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Alexander Osang

Darf man um seine Katze trauern, wenn Deutschland Weltmeister wird?

Wundersame Fragen der Leitkultur

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Die hier abgedruckten Kolumnen erschienen unter dem Titel »Leitkultur« im SPIEGEL.

Die Fotos im Buch stammen vom Autor bzw. von Anja Reich (S. 35) und Hajo Seppelt (S. 81).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, September 2018

entspricht der 1. Druckauflage vom September 2018

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030)44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Cover: Eugen Bohnstedt, Ch. Links Verlag, unter Verwendung einer Grafik von thinkstock (854951280)

eISBN 978-3-86284-433-3

Inhalt

Der Kater im Krieg. Vorwort

Guten Tag

Heidewitzka

Zeigefinger

German Angst

Eddy

Problembären

Wild

Kahler Krempling

Gefährder

Stahlbad

Parkour

Feindesland

Soldatenehre

Volksmusik

Im Fegefeuer

Willy

Lügenpresse

Chans

Die Mannschaft

Wilde Pferde

Gut & Böse

Ostmann, Westmann

Allet schick

Razzia

Bunkerwelt

Hitlers Bart

Arbeitsanzug

Antrittsbesuch

Sunny Side Up

Im Totenschiff

Prost

In Lederhosen

Im Käfig

Im Sitzbad

Dr. Dolittle

Astrologen

Heimreise

Westreise

Über den Autor

Der Kater im Krieg
Vorwort

In einer Sommernacht des Jahres 2018 saß ich auf dem Fußboden unserer Wohnung in Tel Aviv und redete mit meinem Kater über deutsche Untergangssehnsucht. Ich war gerade aus Sotschi zurückgekommen, wo die Nationalmannschaft in einem dramatischen Spiel Schweden besiegt hatte. Toni Kroos hatte in letzter Sekunde einen Freistoß verwandelt. Es war ein Jahrhunderttor. Jedenfalls schien es so, gestern. Nach dem Spiel war ich durch ein Gewitter zu meinem russischen Hotel gelaufen. Das Hotel hieß Wostok. Wostok heißt Osten. Ich hatte in den Himmel gesehen und an den Regen von Kinshasa gedacht, der einsetzte, nachdem Ali Foreman geschlagen hatte. Damals, als ich ein Kind war. Vielleicht war das Bild ein bisschen gewaltig, aber ich hatte ein schlechtes Gewissen. Nicht Deutschland gegenüber. Ich hatte den Kater zwei Nächte allein gelassen hatte, um dieses Spiel zu sehen. Unsere Nachbarin hatte ab und zu nach ihm gesehen. Er hatte das Futter nicht angerührt, das sie ihm hingestellt hatte. Es roch muffig in unserer Wohnung, es roch vorwurfsvoll, weswegen ich alle Fenster geöffnet hatte.

Er ist ein sensibler Kater, er hat hellrotes Fell und stammt aus Berlin-Reinickendorf. Er lag lethargisch unter dem Küchenfenster, durch das ein wenig frische Luft vom Meer wehte. Es war Mitternacht, aber immer noch sehr warm.

Ich war nach Sotschi geflogen, um die deutschen Fußballer aus dem Weltmeisterschaftsturnier ausscheiden zu sehen.

»Es ist die Lust am Untergang«, sagte ich meinem Kater. »Das ist ein deutsches Phänomen.«

Das Meer rauschte.

Der Kater heißt Jimmy. Jimmy Kater. Die Idee für den Namen stammt von meiner Friseurin Yvi.

Man flog nur zwei Stunden von Tel Aviv nach Sotschi. Ich hatte Jogi Löw bei seinem Titel in Rio begleitet und sollte nun beschreiben, wie er fiel. Aber er fiel nicht. Ich konnte die Geschichte nicht schreiben und war ganz froh darüber.

»Es war magisch«, sagte ich dem Kater. »Es war, als zerstöre Kroos meine Todessehnsucht. Sein Schuss traf mich ins Herz. Es war so erleichternd, als würde man in einer heißen Nacht einen Korken aus einer Flasche Weißwein ziehen. Weißt du, Jimbo?«

Der Kater bewegte sich nicht.

Er schien meine Gesellschaft zu genießen. So wie ich seine genoss. Der Rest meiner Familie war gerade in Berlin. Wir waren ganz allein. Die dösende Katze befriedigte meine Sehnsucht nach Nähe mehr als all die Menschen, mit denen ich bei der Weltmeisterschaft zu tun gehabt hatte. Die Fußballer, die Trainer, die Manager und die Fans lebten in einer seltsamen Parallelwelt, zu der ich keinen Zugang hatte. In dieser Welt setzte man sich lustige Hüte auf, schminkte sich Fahnen auf die Wangen, gab stereotype Antworten, schwieg oder schrie. Selbst die verwegensten Fans trugen sogenannte Fan-IDs um den Hals, um zu signalisieren, dass sie Bürger der Parallelwelt waren.

Ich war froh, dieser Gesellschaft entflohen zu sein.

Jimmy ist ein junger Kater. Ich habe mich schwer damit getan, ihn in mein Leben zu lassen. Er sollte die Lücke füllen, die Willy hinterlassen hatte. Ein Kater, der aus Eberswalde stammte und fast zwanzig Jahre bei uns lebte. In Berlin-Mitte, in Brooklyn, New York, in Prenzlauer Berg, wo er dann auch starb. Ich fand ihn an einem Wintermorgen vor zweieinhalb Jahren tot auf meinem Arbeitsstuhl.

Er starb am Tag, als die deutschen Handballer Europameister wurden. Ich begrub ihn beim Schlusspfiff. Alle jubelten, ich trauerte.

Ich schrieb eine Kolumne über das seltsame moralische Dilemma. Darf man um seine Katze weinen, wenn das Land feiert? Eine SPIEGEL-Kolumne. Die Rubrik heißt Leitkultur. Der Chefredakteur fragte meinen Ressortleiter: Was hat das mit Leitkultur zu tun? Schreibt der jetzt über seine Katze, oder was?

Ich habe einen Ressortleiter, der glücklicherweise versteht, dass am Ende alles mit allem zusammenhängt. Die Katze und die Krise, der Kater und der Krieg. Er kann es auch erklären. Das hilft.

Wir haben ein Jahr getrauert und uns dann zwei neue Katzen geholt. Daisy und Louis. Louis wie Louis Armstrong und Daisy wie Daisy Parker, eine Prostituierte, mit der Armstrong kurz verheiratet war. Die Katzen waren sehr klein, ein bisschen kränklich und lebten in einem Tierheim in Karlshorst. Leider entwickelte ich eine Katzenallergie gegen sie. Alles juckte, ich hatte Atemnot. Die Tierärztin sagte, man könne Asthma bekommen. Wir sollten uns von den Katzen trennen, am Ende seien es nur Tiere. Wir gaben Daisy und Louis einem befreundeten Ehepaar. Das Paar hat sich getrennt, aber die beiden Katzen sind noch zusammen. Sie leben in Berlin-Mitte. Es geht ihnen sehr gut.

Bei einer Blutuntersuchung stellte meine Hautärztin fest, dass ich gar keine Katzenallergie habe. Ich ließ das beim Abendessen mit meiner Frau und den Kindern fallen. Wenig später hatten wir Jimmy. Er war das Produkt einer Kartäuserkatze und eines Straßenkaters, die in zwei türkischen Familien in Reinickendorf lebten. Das Jucken setzte sofort wieder ein. Auch die Atemnot. Ich besuchte verschiedene Ärzte. Hauttests, Bluttests. Sie fanden nichts. Zuletzt sah ich einen Lungenarzt in Kreuzberg.

»Sie habe das Lungenvolumen eines Athleten«, sagte der Arzt.

Ich wackelte stolz mit dem Kopf, aber das Jucken blieb. Ich versiegelte mein Arbeitszimmer wie einen Bunker und rechnete jeden Tag damit, Blut zu husten. Ich röchelte und kratze mich. Meine Familie dachte darüber nach, mich loszuwerden. Denn der Kater, das war klar, blieb.

Die Symptome verschwanden erst, als wir mit Jimmy nach Tel Aviv zogen. Es war ein neues Leben. Er verdrängte hier keine Erinnerungen. Das wäre eine Erklärung. Vielleicht war auch einfach zu viel los in Israel. Die Toten in Gaza. Ivanka Trump und Jared Kushner. Die Kampfhubschrauber, die mich in den Schlaf sangen. Die schusssicheren Westen im Kofferraum meines Autos. Der Stacheldraht, die Mauern, der Staub. Jedenfalls hörte das Jucken auf, und ich konnte wieder atmen.

Hatte der Nahostkonflikt meine deutsche Katzenallergie besiegt? Und wenn ja, war das ein Kolumnenthema?

Leider kann man im größten Nachrichtenmagazin Europas nicht so oft über seine Katze schreiben, wie man möchte, auch wenn sie einem mehr am Herzen liegt als Mario Gomez, Christian Lindner oder Palästinenserführer Mahmud Abbas.

Drei Tage später sah ich mit meiner Frau auf unserem Fernseher in Jaffa, wie Deutschland gegen Südkorea aus dem Turnier flog. Ich hatte keine Todessehnsucht mehr. Meine Kollegen verknüpften in einer großen SPIEGEL-Geschichte die Krise des deutschen Fußballs mit der der deutschen Politik und der des deutschen Autos. Deutschland ging den Bach runter. Okay. Ich kraulte meinem Kater den Kopf. Die Nachbarn kamen mit einer Flasche Weißwein. Er ist Israeli, sie Holländerin. Beide hatten kein Team in Russland. Jetzt waren wir alle frei.

Darf man mit einer Holländerin anstoßen, wenn Deutschland aus dem Turnier fliegt? In der Vorrunde? Das ist eine Frage deutscher Leitkultur, die mich weit mehr beschäftigt als der Zusammenhang zwischen deutscher Politik, deutschen Autos und deutschem Fußball.

Darf man um seine Katze trauern, wenn Deutschland Weltmeister wird? Darf man als Nachfahre von Nazideutschland in einem Meer baden, über das israelische Kampfhubschrauber Richtung Gaza fliegen? Oder muss man sogar ins Wasser? Wie erklärt man einem betrunkenen Russen in der Moskauer Metro, dass der Krieg vorbei ist? Darf man als deutscher Gast einer brasilianischen Mietwagenverleiherin diktieren, wie man eine reibungslose Weltmeisterschaft organisiert? Soll man als Reporter bei einer Pegida-Demonstration eine Presseweste tragen, um nicht als Anhänger mitgezählt zu werden? Was zieht man an, wenn man eine AfD-Veranstaltung besucht? Ist nicht das Allerschlimmste an Trump, dass man jetzt mit ihm verglichen werden kann? Von der eigenen Frau? Darf man sich als Urenkel eines Zarenopfers von Roman Abramowitschs Friseur die Haare schneiden lassen? Was macht man mit der halb vollen Hotelbadewanne in Gaza City, die man sich eingelassen hat, weil man vergessen hat, dass dort draußen Wasserknappheit herrscht? Darf man die Bundeskanzlerin am Ende eines Interviews fragen, ob sie einem eine Geburtstagskarte für seine Frau unterschreibt?

Ist es ein Zufall, dass mein Vater starb, während ich auf der Beerdigung von Helmut Kohl war?

All das sind Fragen, die ich mir stelle. Pausenlos. Ich weiß nicht, ob sie irgendetwas mit Leitkultur zu tun haben. Ich weiß nicht mal, was das eigentlich sein soll und ob es sowas gibt.

Mein Verleger hat mir bei meinem letzten Berlin-Besuch ein dickes Nachschlagewerk mit auf den Weg gegeben, weil er, glaube ich, das theoretische Fundament dieses Buches stärken wollte. Er ist ein ernsthafter Mann mit einem ernsthaften Verlagsprogramm. Das Buch heißt: »Wertedebatte. Von Leitkultur bis kulturelle Integration«. Es hat 550 Seiten, und ich hatte nur eine kleine Reisetasche dabei. Es war ein Kurzbesuch. Ich habe einen Augenblick darüber nachgedacht, es im Hotelzimmer liegen zu lassen. Wieder so eine Frage: Darf man ein Buch zur deutschen Leitkultur in einem Berliner Hotelzimmer zurücklassen, um mit leichterem Gepäck nach Israel reisen zu können?

Ich sah aus meinem Hotelfenster auf die Disney World der Oranienburger Straße, wo schwitzende Berlin-Touristen in einem indischen Restaurant saßen, das aussah wie ein Fahrgeschäft auf dem Weihnachtsmarkt, und dachte: Nein!

Das Buch liegt jetzt auf meinem Schreibtisch in Tel Aviv wie ein Stück Deutschland. Eine Kuckucksuhr. Eine Lederhose. Ein Mauerteil. Ein Dresdner Stollen.

Ich lese immer wieder mal drin. Nicht zu viel. Manche Autoren sagen dies, andere jenes. Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des deutschen Kulturrates, schreibt: »Eine Kultur, die sich behaupten will, muss beschreiben, was sie ausmacht.« Claudia Roth von den Grünen sagt: »Wir brauchen keine Leitkultur, sondern eine Kultur der wechselseitigen Anerkennung.« Am besten gefällt mir die Perspektive des Historikers Michael Wolffsohn, der – wenn ich ihn richtig verstehe – sagt: Jeder Mensch ist verschieden. Das deckt sich mit meinen Erfahrungen. Am lustigsten, wenn auch eher unfreiwillig komisch, fand ich den Beitrag vom ehemaligen Innenminister Thomas de Maizière. Der strampelt ein wenig herum, erwähnt den deutschen Schwimmunterricht für junge Muslime, interpretiert ein Gemälde von Gerhard Richter und erklärt die Rolle der italienischen Oper in Europa, bevor er den Satz sagt: Goethe wirkt auf Deutsch letztlich anders als auf Koreanisch.

Mehr, finde ich, muss man zur Leitkultur nicht wissen.

Dabei fällt mir ein, dass ich als sehr junger Mensch im Sommer 1989 in Pjöngjang eine synchronisierte Episode der ostdeutschen Krimiserie »Polizeiruf 110« im nordkoreanischen Fernsehen sah. Oberleutnant Fuchs, unser bekanntester Kommissar, sprach koreanisch. Er wirkte wie ein anderer Mensch. Sanfter. Weiser. Geheimnisvoller.

Aber darf man Oberleutnant Fuchs mit Johann Wolfgang von Goethe vergleichen? Die deutsche Volkspolizei mit der deutschen Romantik?

Ich glaube, darum geht es.

Guten Tag

Die ersten Gebote, die ich befolgen musste, standen in einem kleinen Beichtheft, das mir im Religionsunterricht der St. Josef-Gemeinde in Berlin-Weißensee ausgehändigt wurde. Es waren kindliche Gebote. Einem zehnjährigen Jungen aufzutragen, nicht zu töten und nicht die Frau des Nachbarn zu begehren, klingt selbst bei der Katholischen Kirche seltsam. Deswegen hießen meine Gebote: Du sollst deine Eltern nicht anlügen. Du sollst deine Geschwister nicht ärgern. Du sollst nicht naschen. Du sollst keine Tiere quälen. Später kamen alle möglichen anderen Gebote dazu. Von Gott, Marx, der Nationalen Volksarmee und von Günter Mittag, der sich die zehn Punkte der ökonomischen Strategie des Sozialismus ausdachte. Wir sollten unter anderem die Vorzüge des Sozialismus mit den Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution verbinden. Das war genauso schwer zu verstehen wie das erste Gebot Gottes. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Welche anderen Götter?, fragte ich mich als Kind. Und später: Welche Errungenschaften des Sozialismus?

Als Deutscher habe ich Erfahrungen mit Geboten. Vor ein paar Tagen kamen neue dazu. Innenminister Thomas de Maizière hat seine Gebote zur deutschen Leitkultur veröffentlicht. Die ersten lauten: Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns die Hand.

Wirklich?

Ich steige am Berliner Hauptbahnhof ins Taxi, sage: »Guten Tag«, der Fahrer mustert mich im Rückspiegel, wartet.

»Leider nur ’ne kurze Fahrt«, sage ich.

»Schönen Schrank och«, sagt der Fahrer. »Dafür ha’ ick jetzt ’ne Stunde jewartet oder wat.« Vor einigen Jahren hat mich ein Berliner Taxifahrer nach einem anstrengenden transatlantischen Nachtflug mal mit drei Worten begrüßt, als ich meine Reisetasche auf seinen Rücksitz stellte. »Nee. Nee. Nee.« Die nächsten sechs Worte waren: »Dafür is der Koffaraum da, Scheff.«

Die freundlichste Begrüßung der Taxifahrer in Hamburg, wo ich aus irgendeinem Grund immer nur Kurzfahrten antrete, geht so: »Ich bin ja verpflichtet, Sie zu fahren. Muss ich ja.«

Ich bin schon bei strömendem Regen durch Hamburg gelaufen. Das kurze Stück. Nur um diesen Gesprächen aus dem Weg zu gehen.

Geben wir uns die Hand?

Ich habe vor einem Abendessen im Südirak mal einer Frau meine Hand hingestreckt. Die Frau starrte auf meine Hand wie auf eine Waffe. Ich mag diese ganzen Begrüßungsregeln nicht. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich aus einem Land komme, wo schon bei der Begrüßung klargemacht wurde: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Als ich klein war, wurde den Jungpionieren auf den Schulhöfen beim Morgenappell zugerufen: Seid bereit!

Immer bereit!, riefen die Jungpioniere zurück.

Ich war kein Jungpionier, aber ich war bereit. Ich hätte gern mitgeschrien. Später bin ich dann in alle möglichen Organisationen eingetreten, aber die gemeinsame Rumbrüllerei hat mich nicht erlöst. Wenn alle das Gleiche machen, fühle ich mich, als waren die Body Snatcher da.

Wir sagen: Mahlzeit. Wir sagen: Muss ja. Wir sagen: Tach. Wir sagen: Dann woll’n wa mal. Wir sagen: Gib der Tante die Hand.

Wir geben Küsschen. Einmal in Amerika, zweimal in Deutschland, dreimal in Frankreich, mindestens, wenn das denn stimmt. Ich kann nicht mehr. Ich falle Leuten um den Hals, um der Küsserei zu entgehen. Ich ersticke jegliche nationale Besonderheit in einer Umarmung. Der Bear Hug. Das ist meine Methode. Es gibt Ausnahmen. Neulich bei der Theaterpremiere habe ich die Bühnenbildnerin zur Begrüßung geküsst, weil ich sie gut kenne, weil ihr Bühnenbild großartig war und weil sie ein Kussgesicht hat. Wahrscheinlich begebe ich mich mit so einer Äußerung in die Nähe des FDP-Mannes Brüderle, aber ich weiß nicht, wie ich das anders sagen soll. Man kann sich verschätzen, aber man sollte seinen Gefühlen trauen, nicht den Befehlen seines Innenministers.

Vor ein paar Tagen hat mir mein Weinhändler gestanden, dass er eine Frau aus dem Laden geworfen habe, die ihn, ohne Begrüßung, beschimpft hätte. Sie betrat den Laden, studierte die Weinpreise und rief: Dit krieg ick uff’m Weinjut allet viel billjer. Der Weinhändler, der aus Süddeutschland stammt, imitierte eine Berlinerin. Eine Ostberlinerin, denke ich. Ich könnte mir vorstellen, dass die Frau grundsätzlich die Nase voll hatte. Von Prenzlauer Berger Broten, die 4,50 Euro kosten, von Kaffees, die sie nicht aussprechen und auch nicht bezahlen kann, von all den Therapeuten, die Krankheiten heilen, die sie nicht kennt, und Läden, die Kinderjacken verkaufen, die so teuer sind wie ihr Hochzeitskleid damals war. Von ihrer Heimat, die sie sich nicht mehr leisten kann, weil Leute wie er sie erobert haben. Er ist ein guter Weinhändler, soweit ich das einschätzen kann. Er gehört zu meinem Leben. Reden ist sein Geschäft. Er braucht die Freundlichkeit, die Geschichte, das Du, das Beispiel. Das kleine Weingut, die jungen Winzer, bei denen er neulich zum Essen war. Er erträgt nörgelnde Kinder und Frauen, die alle Zeit der Welt haben, sich einen Wein erklären zu lassen, den sie dann nicht kaufen. Er hat auch Probleme, aber damit belästigt er uns nicht. Irgendwann war seine Geduld am Ende. Er schob die Frau aus dem Geschäft.

Wer in meinen Laden kommt, sagt »Guten Tag«, erklärte mir der Weinhändler.

Ich stand schweigend da, ein leichtes Nicken, das man auch als Kopfschütteln hätte deuten können. Tausend Seelen in meiner Brust.

Wir geben uns die Hand?

Ich glaube, es ist komplizierter.

Heidewitzka

Ich war neun oder zehn Jahre alt, als mir in der Aula der 30. Oberschule Berlin-Prenzlauer Berg mitgeteilt wurde, dass von nun an nicht mehr der Text der DDR-Nationalhymne gesungen werde. Eine Begründung dafür gab es nicht. Weil ich, neben meiner Klassenkameradin Annegret Teschner, der einzige Nichtpionier meiner Klasse war, dachte ich: Vielleicht haben sie es nur den anderen erklärt. Seitdem habe ich nie wieder eine Nationalhymne gesungen. Ich habe das im Alltag kaum vermisst, aber seltsam ist es schon.

Daran musste ich am letzten Wochenende denken, als es auf Hawaii zu einem weiteren deutschen Hymnenzwischenfall kam.

Unsere Tennisfrauen spielten im Fed-Cup gegen die USA. Ein Amerikaner sang das Deutschlandlied. Er fing von vorn an, mit der ersten Strophe. Man muss davon ausgehen, dass er mit der verwickelten Geschichte des Deutschlandliedes nicht vertraut war. Musik: Haydn, Text: Hoffmann von Fallersleben. Die Sozialdemokraten machten es in der Weimarer Republik zur Hymne aller Deutschen, später beschlossen die Nazis, allenfalls noch die erste Strophe zu singen – sie hatten inzwischen das Horst-Wessel-Lied. Nach dem Krieg gab es eine Weile nichts zu singen, aber als Bundeskanzler Adenauer beim Besuch in Chicago mit dem Karnevalslied »Heidewitzka, Herr Kapitän« empfangen wurde, beschloss er, zum Deutschlandlied zurückzukehren. Bei offiziellen Anlässen allerdings sollte nur mehr die dritte Strophe gesungen werden.

Der Amerikaner, der die Hymne auf Hawaii sang, begann mit »Deutschland, Deutschland über alles«, die Tennisfrauen schauten erst verlegen und sangen dann zusammen mit ein paar deutschen Schlachtenbummlern mit der dritten Strophe gegen die erste an. Der Amerikaner hielt gut dagegen. Er erinnerte mich an die Backgroundsängerin Cissy Houston, die unbeirrt weitersang, als Elvis Presley bei einem Auftritt in Las Vegas im Song »Are You Lonesome Tonight« einen Lachanfall bekam. Elvis konnte nicht mehr, er brach vor Lachen beinahe zusammen.

Die Deutschen auf Hawaii aber lachten nicht. Einer der Schlachtenbummler sah aus, als würde er gleich einen Krieg anfangen, die Spielerin Julia Görges weinte, und Andrea Petkovic sagte, das sei das Schlimmste, was ihr im Leben passiert sei. Petkovic ist als Baby aus Jugoslawien nach Deutschland gezogen, ihr Vater war ihr Trainer, sie hat mal das Halbfinale der French Open verloren, erstaunlich, dass ein amerikanischer Hymnensänger sie derartig umhaut.

Auf Hawaii! Amerika muss ja nicht nur Donald Trump ertragen, es hat auch Pearl Harbor überlebt.

Ich mag Andrea Petkovic. Sie nimmt ihren Sport ernst und hat ein gutes Lachen. Aber wenn ich sie sehe, denke ich manchmal: Relax. Ihre Niederlagenanalyse erinnert an ein orthodoxes Selbstbestrafungsritual. Marija Scharapowa kreischt, wenn sie den Ball schlägt, Andrea Petkovic brüllt: »Uffta«. Ich saß bei den US Open in New York mal direkt am Spielfeldrand und hab genau zugehört. Wirklich: Uffta. Weil sie ihr Abitur mit 1,2 gemacht hat, wird Andrea Petkovic von Journalisten gern als Intellektuelle behandelt. So wie einst der Trainer Rehhagel, den der »Stern« mit dem Thomas-Mann-Experten Walter Jens zum Gespräch bat. Da denkt man als Sportler schnell, man ist für den Weltfrieden verantwortlich oder steht im Visier eines durchgedrehten amerikanischen Präsidenten.

Aber das nur nebenbei, es liegt vor allem an der Hymne.

Wie soll man ein Gefühl zu einem Landeslied entwickeln, dessen erste Strophe man nicht singen darf? Da stimmt doch was nicht. Eine Hymne, die nacheinander durch die Hände von Ebert, Hitler und Adenauer gegangen ist? Eine Hymne, die die Ostdeutschen verordnet bekamen wie Lebertran? Diskuswerfer Christoph Harting, geboren in Cottbus, wurde angezeigt, weil er nach seinem Olympiasieg in Rio tanzte und pfiff, während das Lied der Deutschen gespielt wurde. Als die Deutschen bei der EM gegen Italien rausflogen, hieß es gleich: Es liegt daran, dass sie die Hymne nicht aus vollem Herzen mitsingen.

Das letzte Mal, dass ich eine große Menge aus ganzem Herzen die deutsche Hymne habe singen hören, war auf einer Pegida-Demonstration.