Die Autorin

Rona Jaffe wurde 1931 in Brooklyn geboren und blieb lebenslang eine New Yorkerin. 1958 erschien ihr Debütroman Das Beste von allem, der lange vor Sex and the City das Leben und die Liebesgeschichten von fünf Freundinnen in New York beschrieb. Rona Jaffe ist Gründerin der nach ihr benannten Stiftung, die jährlich einen Förderpreis an vielversprechende Nachwuchsautorinnen vergibt. Sie starb im Jahre 2005.
Von Rona Jaffe sind in unserem Hause außerdem erschienen:
Das Beste von allem
Diese wilden, wunderbaren Jahre

Das Buch

Radcliff, 1977, es ist das zwanzigste Klassentreffen der Abschlussklasse von 1957. Als Annabel, Chris, Emily und Daphne damals aufs College gingen, war die Welt für Frauen sehr eng. Wer gegen die rigiden Moralvorstellungen der Fünfziger verstieß, wurde mit Verachtung gestraft. Wie Annabel, die sich nahm, was sie wollte, auch sexuell, und dafür von fast allen anderen gemieden wurde. Nur Chris hielt zu ihr, die intellektuelle New Yorkerin mit der spitzesten Zunge des Colleges – und der unerfüllten Liebe zu Alexander. Irgendwann wurden sie doch ein Paar, doch etwas bewirkte, dass sie sich seiner nie sicher sein konnte. Emily, das hübsche jüdische Mädchen, wollte Ärztin werden. Stattdessen heiratete sie einen Medizinstudenten und bekam seine Kinder. Daphne war das »Golden Girl« der Klasse; sie heiratete den schönsten Studenten der benachbarten Harvard University und bekam mit ihm vier wunderschöne Jungs. Ihre Epilepsie hat sie ihrem Mann verschwiegen, so wie sie Jahre später auch nach außen über ihr fünftes Kind schweigen wird.
Beim Wiedersehen nach zwanzig Jahren wird so manches Geheimnis gelüftet und mehr als eine Entscheidung noch einmal überprüft. Kann es einen Neubeginn geben?

Rona Jaffe

Die Welt war so groß

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Margarete Längsfeld

Ullstein

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Dieses Buch erschien erstmals im Jahr 1981 unter dem Titel Die Schulfreundinnen. Ein Klassentreffen nach zwanzig Jahren im Rowohlt Verlag, Reinbek.

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage September 2018
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
© 1979 by The Rona Jaffe Foundation
All rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part in any form.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Class Reunion (Delacorte Press, New York)
Alle Rechte an der deutschen Übersetzung von Margarete Längsfeld
Copyright © by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Titelabbildung: bpk / © Hans Saebens (zwei Frauen); Gamma-Rapho via getty images / © Sam Thomas (Hintergrund)
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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-1781-1

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Widmung

Für Zeke

Prolog: 1977 – Zurück

Prolog

Tausende waren an diesem sonnigen Junitag gekommen, angelockt vom Zauber ihrer Vergangenheit; oder, wie einige, um die Zukunft zu feiern. Harvard Yard, sonst eine friedliche Enklave inmitten der geschäftigen Stadt Cambridge, war an diesem besonderen Vormittag überfüllt von einer Menschenmenge, die sich von den weißen Steinstufen der Widener-Bibliothek bis zur Kapelle hinzog und zu den schmiedeeisernen schwarzen Hoftoren hinausquoll. Die Gebäude und die mächtigen Laubbäume waren uralt; die Menschen gehörten allen Altersstufen an.

Sie waren hier zum Radcliffe-Treffen und zur Urkundenverleihung, die seit Kurzem von Harvard und Radcliffe gemeinsam veranstaltet wurde und die das erste Ereignis der dreitägigen Festlichkeiten bildete. Ehemalige Schülerinnen aus allen Jahrgängen waren gekommen, aus der Abschlussklasse von vor fünf Jahren bis zu der vor fünfundsiebzig Jahren, aus der sich eine einzige Frau eingefunden hatte. Auch Ehemänner und einige erwachsene Kinder waren anwesend, außerdem die Eltern der diesjährigen Abschlussklasse und natürlich die Abschlussklasse selbst in Barett und Robe. Sämtliche Klappstühle, die es in Cambridge zu leihen gab, waren auf Rasen und Gehwegen aufgestellt, doch es ließ sich bereits absehen, dass sie nicht reichten.

Die Ehemaligen sollten sich am Johnson-Tor sammeln, am Rande dieses Chaos ihren Jahrgang ausfindig machen, und dann sollten die Klassen, jede einzeln vom Zeremonienmeister von Harvard angekündigt, einmarschieren. Das konnte ein spektakuläres und bewegendes Schauspiel werden, im Augenblick allerdings gab es nur Krach und Durcheinander.

Für Annabel Jones war es die Zwanzigjahresfeier. Sie hatte nie vorher an einem Klassentreffen teilgenommen und war auf so viele Menschen nicht gefasst. Sie hatte die Stelle gefunden, an der sich ihr Jahrgang aufstellte, beäugte nun argwöhnisch die anderen Frauen und versuchte sich zu erinnern. Hatten die sich geändert oder waren sie immer noch so eingebildet? Sie dachte an die hasserfüllten und neugierigen Blicke, mit denen sie sie vor so langer Zeit verfolgt hatten. Würden sie sich jetzt freuen, sie zu sehen, alles vergeben und vergessen, oder waren sie immer noch so wie früher?

Damals war alles an Annabels Aussehen außergewöhnlich gewesen. Sie hatte goldschimmerndes kupferfarbenes Haar, wellig, weich, dicht; sie trug es schulterlang zu einer Zeit, als fast alle sich die Haare kurz schneiden ließen. Ihre Augen waren von einem kühlen Grün, unschuldig und leicht spöttisch. Sie hatte hohe Wangenknochen, die ihr einen vornehmen Ausdruck verliehen, und ein paar Sommersprossen, die sie wie ein Kind aussehen ließen. Sie war groß und schlank und hatte eine lachende Stimme mit dem gedehnten Klang des Südens. Sie war glücklich und geistreich, beliebt und reich. Diese Eigenschaften hätten ihr Bewunderung eintragen können; doch am Ende wurde sie von allen Mädchen gehasst.

Im vergangenen Winter war ein Fragebogen für die Jubiläumsschrift verschickt worden. Eine Frage lautete: »Haben sich die Erwartungen, die Sie nach Ihrem Radcliffe-Examen hatten, erfüllt?« Zwei Frauen hatten geantwortet: »Ich hatte keine Erwartungen.« Annabel war eine von ihnen. Sie hätte gern gewusst, wie die zweite das gemeint hatte. Ihre eigene Antwort war zugleich hoffnungsvoll und bitter. Nach ihrem Examen hatte sie erwartet, dass das Leben mit all seinen Überraschungen auf sie zukommen würde, wie es immer gewesen war, und sie war darauf vorbereitet. Aber es hatte auch Verletzungen gegeben. Keine Erwartungen … eine seltsame Haltung für eine Einundzwanzigjährige!

Sie fragte sich, wie viele von den Tausenden von Menschen hier heute liebevoll auf die Vergangenheit zurücksahen und sie für eine einfachere Zeit hielten. Annabel wusste es besser. Nichts an der Vergangenheit war einfach gewesen; die Leute dachten das nur, weil es damals Regeln gegeben hatte. »Es war die beste aller Zeiten, es war die schlechteste aller Zeiten.« Annabel war großzügig und nicht nachtragend, und sie hatte angenommen, die anderen wären auch so. Doch das stimmte nicht; sie waren kleinlich und erinnerten sich an alles, an die Lügen ebenso wie an die Wahrheit.

Sie wünschte, dass Max hier sein könnte. Sie hoffte, niemand würde so blöd sein und fragen: Was ist denn aus deinem Freund geworden? Aber wenigstens war Chris hier irgendwo. Sie hielt ständig nach Chris Ausschau, konnte sie aber nicht entdecken. Sobald Chris auftauchte, könnten sie die Köpfe zusammenstecken und lachen und boshafte Bemerkungen über alle Welt machen und sich amüsieren.

Niemand hatte Annabel gezwungen zu kommen. Sie hatte einfach der Herausforderung und der Neugier nicht widerstehen können. Sie wollte sehen, was aus all den Leuten geworden war, mit denen sie vier Jahre so nahe beieinander gelebt hatte, was sie mit ihrem Leben, ihren Träumen angestellt hatten. Es war, als lauerte die Vergangenheit im Schrank, um sie anzuspringen und ihr wehzutun, und sie wollte ihr mit gebleckten Zähnen und ausgestreckten Krallen entgegentreten und ihr ins Gesicht lachen.


Christine Spark English trat aus dem riesigen, unpersönlichen Currier House, wo sich dreihundert Ehemalige (einschließlich Ehemänner) versammelt hatten, und schlenderte durch den überfüllten Radcliffe Quad, um einen Blick in ihr altes Zimmer in Briggs Hall zu werfen, wo sie vor zwanzig Jahren gewohnt hatte. Damals war Radcliffe Quad eine kleine Anlage gewesen, inzwischen aber war so viel dazugebaut worden, dass Christine sie kaum wiedererkannte. Der Empfangsschalter im Currier House hatte ein Sicherheitsfenster, und überall waren Schlösser wie in einem Gefängnis. Wo die Mädchen früher ihre Fahrräder abgestellt hatten, parkten Autos. Christine hoffte, dass es die Wagen von Ehemaligen waren.

Annabel hatte sie für verrückt gehalten, weil sie während des Klassentreffens im Wohnheim schlafen wollte, statt mit ihr ins Ritz-Carlton-Hotel in Boston zu ziehen. Aber dass sie sich im Heim einquartierte und mit der Eisenbahn aus New York kam, statt zu fliegen, war der Anfang ihrer Reise zu sich selbst. Sie wollte zu ihren Collegejahren zurückkehren, um herauszufinden, wo alles begonnen hatte. Das College und Alexander … sie waren unentwirrbar miteinander verknüpft. Hier hatten vor über zwanzig Jahren das Mysterium und die Faszination ihren Anfang genommen und sie zeitlebens nicht mehr losgelassen.

Ihr altes Wohnheim Briggs Hall wirkte ermutigend vertraut von außen. Es war klein, aus roten Ziegeln, hatte eine steinerne Veranda davor, wo die Pärchen geschmust hatten, und immer noch die alten Fensterreihen, von wo aus ein paar Mädchen sie beobachteten. Sie machte keinen Rundgang durch das ganze Haus, weil sie die feierliche Urkundenverleihung nicht versäumen wollte, sondern ging gleich die Treppe hinauf. Auch hier war an jeder Tür ein Schloss, aber da die Studentinnen ausgezogen waren und ihre Zimmer ausgeräumt hatten, konnte sie hineingehen. Ihr altes Zimmer war kaum mehr als eine Zelle, die Wände in schmuddeligem Gelb-Weiß gestrichen, ein paar ramponierte Möbelstücke, die dem College gehörten. Sie hatte ihr Zimmer gern gemocht – es hatte zu ihrem klösterlichen Gemüt gepasst. Als sie daran dachte, wie unschuldig und unwissend sie in Radcliffe gewesen war, konnte sie es fast nicht glauben. Sie war ein verschrecktes kleines Mädchen gewesen, das sich am liebsten unsichtbar gemacht hätte.

Sie sah sich wieder vor sich, die alte Chris mit Mittelscheitel und glatten braunen Haaren, die manchmal mit zwei Klammern hinter den Ohren festgesteckt wurden, und mit der Hornbrille, die sie zum Lesen brauchte und fast nie abnahm. Die Collegekleidung von Peck & Peck wirkte wie eine strenge Schuluniform: schlichte, dunkle Strickjacken aus Shetland, weiße Baumwollblusen, Schottenröcke in gedämpften Farben, dazu Kniestrümpfe und flache Schuhe. Sie war überglücklich gewesen, denn Radcliffe bedeutete, dass sie fern von zu Hause leben konnte. Niemand würde etwas über ihr Zuhause erfahren, und sie würde frei sein.

Doch im letzten Moment, am Tag ihrer Befreiung, hatte das Schicksal sie eingeholt. Ihre Mutter, dieses Miststück, war am Bahnhof erschienen, um sich von ihr zu verabschieden, und erklärte, stockbesoffen wie gewöhnlich, lärmend sentimental aller Welt, dies sei ihre kleine Tochter und die gehe nun aufs College. Zwei andere Mädchen, die ebenfalls den Zug nach Boston nahmen und nach Radcliffe fuhren, hatten mitsamt ihren ehrwürdigen Eltern danebengestanden und Chris und ihre Mutter mit einem entsetzt wirkenden Ausdruck angestarrt. Sie hatte das Gefühl, sie müsste sterben vor Verlegenheit. Dann stellte sich heraus, dass eines der Mädchen, das gesehen hatte, wie sich ihre Mutter zum Narren machte, nicht nur im gleichen Wohnheim wie Chris, sondern auch noch im Nebenzimmer wohnte! Emily Applebaum, die hübsche Jüdin. Chris hatte solche Angst, Emily könnte etwas sagen, aber Emily verlor nie ein Wort darüber und erzählte auch sonst niemandem davon. Chris’ Beklemmungen gegenüber Emily verwandelten sich in Dankbarkeit. Emily würde nicht plaudern. Sie konnte so etwas wie eine betrunkene Mutter spielend verkraften. Erst Jahre später kam Chris auf den Gedanken, dass Emily vermutlich eigene Probleme hatte und die Mutter einer Fremden vollkommen egal war. Sie fragte sich, ob Emily auch käme. Sie hatte ein Gerücht gehört, dass Emily furchtbar in Schwierigkeiten steckte, aber das war lange her.

Sie steckte jetzt selbst in Schwierigkeiten. Sie verließ das Zimmer und ging den zugigen Flur entlang. Dies war erst der Anfang: Es gab noch mehr Orte aufzusuchen, Erinnerungen wachzurufen, all die kleinen Splitter und Bruchstücke des Mädchens, das sich in Alexander verliebt hatte. Alles musste sich ändern. Vielleicht würde sie dadurch, dass sie wegen des Klassentreffens hierher zurückkam und ihre Vergangenheit noch einmal durchlebte, Einsichten für ihre weiteren Schritte bekommen. Sie konnte die Entscheidung nicht länger aufschieben. Hastig verließ sie Briggs Hall und machte sich auf den langen Weg zum Harvard Yard.


Nervös überprüfte Emily Applebaum Buchman im Spiegel ihrer Puderdose, wie sie aussah, während das Taxi durch die überfüllten Straßen ruckelte. Sie würde alle die Mädchen sehen, die sie seit zwanzig Jahren nicht gesehen hatte, alle die Mädchen, die ihr Angst und Ehrfurcht eingeflößt hatten, und sie sollten finden, dass sie jung und attraktiv aussah. Oder wenigstens, bitte, lieber Gott, nicht schlechter als sie! Auf dem College war sie hübsch gewesen, klein und zart, mit dunklen Haaren und grauen Augen und einer Haut wie Porzellan. Sie besaß mehr Kaschmirpullover als irgendein anderes Mädchen im Wohnheim und so viele Kleider, dass sie noch einen Faltschrank in ihrem Zimmer aufstellen musste. Aber das hatte ihr auch nicht mehr Selbstvertrauen verschafft. Sie wollte wie die anderen sein, aber die anderen wussten Dinge, die Emily niemals wissen konnte, weil sie in anderen Verhältnissen gelebt hatten.

Sie wusste noch genau, was es bedeutete, in den Fünfzigerjahren in Radcliffe Jüdin zu sein, aufgenommen aufgrund bestimmter Zulassungsquoten; als Minderheit, ein fremdartiges Tier, wie es manche Mädchen in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen hatten. Für sie war Emily so merkwürdig, dass einige nicht einmal wussten, dass sie Jüdin war und verletzende Dinge sagten. Das war alles so lange her, doch jetzt wurde sie wieder nervös. Sie hatten ihr das Gefühl gegeben, sie müsste sich schämen, Jüdin zu sein. Dabei wollte sie so gern dazugehören.

Am meisten Angst hatte ihr Daphne Leeds gemacht, diese Debütantin aus feinsten Kreisen der Gojim, die immer heiße Kartoffeln im Mund zu haben schien und es fertigbrachte, gleichzeitig athletisch und weiblich zu sein, das schönste Mädchen im ganzen Wohnheim. Eine Menge Leute hielten Annabel Jones für die schönste, doch für Emily war es Daphne. Daphne hatte glatte, blonde, an den Spitzen nach innen gerollte Haare und schräge kornblumenblaue Augen. Ihre Augen waren so blau, dass man sie als Erstes wahrnahm, wenn sie auf einen zukam, und das lag nur an dieser unglaublichen Farbe. Und Daphne war groß. Emily fand es abscheulich, petite zu sein, denn das war nur eine beschönigende Umschreibung dafür, dass man bei Verabredungen immer die zu kurz geratenen Jünglinge am Hals hatte.

Inzwischen war es nicht mehr besonders wichtig, wie groß ein Mann war, genauso wie es inzwischen wundervoll war, jüdisch zu sein, und sie konnte sich gar nichts anderes vorstellen, aber in den Fünfzigerjahren … außerdem war sie neureich gewesen, Daphne und Annabel dagegen stammten aus altem Geldadel. Das war eine Kluft, die Emilys Eltern nicht verstehen konnten, doch Emily verstand sie. Daphnes Kamelhaarmantel, das war’s. Wie sehnsüchtig hatte sich Emily einen Kamelhaarmantel wie Daphnes gewünscht – dezent, elegant, genau das Richtige fürs College. Aber Emilys Mutter wollte nicht, dass sie einen Stoffmantel trug. Es war zu kalt in Cambridge, fand ihre Mutter, also kaufte sie Emily einen grauen Bisammantel und erklärte ihr, sie könne froh sein, dass sie ihn habe. Emily mochte nicht, wenn die Jungen während des Unterrichts auf ihren Pelzmantel starrten und die Mädchen fragten, was für ein Pelz das war. Sie wünschte sich einen Kamelhaarmantel, der beim Gehen locker hinter ihr herschwang, und glatte, blonde Haare, die auch schwangen. Sie wollte sein wie Daphne.

Sie war neugierig, ob Daphne zum Klassentreffen kommen würde. Ob sie noch so schön war? Waren ihre Haare blond oder grau? Ob sie immer noch mit heißen Kartoffeln im Mund sprach? So zu reden war heutzutage ein Witz; die WASPs waren plötzlich eine Minderheit. Alle Minderheiten wurden in den Siebzigerjahren Mehrheiten. Ob Daphne sich noch an sie erinnerte? Ob sie sie überhaupt erkannte? Emily wusste, sie würde Daphne erkennen. Dieses Golden Girl würde sie nie vergessen, dieses von allen im Wohnheim bewunderte Mädchen. Oh … es war albern, Angst zu haben. Sie waren jetzt erwachsene Frauen. Doch Emily konnte nicht dagegen an.

Das Taxi hielt auf dem Harvard Square. Wie grässlich es hier aussah, all diese neuen Läden und Restaurants und das ganze Menschengewimmel. Es sah aus wie am Broadway/Ecke 42th Street und gar nicht mehr wie die nette Collegestadt, die sie in Erinnerung hatte. Fehlte nur noch ein Pornoladen.

»Ich komme nicht näher ran«, sagte der Fahrer. »Sie müssen zu Fuß weiter.«

Emily zahlte und stieg aus. Da war das Tor, der schmiedeeiserne schwarze Eingang in ihre Vergangenheit, und sie hatte noch nie im Leben so viele Menschen auf einmal gesehen. Wie sollte sie ihren Jahrgang bloß finden? Wie sollte man hier überhaupt jemanden finden? Was für ein Krach! Sie presste die Fäuste zusammen. Ihr Herz hämmerte. Dieser Ausflug zu ihrem zwanzigjährigen Abschlussjubiläum war die erste Reise in ihrem Leben, die sie allein unternahm, und sie wollte sie genießen, koste es, was es wolle.


Daphne Leeds Caldwell stellte sich zu ihrem Jahrgang, zündete eine Zigarette an und hielt Ausschau nach Bekannten. Es war ein irrsinniger Anblick; so viele Menschen hatten sich hier wegen einer Radcliffe-Feier versammelt; das gab einem so ein überwältigendes Gefühl von Kontinuität. Zum Beispiel diese kleinen alten Damen, die schon Examen gemacht hatten, als sie noch gar nicht geboren war! Damals hatte bestimmt eine Menge Mumm dazugehört, aufs College zu gehen. Sie war gerührt, und einen Moment lang füllten ihre Augen sich mit Tränen. Sie hatte eine Menge Courage gebraucht, um mit ihrem einsamen Geheimnis durch das College zu gehen, und sie hatte vier Jahre lang in der Furcht gelebt, dass es ans Licht käme. Sie war stolz auf ihr Examen gewesen, und jetzt war sie noch stolzer, denn sie war ein Teil einer unermesslichen Tradition. Sie, Daphne, war etwas Besonderes. Niemand hatte erkannt, was das Besondere an ihr war – sie hatten sie immer nur oberflächlich wahrgenommen, und sie hatte sie an der Nase herumgeführt.

Alle in Radcliffe hielten sie für vollkommen, das Golden Girl. Sie nannten sie sogar so; alle waren damals so romantisch. Golden Girl. Scheißdreck. Und sie, in ihrem Bedürfnis, so zu scheinen, hatte sie darin bestärkt. In den Fünfzigerjahren wollten alle vollkommen sein. Das Leben war eine genetische Auktion; angel dir den tollsten Mann, krieg so schnell wie möglich strahlende, gesunde Kinder, bring ihnen bei, in deine Fußstapfen zu treten. Kein Platz für Leute mit einem Makel. Die galten als Sonderlinge – Parias. Die Leute hatten Angst vor Dingen, die sie nicht verstanden.

Irgendwo in der Mitte des Hofs versuchten die Ehemänner Plätze zu ergattern, damit sie der Zeremonie folgen konnten. Richard war nicht dabei, er hatte sich auf seine eigene sentimentale Reise begeben und gesagt, er würde sie später beim Picknick treffen. Daphne fragte sich, wie um alles in der Welt sie ihn in diesem Trubel finden sollte. Sie dachte, wie anders ihr Leben hätte sein können, wenn sie genug Vertrauen zu ihm gehabt und ihn schon vor Jahren über sich aufgeklärt hätte. Doch bald würde alles in Ordnung sein. Sie hatte ihr Geheimnis nach Radcliffe mitgebracht und es wieder mitgenommen, und nun war sie zwanzig Jahre später zurückgekehrt, um es endlich preiszugeben.

Da drüben bei dem Baum erspähte sie einen bekannten Kopf mit kastanienbraunen Haaren. Annabel Jones … die würde sie überall wiedererkennen. Aber sie ging Annabel nicht begrüßen. Die Vergangenheit war zu plötzlich und zu lebhaft über sie hereingebrochen. Sie fragte sich, warum Annabel wohl zurückgekommen war.

Eine kleine dunkelhaarige Frau kam auf sie zugeeilt. »Du bist Daphne! Ich bin Emily! Emily Applebaum, erinnerst du dich? Du siehst genauso aus wie früher. Ich habe dich sofort wiedererkannt.«

»Wie nett, vielen Dank«, sagte Daphne. Sie lächelte. »Du hast dich auch nicht verändert.« Das war gewissermaßen eine Lüge, denn sie konnte sich so gut wie gar nicht an Emily Applebaum erinnern.

Erster Teil: Die Fünfzigerjahre – Feste Regeln