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© Karen-Susan Fessel

© für die deutschsprachige Ausgabe Querverlag, 2018

Überarbeitete Neuausgabe September 2018

Die Originalausgabe erschein 2013, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale.

ISBN 978-3-89656-270-8

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Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

www.querverlag.de

Vorgelegt

* * *

Auszug Aussage Justin Berger, 15 Jahre alt, Schüler

(…) Nee, ich hab nix gesehen. Also nix Richtiges. Ich war ja auch viel zu weit weg.

Da konnte ich gar nix sehen.

Die anderen sagten, du hättest dicht daneben gestanden.

Ich? Nee. Also … also, ich hab schon da irgendwo gestanden, neben meinen Kumpels. Robert und Azad und äh … und … Na egal, die beiden eben und ich und dann noch hinten die Mädchen, Tuana und Sanne. Aber die waren weiter hinten.

War noch jemand dabei?

… Nee. Weiß nicht. Hinterher kam dann noch Pick … Pascal und die Schwester von Anders, die auch. Aber sonst, weiß ich nicht mehr. Mensch, ich hatte auch schon was intus, oder? (…) Niklas? Ach ja, stimmt, der war auch dabei, ja klar. Aber sonst, weiß ich jetzt nicht.

Und was ist dann passiert?

Nee, und dann haben wir halt alle so rumgemacht und gequatscht und Anders, der ist dann einfach aufs Geländer. Einfach hoch und dann stand der da rum. Ich hab noch gerufen, Mann, pass auf, ist doch gefährlich! Oder so, aber da war das dann schon zu spät. Da ist er dann nach hinten gefallen. Ausgerutscht oder so. Also, dass ihn einer gestoßen hat oder so, das hab ich nicht gesehen. Ich hab dann gleich den Krankenwagen gerufen. Kam auch ziemlich schnell. Und die haben dann ja auch Sanne und seine Schwester mitgenommen, die waren ja auch voll unter Schock.

Wie war die Stimmung vorher?

Na, gut. War gute Stimmung. Locker, so wie man halt so drauf ist, wenn man abends länger feiert und so. Kein Stück aggressiv oder so, also nicht dass ich wüsste.

War eigentlich eine gute Party. Nichts Besonderes eigentlich. Alles voll okay. Bis auf die Sache dann.

War halt ein Unfall. So seh ich das jedenfalls.

* * *

Auszug Aussage Pascal Wisniewski, 16 Jahre alt, Schüler

(…) Ich kann dazu nicht viel sagen. Also, wie es eigentlich dazu gekommen ist. Wir waren zwar alle auf dem Fest, aber dann hab ich die anderen weggehen sehen und bin dann … also ich bin mit Signe, das ist Anders’ große Schwester, dann dazugekommen. Signe, die hatte gesehen, wie Anders einen Zettel bekommen hatte und losgegangen ist, und da war sie besorgt, und da sind wir halt hinterher. Und als wir ankamen, da ist Anders gerade aufs Geländer rauf. Ja, die anderen standen um ihn rum, die aus unserer Klasse, also Robert und Azad und Justin und Tuana und Sanne waren auch noch da … und noch einer, ein Kumpel von Azad, glaube ich. Und ich meine, Niklas, aber das könnte ich jetzt nicht beschwören. Vielleicht auch noch mehr Leute. Jedenfalls ist Anders gerade aufs Geländer rauf, und dann gab es so eine Art Aufruhr, ich denke, sie hatten sich irgendwie gerade gestritten.

Weißt du, worüber?

Nee, keine Ahnung. Aber auf jeden Fall hatten sie Stress da. Und dann hab ich nur gehört, wie einer geschrien hat, dass Anders auf­passen soll oder so, ich glaube, das war Justin. Also Justin Berger, der geht auch in meine Klasse.

Und dann ist Anders nach hinten gefallen. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaub nicht, dass ihn einer geschubst hat. Aber beschwören könnt ich das nicht. Ich war zu weit weg.

Hast du sonst etwas gesehen, das in dieser Sache von Belang sein könnte?

Also … da müsste ich noch mal nachdenken, aber nee, ich glaub nicht. Obwohl, wissen Sie, manchmal denke ich, da wär ein Stein geflogen.

Weil Anders so zusammengezuckt ist, bevor er dann nach hinten gefallen ist. So zuckt man eigentlich nur, wenn irgendwas ist. Wenn man sich erschreckt oder so. Oder eben, wenn einen was trifft. Ein Stein oder so. Aber gesehen … nein, gesehen hab ich das nicht.

* * *

Auszug Aussage Signe Jaspersen, 19 Jahre alt, Auszubildende

(…) Wir sind erst später dazugekommen, Pascal und ich. Ich hatte mir Sorgen gemacht, weil er so allein weggegangen war und dann vorher diesen Zettel bekommen hatte … Pascal und ich sind hinterherge­gangen, und da stand Anders schon oben auf dem Geländer, umringt von den anderen. Er war schon immer ziemlich sportlich, schon als kleines … schon als kleiner Junge, meine ich. Ganz offenbar haben sie ihn in die Enge getrieben und er konnte sich nicht anders helfen, als auf das Geländer zu steigen.

Allein das ist schon schlimm, finde ich. Ich glaube, diese Jungs kennen kein Maß. Die wissen nicht, wo man aufhören muss.

Haben Sie gehört, was gesprochen wurde?

Nein, ich hab nur gehört, dass sie was gerufen haben. Ob sie sich gestritten haben, weiß ich nicht, dazu waren wir ja auch viel zu weit weg. Aber ich denke schon, dass sie ihn in die Enge getrieben haben. Robert, dessen beiden Freunde, diese dunkelhaarigen jungen Männer. Die beiden hatte ich noch nie gesehen.

Und Robert kannten Sie schon?

Klar, Robert kannte ich, zumindest aus Anders’ Erzählungen, und dann hatte ich ihn auch direkt vorher auf dem Fest da gesehen. Pascal hatte ihn mir gezeigt.

Mit Robert hatte Anders die ganze Zeit schon Ärger. Der hat ihn getriezt, wo er nur konnte. Warum, weiß ich nicht genau, eigentlich gab es keinen richtigen Grund, außer vielleicht, dass unser Vater der Chef seines Vaters geworden war. Mein Vater hat mal erzählt, dass er und Roberts Vater nicht gut auskamen. Aber ob das der Grund war, dass Robert Anders nicht leiden konnte, weiß ich nicht. Ich persönlich glaube ja eher, Robert war eifersüchtig. Das ist ja manchmal so, da kommt ein Neuer in die Klasse und das bringt dann Aufruhr mit. Und Anders hat immer schon polarisiert: Die einen fanden ihn gut, die anderen nicht.

Die Leute haben Anders immer schon angestarrt und komisch gefunden, weil er eben schon immer anders war als die anderen. Weicher vielleicht. Besonders. Er hatte schon immer eine besondere Ausstrahlung. Und das können manche Leute einfach nicht vertragen.

Aber dass man deshalb jemanden so in die Enge treibt, dass er am Ende von einer hohen Brücke stürzt!

Wissen Sie, das ist mir fast egal, ob sie ihn nun geschubst haben oder nicht. Sie haben auf jeden Fall Schuld. Alle, die da standen. Sie haben Schuld, dass Anders am Ende gefallen ist.

Und er hatte ihnen, verdammt noch mal, wirklich nichts getan!

Er war einfach nur anders.

Kapitel 1

Szenenwechsel

Alle sehen ihn sofort. Wie er da hockt, lässig auf den Stuhl gegossen, die Beine nach vorn gestreckt, die Daumen in den Schlaufen seiner Jeans. Sein Rucksack liegt neben ihm auf dem Boden und die Haare fallen ihm ins Gesicht. Er guckt sich nicht um, nicht ein einziges Mal, er sieht einfach nach draußen, auf den Schulhof und die Turnhalle dahinter und die Bäume im Rund, oder vielleicht guckt er auch gar nicht, vielleicht träumt er auch nur, das kann keiner so genau sagen. Seine Augen sind nicht zu sehen, aber sein Profil und die Körperhaltung, eigentlich ist sofort alles klar, für alle, die ihn jetzt, in diesem Moment, zum ersten Mal sehen.

Er guckt sich nicht ein einziges Mal nach seinen neuen Klassenkameraden und -kameradinnen um, die jetzt nach und nach den Raum betreten. Stattdessen sitzt er da und sieht nach draußen, und erst als fast alle schon reingekommen sind, pustet er sich das Haar aus dem Gesicht und wendet den Kopf. Sein Blick fällt auf eines der Mädchen, die ihn allesamt verstohlen mustern, genau wie die Jungs auch, und dann lächelt er kurz, ganz kurz nur und leicht.

Und auch das sehen alle sofort. Alle sehen, wie er da sitzt, alle sehen ihn lächeln und alle sehen auch, wen er anlächelt. Und nicht allen gefällt das.

Dann kommt Wieczorek herein und zieht die Tür hinter sich zu und stellt seine Tasche mit Schwung auf den Tisch, wie immer, und die erste Unterrichtsstunde der 9b nach den Sommer­ferien beginnt. Viel hat sich nicht verändert: In Englisch, Mathe und Chemie haben die Lehrer gewechselt und Matilda ist nach Bayern gezogen. Aber dafür ist der Neue gekommen.

* * *

Sanne

Ich fand ihn sofort total süß. Wie er da saß und uns alle ignorierte und sich dann irgendwann mal die Haare aus den Augen blies und sich ganz vorsichtig umsah, das fand ich einfach süß. Die meisten anderen Jungs hielten ihn bestimmt für ziemlich cool, und die Mädchen auch, aber ich – ich fand ihn einfach total süß, so, wie er da saß.

Und als er sich dann doch endlich mal umsah und sein Blick auf mich fiel, da hatte ich auf einmal dieses merkwürdige Gefühl im Bauch. So ein Ziehen. Ich hab gleich begriffen, dass das ein ganz besonderer Moment war, der Moment, in dem Anders und ich uns das erste Mal ansahen.

Wir guckten uns nur an, ohne irgendwas zu machen, und dann stieß Nicole von hinten mit ihrem Rucksack gegen mich und zischte irgendwas, aber für einen Moment konnte ich nicht weitergehen. Ich konnte einfach nur dastehen und ihn ansehen, und er sah mich an, und dann blies er noch mal seine Haare aus dem Gesicht und fing an zu lächeln, ganz leicht nur, aber da, da wusste ich einfach … da wusste ich, dass das mit uns beiden was Besonderes werden würde.

Und das war dann ja auch so.

Ich hab wirklich niemand anderen, niemanden, keinen Jungen und kein Mädchen, ich hab nie wieder jemanden gesehen mit so einem Lächeln wie Anders.

Mit so einem unglaublich besonderen Lächeln.

Und ich wette, ich werde auch nie wieder jemanden sehen, der so lächeln kann wie Anders.

* * *

Wieczorek reibt sich die Hände und sieht ins Klassenbuch, während alle sich nach und nach setzen. Das dauert eine Weile, schließlich ist es der erste Tag nach den Sommerferien, da muss man sich ja erst mal wieder ordentlich begrüßen und ein bisschen erzählen. Aber als Wieczorek dann schließlich dreimal in die Hände klatscht und das Klassenbuch mit Schwung zuklappt und wieder aufschlägt, da wird es allmählich still.

»Oh, ihr habt also alle noch Ohren«, sagt Wieczorek und grinst sein typisches Wieczorek-Lächeln, nicht besonders freundlich, aber auch nicht so genervt wie manch andere Lehrer. »Alles klar hier bei euch? Gut. Dann sehen wir mal, ob wir komplett sind.« Er sieht wieder ins Klassenbuch und fängt an, mit betont leiernder Stimme die Namen vorzulesen. »Achenbach, Juliane – aha, anwesend. Atli, Azad. Berger, Justin … Justin? Soso, der Herr schläft noch, richtig? Dombach, Niklas …«

Alle heben sie nach und nach die Hände oder brummen etwas vor sich hin, rufen ein übertrieben lautes »Ja!« oder »Hier!« oder »Jawohl!« in die Klasse, und als Tarik auch beim dritten Aufruf nicht reagiert, weil er so angeregt mit Vincent tuschelt, da lacht die halbe Klasse los, weil sich Wieczorek mit dem Klassenbuch in der Hand an ihn heranschleicht und eine ganze Reihe von Grimassen zieht, bis Tarik endlich kapiert, dass er dran ist.

Schließlich hat Wieczorek die Liste heruntergelesen. Alle sind anwesend und alle wissen, dass noch ein Name fehlt.

Fast alle haben die ganze Zeit immer wieder zu dem Neuen hinübergesehen, der immer noch lässig dasitzt und aus dem Fenster guckt. Fast alle haben ihn mit verstohlenen Blicken gemustert, bis auf Pascal, der direkt neben ihm sitzt, aber noch kein Wort mit ihm gewechselt hat und sowieso kaum hochblickt.

Pascal ist ziemlich schüchtern. Mit so vielen Pickeln im Gesicht wäre allerdings wahrscheinlich jeder schüchtern.

»Und jetzt – tätätätäää!«, ruft Wieczorek theatralisch, aber diesmal lacht keiner, weil es ja auch nicht besonders komisch ist. »Jetzt kommen wir zu einem kleinen Sonderauftritt. Wie ihr alle bemerkt haben dürftet, haben wir einen neuen Schüler in unserer Mitte, der diese überaus gut funktionierende Klassengemeinschaft sicher noch weiter bereichern wird.« Wieczorek schlendert zu der Bank rüber, in der Pascal und der Neue sitzen, und jetzt dreht der Neue den Kopf und sieht Wieczorek entgegen. Ganz lässig guckt er, genau so, wie er sitzt.

»Wen haben wir denn hier?«, fragt Wieczorek und vergewissert sich noch mal im Klassenbuch. »Aha, den Herrn … Herrn Jaspersen. Anders Jaspersen. Ein interessanter Name! Nicht Andreas, nicht André, sondern Anders!«

Irgendwo in den hinteren Reihen wird gemurmelt und einer der Jungs lacht hämisch. Wieczorek ignoriert das. »Ein nor­discher Name, richtig, Anders?«

Anders, der Neue, nickt. »Kann sein«, sagt er. »Klar.« Seine Stimme klingt weich und ziemlich hell. Und total entspannt.

* * *

Justin

Der hat uns von Anfang an genervt, einfach die ganze Art und alles. Wie der da so lässig rumsaß, und immer so die Haare aus dem Gesicht pusten, nee, echt. Hat uns einfach genervt, Robert und mich. Und Niklas und Azad auch.

Der war wie so ein Eindringling, obwohl er ja eigentlich gar nichts groß gemacht hat. Aber irgendwie … Ich meine, es ist ja so, dass wir schon seit der Siebten alle in einer Klasse sind, also seit wir auf die Gesamtschule gewechselt sind. Also, wir kennen uns jetzt alle seit zwei Jahren, und da hat jeder so seine Rolle oder sein Ding laufen. Und dann kommt da so ein Typ an und guckt arrogant in der Gegend rum und gräbt auch noch die Mädchen an, vor allem Sanne, ja?

Nee, das konnte ich einfach nicht ab. War ja auch klar, dass Robert da irgendwann durchdreht, wenn der nicht damit aufhört. Und irgendwie hab ich mich auch sofort von dem provoziert gefühlt. Und dann heißt der auch noch so blöd. Anders!

Arrogant hoch zehn, oder? Schon der Name allein. Ich mein, den hat er sich ja wohl nicht ausgesucht, aber trotzdem.

* * *

In der großen Pause scheucht Wieczorek alle raus auf den Schulhof, obwohl sie natürlich wie üblich protestieren. Aber Wieczorek lässt sich nicht erweichen. »Raus mit euch!«, ruft er mit schaufelnden Gesten. »Bewegung, Frischluft, los, los!«

Anders, der Neue, steht als einer der Ersten auf und schlendert aus der Klasse; das ist gut, denn so können ihn die anderen richtig in Augenschein nehmen: seinen lang aufgeschossenen, schmalen, aber dennoch muskulösen Körper, die geraden, breiten Schultern, die langen Beine. Er geht so, wie er gesessen hat: lässig, locker, ohne sich zu beeilen.

Als hätte er alle Zeit der Welt. Und als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen.

Ein bisschen auch, als würde er träumen.

Ein ganzer Trupp Mädchen geht hinter ihm, kichernd. Sie reden über andere Dinge, aber natürlich haben sie den Neuen ganz genau im Blick, wie er die Treppe runtergeht, fast schon hüpft, sich unten suchend umsieht und dann Pascal und Azad durch die Glastür nach draußen folgt, auf den sonnenüber­fluteten Schulhof. Es ist warm, jetzt im August, aber nicht mehr so heiß wie in den vergangenen Wochen, zum Glück. Die Kastanien rings um den Hof sind halb verdorrt, das Gras an den Außenanlagen längst vertrocknet.

Anders bleibt mitten auf dem Schulhof stehen und legt den Kopf in den Nacken. So steht er da und lässt sein Gesicht von der Sonne bescheinen, die Hände in den Taschen seiner weit sitzenden Jeans zu Fäusten geballt.

Sanne, die hinter den anderen Mädchen an ihm vorbeigeht, sieht, wie seine weiche, glatte Haut im Sonnenschein glänzt, und für einen Moment möchte sie die Hand ausstrecken und über seine Wange streichen. Das ist komisch, das hat sie noch nie bei einem Jungen gewollt. Jungs sind Jungs und Sanne ist Sanne. Aber Anders ist irgendwie anders.

Und dann senkt er den Blick und sieht Sanne direkt ins Gesicht, mit Augen, so blau wie das Mittelmeer, an dem sie letztes Jahr im Sommer mit ihren Eltern und ihrer kleinen, nervigen Schwester gewesen ist. Er sieht sie an und lächelt und sie lächelt zurück, nur ganz kurz, dann geht sie schnell weiter, zu den anderen Mädchen, die sich im Schatten an der Mauer versammelt haben, und Sanne bleibt stehen, zögert, aber dann geht sie doch weiter.

Anders vergräbt die Hände noch tiefer in den Hosentaschen, als Robert, Azad und Justin auf ihn zukommen. Niklas trabt hinterher. Robert hebt die Brauen.

»Na, und?«

»Was, na und?«, fragt Anders zurück. Roberts Tonfall ist freundlich, aber es ist deutlich zu sehen, dass Anders ihn nervt.

»Wo kommst du eigentlich her?«, fragt Robert.

»Kiel.«

»Kiel?«

»Liegt an der Ostsee, ganz oben.«

Robert zieht die Brauen noch höher, schließlich hat er nicht gefragt, wo Kiel liegt, und natürlich weiß er das. Er hat es nicht gern, wenn ihm jemand zuvorkommt. »Und was willst du dann hier?«

»Mein Vater hat hier einen Job gekriegt«, sagt Anders. Er sieht Robert direkt an, ohne mit der Wimper zu zucken, mit leuchtenden Augen. Für einen Augenblick ist Robert irritiert.

»Wo?«, fragt er rau.

Anders zuckt mit den Schultern. »Bei diesem großen Chip-Hersteller hier. Mein Vater ist Ingenieur.«

»Klar, die Cirrus«, sagt Niklas, dessen Vater auch dort arbeitet, genau wie der von Robert auch. Azads Vater wiederum nicht, der ist eigentlich Klempner, hat aber keinen Job, so wie viele andere Väter auch. Justins Vater hat weder was gelernt noch einen Job, aber das ist sowieso egal, weil er schon eine Weile weg ist. Und Pascals Vater ist tot.

Aber die meisten anderen Väter, sofern sie Arbeit haben, die sind bei der Cirrus.

So was verbindet, doch Robert will nicht, dass ihn oder die anderen etwas mit Anders verbindet. Jedenfalls nicht, bevor er sich eingefügt hat in die Klassengemeinschaft. Deren Chef Robert ist. Zumindest deren Klassensprecher.

»Haben die Wasserratten bei euch da oben alle so lange Haare?«, fragt er und Niklas gluckst, wird aber gleich wieder still.

»Nein, nicht alle«, sagt Anders. Mehr sagt er nicht. Er steht da und guckt Robert an, ganz offen, und schweigt, und nur wenn man ganz genau hinsehen würde, könnte man entdecken, dass seine Fäuste in den Hosentaschen sich bewegen. Als würden sie zittern. Aber vielleicht ballt er sie auch nur noch fester.

Schließlich zieht Robert die Nase hoch und zuckt mit den Schultern, bevor er sich abwendet und wortlos davongeht.

Justin und Azad latschen ihm gleich hinterher, aber Niklas bleibt noch einen Moment bei Anders stehen.

»Ej, spielst du Fußball?«, fragt er.

Anders zögert, dann schüttelt er den Kopf. »Nee. Aber oben in Kiel war ich oft windsurfen. Und segeln.«

»Segeln? Cool. Hattest du ein eigenes Boot oder was?«

»Mein Vater, ja.«

»Sehr cool.« Niklas überlegt. »Tja, aber segeln kann man hier bei uns nicht.«

»Nee, hab ich auch schon mitgekriegt.«

Anders und Niklas lächeln sich an, ein ganz kurzes Lächeln von beiden Seiten, aber ein Lächeln.

»Tja, dann musste halt mal Fußball spielen«, sagt Niklas.

»Würd ich ja, darf ich aber nicht.«

»Hä, wieso?«

Jetzt ist es Anders, der mit den Schultern zuckt. »Ich hab was mit’m Herzen. Kann keinen Sport machen. Jedenfalls die meisten Sportarten nicht.«

»Is ja beknackt. Tja, haste Pech«, sagt Niklas, und dann ruft Azad ihn und er nickt Anders zu und zieht ab, rüber zu Azad und Robert, der ihm finster entgegensieht.

Die Mädchen haben genau zugesehen, wie Robert, Justin und Azad mit Anders geredet haben. Anders hat vollkommen entspannt zwischen ihnen gestanden, ohne wegzusehen, das ist allen aufgefallen.

»Der ist süß, was?«, fragt Tuana.

»Zucker!« Annie kichert, das macht sie meistens.

»Wollen wir nicht mal hin?«

»Na, dann geh doch!«, sagt Thao und mustert Anders interessiert. Nie im Leben würde Thao auf einen Jungen zugehen, dazu ist sie viel zu zurückhaltend.

Tuana ist diejenige, die sich traut, wie immer. Die anderen traben hinter ihr her, Sanne zuletzt. Sie will eigentlich nicht, aber jetzt kann sie auch nicht hier stehen bleiben.

»Hi!«, sagt Tuana und bleibt vor Anders stehen. »Na, und, wie findest du das hier so bei uns?«

»Bis jetzt ganz okay«, sagt Anders. Mensch, hat der blaue Augen! Sanne weiß, dass sie nicht die Einzige ist, der das auffällt. Alle starren sie ihn an, verschlingen ihn mit Blicken, sogar Thao, die eigentlich immer so tut, als würde sie sich für niemanden interessieren.

»Kiel, ist das nicht am Meer?«, fragt Tuana.

»Mhm. An der Ostsee.«

»Da kannst du bestimmt gut schwimmen, oder?«, fragt Annie und kichert.

»Jupp.« Anders nickt. Seine leuchtend blauen Augen mustern die ihn umstehenden Mädchen der Reihe nach, bis sie an Sanne hängen bleiben. Sanne muss sich anstrengen, um wegzusehen. Aber sie schafft es.

»Hast du Geschwister?«, fragt Annie.

»Ja, zwei ältere Schwestern«, sagt Anders und sieht dabei immer noch Sanne an. »Aber die eine, die wohnt nicht mehr zu Hause.«

»Und die andere?«

»Die schon«, sagt er und lacht.

Strahlend blaue Augen hat er und strahlend weiße Zähne. Nicht zu fassen. Sanne ist auf einmal ein bisschen übel. Wahrscheinlich kriegt sie gerade ihre Tage. Auf jeden Fall muss sie jetzt mal ganz schnell aufs Klo.

Genau da klingelt es und die Pause ist vorbei.

Selten war Sanne so froh darüber.

* * *

Signe

Als er nach Hause kam, hab ich ihn gleich gefragt, wie sein erster Tag an der neuen Schule war. Gut, hat er gesagt. Aber ich hab gespürt, dass ihn etwas bewegt hat.

Anders hat immer schon viel cooler getan, als er war. Das musste er wohl auch, klar. Aber eigentlich war er total weich, schon immer. Total lieb. Viel zu lieb irgendwie.

Wir hatten alle ein bisschen Angst um ihn. Er war immer so zerbrechlich, auch und gerade für einen Jungen.

Ich fand es eigentlich nicht so gut, dass wir aus Kiel weggezogen sind.

Auch für Anders, ich fand, er hätte einfach die Schule wechseln können und gut. Kiel ist groß, da kennt nicht jeder jeden, da kann man einfach verschwinden. Ich hab eine Freundin, mit der bin ich in der Grundschule in eine Klasse gegangen und nach der Vierten sind wir dann auf verschiedene Schulen, die hab ich nicht ein einziges Mal in all den Jahren zufällig getroffen in der Stadt oder so, nur wenn wir verabredet waren.

Also ich finde, wir hätten auch in Kiel bleiben können. Aber meine Eltern fanden es richtig, dass wir umgezogen sind. Das sei ein Neuanfang, für alle, haben sie gesagt. Und dass wir das brauchen könnten, nach dem, was war.

Ich selbst hätte keinen Neuanfang gebraucht, aber es war schon okay. Klar, ich hätte ja auch in Kiel bleiben und da eine Ausbildung beginnen können. Zwei Plätze hatte ich in Aussicht und ich hab auch richtig überlegt. Aber dann fand ich es eigentlich doch nicht schlecht, noch mal in so eine kleinere Stadt umzuziehen. Und ich wollte auch gar nicht so gern weg von zu Hause, jedenfalls noch nicht.

Und wenn ich ganz ehrlich bin: Ich wollte auch Anders nicht so gern allein lassen.

Aber das musste ich dann ja doch.

Man kann niemanden beschützen. Jedenfalls nicht richtig, und nicht dann, wenn es drauf ankommt. Und schon gar nicht vor sich selbst.