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Marina Wislag

HERR
SCHAFTEN

Kriminalroman

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Texte und Bildteile.

 

Alle Akteure dieser Geschichte sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von den Autoren nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2019 by Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage 2019

 

Lektorat: Martina Kuscheck

Korrektorat: Sylvia Kling

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-113-3

www.bookspot.de

Widmung

Für meine Familie.

Eine der besten.

Ein paar einleitende Worte

Hin und wieder kommt es vor, dass es uns an einen Ort verschlägt, den wir bereits zu kennen glauben. Das habe ich schon einmal gesehen, gehört, gerochen, gespürt. Bilder entstehen in unseren Köpfen und erzählen eine Geschichte. Eine Geschichte, die wie geschaffen ist für diesen Augenblick. Eine Geschichte, wie sie schon hundert Mal erzählt wurde. Doch das ist nur eine unbedeutende Nebensächlichkeit. Wir sind diesen Weg oft gegangen, und vielleicht wissen wir, was hinter der nächsten Ecke auf uns wartet, der nächsten Tür, im Keller und auf dem Dachboden.

Vielleicht auch nicht.

Fährt man an einem grauen und regnerischen Spätnachmittag auf einer schmalen Landstraße inmitten feuchter Wiesen, tropfender Wälder und malerischer Teiche, die Straße gesäumt von jahrhundertealten Weiden, wird man es sehen.

Der Asphalt unter den Reifen fühlt sich falsch an. Ein schlammiger Karrenweg sollte unter unseren Füßen und wir im Fond einer zweispännigen Droschke sein, gelenkt von einem Kutscher, der ununterbrochen auf das v…, b…, d… Mistwetter flucht.

Da ist es, auf einem Hügel rechts von der Straße. Ein großes, graues Herrenhaus, verborgen hinter mächtigen Eichen, die sichtbaren Teile so stark von Efeu überwachsen, dass man sich fragt, ob die Wände die Pflanzen tragen, oder umgekehrt. Kurz darauf passiert man die Einfahrt. Sie ist nicht gepflastert, aber man weiß, dass sie oben auf dem Hügel in einen Hof mit Kopfsteinen mündet, die schon alt und abgetreten waren, als die Eichen ihre ersten Schößlinge aus der Erde reckten. Zwei Mauern säumen den Weg, erbaut aus demselben grauen Stein wie das Haus. Zwei Säulen markieren den Eingang, verziert mit Wappen, die jedoch zu verschlungen sind, als dass man in der winzigen Zeitspanne des Vorbeifahrens etwas erkennen könnte. Abseits liegt ein Friedhof mit einer Kapelle. Krähen hocken in den Zweigen der Bäume. Auf ein geheimes Signal erheben sie sich in den Abendhimmel und entschwinden hinter dem Hügel. Eine kleine Brücke führt über einen murmelnden Bach. Während man sie überquert, steigen Nebelschwaden aus dem Bachbett und den umliegenden Wiesen. Im Rückspiegel sieht man, wie im höchsten Turmzimmer des Hauses das flackernde Licht einer Kerze den Kampf gegen die zunehmende Dunkelheit aufnimmt.

Die Menschen, die dieses Gemäuer bewohnen, sind wie das Haus selbst festverankert in Ort und Zeit. Sie folgen schon so lange unverändert ihrem ganz eigenen Rhythmus, dass die Frage nach dessen Sinn sich längst erübrigt hat. Was seit Generationen Bestand hat, erhält seinen Zweck allein durch die Tatsache, dass es alles andere überlebt hat, und warum sollte man solch komplexe Familienangelegenheiten überhaupt mit unwissenden Außenseitern diskutieren?

So wie das Haus, die Eichen und das Kopfsteinpflaster bleibt das Leben an diesem Ort immer gleich, und immer wird es ein grauer und regnerischer Spätnachmittag sein, wenn ein Besucher die sicheren Gefilde der Landstraße verlässt, während dünne Nebelschleier über den Boden gleiten, und dass ja niemand vergisst, die Kerze im Turm anzuzünden.

Die Herrschaften wären sehr ungehalten.

1. Paul

Angekommen. So dachte Paul Weller, seines Zeichens Privatdetektiv, als er von der Landstraße in die Einfahrt des Anwesens derer von Karst und Dull einbog. Nicht, weil er sich auf dem Weg hierher dreimal gründlich verfahren hatte oder weil das alte Herrenhaus auf dem Hügel vor ihm besonders einladend wirkte – im ersten Moment, als er es sah, musste er spontan an jeden einzelnen Gruselfilm denken, den er jemals gesehen hatte. Ziemlich viele von denen fingen genauso an. Aber das konnte auch an der hereinbrechenden Dunkelheit und dem schummerig erleuchteten Fenster, hoch droben im Turm, liegen. Dieser Ort schien wie geschaffen für einen Mann wie ihn.

Vor nun beinahe zwanzig Jahren hatte Paul sich entschieden, die Laufbahn eines waschechten Schnüfflers einzuschlagen. Er wollte ein Büro mit seinem Namen, halbkreisförmig in Goldbuchstaben auf einem Fenster im oberen Drittel der Tür. Er wollte einen zerkratzten Schreibtisch, auf den er die Füße legen konnte, während staubiges Sonnenlicht durch die Jalousien fiel. Und eine Vorzimmerdame, die entweder eine fürsorgliche ältere Frau war oder ein echt heißes Gerät, aufgeschlossen für Flirts und Schäkereien aller Art.

Vor allem aber wollte er nie wieder ohne Trenchcoat und Hut aus dem Haus gehen.

Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als echte Männer noch echten Stil hatten und trotzdem aussahen wie echte Männer. Nicht wie geklonte Dressmen oder für alle Ewigkeit in der Vorpubertät stecken gebliebene Milchbubis. Leider war er ein paar Jahrzehnte zu spät auf die Welt gekommen, um diese goldene Ära miterleben zu dürfen. Das sollte einen echten Mann jedoch nicht davon abhalten, der Welt seiner Geschlechtsgenossen ihre fatale Fehlentwicklung hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbilds vor Augen zu führen. Die ersten zwölf Jahre verbrachte er in einer Detektivagentur und musste sich ein Großraumbüro mit sechs anderen teilen. Die Einrichtung war modern, praktisch und steril, und die beiden Damen, die für das Sekretariat zuständig waren, unterhielten sich in ihren Pausen über nichts anderes als ihre Ehemänner und Kinder. Die Kleidungsvorschriften waren eindeutig. Korrekt, seriös, vertrauenswürdig, keine Extravaganzen. Als er es tatsächlich einmal gewagt hatte, in seinen Lieblingssachen zu erscheinen, hatte die allgemeine Reaktion in schallendem Gelächter bestanden und der gemeinschaftlichen Übereinkunft, dass dies ein verdammt guter Witz sei. Er ließ sich davon nicht entmutigen. Tief in seinem Herzen war Paul ein Optimist mit der festen Überzeugung, dass es in dieser Welt irgendwo einen Platz für ihn geben musste. Denn in einer Welt, in der alles modern, praktisch und steril war, konnte man sich nur noch eine Kugel in den Kopf jagen, und in diesem Fall wäre die Menschheit längst ausgelöscht. Er musste Geduld haben, seine Stunde würde kommen.

Sie kam in Form einer kleinen Erbschaft, die es ihm ermöglichte, sein eigenes Büro zu eröffnen und es mit Hilfe der Kontakte aus seiner Agenturzeit auch tatsächlich am Laufen zu halten. Er verzichtete auf den Staub in der Luft und die Kratzer auf dem Schreibtisch, legte die Füße nicht so oft hoch wie er es gern getan hätte – ein schäbiger erster Eindruck konnte jeden noch so verzweifelten Kunden vergraulen –, und in seinem Vorzimmer saß Steffen Fronbach, ein junger Mann, der sich mit dieser Tätigkeit sein Studium finanzierte. Aber er verließ seine Wohnung nie wieder ohne Trenchcoat und Hut. Die vorherrschende Meinung seiner ehemaligen Kollegen in Bezug auf Paul Wellers Selbständigkeit und seine nun offen zu Tage tretenden Marotten war, dass wenn nicht die schlechte Wirtschaftslage dafür sorgen würde, dass er seine Karriere an die Wand fuhr, dann die hirnverbrannte Schnapsidee, seinen Klienten diese billige Imitation eines Groschenromans zu präsentieren. Gut meinende Seelen nahmen ihn liebevoll beiseite und redeten ihm ins Gewissen. Er solle entweder den einen oder wenigstens den anderen Unsinn lassen, das Geschäft sei mörderisch genug – und was er da anstelle ein Himmelfahrtskommando in die Pleite – nachdem er sich zum Gespött der ganzen Stadt gemacht habe. Professionalität, Respektabilität und Effizienz seien die Schlüsselwörter. Allein mit diesen Grundkompetenzen könne man sich heutzutage noch Hoffnung auf Erfolg machen. Jeder normale Mensch wisse das.

Paul hörte geduldig zu und nickte an den richtigen Stellen. Sobald sein Gegenüber ausgeredet hatte, dankte er höflich für die Sorge um seine Person und fragte: „Aber was hat das mit mir zu tun?“

Sein Auftreten war nie das Problem. Was die anderen nicht verstanden, war, dass es ihm nur so gelang, nicht sang- und klanglos in der Masse unterzugehen und sich dem Heer der Gescheiterten anzuschließen.

Ohne Hut und Mantel war Paul Weller nichts weiter als oberer Durchschnitt. Er sah gut genug aus und war gesellig genug, um nicht befürchten zu müssen, irgendwann halb aufgefressen von seiner Katze in seiner Wohnung gefunden zu werden, weil die Nachbarn den Geruch nicht mehr ignorieren konnten.

In der Agentur hatte er zu den fleißigen Bienen gehört. Zuverlässig und exakt wie ein Schweizer Uhrwerk.

Leider hatte seine Liebe zu diesem Beruf ihm nicht die erhofften interessanten Fälle, sondern nur einen Haufen Recherchen für seine Kollegen eingebracht. Da gab es andere, die sich offensichtlich besser als Aushängeschild eigneten. Seine ersten grauen Haare hatten ihn zu seinem großen Bedauern nicht attraktiver gemacht, nur älter.

Unter einem Hut spielte das keine Rolle, und der Mantel verbarg geschickt seine leicht untersetzte Statur. Doch das war es letztlich gar nicht, was zählte. Sobald er sich in dieser Aufmachung im Spiegel oder in sonst einer reflektierenden Oberfläche sah, erblickte er dort den größten Detektiv aller Zeiten. Kein Kunde hätte sich jemals beschwert, wenn der größte Detektiv aller Zeiten auf ihn zutrat und sagte: „Keine Sorge, ich kümmere mich darum.“

Schmunzelten oder lachten manche Leute hinter seinem Rücken, tuschelten sie über ihn? Möglich. Aber solange sie es nicht vor seiner Nase taten, war es ihm herzlich egal. Vermutlich vertraute ihm die Mehrzahl seiner Kunden unbewusst gerade wegen seines Aussehens, auch wenn sie es niemals zugegeben hätten.

Was die finanzielle Stabilität seines Unternehmens betraf, hatte er sich von vornherein keine Illusionen über große Reichtümer gemacht. Fünf Jahre lang hatte er sich allein die Hacken abgelaufen, das Büro geführt, alte Beziehungen gepflegt und neue dazugewonnen, bis sich die Aufträge im wahrsten Sinne des Wortes zu stapeln begannen. Nicht bis an die Decke, aber zwei auf einmal waren keine Ausnahme. Auftritt: Steffen Fronbach. Die gepflegten Beziehungen sorgten dafür, dass ausreichend Geld für Paul und seinen Assistenten hereinkam. Paul hatte es sich nicht nehmen lassen, Steffen sofort eine Gehaltserhöhung zu geben, als das Plus in den Bilanzen immer dicker wurde und das Gespenst der Insolvenz endgültig gebannt war. Nicht ganz uneigennützig, denn er hoffte, sich dessen Unterstützung so lange wie möglich zu erhalten. Im Stillen dachte Paul daran, ihn nach und nach davon zu überzeugen, in der Branche zu bleiben, anstatt die angepeilte Laufbahn als Jurist einzuschlagen.

Der einzige Wehrmutstropfen lag in der Art der Fälle, die er zu bearbeiten hatte. Das war nichts Neues für ihn, aber Paul hatte gehofft, nachdem er sie sich nun selbst aussuchen konnte, endlich einmal einen zu erwischen, der seiner leisen Sehnsucht nach ein wenig Abenteuer wenigstens ansatzweise gerecht wurde. Doch er musste schnell feststellen, dass sich seine Alleingänge in dieser Hinsicht kaum von der Arbeit in der Agentur unterschieden: verschollene Verwandte, Ehebruch und andere Betrügereien, anonyme Belästigungen, Versicherungsdelikte und kleinere Diebstähle, meistens innerhalb eines Familien- oder Freundeskreises begangen. Dabei machte es keinen Unterschied, ob Auftraggeber oder Beschuldigte arm oder reich waren. Sobald sich jemand hintergangen oder ungerecht behandelt fühlte, war jegliche Etikette schnell vergessen. Besonders unangenehm, Sorgerechtsfälle. Eltern, die sich um ein Kind prügelten, wobei einer dem anderen unbedingt beweisen musste, dass er nichts taugte. Zum Wohle des Kindes? Paul hoffte jedes Mal, dass es so war. Leider lag der Verdacht nahe, dass es lediglich darum ging, jahrelang aufgestauten Hass zu entladen und den anderen dort zu treffen, wo es am meisten wehtat. Hin und wieder im Laufe seines Lebens hatte auch Paul über eine eigene Familie nachgedacht. Nach Beendigung eines solchen Falles war er fast immer froh, dass es bisher nicht geklappt hatte. Fast immer. Wenn es um Liebe und andere Scherereien ging, war er genauso starrsinnig wie in seinem Vertrauen auf Paul Weller, den Superdetektiv. Es musste nicht bei jedem schief gehen. Seine Prinzessin konnte schon hinter der nächsten Ecke auf ihn warten.

Er wollte sich nicht beschweren, es war echte Detektivarbeit, auch wenn keiner seiner geliebten Roman- und Filmhelden sich jemals mit der Suche nach Frau Langenfels’ preisgekröntem Yorkshire seine Brötchen hatte verdienen müssen. Nein, diese Nachforschungen waren nicht von weltgeschichtlicher Relevanz, aber wichtig genug für die Betroffenen, also erledigte er sie gewissenhaft und meistens sogar besser, als es die Klienten erwarteten. Darüber hinaus hatte er immer mal wieder die Gelegenheit, bei den oberen Zehntausend hineinzuschnuppern. Das Erste, was man dort lernte, war, dass sich deren Sorgen und Nöte in nichts von denen von Hinz und Kunz unterschieden. Das minderte etwaige Komplexe im Angesicht von Reichtum (mehr oder weniger) und Schönheit (weniger ist oft mehr) beträchtlich.

Und doch hatte er sich in letzter Zeit immer öfter bei dem deprimierenden Gedanken ertappt, dass der Zeitpunkt näher rückte, an dem er sich gezwungenermaßen von seiner Abenteuerlust würde verabschieden müssen. Er wurde nicht jünger, und es würde der Tag kommen, an dem es nur noch lächerlich war, weiterhin auf einen Diebstahl der Kronjuwelen zu hoffen. Paul war bereit, sich klaglos damit abzufinden.

Bis zu dem Augenblick, als der Brief mit dem dicken roten Siegel auf seinem Schreibtisch landete. Das Haus derer von Karst und Dull bat um seine Mithilfe in einer delikaten Familienangelegenheit. Ein Scherz? Eher nicht. Immerhin ging es um mehrfachen Mord.

Um es präzise auszudrücken, um mehrere ungeklärte Todesfälle. Als er den versiegelten Umschlag zwischen verschiedenen Postwurfsendungen entdeckte, hatte Paul zunächst ein wenig verwundert gedacht, es handele sich um eine Einladung zu einer dieser protzigen Wohltätigkeitsveranstaltungen. Und die schwungvolle, wie gestochen wirkende Schrift, mit der der Brief adressiert war, bestärkte ihn in dieser Vermutung. Kurzzeitig hatte er sogar die Hoffnung gehegt, man hätte beschlossen, ihm wegen außerordentlicher Leistungen eine Ehrung zuteilwerden zu lassen. Allerdings fiel ihm keine Leistung ein, die so außerordentlich gewesen wäre. Und auch wenn er aufgrund seiner Tätigkeit schon in einigen gut betuchten und adeligen Häusern zu Gast gewesen war, glaubte er nicht wirklich daran, dass die ihn deswegen gleich zu ihren Festivitäten einluden.

Nachdem er es sich in seinem Stuhl bequem gemacht hatte, nahm er den Brieföffner zur Hand und öffnete den Umschlag. Heraus kam ein einzelnes, eng beschriebenes Blatt schweren Büttenpapiers. Die gleiche elegante Schrift wie bei der Adresse. Der Brief war von Hand und mit echter Tinte und Feder geschrieben. Wer benutzte denn bitte im Zeitalter von SMS und E-Mail noch derartige Schreibutensilien? Als Nächstes fiel ihm der Duft auf. Das Blatt verströmte ein zartes Aroma, das ihn an seine Großmutter denken ließ, wenn diese ihn zur Begrüßung umarmt hatte. Maiglöckchenparfüm.

Als ausgewiesener Fachmann seines Metiers wagte er zu vermuten, dass der Brief von der Hand einer Frau verfasst worden war, aber wenn er eines gelernt hatte, dann dass man niemals voreilige Schlüsse ziehen sollte. Sein Blick wanderte zu der Unterschrift am Ende des Briefs. Lilith von Karst und Dull. Er hatte sich nicht getäuscht, und mit ziemlicher Sicherheit konnte er anhand der Indizien auch einen Tipp abgeben, welcher Altersgruppe diese Dame angehörte. Was war der Anlass für dieses edle Anschreiben? Es hatte zwar Pauls Aufmerksamkeit etwas mehr gefesselt als es seine sonstigen Posteingänge taten, trotzdem erwartete er zunächst nichts weiter als eine der üblichen Ehe- oder Familienstreitigkeiten. Wie sich sogleich herausstellte, lag er damit allerdings voll daneben. Schon nach wenigen Zeilen war klar, dass dieser Fall von seinen bisherigen Ermittlungen so weit entfernt lag wie der Nord- vom Südpol.

Menschen waren gestorben. Das geschah zwar jeden Tag und überall, aber dass es sich hierbei um keine alltägliche Todesfälle handelte, lag auf der Hand. Sonst hätte man sich nicht die Mühe gemacht, derart formvollendet um seine Dienste zu bitten. Nur lagen die Vorkommnisse, von denen der Brief berichtete, bereits eine ganze Weile zurück, das letzte hatte stattgefunden … acht Jahre, bevor Paul auf die Welt gekommen war. Und soweit er es verstand, war der Mord, auf den er sein Hauptaugenmerk richten sollte, noch gar nicht passiert.

Zusammengefasst konnte man sagen: Wiederholt ungewöhnliche Todesfälle in alteingesessener Familie legten die Befürchtung nahe, dass bald der Nächste dran glauben musste. Und er, Paul Weller, wurde ergebenst ersucht, diesen Fall aufzuklären.

2. Das Haus derer von Karst und Dull

Ohne langes Zögern hatte Paul zum Hörer gegriffen. Eine E-Mail-Adresse oder Handy-Nummer suchte er vergebens, aber wenigstens musste er sich keine Brieftaube zulegen, um mit seinen neuen Klienten in Kontakt zu treten. Am anderen Ende ertönte eine durch und durch kultivierte Männerstimme. Man sei sehr erfreut, dass er sich so schnell melde und bereit sei, den Fall zu übernehmen. Es wäre das Beste, wenn er die Ermittlungen gleich vor Ort vornähme, Kost und Logis inbegriffen, solange es nötig sei. Man müsse jedoch noch Einiges vorbereiten und erwarte ihn deshalb in zwei Wochen unter der angegebenen Adresse.

Etwas irritiert fragte Paul, ob es nicht ein wenig riskant sei, so viel Zeit verstreichen zu lassen, da, wie er aus dem erhaltenen Schreiben geschlossen habe, offenbar ein schlimmes Unglück bevorstehe.

Er brauche sich keine Sorgen zu machen, er werde rechtzeitig ankommen, um nichts zu verpassen. Nein, man könne keine weiteren Einzelheiten zu dem erwarteten Verbrechen bekanntgeben, das bliebe allein den Herrschaften überlassen. Nachdem er aufgelegt hatte, saß Paul da, das Kinn auf die Handflächen gestützt, und dachte nach. Schräge Vögel, zweifellos. Schräge Vögel mit Personal, sein Gesprächspartner war dem Ton nach mindestens ein Butler, wenn nicht gar ein persönlicher Sekretär. Nicht viele konnten sich das heute noch leisten, selbst mit einem „von“ im Namen. Was ihn beunruhigte, war die ruhige und distanzierte Art, in der von dem kommenden Mord gesprochen worden war. Andererseits wurde gutes Personal darauf geschult, stets Ruhe und Würde zu bewahren und den Angelegenheiten ihrer Herrschaft nur so viel Interesse zu widmen, als in direktem Zusammenhang zu ihrem Arbeitsbereich stand. Und es war durchaus verständlich, dass man sich aus unschönen Dingen wie Gewaltverbrechen heraushalten wollte, so lange es irgendwie ging.

Aber welche Vorbereitungen? Es konnte wohl kaum zwei Wochen dauern, ein Gästezimmer herzurichten. Schräge, unterkühlte, flügellahme Vögel. Da er grundsätzlich kein Problem mit derartigen Vögeln hatte, verschob er diese Fragen, bis er sie den Herrschaften persönlich stellen konnte. Die Zeit bis dahin konnte er nutzen, um sich entsprechend vorzubereiten. Wenn es in dieser Familie eine die Generationen übergreifende Anfälligkeit für gewaltsamen Tod gab, musste sich dazu etwas finden lassen.

Paul warf einen Blick in seine Adresskartei und rief Thomas Brennerman an. Thomas war ein Adelsexperte, der ihm schon bei einigen seiner Fälle geholfen hatte, bisher aber eher, wenn es darum ging, sich die notwendigen Gepflogenheiten im Umgang mit den besseren Kreisen anzueignen. Er würde sich freuen, endlich sein umfassendes historisches Wissen an den Mann bringen zu können.

Und er würde Paul vielleicht sagen können, ob das Ganze nur ein morbider Scherz war, und wenn nicht, was es mit dieser geheimnisvollen Familie auf sich hatte.

Thomas war daheim und wühlte sich durch Berge von mehr oder weniger vergilbtem Material über Wappen und deren Entstehung, dankbar für jede Unterbrechung, wie er Paul mitteilte. Sie vereinbarten ein Treffen für denselben Abend in ihrer Stammkneipe. Ganz nebenbei erwähnte Paul den Namen von Karst und Dull.

„Kommt mir bekannt vor. Ich werde sehen, was ich finden kann.“

„Danke. Bis nachher.“

Seinem Assistenten trug Paul auf, alles, was in sämtlichen Archiven, Bibliotheken und aktuellen Medien über die Familie von Karst und Dull zu finden war, zusammenzutragen.

Gerechte Arbeitsteilung. Steffen fand mit wenigen Mausklicks in einer Stunde mehr als Paul früher in einer Woche Lauferei, und ihm fielen stets ein paar obskure Links und Seiten ein, die sich „nicht immer mit der Wahrheit, dafür aber mit den spannendsten Gerüchten“ beschäftigten. Häufig enthielten gerade diese Gerüchte das entscheidende Körnchen Wahrheit. Sollte im Anschluss noch ein Besuch in einem staubigen Keller nötig sein, würde Paul den mit Vergnügen selbst übernehmen. Er hatte nun einmal etwas übrig für die altmodische Art. Ein weiterer Grund, um diesen Fall unbedingt weiterzuverfolgen.

Als Paul gegen neunzehn Uhr sein Stammlokal betrat, sah er Thomas bereits an einem der Tische im hinteren Teil des Raumes sitzen. diese Zeit war der Laden noch wenig besucht, und Thomas sah in seiner Ecke aus wie der einsame, weltentrückte Gelehrte, als der er sich selbst gern sah, die Gedanken stets auf seinen kleinen, besonderen Teil des großen Mosaiks der Menschheitsgeschichte gerichtet. Vor ihm lag eines der dicken Notizbücher, die er ständig bei sich zu tragen pflegte. Darin standen Recherchen und Entwürfe zu den Vorträgen, die er hielt, und den Artikeln, die er schrieb, Stichpunkte zu anderen, die er gehört und gelesen hatte, und endlose Checklisten und Quellenverzeichnisse für zukünftige Projekte. Genau wie Paul hatte auch Thomas bei der Vorbereitung seiner „Fälle“ einen Hang zu Stift und Papier.

„`n Abend“, begrüßte Paul den Freund und ließ sich ihm gegenüber nieder.

„Dir auch. Weißt du schon, was du willst?“

„Ich schwanke noch. Lass uns mit einem Bier anfangen, dann sehen wir weiter.“

„Scheint, als würdest du dich auf einen längeren Abend einrichten.“

„Da gibt es eine Familie, in der wiederholt auf merkwürdige Weise gestorben wird. Dennoch scheint sie eher unbekannt zu sein. Selbst du musstest nachschlagen. Ich vermute, dass es einiges über diese Familie zu erzählen gibt, das Meiste davon aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Habe ich Recht?“

„Ja und nein. Aber lass uns erstmal bestellen.“

Paul wunderte sich, sagte aber nichts, während Thomas die Bedienung herbei winkte. Dieser Mann liebte seine Adeligen, ihre Geschichte, ihre Stammbäume und überhaupt alles, was mit ihnen zu tun hatte. So zurückhaltend hatte Paul ihn noch nie erlebt.

Bis die Getränke kamen, tauschten sie die üblichen Floskeln. Paul wusste, wann es besser war, zu schweigen.

Schließlich sagte Thomas: „Du hast eben gemeint, dass die sonderbare Geschichte derer von Karst und Dull nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sei.“

„Und du hast gesagt, ja und nein. Könntest du dazu ein bisschen konkreter werden?“

„Es bedeutet ja, du hast Recht, in der breiten Bevölkerung ist über diese Familie nie viel bekannt geworden. Aber du liegst falsch, wenn du glaubst, es handele sich um eine groß angelegte Vertuschungsaktion, bei der ein Skandal nach dem anderen unter den Teppich gekehrt wurde.“

„Und was heißt das nun? Ich blicke nicht ganz durch.“

„Die Familie von Karst und Dull hat nie ein Geheimnis daraus gemacht. Alles steht minutiös beschrieben in der Familienchronik, es gibt Zeitungs-, Polizei- und Autopsieberichte und sogar ein paar Interviews mit Familienmitgliedern. Kein Hinweis darauf, dass jemand den Versuch gemacht hätte, etwas zu verbergen.“

„Familienchronik? Hast du sie gelesen?“

„Nein, aber ein Kollege von mir. Bei der Lektüre ist er auch auf die Todesfälle gestoßen.“

„Die haben wirklich alles aufgeschrieben?“

„Fast siebenhundert Jahre lang.“

Wie lange?“

Thomas schlug sein Notizbuch auf. „Bald siebenhundert Jahre. Ich werde dir sagen, was ich von seriöser Seite über die Familie in Erfahrung bringen konnte. Zu Beginn ein kleiner Hinweis: Das ‚U’ in Dull spricht man wie ein A aus. Der Name stammt von einem englischen Adelsgeschlecht, in das eingeheiratet wurde. Der Karstsche Zweig der Familie bekam 1347 von ihrem Landesherrn ein nicht unbeträchtliches Lehen verliehen, weil das damalige Familienoberhaupt Linhardt Karst eben diesem Herrn mit einer großzügigen Gefälligkeit aus einer üblen Klemme half. Damals hatten Normalsterbliche bereits die Möglichkeit, durch wertvolle Verdienste gegenüber Kaiser, Kurfürst und Vaterland in den Adelsstand aufzurücken. So dauerte es nicht allzu lange, bis die Familie den Adelstitel erhielt, und aufgrund der Goldenen Bulle von 1356 hatten sie nun das erbliche Hausrecht für ihre Ländereien …“

„Stopp. Du musst mir nicht die gesamte Historie herunterbeten. Gib mir einfach die wichtigsten Fakten.“

Thomas nickte. „Verstanden. Jedenfalls, sobald man das Erbrecht hatte, wurde mit dem Bau des Stammsitzes begonnen, den die folgenden Generationen immer weiter ausbauten, bis er etwa zweihundert Jahre später seine endgültige Größe erreicht hatte. Zwischendurch wurde der Landbesitz durch Heirat mit den von Dulls noch einmal vergrößert, und so entstand aus von Karst und von Dull das Haus derer von Karst und Dull. Seither haben sie sich von dort nicht mehr wegbewegt, zumindest die Hauptlinie der Familie.

„In dem Brief, den ich erhielt, wurde angedeutet, dass die Todesfälle ziemlich weit in die Vergangenheit zurückreichen. Kannst du mir sagen, von welchem Zeitraum wir sprechen?“

„Fünfhundert Jahre.“

Paul schnaubte. „Und jeder Tote hat sein eigenes Kapitel?“

„Alle, bis auf einen.“ Thomas nippte an seinem Bier und sah Paul über den Rand seines Glases hinweg aufmerksam an. „Was mich wirklich wundert, ist, dass sie dich hinzuziehen … nein, so meine ich das nicht“, beschwichtigte er, als er Pauls beleidigten Blick sah. „Ich meine nicht dich persönlich, sondern dass sie sich überhaupt an einen Außenstehenden wenden. Das ist bisher noch nie vorgekommen.“

„Du hast doch gesagt, es gibt Polizeiberichte.“

„Die Behörden haben ihre Pflicht erfüllt, und niemand hat sie dabei in irgendeiner Weise behindert. die Familienmitglieder haben ihre Aussagen gemacht und Kommentare an die Presse gegeben.“

„Wenn die Presse involviert war, muss noch mehr zu finden sein. So eine Geschichte ist doch ein gefundenes Fressen.“

„Die Untersuchungen waren jedes Mal schnell abgeschlossen und wurden als geklärt zu den Akten gelegt. Es gab nicht viel zu holen für die Zeitungen und keinen Anhaltspunkt, dass mehr dahinter stecken könnte als gewöhnliche Kleinkriminalität und Pech.“

Paul horchte auf. „Pech?“

„Ja, oder vielmehr unglückliche Umstände. Die Mehrzahl der Todesfälle wurde als Unfall deklariert. Dann gab es noch Raubmord, Selbstmord, und nur ein einziges Mal war ein anderes Familienmitglied verwickelt, und das war eindeutig Selbstverteidigung.“

„Was ist denn dann so merkwürdig daran? Für eine Zeitspanne von fünfhundert Jahren klingt das nach einer ganz normalen Statistik.“

Paul kam langsam der Verdacht, jemand wolle ihn auf den Arm nehmen. Fünfhundert Jahre alte Unfälle?

Thomas verzog die Lippen, als habe er eine ziemlich genaue Vorstellung von dem, was Paul gerade dachte. Er räusperte sich und sagte: „Das Auffällige ist die Regelmäßigkeit. Alle fünfzig Jahre kommt in diesem Haus jemand unter Umständen ums Leben, die sich nicht auf Alter oder Krankheit zurückführen lassen.“

Paul überlegte einen Moment. „Ich verstehe es immer noch nicht. Unfälle können ständig und überall passieren.“

„Lass es mich so ausdrücken. In ungewöhnlich regelmäßigen Abständen sterben Angehörige ein und derselben Familie, immer im oder in unmittelbarer Nähe des Hauses, fast immer allein, ohne eine Menschenseele, die etwas zum Tathergang sagen könnte oder wollte, und die Familie kümmert es nicht mehr als ein Viehdiebstahl. Für die Polizei ist der Fall schnell klar, da es keine anderen Beweise oder Indizien gibt als die, welche sie direkt am Unglücksort vorfindet. Aus demselben Grund geht auch die Presse leer aus, und die großen zeitlichen Abstände sorgten dafür, dass kaum jemandem auffiel, dass in diesem Haus etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Selbst wenn man es als Ganzes betrachtet, reicht es nicht für einen Sensationsbericht oder umfangreiche polizeiliche Maßnahmen. Aber es hat gereicht, um eine Legende in die Welt zu setzen. Die Legende des Fluchs derer von Karst und Dull.“

„Deshalb hast du eben von seriösen Quellen gesprochen. Das heißt, es gibt auch andere.“

„Mehr als genug.“

„Okay, das behalte ich als Plan B im Hinterkopf. Was glaubst du?“

„Ob ich glaube, dass es ein Geheimnis gibt? Ja. Welches? Das musst du herausfinden.“

„Wir haben also mehrere Möglichkeiten. Es könnte sich um eine Reihe von Zufällen handeln. Nicht der große Coup, der mir unsagbaren Ruhm und Reichtum beschert, aber man sollte nichts von vornherein ausschließen. Zweitens: Jemand hat etwas gegen diese Familie und diese Abneigung weitervererbt. Dabei gehen die Täter so geschickt und vorsichtig vor, dass ihnen noch keiner auf die Schliche gekommen ist. Unfälle und sogar Selbstmord kann man vortäuschen. Allerdings sind fünfhundert Jahre verdammt lang für einen Rachefeldzug, und warum hat die Familie nie etwas unternommen? Außerdem hätten die Täter ständig Zugang zum Haus haben müssen. Käme höchstens das Personal in Frage.“

„Du meinst: der Butler war’s?“

„Es wäre doch nett, wenn sich einmal alles als so einfach herausstellte. Ist jedoch unwahrscheinlich. An einen blutrünstigen Angestellten kann ich glauben, aber nicht an einen alle fünfzig Jahre. Bleibt noch die letzte Möglichkeit. Die Herrschaften selbst waren und sind die Urheber. Das würde ihre Zurückhaltung erklären. Wenn es um schwarze Schafe in den eigenen Reihen geht, können diese Blaublüter schlimmer sein als die Mafia.“

„Womit wir wieder am Anfang wären. Warum wollen sie dich engagieren? Wenn der Tod all dieser Menschen andere als natürliche Ursachen hatte, warum sich einen Zeugen für ihre Machenschaften ins Haus holen? Jemanden, der alles aufdecken und die Familie mit einem Schlag ruinieren könnte? Warum ausgerechnet jetzt, wo sich weiteres Unheil ankündigt? Sie können ja schlecht in deiner Gegenwart jemandem den Schädel einschlagen und sagen, dass Unfälle eben passieren. Komm mir nicht mit Schuldkomplexen, und dass jeder Täter im Grunde seines Herzens erwischt werden will. Ich weiß, dass die meisten gut mit ihren Verfehlungen leben können.“

„Du hast es selbst gesagt, es wäre sehr viel schwieriger, in meiner Anwesenheit jemanden umzubringen und es hinterher zu verschleiern. Möglicherweise hegt einer von ihnen die Befürchtung, er oder sie könnte als Nächstes dran sein und ist damit nicht einverstanden.“

Thomas schmunzelte. „Ein kleiner Nebenverdienst als Bodyguard?“

„Soll mir recht sein. Ein Leben beschützen ist nicht der schlechteste Job, und sollte es mir nebenbei gelingen, Licht in diese Affäre zu bringen, ist mir ein Platz in den Annalen der Detektivgeschichte sicher.“

„Darauf sollten wir anstoßen!“

Für den Rest des Abends sprachen sie über Thomas’ neueste Forschungen zum Thema Wappenkunde, Pauls letzte Fälle, Lokalpolitik, Sport und wie Thomas es schaffte, seit über zwanzig Jahren verheiratet zu sein. Für Paul ein unlösbares Rätsel. Bei ihm ging schon, wenn er nur an Verlobung dachte, alles in die Binsen. Er wollte nicht behaupten, dass er daran unschuldig war, aber an ihm allein konnte es doch wohl nicht liegen. Als beide sich zum Zahlen fertig machten, fiel Paul etwas ein, das Thomas zuvor erwähnt hatte.

„Du hast gesagt, bis auf einen.“

Thomas, der gerade dabei war, die dreiunddreißig Taschen seiner Allwetterjacke zu durchsuchen, hob den Kopf und sah ihn fragend an.

„Vorhin hast du gesagt, in dieser Familienchronik wären alle Todesfälle verzeichnet, bis auf einen. Was hat es damit auf sich?“

Thomas begann erneut, die Untiefen seiner Jacke zu durchwühlen. „Es heißt, das erste Opfer habe sich in einem Anfall geistiger Umnachtung nicht nur selbst, sondern auch einen Teil der Chronik vernichtet. Und da es sich um den damaligen Chronisten handelte, konnte dieser Teil nicht wieder rekonstruiert werden. Warum danach kein anderer etwas darüber geschrieben hat – keine Ahnung. Die Chronik setzt jedenfalls erst wieder mit der Neuverheiratung der Witwe ein.“

„Wann war das?“

„1514. Vielleicht ist wirklich jemand der Meinung, zehn kleine Negerlein seien genug.“

„Dann will ich mein Möglichstes tun, denjenigen nicht zu enttäuschen.“

„Und wenn es nun doch ein Fluch ist?“

„Sollte ich auf ein Pentagramm oder einen abgetrennten Ziegenkopf treffen, werde ich mich eingehend mit dieser Theorie befassen.“

Lachend gingen sie hinaus.

3. Steffen

In den folgenden zwei Tagen ließ Paul sich alles, was er über seine Auftraggeber und den Fall hatte in Erfahrung bringen können, in Ruhe durch den Kopf gehen. Nebenbei machte er sich Notizen zu den Punkten, die einer näheren Betrachtung bedurften, und wartete geduldig, dass Steffen ihm die Ergebnisse seiner Recherche präsentierte. Paul hatte ihm aufgetragen, sie ihm erst vorzulegen, wenn er sich sicher war, alle auch nur im Entferntesten relevanten Fakten beisammen zu haben. Bevor er sich entschied, noch einmal die Schulbank zu drücken, hatte Steffen erfolgreich eine Ausbildung zum Polizeibeamten abgeschlossen. Er wusste, was er tat, und auch, wie weit er gehen durfte. Und wie er noch ein bisschen weiter gehen konnte, ohne sich Ärger einzuhandeln. Paul war zuversichtlich, die meisten Fragen auf seiner Liste ohne großen Aufwand abhaken zu können.

Am Morgen des dritten Tages wartete Steffen bereits in seinem Büro, vor sich einen Stapel Computerausdrucke, Fotokopien und getippte Notizen.

„Einen wunderschönen guten Morgen. Wie ich sehe, warst du erfolgreich?“

„Das kannst du laut sagen. Dafür, dass diese Familie sich bisher doch sehr bedeckt gehalten hat, ist eine Menge zusammengekommen.“

„Dann schieß los.“

„Was möchtest du zuerst hören, die Familiengeschichte, alles zu den Todesfällen oder Neues aus der Schattenwelt?“

„Über die Familiengeschichte hat mir Thomas bereits einiges erzählt. Was mich im Moment am meisten interessiert, ist, ob es über die derzeitigen Familienmitglieder etwas zu berichten gibt. Ich möchte gern wissen, mit wem ich es zu tun bekomme.“

„Auf dem Stammsitz leben zurzeit fünf Personen. Familienoberhaupt ist Theodor Ignazio von Karst und Dull, einundsiebzig Jahre alt. Er kontrolliert den gesamten Grundbesitz und alle damit verbundenen geschäftlichen Aktivitäten.“

„Um was für Geschäfte handelt es sich?“

„Ackerbau, Viehzucht, Holzwirtschaft, Verpachtung von Land und die Verarbeitung sowie den Verkauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse.“

„Kann man damit noch Geld verdienen?“

„Nicht mehr so viel wie früher, aber die von Karst und Dulls brauchen sich darum keine Sorgen machen. Alle Vorfahren waren sehr begabt darin, ein Vermögen anzuhäufen, und vor einiger Zeit haben sie einen Teil ihres Besitzes gewinnbringend verkauft. Dabei handelte es sich um begehrtes Bauland, meistbietend versteigert. Sie haben mehr Geld als man in fünf Leben ausgeben kann.“

„Okay, weiter.“

„Nummer zwei: Lilith, Tochter von Theodor, gerade vierzig geworden. Sie macht die Buchhaltung und repräsentiert die Familie bei gesellschaftlichen Anlässen. Zumindest ist sie diejenige, die man ab und zu in der Öffentlichkeit zu Gesicht bekommt, allerdings nicht besonders oft. Hin und wieder lädt sie zu Veranstaltungen auf dem Familiensitz ein, noch seltener als nicht besonders oft.

Der Dritte im Bunde ist Adolfo Henning von Karst und Dull, Theodors Cousin, achtundfünfzig. Er regelt den geschäftlichen Verkehr mit den weiter entfernten Ländereien und der Stadt.“

„Mit welchen Geschäftspartnern stehen sie in Verbindung?“

„Keinen. Die Familie führt alle Geschäfte selbst. Bis jetzt.“

Paul stutzte. „Das heißt, hier in der Stadt leben auch Mitglieder dieser Familie?“

„Ein Mitglied.“

„Und dieses Mitglied hat keine Lust mehr, den Laden allein zu schmeißen? Oder was meintest du mit bis jetzt?“

„Ob diese Dame auch etwas damit zu tun hat, weiß ich nicht. Die Andeutungen, die mir zu Ohren gekommen sind, und mehr als Andeutungen sind es nicht, beziehen sich auf Lilith von Karst und Dull und ihre neuen Kontakte in der Welt des gehobenen Unternehmertums. Man munkelt, es könnte sich eine Modernisierung der Betriebsstruktur anbahnen, mit ihr als Vorreiterin. Aber noch gibt es dazu nichts Konkretes.“

„Ich denke, ihr Vater ist der Geschäftsführer?“

„Er ist einundsiebzig. Sie ist die nächste Generation. Vor seinem Tod hatte ihr Bruder Konrad die Aufgabe, sich um die Kunden zu kümmern. Darüber gibt es nicht viel Material, nur, dass er es geschafft hat, dem Geschäft seine sehr exklusive Klientel zu erhalten und in der kurzen Zeit, die ihm zur Verfügung stand, noch aufzustocken. Nach seinem Ableben ist Lilith eingesprungen.“

„Gut. Mach erst mal mit den anderen weiter.“

„Da wären noch Isabella Dull und Lionel Karst, Köchin und Butler.“

Steffen machte eine Pause und sah Paul erwartungsvoll an. Paul klopfte sich mit seinem Bleistift an die Zähne.

„Dull und Karst. Aber ohne ‚von’.“

„Ja.“

„Sind die mit den hohen Herrschaften verwandt?“

„Ja.“ Steffen grinste.

„Nun rück schon raus mit der Sprache!“

„Nicht nur diese Dienstboten, sondern alle Angestellten des Hauses, und das seit langer, langer Zeit, sind Verwandte der Hausherren. Aber von der falschen Seite des Bettes.“

„Die unehelichen Kinder erledigen den Haushalt für die privilegierten??“

„Genauso ist es. Die kleinen Bastarde dürfen den Namen des jeweiligen Betthupfers tragen, je nachdem, aus welcher Linie er oder sie stammt, aber ohne Prädikat. Und sie dürfen das Haus nur betreten oder verlassen, wenn sie die Einkäufe rein- oder den Müll rausbringen.“

Paul dachte an seine Theorie vom wütenden Angestellten. Hatte er sie zu schnell verworfen? Wenn seit Generationen die einen den Dreck der anderen wegmachen mussten, konnte das eine Menge Groll verursachen.

„Kannst du mir erklären, wie diese Art des Zusammenlebens zustande gekommen ist?“

„In einem Interview zu einem der Todesfälle hat einer der Angestellten es so formuliert: Es ist eine ehrwürdige Familientradition, sich auch um die weniger vom Glück begünstigten Angehörigen zu kümmern.“

„Nett gesagt, aber vielleicht haben die weniger Begünstigten ihre eigene Tradition begründet.“

„Du glaubst, das Personal könnte etwas damit zu tun haben?“

„Eigentlich hatte ich diese Theorie ad acta gelegt, wegen der langen Zeitabstände, aber nach dem, was du mir erzählst, wäre das ein wenig verfrüht. Sag einmal: Hat denn nie einer von denen geklagt oder sich beschwert? Heutzutage haben auch unehelich Geborene alle möglichen Rechte.“

„Nein, niemand.“

„Warum nicht?“

„Keine Ahnung, weil es ihnen zu viel Spaß macht, ihre gepuderte Verwandtschaft um die Ecke zu bringen?“

„Sehr witzig.“ Trübsinnig starrte Paul auf seinen Notizzettel. Das wurden eher mehr Fragen als weniger. „Wen haben wir noch?“

„Neben dem Stammsitz gibt es noch ein kleineres Landgut, ehemals im Besitz der Familie von Dull, bevor es durch den Zusammenschluss dem Karstschen Besitz einverleibt wurde. Dort lebt Theodora Bernadette von Karst und Dull, Zwillingsschwester von Theodor, mit ihren Kindern Sebastian, Konstanze und Phillip. Dreiundvierzig, neununddreißig und vierunddreißig Jahre alt. Um ihr Personal habe ich mich nicht gekümmert. Auf dem Dullschen Landsitz ist nie etwas Ungewöhnliches vorgefallen. Es gilt das gleiche Prinzip in Personalfragen, aber keiner der dort ansässigen Dienstboten hat jemals den Stammsitz betreten.“

„Also gibt es bei den Unterprivilegierten noch Unterprivilegiertere.“

„Ist das nicht immer so?“

Paul seufzte. „Einer fehlt noch.“

„Eine, wenn du von der Person redest, die hier in der Stadt lebt.“ Paul nickte. „Evelyn, Witwe von Konrad. Er starb vor knapp zwei Jahren an einem Herzinfarkt.“

„Passt nicht in die Serie.“

„Nein, zweifelsohne ein natürlicher Tod durch Herzverfettung. Man könnte seiner Frau den Vorwurf machen, dass sie kein Schloss am Kühlschrank angebracht hat.“

„Hast du mit ihr geredet?“

„Klar. Da dieser Fall bis in graue Vorzeit zurückreicht, brauchte ich eine Quelle, die mir Auskunft über die älteren Vorgänge geben konnte, und zwar solcherart, dass sie nicht nur auf Gerüchten und wilden Spekulationen basiert. Im vorhandenen Material, dem seriösen Teil, wird die Serie nur ganz am Rande erwähnt. Niemand, der Wert auf seinen guten Ruf legt, möchte ernsthaft darauf eingehen.“

„Thomas meint, es könne daran liegen, dass es nur alle fünfzig Jahre geschieht und es bisher nichts Sensationelles zu entdecken gab.“

„Möglich. Auf jeden Fall wollte ich dir nicht nur nebulöses Geschwafel präsentieren. Was lag da näher, als gleich ins Zentrum vorzustoßen, der Familie selbst.“

„Und Sie hat mit dir gesprochen? Obwohl diese Herrschaften so zugeknöpft sind?“

„Da ich ihr ganz ehrlich sagen konnte, dass ich nur an reinen Fakten interessiert bin, war sie durchaus zugänglich. Dank ihr konnte ich ein detailliertes Bild der Umstände bei den einzelnen Todesfällen erstellen. Und ich konnte mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass Konrad nicht zu den Opfern zählt. Der hätte gut und gern zwei Bilderrahmen gefüllt.“

„Apropos, Bilder. Bevor wir mit dem spannenden Teil weitermachen, hast du ein paar aktuelle Fotos?“

„Nur von Lilith. Von den älteren Familienmitgliedern gibt es lediglich ein altes Bild aus einem Zeitungsartikel, der 1964 anlässlich des Todes von Seraphina von Karst und Dull erschienen ist.“

Steffen blätterte in seinen Recherchen. Paul holte den Brief hervor.

„Darüber steht hier etwas. Sie war die Nummer zehn, vor genau fünfzig Jahren.“

„Der Countdown läuft?“

„So hört es sich an. In welchem Verhältnis stand Seraphina zu den noch lebenden Verwandten?“

„Schwester von Adolfo, Kusine von Theodor und Theodora.“ Steffen hatte gefunden, wonach er suchte. „Adolfo ist der kleine Junge hier vorne. Dort drüben siehst du die Zwillinge.“

Paul warf einen Blick auf das Zeitungsfoto. „Ist sie mit auf dem Bild?“

„Nein, das Foto wurde gemacht, als alles bereits vorbei war.“

„Ziemlich viele Leute. Lebten damals mehr Personen in dem Haus?“

„Ein Familientreffen. Alle waren eingeladen.“

„Wie alt war Seraphina?“

„Dreizehn. Warum fragst du?“

„Wenn es tatsächlich Mord war, hatte der Mörder mehr als genug Auswahl. Warum bringt er ausgerechnet ein Kind um?“ Paul sah Steffen an, Steffen blickte zurück. Darauf hatte keiner von ihnen eine Antwort. „Zeig mir die Dame des Hauses.“

Steffen schob ihm ein paar Bilder aus verschiedenen Hochglanzillustrierten zu. Eines zeigte eine Nahaufnahme von der Taille aufwärts. Lilith war sehr schlank, aber sportlich, schlicht und elegant gekleidet. Braune Locken umrahmten ihr Gesicht. Nicht die greise Lady mit Spitzenkragen, die Paul sich vorgestellt hatte. Keine klassische Schönheit, dazu waren ihre Gesichtszüge ein bisschen zu herb, aber wer stand schon auf Katalog-Barbies? Paul ertappte sich bei der Frage, welche Farbe ihre Augen wohl hatten. Und ob sie Maiglöckchenparfüm benutzte.