Cover

 

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Für Bill

ISBN 978-3-8270-7959-6
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2018
Covergestaltung: zero-media.net, München nach dem
Entwurf von Alison Forner
Covermotiv: Getty Images/teobraga; Getty Images/nicoolay
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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INHALT

Einleitung

Hippies

Lebenslinien

Lassen wir’s krachen

Beifang

Ausreißer

Kleines Land

Vermarktbare Fähigkeiten

Fliehkraft

Koda

 

DRITTER FISCHER

Meister, wie können doch nur die Fische in der See leben?

ERSTER FISCHER. Nun! Eben so, wie die Menschen zu Lande; die Großen fressen die Kleinen. Unsre reichen Geizhälse kann ich mit nichts so gut, als mit einem Walfische vergleichen; der spielt und bäumt, und treibt die armen kleinen Fische vor sich her, bis er sie zuletzt all’ mit einem Schluck hinunterschlingt. Solche Walfische soll es auch auf dem Lande geben, die solange das Maul aufsperren, bis sie das ganze Kirchsprengel, Kirche, Glockenturm, Glocken und alles hinuntergeschluckt haben.

Shakespeare, Perikles
(in der Übersetzung von Ludwig Tieck)

… es war sehr sonderbar, der unerkannte Ursprung dieser öffentlichen Attraktion zu sein und im Graupelregen zu stehen – man kam sich vor wie ein Phantom.

Saul Bellow, Humboldts Vermächtnis
(in der Übersetzung von Eike Schönfeld)

 

Drei Monate vor seinem Tod begann ich, Sachen aus dem Haus meines Vaters zu stehlen. Ich lief barfuß umher und ließ Gegenstände in meinen Taschen verschwinden. Rouge, Zahnpasta, zwei leicht angestoßene, seladonblaue Fingerschalen, eine Flasche Nagellack, ein Paar abgetragene lederne Ballettschläppchen und vier vergilbte Kissenhüllen von der Farbe alter Zähne.

Nach jedem Diebstahl war etwas in mir gestillt. Ich versprach mir, dass es das letzte Mal gewesen sei. Doch der Drang, mir noch etwas zu nehmen, kam immer wieder wie Durst.

Auf Zehenspitzen ging ich ins Zimmer meines Vaters. Ich achtete darauf, an der Schwelle einen großen Schritt zu machen, um nicht auf die knarrende Diele zu treten. Als er noch Treppen steigen konnte, war dies sein Arbeitszimmer gewesen, jetzt stand hier sein Bett. Der Raum war vollgestopft mit Büchern, Briefen und Arzneimittelflaschen; Äpfeln aus Glas, Äpfeln aus Holz; Preisen, Zeitschriften, stapelweise Papier; gerahmten Drucken von Hasui, Zwielicht und Sonnenuntergänge an Tempeln. Auf die Wand neben ihm fiel ein Streifen rosa Licht.

Er trug Shorts und saß, an Kissen gelehnt, im Bett. Die Beine, nackt und so dünn wie Arme, waren angewinkelt wie die eines Grashüpfers.

»Hi, Lis«, sagte er.

Neben ihm stand Segyu Rinpoche. Er war in letzter Zeit oft da, wenn ich zu Besuch kam. Rinpoche, ein kleiner Brasilianer mit funkelnden braunen Augen und einer kratzigen Stimme, war ein buddhistischer Mönch mit brauner Kutte über dem runden Bauch. Wir nannten ihn bei seinem Titel. Tibetanische Heilige wurden heutzutage manchmal im Westen geboren, zum Beispiel in Brasilien. Mir kam er nicht sehr heilig vor – er war weder entrückt noch undurchschaubar. Neben uns summte ein schwarzer, leinener Nährstoffbeutel mit Motor und Pumpe; der Schlauch verschwand irgendwo unter der Bettwäsche meines Vaters.

»Es ist gut, seine Füße zu berühren«, sagte Rinpoche und legte die Hände um einen Fuß meines Vaters auf dem Bett. »So.«

Ich wusste nicht, ob das Füßeberühren für meinen Vater oder für mich gedacht war oder für uns beide.

»Okay«, sagte ich. Ich nahm den anderen Fuß in seiner dicken Socke, auch wenn das komisch war, und beobachtete ihn, denn wenn er vor Schmerz oder Wut das Gesicht verzog, sah es so ähnlich aus, wie wenn er anfing zu lächeln.

»Das ist schön«, sagte mein Vater und schloss die Augen. Ich schielte auf die Kommode neben ihm und zu den Regalen auf der anderen Seite des Zimmers, falls es dort etwas gab, das ich haben wollte, dabei wusste ich, dass ich es nicht wagen würde, in seiner Gegenwart zu stehlen.

Während er schlief, streifte ich durchs Haus – was ich suchte, war mir selbst nicht klar. Im Wohnzimmer saß eine Krankenschwester; die Hände im Schoß, horchte sie darauf, dass mein Vater nach ihr rief. Es war still im Haus, die Geräusche gedämpft, die weiß gestrichenen Backsteinwände knittrig wie Kissen. Der Terrakottaboden fühlte sich kühl unter meinen Füßen an, außer dort, wo die Sonne ihn auf Hauttemperatur erwärmt hatte.

Im kleinen Bad neben der Küche, in dem Schränkchen, wo früher immer ein zerfleddertes Exemplar der Bhagavadgita gestanden hatte, fand ich eine Flasche teures Rosengesichtsspray. Bei geschlossener Tür setzte ich mich, ohne das Licht einzuschalten, auf die Klobrille, sprühte in die Luft und machte die Augen zu. Das Spray nieselte auf mich herab, kühl und heilig, wie im Wald oder in einer alten Steinkirche.

Außerdem lag dort noch ein silberner Lipglossstift, der oben eine kleine Bürste und unten einen Drehmechanismus hatte, mit dem man die Flüssigkeit in die Bürstenmitte schieben konnte. Den musste ich haben. Ich steckte ihn ein, um ihn mit in die Einzimmerwohnung in Greenwich Village zu nehmen, wo ich mit meinem Freund zusammenlebte, denn mir war so klar, wie mir je irgendetwas klar gewesen war, dass dieser Lipgloss mein Leben vervollständigen würde. Weil ich der Haushälterin, meinem Bruder, meinen Schwestern und meiner Stiefmutter im Haus aus dem Weg gehen musste, um nicht beim Klauen erwischt zu werden, aber auch, weil es wehtat, wenn sie mich nicht wahrnahmen oder mein Hallo nicht erwiderten, und ich mich stattdessen auf der dunklen Toilette einsprühte, damit das Gefühl nachließ, dass ich nach und nach verschwand – denn in dem herabnieselnden Spray spürte ich wieder so etwas wie meine Konturen –, empfand ich es allmählich als anstrengend, ja lästig, meinen kranken Vater in seinem Zimmer zu besuchen.

Im zurückliegenden Jahr war ich etwa alle zwei Monate übers Wochenende bei ihm gewesen.

Die Hoffnung auf eine große Versöhnung, wie im Film, hatte ich aufgegeben, aber ich kam trotzdem immer wieder.

Zwischen den Besuchen sah ich meinen Vater überall in New York. Ich sah ihn im Kino sitzen, genau die gleiche Linie von Hals, Kiefer, Wangenknochen. Ich sah ihn, wenn ich im Winter am Hudson entlanglief, auf einer Bank sitzen und die Boote auf dem Dock betrachten, sah ihn auf dem Weg zur Arbeit in der Subway oder auf dem Bahnsteig, wenn ich durch das Gedränge davonging. Dünne Männer mit olivenfarbener Haut, feinen Fingern, schmalen Handgelenken, Stoppelbart, die aus bestimmten Blickwinkeln genauso aussahen wie er. Jedes Mal musste ich dann genauer hinschauen, und das Herz schlug mir bis zum Hals, obwohl ich wusste, dass er es unmöglich sein konnte, weil er ja in Kalifornien krank im Bett lag.

Davor, in den Jahren, als wir kaum miteinander redeten, hatte ich überall sein Foto gesehen. Es gab mir einen seltsamen Kick. Das Gefühl war so ähnlich, wie wenn ich mich in einem Spiegel auf der anderen Seite eines Raums entdeckte und dachte, es sei jemand anderes, bis ich merkte, dass es mein eigenes Gesicht war: Da war er, schaute aus Zeitschriften und Zeitungen und Bildschirmen heraus, egal, in welcher Stadt ich war. Das ist mein Vater, und niemand weiß es, aber es ist wahr.

Bevor ich mich verabschiedete, ging ich noch einmal auf die Toilette, um mich einzusprühen. Das Spray war naturbelassen, was zur Folge hatte, dass es binnen weniger Minuten nicht mehr scharf nach Rosen roch, sondern faulig und übel wie ein Sumpf, aber das wusste ich da noch nicht.

Als ich in sein Zimmer kam, wollte er gerade aufstehen. Ich sah zu, wie er mit einem Arm beide Beine umfasste, sich um neunzig Grad herumdrehte, indem er sich mit dem anderen Arm vom Kopfende abstieß, und dann mit beiden Armen die eigenen Beine über den Bettrand und auf den Boden drückte. Als wir uns umarmten, spürte ich seine Wirbel, seine Rippen. Er roch muffig, nach Medizinschweiß.

»Ich komme bald wieder«, sagte ich.

Wir ließen uns los, und ich ging zur Tür.

»Lis?«

»Ja?«

»Du riechst nach Klo.«