Baum runzelt verärgert die Stirn. „Und, was schlagen Sie stattdessen vor?“

Sie sitzen am Tisch, die drei Männer. Die anderen sind derweil draußen; nur Mentje hockt auf ihrer Matratze und hört zu.

„Wir bauen eine Holzhütte. Ich bin so frei gewesen, da mal die Initiative zu ergreifen.“

„Herr Bartfeld und ich haben einmal die Köpfe zusammengesteckt“, erklärt Bart ein bisschen entschuldigend, während er die Bauzeichnungen auf dem Tisch ausbreitet. „Schauen Sie einmal, dann kann ich Ihnen zeigen, was wir uns vorgestellt haben.“

Interessiert betrachtet sich ihr Gast die groben Skizzen, Walters Vater erläutert, Bart fügt hier und da etwas hinzu. „Ja, das müsste sich machen lassen“, erklärt der Baum schließlich.

„Wir wollen die Bohlen mit Draht zusammenbinden“, verkündet Bart. „Dann brauchen wir keine Nägel. Hammerschläge würden nur unnötig Aufmerksamkeit erregen.“

Herr Bartfeld kratzt sich am Bart. „Wir müssten das eine oder andere aus dem Dorf bekommen. Draht zum Beispiel, aber auch Fensterrahmen und Fenster, Türen und Dachplatten.“

„Ja, das wird nicht einfach werden, aber wir können mal schauen, was sich machen lässt“, entgegnet der Baum mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln.

Walters Vater zieht seine struppigen Augenbrauen hoch. „Das Dorf muss uns einfach helfen. So schwierig kann das doch nicht sein.“

Mentje spürt, wie sich der brennende Knoten in ihrem Magen wieder enger zusammenschnürt.

„Bartfeld, niemand ist euch irgendwas schuldig“, verkündet der Baum warnend und steht auf.

„Das habe ich auch gar nicht gesagt“, entgegnet Walters Vater wütend. „Ich habe nur gesagt, dass wir Baumaterialien brauchen. Das versteht sich doch wohl von selbst, oder etwa nicht?“

Ohne eine Antwort zu geben, dreht der Baum sich um und geht weg.

Mentje springt sofort auf und rennt ihm hinterher. „Herr … Herr von Baumhauer?“

Er schaut sich um. „Was ist denn?“

Sie holt tief Luft. „Mein Vater, Gerrit de Vries. Haben Sie schon etwas über ihn herausgefunden?“

Der Baum betrachtet sie eine Weile schweigend. „Er ist wahrscheinlich ins Durchgangslager Amersfoort gebracht worden.“

„Ins Durchgangslager Amersfoort?“

„Dahin kommen die niederländischen Gefangenen. Sie bringen sehr viele Menschen dorthin.“

„Oh. Vielen Dank.“

Er dreht sich wieder um und verschwindet im dichten Wald.

Enttäuscht lässt sich Mentje mit dem Rücken gegen den rauen Stamm eines Baumes fallen. Der Wald schließt sich erstickend eng um sie. Nirgendwo ist ein Sonnenstrahl zu sehen und die Angst in ihr wird immer größer. Durchgangslager Amersfoort? Wo liegt das? Und warum halten sie ihren Vater in einem Lager gefangen? Er hat doch eigentlich nur Gutes getan, oder?

Doch noch stärker als die Angst ist der Verlust. Der brennt ihr ein Loch ins Herz.

Papa. Papa.

In den folgenden Tagen und Wochen verschwinden Herr Bartfeld und Bart schon früh am Morgen und kommen erst am späten Nachmittag wieder zurück. Tief im Wald, weitab vom Lager, fällen sie die ganze Zeit über dicke Bäume, sägen Bohlen auf die gleiche Länge zurecht und tragen diese auf ihren Schultern zurück ins Lager. Dort binden sie die Bohlen mit Draht zu einer Art Wand zusammen.

Bart und Herr Bartfeld arbeiten dabei zwar zusammen, aber die Spannungen zwischen ihnen nehmen täglich zu. Einmal, als Mentje mit Han am späten Nachmittag Tannenzapfen fürs Feuer suchen geht, schließt Bart sich ihnen an. Seine übliche Ruhe ist verschwunden. „Ich habe es mehr als satt, nach der Pfeife von diesem preußischen Juden zu tanzen“, zischt er wütend. „Wirklich, Han, ich bleibe nicht eine Sekunde länger mit ihm unter einem Dach. Ich helfe noch mit, diese Hütte fertig zu bekommen, aber bevor wir da einziehen, will ich lieber noch eine Hütte für uns selbst bauen.“

Han streichelt ihm über den Rücken. „Den Bauplan können wir ja im Prinzip übernehmen.“

„Allerdings in einer verbesserten Form. Ich denke, dass wir die Hütte teilweise unterirdisch bauen sollten, sodass nur noch das Dach herausschaut. Dann sieht sie von ferne aus wie ein kleiner Hügel. Dadurch wird die Tarnung eine ganze Ecke einfacher und darüber hinaus ist die Hütte dann besser isoliert.“

Die beiden sind völlig vertieft in ihre Pläne und lehnen sich an einen dicken Baum. Sie sprechen nur noch miteinander und scheinen Mentje vollkommen vergessen zu haben. „Wir müssen die Hütte etwas größer bauen, damit mein Bruder und meine Schwester eventuell auch noch zu uns können“, überlegt Han. „Schon jetzt ist doch die Hütte, die wir gebaut haben, für acht Leute zu klein.“

Mentje geht weg. Der Geruch der Tannen kitzelt sie in der Nase und kribbelt ihr in der Kehle.

Eigentlich sind Han und Bart die Einzigen, mit denen sie gelegentlich reden kann. Vor allem Han.

Aber wenn die nun in einen anderen Teil des Waldes umziehen?

Im Zelt herrscht Durcheinander, jeder ist gereizt, mit der Duldsamkeit ist es vorbei. Nicht nur bei Walters Mutter – auch Han wirkt wie eine Dampflokomotive in den Startlöchern.

„Das Zelt bringt mich noch um“, verkündet sie Mentje eines Tages, während die beiden unterwegs sind. Sie muss so richtig Dampf ablassen. „Ständig Menschen um mich herum, nirgendwo hat man Privatsphäre, die ganze Zeit Spannungen. Und diese Unsicherheit macht mich ganz verrückt.“ Sie bleibt stehen. „Weißt du, Mentje, manchmal frage ich mich, ob es so etwas wie eine Zukunft überhaupt noch gibt.“

Mit zornigen Schritten marschiert sie weiter und Mentje folgt ihr schweigend. Sie weiß genau, wie Han sich fühlt, was soll sie allerdings sagen, um sie zu trösten?

Der Wald ist ein Gewirr aus wilden Kiefern mit hier und da ein paar Buchen und Eichen und ab und zu einer Fichte oder einer Felsenbirne dazwischen. „Von diesem blöden Wald habe ich die Schnauze voll“, brummt Han, immer noch wütend.

„Lass uns ein sonniges Plätzchen suchen“, schlägt Mentje leise vor. Sie sind schließlich nicht auf der Suche nach Pilzen oder Ähnlichem, sondern machen einfach nur einen kleinen Spaziergang. „Ich … vermisse die Sonne auch.“

Han reagiert nicht. Doch ein Stückchen weiter, wo das Sonnenlicht durch das Blätterdach bricht und runde Flecken auf den Boden malt, lässt sie sich ins trockene Laub fallen. Sie streckt ihre Beine aus und lehnt sich zurück, das Gesicht der Sonne entgegengestreckt. Nach einer Weile sagt sie: „Du hast recht. So ein bisschen Sonne brauchen wir ab und zu, damit wir merken, dass wir noch leben.“

Mentje setzt sich neben sie. „Mein Vater sagt immer, dass die Sonne Leben gibt. Er liebt die Sonne auch sehr.“

Han hat die Augen zu und streckt der Sonne ihr Gesicht entgegen. „Vermisst du deinen Vater sehr?“

Mentje bekommt einen Kloß in den Hals. „Ganz furchtbar.“

„Und deine Mutter?“

„Die ist gestorben, schon vor langer Zeit, da war ich noch klein.“

„Wie alt bist du eigentlich, Mentje?“

„Zehn. Und du?“

„Neunzehn. Fast zwanzig.“

Mentje legt sich auf den Rücken und betrachtet das Geflecht der Äste und Zweige über ihrem Kopf. Durch die feinen Blätter wirkt alles wie eine karierte Decke. Nach einer Weile fordert Han sie auf: „Erzähle mir etwas von deinem Vater.“

Mentje überlegt einen Augenblick. Wie kann sie Worte finden, die ihr den Vater näherbringen könnten? „Mein Vater ist groß und stark. Er hat graues Haar … das ist immer ein bisschen durcheinander und steht an den Ecken ab.“ Sie gestikuliert mit ihren Händen. „Er hält Milchkühe und liest jeden Abend aus der Bibel vor. Und … er kann auch sehr lange mit Gott reden.“

„Seid ihr Christen?“

Mentje nickt. Han rollt sich auf die Seite und schaut Mentje an, das Kinn auf die Hand gestützt.

„Und trotzdem habt ihr eine jüdische Familie versteckt?“

Das war nur für eine Woche oder zwei, doch dann sind daraus Monate geworden. Genau wie ihr Aufenthalt hier im Wald. „Dann haben die Soldaten sie erwischt. Und ihn auch.“

„Und dein Vater ist ins Lager nach Amersfoort gebracht worden?“

Mentje nickt wieder. Und es wächst ihr ein ekelhafter Kloß im Hals. „Herr von Baumhauer hat gesagt, er wird versuchen, etwas Genaueres herauszufinden, aber bisher gibt es nichts Neues.“

„Der Baum kennt die Deutschen sehr gut.“ Han rollt sich wieder auf den Rücken. Sie scheint mittlerweile ein ganzes Stück ruhiger geworden zu sein. Das wird die Wärme der Sonne sein, die sie so beruhigt hat. „Die Deutschen haben ihn auch schon mal verhaftet, weißt du das? Er hat über sechs Monate im Gefängnis gesessen.“

„Wirklich?“, fragt Mentje überrascht.

„Im letzten Jahr, ja. In Sint-Michielsgestel, wenn ich mich richtig erinnere.“

Langsam dringt es zu ihr durch. Wenn der Baum im Lauf der Zeit wieder freigelassen worden ist, dann kann das doch auch mit ihrem Vater passieren. Dann gibt es Hoffnung. „Und wie ist er wieder freigekommen?“

„Durch seine Kontakte, glaube ich. So genau weiß ich das auch nicht. Je weniger man über solche Dinge redet, desto besser ist es. Aber wenn der Baum deinem Vater auf der Spur ist, dann gibt es Hoffnung. Der bekommt die Sachen auf die Reihe.“

Die Freude, oder ist es vielleicht doch nur die Hoffnung, nimmt langsam von Mentje Besitz.

Noch lange liegen sie schweigend nebeneinander und betrachten die Zweige über ihren Köpfen. Sie saugen die Stille ein, denn selbst mitten in der Nacht ist es im Zelt niemals ganz still.

Zum ersten Mal seit Wochen hat Mentje das Gefühl, dass sich der Knoten in ihrem Magen etwas gelöst hat. Sie ist fast schon glücklich.

Ganz vielleicht ist sie bald wieder bei ihrem Vater, zurück in ihrem Zuhause.

Endlich sind die vier Doppelwände der neuen Hütte fest im Boden verankert mit Fenstern und Eingangstür und allem. Für das Dach kommt ein Zimmermann aus Vierhouten, zum großen Missfallen von Walters Mutter. „Das geht doch nicht“, schimpft sie zornig. „Der Mann hat nichts mit uns zu tun. Ein falsches Wort von ihm und wir müssen wieder flüchten.“

„Und die Kuriere, die uns alle zwei oder drei Tage Nahrungsmittel bringen?“, trumpft Han auf. „Und all die Leute in Nunspeet, die sie einsammeln? Und die Menschen, die uns neue Bewohner bringen?“

Denn tatsächlich wächst die Zahl der Bewohner im Pass-Auf-Lager jede Woche.

„Trotzdem. Ich sage ja nur, dass wir aufpassen müssen“, besteht Frau Bartfeld dickköpfig auf ihrer Meinung.

Pass auf, pass auf, denkt Mentje. Jeden Tag müssen sie aufpassen wegen allem und noch mehr: keinen Lärm machen, kein Feuer anzünden, kein Wasser verschwenden, vorsichtig sein mit dem Essen. Pass auf oder es kostet dich das Leben.

Der Zimmermann bringt Asbestplatten für das Dach. Morgens ist er schon vor Anbruch des Tages an der Arbeit und abends versteckt er seine Werkzeugkiste irgendwo im Wald.

Eines frühen Morgens trifft er zitternd vor Entsetzen im Lager ein. „Ich bin doch wahrhaftig um diese Stunde schon von Wachtmeister Doeven angehalten worden“, berichtet er, während er sein Fahrrad an einen Baum lehnt.

Han erschrickt heftig. „Und was haben Sie gesagt?“

„Nun, ich musste mir schnell etwas ausdenken. Also habe ich gesagt, dass ich eine Parzelle Wald gekauft habe, um Bäume zu fällen, aber dass ich sie nicht finden könne.“

„Und dann?“

„Dann hat Doeven mich gefragt, ob ich vielleicht Leute bei der Wasserpumpe von de Vos gesehen hätte. ‚Nur Herrn und Frau de Vos selbst‘, habe ich geantwortet und so getan, als hätte ich von Tuten und Blasen keine Ahnung.“

Han schlägt die Hände vors Gesicht. „Wir müssen besser aufpassen an der Pumpe.“

„Das war gut ausgedacht, wirklich“, wirft Bart ein, während er dem Zimmermann auf die Schulter klopft. „Und Doeven hat es geschluckt?“

„Meiner Meinung nach ja, es schien ihn nicht weiter zu interessieren. Zum Glück werde ich heute auch fertig. Das Dach ist wasserdicht. Ihr könnt zur Tarnung einfach Grasstücke darauf verteilen.“

An diesem Abend verkündet Han laut und deutlich bei Tisch: „Der Zimmermann hat uns unter Gefahr für Leib und Leben ein solides Dach verschafft. Wir können das Opfer dieses Mannes nie genug würdigen.“

Darauf erwidert Frau Bartfeld nichts.

Am nächsten Tag ziehen sie in die Hütte um. Vorn in der Hütte sind ein Tisch und ein Schrank eingebaut und hinten stehen vier Stockbetten auf Baumstümpfen. Die Betten sind breit genug für zwei Matratzen und damit ergibt sich ein Schlafplatz für acht Menschen.

Als die Leute aus der Waldarbeiterhütte kommen, um sich die Sache anzuschauen, ist jeder von der neuen Hütte begeistert. „Das ist eine tolle Hütte, wirklich“, verkündet ein Mann. „Jetzt wohnen wir in der großen Pass-Auf-Hütte und ihr in der kleinen.“

„Nennen wir sie doch einfach die Große PA und die Kleine PA“, schlägt Herr Bartfeld vor. „Ja, so sollen die beiden Hütten fortan genannt werden.“

Immer mehr Untergetauchte zieht es in die Wälder. Auch im Zelt wohnen schon wieder Menschen. Und gestern Abend sind noch vier Menschen zur Kleinen PA dazugestoßen. Unter ihnen ist Wim, der Bruder von Han, und Flora, die Schwester der beiden. Die Kleine PA ist nun zum Bersten voll, genau wie das Zelt, in dem nun neun Menschen wohnen. Die Situation in der Großen PA ist noch schlimmer. „Der Baum muss sich langsam wirklich etwas überlegen“, sagt Walters Vater laut. „Eigentlich habe ich diese Hütte nur für meine Familie gebaut.“

Han setzt schon an, um etwas zu erwidern, doch Bart legt ihr beruhigend eine Hand auf den Arm.

Jeden Morgen verschwinden Bart, Han, Wim und Flora schon in der Frühe und kommen erst spät am Abend wieder zurück. Gemeinsam bauen sie ihre eigene Hütte. Ein- oder zweimal schlendert Mentje ihnen hinterher, sie fühlt sich allerdings überflüssig und kann auch eigentlich nicht helfen. Mit dem Bau der Wände für die neue Hütte kommen sie schnell voran.

Manchmal versucht Mentje, es so hinzukriegen, dass das Essen fertig ist, bevor Han und die anderen zurückkommen. Doch Walters Mutter bewacht das Gas streng. „Die Kartoffeln sollten längst gar sein“, schimpft sie, während sie den Brenner abdreht. „Wenn das Gas alle ist, können wir nicht einfach ins Geschäft gehen und neues kaufen, kapiert?“

Dann flieht Mentje nach draußen.

Die Tage verstreichen und niemand hört etwas von ihrem Vater. Die Einsamkeit, die Mentje fühlt, wird immer größer. Sie ist verstoßen. Sogar ihre Träume sind ausgetrocknet. In den Niederlanden gibt es keine Prinzessinnen mehr. Und der Herr ist auch verschwunden. Hier im Lager kennt ihn jedenfalls niemand.

Eines Nachmittags kommt Walters Vater zu der Hütte. Er trägt ein Stück Holz, das er geschlagen hat. Verärgert schaut er Mentje an. „Das ist ja furchtbar, schau dich doch mal an, wie dreckig dein Kleid ist!“, schimpft er.

Mentje blickt an sich herunter und sieht zum ersten Mal, wie schmutzig ihr Kleid geworden ist. Was würde ihr Vater dazu sagen, wenn er sie so sehen könnte? Sie traut sich allerdings nur nicht mehr, ihre Kleidung mit Wasser zu waschen, denn dann fängt Walters Mutter wieder an, sie wegen des Wasserverbrauchs zu schelten.

Sie läuft tiefer in den Wald hinein und denkt: Ich bin hier nur das fünfte Rad am Wagen, einfach nur ein zusätzlicher Esser, den man mit durchfüttert, ein Körper mehr, der gewaschen werden muss, noch eine, die die Luft in der Hütte verbraucht. Noch ein Kind mehr.

Und wann ihr Vater wieder zurückkommt, das weiß sie nicht.

Wenn es nur jemanden gäbe, mit dem sie reden könnte.

Doch so jemanden gibt es nicht.

In dieser Zeit lernt Mentje Opa Bakker und seine Frau Tante Cor etwas besser kennen. Das sind zwei liebe Menschen, die sich für die Leute im Pass-Auf-Lager ganz schön ins Zeug legen. Opa Bakker wird von jedem so genannt, weil er schon recht alt ist und sich für jeden wie ein wirklicher Großvater anfühlt. Tante Cor ist eine richtige Glucke und die Untergetauchten sind ihre Küken.

Unter der Woche tragen die Untergetauchten ihre verschlissenen Kleidungsstücke, aber am Sonntag zieht jeder sich ordentlich an, auch wenn das eigentlich nicht ihr Feiertag ist. Sie machen die Hütten und das Zelt sauber, legen Tischdecken auf die Tische und stellen Blumen in eine Vase. Der Sonntag ist nämlich der Besuchstag von Opa Bakker und Tante Cor. „Was gibt’s Neues?“, will jeder dann wissen. Opa Bakker und Tante Cor hören sich geduldig alle Schwierigkeiten an und versuchen bei Konflikten zu vermitteln. Wenn es in einer der Unterkünfte zu viel Streit gibt, findet ein Hüttentausch statt. Es dauert allerdings in der Regel nicht lange, bis die Gemüter sich wieder erhitzen und am Siedepunkt angelangt sind.

Opa Bakker und Tante Cor kümmern sich auch um die Nahrungsmittelversorgung. Dazu benutzen sie gefälschte Lebensmittelkarten, kaufen Essen auf dem Schwarzmarkt und bekommen von den Einwohnern von Vierhouten und Nunspeet auch einiges geschenkt.

Später möchte ich auch so jemand werden wie Tante Cor, denkt Mentje oft. Jemand, der anderen Menschen das Leben rettet und für sie sorgt.

Doch zuerst möchte sie ihren Vater wiederhaben. „Haben Sie schon etwas Neues über meinen Vater herausgefunden?“, fragt sie Opa Bakker mehr als einmal.

Der streicht ihr dann über das blonde Haar. „Der Baum lässt nicht locker. Ich bin mir ganz sicher, dass wir demnächst besser Bescheid wissen.“

Am Sonntag ist das Einschlafen noch schwieriger als sonst. Jedes Mal hofft sie, dass es Neuigkeiten über ihren Vater gibt, und jeden Sonntag wird die Enttäuschung größer. Gibt es denn niemanden, der ihren Vater finden könnte?

Das Beten hat sie inzwischen ganz aufgegeben. Was soll es schon bringen, der Herr hört sie ja doch nicht. Er ist weit weg, ganz weit weg von dem Pass-Auf-Lager in den Wäldern von Soerel.

Ende September macht das Gerücht die Runde, die deutsche und die niederländische Polizei hätten Lunte gerochen und vermuteten, im Wald sei etwas im Gange. An diesem Sonntag ist die Kleine PA proppenvoll mit Untergetauchten, die neugierig sind, was Opa Bakker und Tante Cor zu berichten haben. „Ihr könnt bei de Vos kein Wasser mehr holen“, verkündet Ersterer.

„Zu gefährlich“, bekräftigt Tante Cor.

Han schüttelt ungläubig den Kopf. „Und wie sollen wir dann an Wasser kommen? Die Kuriere können uns doch nicht das ganze Wasser liefern.“

„Der Baum hat sich darum gekümmert, dass euch jemand eine Pumpe installiert“, erklärt Opa Bakker. „Er kommt am Dienstag oder Mittwoch.“

Die Erwachsenen machen sich Sorgen. Eine eigene Wasserpumpe wäre zwar eine große Verbesserung, allerdings weiß auch jeder, wie es sich anhört, wenn man die Rohre dafür in den Boden treibt. Die Schläge der Hämmer auf den Eisenrohren werden im Umkreis von Kilometern zu hören sein.

Als der Installateur am Dienstagmorgen ankommt, verschwindet Mentje im Wald. Am Sonntagabend hat sie beschlossen, dass sie sich versteckt, bis alles vorbei ist, einfach nur zur Sicherheit. Sie erzählt niemandem davon, denn Walter kann seinen Mund bestimmt nicht halten. Er nennt sie jetzt schon einen echten Angsthasen.

So ein Quatsch! Sie hat überhaupt keine Angst, sie ist nur vernünftig.

Durch den stillen Wald hört sie das Bauernfuhrwerk mit den rappelnden Röhren über die Brandschneise direkt vor dem Waldstück herankommen. Wenn jetzt bloß keine deutsche Patrouille auf dem Pass-Auf-Weg vorbeikommt! Die würde sofort Nachforschungen anstellen, was hier passiert.

Sie hört, wie die Rohre abgeladen werden und der Turm aufgerichtet wird. „Der Turm, den man braucht, um die Rohre vertikal in die Erde zu treiben, wird einige Meter über die Bäume herausragen“, hat Bart gestern Abend besorgt festgestellt. Den ganzen Tag über hallen die Hammerschläge durch den stillen Wald.

Gestern Abend hat sich jeder noch furchtbare Sorgen darüber gemacht, was geschehen könnte. „Wieder ein Fremder, der weiß, wo das Lager ist“, hat Frau Bartfeld geschimpft.

„Ja, genau wie der Zimmermann“, hat Han sofort zurückgeschnappt.

Han ist eine echte Kratzbürste, trotzdem ist es gut, wenn sie Walters Mutter in ihre Schranken weist.

Normalerweise ist es im Wald immer still. Heilsam still, nennt Han das. „Hier kann man noch glauben, dass das Kriegsende vor der Tür steht.“ Wenn es Friede wird – davon träumen sie, dafür leben sie. Im Wald kann sich Mentje manchmal sogar vorstellen, dass sie eines Tages wieder gemeinsam mit ihrem Vater auf ihrem Bauernhof wohnen wird.

Heute jedoch nicht. Heute treiben ihr die Hammerschläge die Angst immer tiefer ins Herz. Den ganzen Tag über.

Erst am späten Nachmittag wird es still. Der Installateur hat gesagt, dass er an einem Tag fertig wird. Zum Glück ist Doeven nicht ein einziges Mal in der Gegend aufgetaucht.

Als es ganz und gar still geworden ist, schleicht sich Mentje vorsichtig wieder zurück ins Lager. Die Kleine PA ist verlassen, genauso wie die Große PA und die Zelte. Als sie weitergeht, hört sie Stimmen. Alle Lagerbewohner stehen an der Pumpe. Einen Abend lang kümmern sie sich nicht um die Vorsichtsmaßnahmen, sondern pumpen einen Eimer nach dem anderen voll und schütten sich das Wasser über den Kopf. Sie spritzen sich gegenseitig nass und rennen dann mit einem schallenden Lachen weg.

Mentje betrachtet das Treiben aus einem gewissen Abstand. Bart rennt Han mit einem Eimer hinterher und Han gluckst immer wieder vor Vergnügen. Sogar Frau Bartfeld muss lachen, als Walter sie nass spritzt.

Niemand sieht Mentje dort stehen. Auf spielerische Weise jagen sie sich, bis es ganz dunkel ist. Dann gehen alle zurück in ihre Hütten.

Niemand hat bemerkt, dass Mentje sich den ganzen Tag über versteckt hat.