Über das Buch:
New York & Illinois, 1857: Elise Neumann, Tochter einer Hamburger Bäckersfamilie, steht vor großen Herausforderungen. Nach dem Tod ihrer Eltern, die mit ihnen in die USA immigriert sind, muss sie sich um ihre jüngeren Schwestern kümmern. Doch New York wird von einer Finanzkrise erschüttert und Arbeitsplätze sind rar. Schließlich bleibt Elise keine andere Wahl, als Näherin zu werden und in den Westen zu gehen. Dort werden Arbeitskräfte händeringend gesucht.
Als sie den sympathischen Städteplaner Thornton trifft, scheint sich das Blatt für Elise endlich zu wenden. Sie ahnt nicht, dass Thorntons Vater ihn und seinen Bruder zu einem aberwitzigen Wettstreit angestiftet hat. Und dass Thornton fest entschlossen ist, diesen zu gewinnen. Koste es, was es wolle …

Über die Autorin:
Jody Hedlund lebt mit ihrem Mann, den sie als ihren größten Fan bezeichnet, in Michigan. Ihre 5 Kinder werden zu Hause unterrichtet. Die Zeit, die ihr neben dieser Tätigkeit noch bleibt, widmet sie dem Schreiben.

Kapitel 7

Er verlor den Wettkampf. Er konnte die Tatsachen nicht leugnen.

Thornton stand am Bahnhof und betrachtete die Gebäude an der Hauptstraße seiner neuen Kleinstadt Quincy. In zwei Monaten hatten die irischen Bauarbeiter-Crews, die er eingestellt hatte, das Bahnhofsgebäude mit Restaurant, ein Hotel, den Mietstall, den Gemischtwarenladen und eine Kneipe gebaut. Mehrere andere identische Gebäude standen an der Straße und warteten darauf, dass ihre neuen Geschäftsbesitzer einziehen würden: der Schneider, der Schmied und der Metzger. Thornton hatte schon Kontakt zu den Männern aufgenommen, die die Grundstücke und Gebäude von ihm gekauft hatten. Er erwartete, dass die neuen Familien jeden Tag einträfen und ihre Geschäfte eröffneten.

Eine methodistische Kirche war halb fertig und auch mehrere Privathäuser an der First Avenue Nord. Er hoffte, dass die Häuser noch in dieser Woche fertiggestellt würden, damit die neuen Familien sofort einziehen könnten.

Thornton freute sich, dass er keine Probleme dabei gehabt hatte, die Grundstücke in der Stadt zu verkaufen. Er bemühte sich, keine Schuldgefühle zu haben, weil er die Broschüren der Illinois Central-Bahngesellschaft benutzt hatte, die Illinois als den Gartenstaat des Westens darstellten: mit einem einladenden Farmhaus, Schatten spendenden Bäumen und gut genährten Rindern, die im Vordergrund neben einem riesigen, eingezäunten Maisfeld grasten.

Obwohl das Bild nicht der Wirklichkeit des fast baumlosen Präriestreifens, der Quincy umgab, entsprach, hatte er diese Werbung trotzdem benutzt. Immerhin war die 1.200 km lange Bahnstrecke, die Illinois der ganzen Länge nach durchquerte, jetzt die längste einzelne Eisenbahnverbindung, die in den Vereinigten Staaten in Betrieb war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dieser Bundesstaat aufblühen würde.

Wie andere Städte im Norden, die die Eisenbahn bereits geschaffen hatte, würde Quincy als Dienstleistungszentrum für die umliegenden Farmer dienen, die von der idealen Transportmöglichkeit zu den Märkten im Osten profitieren würden, wo sie ihre Ernten und ihr Vieh verkaufen konnten. Die Eisenbahn würde ebenfalls profitieren, sobald Thornton die Grundstücke in der Stadt und den Rest des Ackerlandes und der Wiesen im Umland verkauft hätte. Selbst wenn Quincy Enterprises anfangs Kapital investieren musste, würde eine solche Entwicklung langfristig eine größere Nachfrage nach Personenbeförderung und Gütertransport schaffen und gute Gewinne erzielen.

Das einzige Problem war, dass er Bradford immer noch hinterherhinkte. Thornton konnte noch so viele Arbeiter einstellen, Bradford schien ihm immer einen Schritt voraus zu sein.

„Was kann ich machen, Hewitt?“, fragte Thornton, während er seinen Hut hob und den warmen Wind durch seine Haare wehen ließ. Die Uhr tickte gnadenlos. Da der August schon fast vorbei war, hatte er nur noch vier Monate Zeit.

Sein junger Assistent rieb die Hände aneinander, als wasche er sie in der warmen Luft. Durch seine Brillengläser betrachtete Hewitt jedes Gebäude, bevor sein Blick an den notdürftigen Holzgebäuden mit den Lehmböden hängen blieb, die am Stadtrand standen und in denen die Bauarbeiter wohnten – hauptsächlich junge, unverheiratete Männer, die sich jeden Abend in der Kneipe betranken. Selbst wenn sie laut und ungestüm waren, waren sie zuverlässige Arbeiter. Thornton konnte sich nicht über sie beklagen.

„Sie müssen noch mehr Arbeiter einstellen, Sir“, sagte Hewitt. „Bradford hat doppelt so viele Bauarbeiter wie Sie.“ Obwohl Hewitt ein Jahr jünger war als Thornton, leistete er ausgezeichnete Arbeit dabei, die Stadt zu entwickeln und die Arbeiten zu überwachen, und er war Thornton nach wie vor eine unschätzbare Hilfe.

Thornton schaute zu, wie eine Gruppe Männer einen Balken für den Rahmen des ersten Stockwerks eines Privathauses aufrichtete. Wenn er mehr Arbeiter einstellte, müsste er eine Möglichkeit finden, sie unterzubringen und sie zu ernähren. Er bräuchte mehr Vorarbeiter. Und er müsste die Holzlieferungen aus den Sägewerken in Chicago erhöhen.

„Sie sollten Frauen einstellen, Sir.“ Hewitt formte mit den Händen eine Frauenfigur. „Sie können kochen, putzen, waschen und nähen. Den Frauen müssen Sie nicht so viel bezahlen wie Männern.“

Das stimmte. Er könnte seine Kosten reduzieren und das Geld vielleicht für den Bau einer Schule investieren. Er hatte den Einwanderern, die hier Landwirtschaft betreiben wollten, versprochen, dass es im Herbst eine Schule für ihre Kinder gebe, aber in Wirklichkeit stand die Schule nicht weit oben auf seiner Prioritätenliste. Aber wenn er mehr Arbeiter einstellte und bei dem Lohn, den er ihnen bezahlte, Einsparungen vornahm, könnte er vielleicht sein Versprechen halten. Außerdem würde seine Stadt mit einer Schule vollständiger aussehen und seinen Vater bestimmt beeindrucken.

Eine Sandhose wirbelte durch die Hauptstraße, begleitet vom fernen Pfeifen eines Zuges. Weit im Norden stieg am Horizont eine schwarze Rauchwolke zum wolkenlosen blauen Himmel auf. Der Rauch war ein schöner Anblick, fast so hübsch wie die New Yorker Skyline in der Abendsonne.

Hewitt tippte an seine Melone, die bereits so tief wie möglich auf seinem Kopf saß. „Es heißt, dass im Osten jeden Tag mehr Geschäfte ihre Türen schließen. Viele Menschen verlieren ihre Arbeit. Die Glücklichen, die noch eine Arbeit haben, sind gezwungen, Lohnkürzungen in Kauf zu nehmen.“

Thornton war gerade zwei Wochen zuvor in New York gewesen. In der Wall Street herrschte das reinste Chaos. Was damit angefangen hatte, dass das solide Geldinstitut Ohio Life Insurance and Trust Company plötzlich seine Türen geschlossen und Zahlungen eingestellt hatte, war zu einer Massenpanik eskaliert. Banken und Geschäfte waren in Aufruhr. Das New Yorker Schiffbau-Unternehmen Westervelt and Company war zahlungsunfähig. Westervelt als eine der größten Werften der Stadt hatte Tausende Arbeiter entlassen müssen. Das monatliche Literaturjournal Putnam’s Magazine war untergegangen. Die Papierfabrik von Cyrus Field war vorerst geschlossen.

In New York City herrschte eine Wirtschaftskrise, die sich auf die meisten anderen Städte an der Ostküste ausweitete. Nachdem er so viel Zeit wie möglich mit Rosalind verbracht hatte, hatte Thornton seine Geschäfte so schnell wie möglich erledigt und war dann nach Illinois zurückgefahren, um vor den ganzen Problemen zu flüchten. Die Rezession wirkte sich zum Glück nicht allzu sehr auf Quincy Enterprises aus. Im Gegenteil, die Finanzkrise schien bei seinem Vater einen Energieschub auszulösen, wie er ihn seit Monaten nicht mehr gehabt hatte. Als Thornton seinen Vater das letzte Mal gesehen hatte, hatte er nicht mehr das Bett gehütet und war auf dem Weg in sein Büro gewesen. Sein Vater blühte auf, wenn andere scheiterten, denn er kaufte sie auf.

„Näherinnen hat es besonders schwer getroffen“, sagte Hewitt und bewegte die Hand auf und nieder, als nähe er. „Man weiß ja, dass Frauen als Erste entlassen werden.“

Thorntons Gedanken wanderten zur Missionsstation in der Siebten Straße und zu den 24 Stunden, die er dort verbracht hatte. Seit den „Dead Rabbits Riots“, wie die Straßenkämpfe jetzt genannt wurden, die bei den Feiern am Unabhängigkeitstag begonnen hatten, waren fast zwei Monate vergangen. Er hatte seitdem nicht mehr an diese Missionsstation gedacht, abgesehen von den Schuldgefühlen, die sich gelegentlich bei ihm regten, weil er sich nicht mehr bei Miss Pendleton wegen ihrer Bitte um finanzielle Unterstützung gemeldet hatte. Er hatte einfach zu viel anderes zu tun gehabt.

Was würde aus der Näherei werden, wenn die Bekleidungsfabriken untergingen? Und was war mit der hübschen jungen Frau, die er dort getroffen hatte? Was würde aus ihr und ihren Schwestern werden, falls die Näherei zumachte?

Thornton verdrängte seine Sorge um die Missionsstation, bevor sie zu viel Raum in seinem Denken einnehmen konnte. Miss Pendleton war eine vermögende Frau. Falls die Missionsstation als Folge der Rezession in Schwierigkeiten geraten würde, wüsste sie sich bestimmt zu helfen. Er konnte sich nicht darüber den Kopf zerbrechen, jedem Geschäftsunternehmen, das in New York in Schwierigkeiten geriet, zu helfen, da er sonst kaum Zeit für etwas anderes hätte.

Nein, falls er überhaupt noch eine Hoffnung haben wollte, mit Bradford konkurrieren zu können, müsste er sich auf seine neue Stadt konzentrieren. Vielleicht würde er den Wettkampf nicht gewinnen, aber er wollte seinem Vater wenigstens zeigen, dass er fähig und kompetent war und seine Bewunderung und sein Lob verdiente.

„Das mache ich, Hewitt.“ Thornton wischte den Staub von seinem Jackenärmel, bevor er sich umdrehte und die Tür zum Bahnhofsgebäude öffnete.

„Was machen Sie, Sir?“ Hewitt folgte ihm schnell.

„Wenn ich das nächste Mal in den Osten fahre, stelle ich mehr Arbeiterinnen ein.“

„Sehr gut, Sir. Sehr gut. Ich werde mich mit den Zeitungsanzeigen befassen.“

„Mit welchen Anzeigen?“

„Mit den Anzeigen, die von Hilfsorganisationen im Osten aufgegeben wurden, die sich bemühen, arbeitslose Frauen umzusiedeln.“

„Gut“, nickte Thornton und warf einen schnellen Blick durch den verlassenen Bahnhof. Die Bänke waren leer und würden das auch in den kommenden Monaten bleiben. Bis jetzt war er der Einzige, der nach Quincy kam und wieder abfuhr. Alle anderen, die hier aus dem Zug stiegen, blieben in Quincy.

Selbst das Restaurant im Bahnhofsgebäude war leer. Er und Hewitt und ein paar Vorarbeiter der Bauarbeiter-Crews waren die Einzigen, die in dem spärlich möblierten Raum aßen. Er hatte seinen Bahnhofsvorsteher, Mr Gray, in doppelter Funktion eingestellt: Er leitete den Bahnhof und das Restaurant. Das Kochen übernahm hauptsächlich Mr Grays Frau.

Thornton ging durch die Wartehalle zu seinem Büro, das er im hinteren Teil des Gebäudes hinter dem Fahrkartenschalter eingerichtet hatte. „Finden Sie heraus, welche Agentur die beste ist“, wies er Hewitt an. „Besorgen Sie sich Referenzen von den Frauen. Dann bringen wir sie hierher und sie können sofort mit der Arbeit anfangen.“

Hewitt salutierte. „Wird gemacht, Sir.“

* * *

Miss Pendletons Gesicht war blasser als gewöhnlich. Ihre Lippen waren zusammengekniffen, während sie wartete, bis die Frauen alle ihre Plätze an den Arbeitstischen eingenommen hatten, auf denen die gewohnten vorgeschnittenen Hemdenteile fehlten. Die Frauen aus der Näherei auf der anderen Seite des Flurs standen an den Wänden: Mrs Watson, Fanny, Dimna und die anderen. Ihre Gesichter waren ernst und aus ihren Augen sprach Angst.

Elise fühlte Mariannes zitternde Finger an ihrer Hand. In den letzten zwei Wochen hatten sie sich glücklich geschätzt, weil sie noch eine Arbeit besaßen, wo doch so viele andere bereits ihre Arbeit verloren hatten. Obwohl sie eine Lohnkürzung hatten in Kauf nehmen müssen, waren sie froh, dass sie überhaupt etwas verdienten, während andere gar nichts mehr besaßen.

Erst gestern hatten sie von Kämpfen um Lebensmittel gehört. Da ihnen das nötige Geld für Lebensmittel fehlte, litten die Menschen Hunger, es kam zu Aggressionen und Panik lag in der Luft.

Elise drückte Mariannes Hand und versuchte, ihrer Schwester stumm zu versichern, dass ihnen nichts passieren würde. Aber sie hatte den Sturm ja bereits aufziehen gesehen und wusste, dass er jetzt hier war und dass sie dem Hagel und Donner nicht entkommen konnten.

„Guten Morgen, alle zusammen“, sagte Miss Pendleton, als auch die letzte Frau im Raum war. An diesem Septembermorgen war es draußen noch dunkel. Mehrere Laternen hingen von den Deckenbalken und erhellten den Raum. Die kühle Luft, die durch die offenen Fenster hereindrang, erinnerte Elise erneut daran, dass der Winter bald käme und mit ihm die brutale Kälte und der Schnee, die das Leben auf der Straße tödlich machten.

„Wie Sie wissen, habe ich alles Menschenmögliche getan, um neue Aufträge zu bekommen.“ Miss Pendletons Stimme zitterte. Der Pastor, der hinter ihr stand, legte ihr eine Hand auf die Schulter. Aufgrund der Finanzkrise hatte das Paar sich entschieden, seine Hochzeit, die Ende August hätte stattfinden sollen, zu verschieben. Miss Pendleton erklärte, sie könne kein Freudenfest feiern, wenn so viele Menschen ums Überleben kämpften.

„Mit größtem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass D. und J. Devlin heute Morgen seine Türen geschlossen hat. Obwohl ich die ganze Woche mühsam gesucht habe, ist es mir nicht gelungen, andere Fabriken zu finden, die bereit oder in der Lage wären, uns Aufträge zu geben.“

Die Frauen schwiegen. In der Ferne läutete eine Kirchenglocke und signalisierte die volle Stunde. Normalerweise wäre das der Beginn ihres Arbeitstages, aber an diesem Morgen war alles anders. Elise vermutete, dass die anderen genauso wie sie gewusst hatten, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis sie ebenso wie alle anderen arbeitslos wären. Auch wenn Miss Pendleton sehr freundlich war, auch wenn sie die Frauen noch so sehr unterstützte und auch wenn sie und der Pastor noch so viel beteten, hatten sie das Unvermeidliche doch nicht verhindern können.

„Ich will Ihnen sagen“, sprach Miss Pendleton mit angespannter Stimme und Tränen in den Augen weiter, „dass es mir jeden Tag eine Freude war, Sie hier zu haben. Es war mir eine Freude, Sie zu kennen. Und ich werde Sie alle sehr vermissen.“

Mehrere Frauen um Elise herum schnieften. Sie war überrascht, als sie merkte, dass in ihren Augen auch Tränen brannten. Miss Pendleton war ein echter Segen gewesen und sie würde sie nicht vergessen, solange sie lebte. Elise vermutete, dass viele der anderen Frauen genauso empfanden.

„Sie sollen auch wissen, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um Aufträge zu bekommen. Ich werde nicht aufgeben. Wenn ich wieder Aufträge habe, werden Pastor Bedell und ich Sie sofort informieren.“

Die Frauen nickten, aber aus ihren Augen sprach eine große Hoffnungslosigkeit. Sie wussten genauso gut wie Elise, dass Frauen selbst in guten Zeiten nur schwer Arbeit fanden. Aber jetzt wäre es unmöglich. Für viele dieser Frauen wäre eine Rückkehr in die Prostitution der einzige Weg, um ihre Kinder vor dem Verhungern zu bewahren. Wäre die Prostitution für Elise jetzt auch der einzige Weg, um ihre Familie zu versorgen?

Sie erschauerte so sehr, dass Marianne ihre Hand losließ und den Arm um Elise legte und sie an sich zog. Elise lehnte sich dankbar an Marianne, sie konnte aber die Erfahrungen, die sie am ersten Tag hier an der Arbeit in der Missionsstation gemacht hatte, die Worte, die sie zu diesen Frauen gesagt hatte, nicht vergessen. Sie war so stolz gewesen und hatte auf das Leben, das diese Frauen früher geführt hatten, verächtlich herabgesehen.

Scham erfüllte sie. Vielleicht hatten die anderen in den ganzen Wochen gespürt, dass sie sich für etwas Besseres gehalten hatte. Vielleicht hatten sie sich zu Recht von ihr beleidigt gefühlt.

„Bis wir wieder öffnen können, möchte ich, dass Sie zu mir kommen, wenn Sie etwas brauchen“, sagte Miss Pendleton und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ich tue alles, was ich kann, um Ihnen zu helfen, die schwierigen Tage, die vor Ihnen liegen, zu überstehen.“

Elise hatte gehört, wie Miss Pendleton mit dem Pastor darüber gesprochen hatte, dass sie nicht genug Spender für ihre Missionsstation mobilisieren konnten. Obwohl der Pastor den ganzen Sommer hindurch viele Kirchengemeinden besucht und versucht hatte, Spenden zu beschaffen, war die Reaktion sehr spärlich ausgefallen. Elise vermutete, dass Miss Pendleton einen großen Teil des Unterhalts der Missionsstation aus eigener Tasche finanzierte. Sie hatte im Schlafsaal keine weiteren Verbesserungen durchführen können. Jetzt sah es so aus, als könne sie ihre Pläne überhaupt nicht weiter vorantreiben.

Der Pastor beugte sich vor und flüsterte Miss Pendleton etwas ins Ohr. Sie nickte und fuhr dann fort: „Diejenigen von Ihnen, die nicht ortsgebunden sind, sollten sich bitte überlegen, sich an die New Yorker Children’s Aid Society zu wenden. Sie haben ein Sonderbüro eingerichtet, um Näherinnen und anderen berufstätigen Frauen im Westen einen Neuanfang zu ermöglichen.“

„Sie werden solche wie uns nicht aufnehmen“, sagte eine der Frauen. „Sie wollen nur Frauen mit gutem Charakter.“

„Sie haben einen guten Charakter“, erklärte Miss Pendleton. Aber ob Miss Pendleton an die Frauen glaubte oder nicht, spielte für die Person, die die Einstellungen vornahm, keine Rolle.

„Sie verlangen Referenzen“, sagte eine andere Frau.

„Ich gebe jeder von Ihnen gute Referenzen.“

Elise schüttelte genauso wie die anderen den Kopf. Selbst wenn Miss Pendleton bereit war, ihnen ein Referenzschreiben auszustellen, könnte keine von ihnen ihre Familie allein in New York zurücklassen.

Als die Frauen den Raum und die Missionsstation verließen, blieben einige stehen, um sich bei Miss Pendleton zu bedanken, während die meisten schweigend und mit resigniert hängenden Köpfen das Gebäude verließen. Als die anderen gegangen waren, stand Elise auf und folgte Marianne.

Vor Miss Pendleton und dem Pastor, die sich gegenseitig stützten, blieben sie stehen. Sie hatten so große Hoffnungen für die Missionsstation gehabt. Es war ungerecht, dass ihr gutes Werk nun zerstört worden war.

„Danke für alles, was Sie für uns getan haben“, sagte Elise mit zugeschnürter Kehle. „Ich weiß nicht, wie wir die letzten Wochen ohne Ihre Großzügigkeit hätten überleben sollen.“

Miss Pendleton richtete sich auf. „Aber, Elise, Sie haben doch nicht vor, die Missionsstation zu verlassen, nicht wahr?“

Elise warf einen Blick auf Marianne, aus deren Augen die gleiche Unsicherheit sprach, die Elise quälte. Sie und Marianne hatten noch nicht darüber gesprochen, was sie tun würden, wenn die Missionsstation schließen müsste. Elise hatte über diese Möglichkeit nicht nachdenken wollen, als könnte sie so verhindern, dass sie einträte.

„Müssen Sie das Gebäude nicht schließen?“ Elise verstand nicht viel von der Geschäftswelt, von Hypotheken, Zinsen und Darlehen, aber Miss Pendleton könnte das Gebäude sicher nicht allein finanzieren.

Pastor Bedell legte den Arm um Miss Pendleton. „Wir können zwar die Näherei nicht weiter betreiben, aber wir sind entschlossen, weiterhin Gottesdienst zu feiern und unseren Gemeindemitgliedern kostengünstige Mahlzeiten anzubieten, solange wir das können.“

„Aber ohne Arbeit kann ich das Zimmer und das Essen nicht mehr bezahlen.“

„Sie brauchen mir im Moment nichts zu zahlen“, flüsterte Miss Pendleton mit einem Blick hinter sich, um sicherzugehen, dass die anderen gegangen waren. „Sie können weiterhin hier wohnen bleiben.“

„Danke“, sagte Elise. „Sie sind sehr freundlich. Aber wir können nicht auf Dauer von Ihrer Wohltätigkeit leben.“

„Haben Sie schon daran gedacht, sich bei der Children’s Aid Society wegen deren Umsiedlungsprogramm zu melden?“, fragte Pastor Bedell leise und schaute sie mitfühlend an.

„Ich kann die anderen nicht allein hier zurücklassen.“ Elise wollte nicht daran denken, was aus Marianne, Sophie und den zwei Kleinen werden würde, wenn sie wegginge.

„Wenn Sie im Westen Arbeit finden, können Sie ihnen Geld schicken“, sagte der Pastor.

„Und wenn sie hier wohnen bleiben“, bot Miss Pendleton an, „kann ich auf sie aufpassen.“

Elise schaute den großen, kräftigen Mann und die zierliche Frau an, die sich genauso freundlich wie Eltern um sie kümmerten. Konnte sie wirklich daran denken, ihre Familie zurückzulassen, selbst wenn diese zwei Menschen ihr diese Zusicherung gaben?

„Vielleicht wäre das eine Chance für Sie, ein neues Leben anzufangen?“, sagte der Pastor.

War das nicht genau das, was sie wollte? Wollte sie nicht eine dauerhafte Lösung finden? Sie hatte gewusst, dass sie nicht für immer in der Missionsstation bleiben könnten, dass sie irgendwann eine andere Arbeit und ein neues Zuhause finden müsste.

Trotzdem waren so viele Faktoren zu bedenken, gab es so vieles, was schieflaufen konnte. Sie schluckte die plötzlich in ihr aufsteigende Angst hinunter. „Ich habe kein Geld, um in den Westen zu fahren.“

„Soweit ich gehört habe, wird erwartet, dass die potenziellen Arbeitgeber die Reisekosten zahlen“, sagte der Pastor. „Wenn man zu arbeiten anfängt, werden diese Kosten vom Lohn abgezogen.“

Mariannes zitternde Finger suchten erneut ihre Hand. Als sie Marianne in die Augen sah, stellte sie fest, dass ihre Schwester genauso beunruhigt war wie sie. Sie waren noch nie voneinander getrennt gewesen. Und diese Möglichkeit war beängstigend.

„Denken Sie darüber nach, Elise“, sagte Miss Pendleton sanft, als spüre sie ihre innere Zerrissenheit. „Von allen Frauen, die in der Missionsstation gearbeitet haben, haben Sie die größte Chance, im Westen eine Arbeitsstelle zu finden.“

Miss Pendleton musste nicht betonen, dass die Vermittlungsagenturen kein Interesse daran hatten, frühere Prostituierte oder dem Alkohol verfallene Frauen einzustellen. Sie wollten „anständige, arme Frauen“, Frauen mit einem guten Charakter und sittlichem Lebenswandel.

„Ich weiß nicht.“ Elise seufzte. Diese große Entscheidung konnte sie nicht treffen, ohne sich vorher genauer darüber Gedanken zu machen.

Miss Pendleton tätschelte ihren Arm. „Wie auch immer Sie sich entscheiden, Sie sollen wissen, dass Sie hier immer willkommen sind.“

Elise bedankte sich noch einmal bei den beiden und verließ, gefolgt von Marianne, das Zimmer. „Denkst du ernsthaft daran, uns zu verlassen?“, fragte Marianne, deren lautes Flüstern auf dem leeren Gang widerhallte.

„Bleibt mir denn eine andere Wahl?“

Ein Klopfen an das Türfenster lenkte ihre Blicke zur Tür. Im immer heller werdenden Morgenlicht stand dort ein untersetzter junger Mann. Sein Hut war über seinen braunen Haaren, die sich an den Spitzen lockten, tief nach unten gezogen. Selbst im Schatten, den der Hut auf sein Gesicht warf, waren seine rötliche Hautfarbe und seine rundliche Gesichtsform unverkennbar.

„Reinhold!“, rief Marianne aufgeregt. Sie ließ Elise los und stürmte zur Tür.

Elise folgte ihr mit langsameren Schritten. Reinhold hatte sie mehrere Male besucht, seit Marianne ihm erzählt hatte, wo sie wohnten, normalerweise kam er abends nach Feierabend. Nachdem er seine Erleichterung, sie zu sehen, zum Ausdruck gebracht hatte, hatte er die ersten zehn Minuten seines Besuches damit verbracht, Elise zu tadeln, weil sie ihm nicht ihren Aufenthaltsort verraten hatte. Elise wusste, dass sie jedes Wort seines Tadels verdiente. Sie hätte es ihm sagen sollen, statt zu hoffen, dass er sie nicht finden und wieder bitten würde, ihn zu heiraten.

Selbst jetzt hatte sie noch Schuldgefühle.

„Was machst du so früh am Morgen hier?“, fragte Marianne, während sie Reinhold ins Haus zog und die Tür hinter ihm schloss.

Erst jetzt sah Elise die Müdigkeit in seinen Augen und sein hart vorgeschobenes Kinn. Noch bevor er den Mund aufmachte, wusste sie, was er sagen würde.

„Ich habe gestern meine Arbeit verloren.“

Mariannes Lächeln verschwand genauso schnell, wie es gekommen war. „Das kann doch nicht sein! Du bist so ein starker und fleißiger Arbeiter. Sie brauchen dich.“

„Sie brauchen niemanden“, sagte er bitter.

Reinhold wurde von allen in ihrem Mietsblock in Kleindeutschland um seine Stelle als Bauarbeiter beneidet. Natürlich war es Schwerstarbeit, die großen Mietshäuser zu bauen, aber es war eine feste Arbeit, die viel besser bezahlt wurde, als Kleidung zu nähen.

Mehrere Sekunden lang sprach keiner von ihnen ein Wort, da die Schwere seiner erdrückenden Situation für sich sprach. Er war der Hauptverdiener seiner Familie und sorgte für den Lebensunterhalt seiner Mutter und seiner fünf Geschwister sowie seiner Tante und ihrer zwei Kinder. Ohne sein Einkommen geriet die Familie in große Not, da seine Mutter und seine Tante bereits ihre Arbeit als Näherinnen verloren hatten.

„Das tut mir so leid, Reinhold“, sagte Elise schließlich, obwohl sie wusste, dass ihre Worte seine Frustration nicht lindern und die Situation nicht verbessern konnten. Aber er schaute ihr in die Augen und schien trotzdem getröstet zu sein.

„Mutter spricht davon, dass sie die zwei Kleinen ins Waisenhaus bringen will.“

„Nein!“ Aus Mariannes Flüstern sprach das ganze Entsetzen, das auch Elises Herz ergriff.

„Und danach will sie die anderen ins Jugendheim schicken.“

Elise hatte das Waisenhaus, das elternlose, obdachlose Kinder beherbergte, nur kurz als Möglichkeit in Betracht gezogen. Jeder wusste, dass es dort sehr rau zuging und einige Kinder sogar gefährlich waren. Es war kein Ort für unschuldige Kinder. Außerdem hatten solche Einrichtungen viel zu wenige Mitarbeiter, sie waren überfüllt und das Leben dort war nicht viel besser als auf der Straße. Sie schüttelte den Kopf. „Das kann deine Mutter nicht machen. Das darfst du nicht zulassen.“

„Bleibt mir denn eine andere Wahl, Elise?“

„Uns fällt schon etwas ein.“

„Sie leiden jetzt schon Hunger. Ohne mein Einkommen werden sie verhungern. In den Heimen bekommen sie wenigstens etwas zu essen.“

„Du kannst keine andere Arbeit finden?“

„Nein, es gibt keine. Hunderte, nein, Tausende andere Männer sind in der gleichen Situation wie ich und suchen Arbeit.“

Elises Brustkorb zog sich zusammen. Unter den Frauen gab es ebenfalls massenweise Arbeitslose. Ihre Situation war vielleicht sogar noch schlimmer. Sie würde in New York City oder der umliegenden Gegend nie eine Arbeit finden. Wenn sie ihre Familie retten und verhindern wollte, dass die Kinder in ein Heim oder ein Waisenhaus ziehen müssten wie Reinholds Geschwister, müsste sie sich also doch eine Stelle im Westen suchen. Das war die einzige Möglichkeit, die sie hatte.