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Christoph Henning

Theorien der Entfremdung zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat

Michael Hagner, Zürich

Ina Kerner, Berlin

Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

© 2015 by Junius Verlag GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

1.Einleitung: Reden über Entfremdung

Ein heuristisches Modell von Entfremdung

Gründe für die Inflation der Entfremdungsdiagnosen

Ein Problem: Muss man wissen, dass man entfremdet ist, um entfremdet zu sein?

Vorgeschichten

2.Außer-sich-Sein als Ausnahmezustand: Entfremdung bei Rousseau

Entfremdung im Zentrum des Werkes von Rousseau

Rousseauismus in der Nachfolgephilosophie und in der Populärkultur

3.Schiller, Humboldt, Fichte: Kunst und Bildung als Gegenentfremdung

Schillers Ästhethische Briefe als Manifest der Ent-Entfremdung

Humboldts Bildungstheorie – eine positive Theorie der Entfremdung?

Fichte und die Matrix

4.Hegel: Aufhebung und Verstärkung der Entfremdung im System

Hegels Grundidee: Entfremdung als Erziehungstrick

Geistige Entfremdung als notwendige Täuschung im Hauptwerk

5.Gott und Geld: Ludwig Feuerbach und Moses Hess

Feuerbach: Religion als entfremdeter Humanismus

Moses Hess: Humanismus als entfremdeter Sozialismus

6.Karl Marx: Selbstbestimmte Entwicklung und radikale Praxis

Das Wovon der Entfremdung 1: Das Verhältnis zu eigenen Produkten

Das Wovon der Entfremdung 2: Das Verhältnis zur eigenen Tätigkeit

Das Wovon der Entfremdung 3: Das Verhältnis zur Natur

Das Wovon der Entfremdung 4: Das Verhältnis zu den anderen

Vom Wovon zum Warum der Entfremdung

Ein Beispiel aus der Popkultur: Robocop

7.Kritik der Entfremdungskritik: Simmel, Plessner und Gehlen

Georg Simmel und die Ambivalenz des Geldes: Eine zirkulationistische Verkürzung

Helmuth Plessners Naturalisierung der Entfremdung

Arnold Gehlens Aufgabe der Freiheit: Politisch totalisierte Entfremdung

8.Soziologische Entfremdungstheorien: Vom Webermarxismus zur Empirie

Max Weber: Rationalisierung zwischen Entzauberung und Bürokratisierung

Webermarxismus – von Lukács bis Marcuse

Empirische Arbeiten zu Entfremdung

9.Falsche Aufhebung oder Potenzierung der Entfremdung? Neuere Debatten

Der neue Geist des Kapitalismus: Voreilige Preisgabe der Entfremdungskritik

Burnout durch zu viel Authentizität – oder durch Entfremdung?

Echte Liebe durch Konsum und die Entfetischisierungskompetenz der Mittelschicht

Entfremdungstheorie neuen Typs: Akademische Befindlichkeiten

10.Zwischen Nostalgie und Freiheit: Zur Zukunft der Entfremdungskritik

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Über den Autor

1.Einleitung: Reden über Entfremdung

Was meint die Rede von Entfremdung? Ich möchte mit einigen Schilderungen aus der gegenwärtigen Arbeitswelt beginnen. Eine Pharmazie-Arbeiterin, die von Schweizer Soziologen interviewt wird, erzählt aus ihren Erfahrungen mit Umstrukturierung:

»›Es wird sehr schlecht produziert. Es zählt nur die Menge, nicht die Qualität. Es wird zwar immer noch gesagt, aber es wird nicht mehr gehandhabt. Das ist mein Eindruck.‹ [Interviewer:] Ja. Können Sie das noch ein bisschen erklären? Was heißt das jetzt? ›Schneller, schneller, schneller. Es wird einfach nicht mehr, wie soll ich sagen? Es muss einfach abgefüllt werden, an einem Tag, egal wie. Dann nehmen sie es in Kauf, dass man am Schluss viel verworfen hat, oder viel Ausschuss hat. Das nehmen sie in Kauf. Hauptsache, man zieht es durch.« (Schultheis u. a. 2010, 165; zur Beschleunigung siehe Kap. 10)

Die Veränderungen der letzten Jahrzehnte haben dazu geführt, dass diese Person sich schlechter mit ihrer Arbeit identifizieren kann, welche sie – wie sie angibt – auch körperlich zunehmend ermüdet. Es waren solche Beobachtungen, die Karl Marx einst motiviert hatten, von einer Entfremdung arbeitender Menschen von ihrer Tätigkeit und den Produkten ihrer Tätigkeit zu sprechen (siehe Kap. 6).

Zweitens: Ein Zeitarbeits-Feuerwehrmann aus den USA berichtet: »I don’t want to do anything that would risk a regular job. There are plenty of other guys that would take that job, including the other temp guys … I’m just not going to risk it. Shut up and put up with it I guess« (Halbesleben/Clark 2010, 538f.). Der Anteil der Leih- und Zeitarbeit ist in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen. Obwohl die Betroffenen viele Beschwerden haben, artikulieren sie ihre Unzufriedenheit nicht, weil sie unter starkem Druck stehen. Laut Halbesleben/Clark haben sie in der Arbeit wenig zu sagen und kaum soziale Kontakte. »Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Hause.« (Marx, MEW 40, 514) Obwohl einige Autoren meinten, die Entfremdungskritik treffe nur die dunklen Fabrikhallen des 19. Jahrhunderts (siehe Kap. 7), sind solche Erfahrungen nach wie vor verbreitet – sogar dort, wo die Arbeit immer mehr zum Zuhause wird (When work becomes home and home becomes work, Hochschild 1997).

Eine Nanny etwa, die Arlie Hochschild jüngst interviewt hat, berichtet, dass ›ihre‹ Familie (ihr Arbeitgeber), bei der sie täglich über zehn Stunden verbringt, sie zwar ordentlich bezahlt, dass sie von ihr aber kaum beachtet wird. Ihre soziale Tätigkeit führt gerade nicht zu ausfüllenden Kontakten:

»I’m invisible to them. I’ll be in a room bustling about and they won’t be aware I’m there. I’m sensitive to moods, and if I sense tension, I disappear. Mostly, though, I’m in the room and they don’t see me. Neither do their guests« (Hochschild 2012, 159).

Wie ein viertes Beispiel zeigt, trifft das nicht nur ›Ausnahmen‹ wie Leiharbeiter oder Nannys. Eine Studie aus der Türkei zeigt, dass auch gut bezahlte BankerInnen sich entfremdet fühlen.1 Bei solchen Erfahrungen handelt es sich keineswegs nur um eingrenzbare Dimensionen bestimmter Arbeitsformen, denen man zur Not aus dem Weg gehen könnte. Sie haben Auswirkungen für die ganze Identität der Arbeitenden und damit auf die sozialen Beziehungen einer Gesellschaft insgesamt. Teresa Brennan hat die Auswirkung entgrenzter Formen von Arbeit und der Politik der Deregulierung auf die nervliche und körperliche Gesundheit als »Bioderegulierung« beschrieben. Die wachsende Geschwindigkeit von Produktionsprozessen habe einen Raubbau nicht nur an der äußeren Natur, sondern auch an der Natur des Menschen zur Folge; und verschlimmert wird dies durch den ständigen Abbau von Ruhe- und Schutzzonen (freier Zeiten und Räume sowie sozialstaatlicher Sicherungen).2

Über solche Entfremdungserfahrungen wird, wenn man genauer hinschaut, an allen Ecken und Enden geforscht: Eine Studie aus dem Nigerdelta untersucht, welchen Einfluss Resilienz auf die Umsetzung von Entfremdungserfahrungen in Stress-Symptome und damit auf das Wohlbefinden hat (Ifeagwazi 2015); eine russische Soziologin wendet die Middleton-Skala, ein amerikanisches Forschungsinstrument der 1960er Jahre, das Merkmale sozialer Benachteiligung mit Entfremdungserfahrungen in Beziehung setzt, auf die gegenwärtige Situation in Russland und Kasachstan an (Lytkina 2015); und eine deutsche Autorin beschreibt ihre Erfahrungen als Lohnsklavin bei Amazon auf schizoide Weise (sie spaltet das Arbeits-Ich vom Erzähl-Ich ab; Geißler 2014). Angesichts der Allgegenwart solcher Berichte haben auch die Medien das Thema wiederentdeckt:

»Das Gefühl der Entfremdung macht sich wieder vermehrt breit – egal ob es sich um Entfremdung in der Arbeit, in der Liebe oder vom Leben an sich handelt. Es ist wieder erlaubt, über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für ein gelungenes Leben zu reden.« (Weber 2010)

An all diesen Beispielen lässt sich dreierlei ablesen: Erstens ist das Thema der Entfremdung keineswegs veraltet, sondern von wachsender Bedeutung – auch wenn alte Theoriehasen darüber die Nase rümpfen mögen (zur Kritik an der Entfremdungskritik Kap. 4, 7 und 9). Zweitens sind Entfremdungserfahrungen keine regional begrenzte Erscheinung, die nur angegraute westliche Großstadtintellektuelle betreffen würde, sondern zunehmend ein globales und klassenübergreifendes Problem. Und drittens ist Entfremdung kein rein philosophisches Thema mehr. Allerdings kommen die Grundbegriffe und Gedanken, mit denen man es hier zu tun hat, aus dem Arsenal philosophischer Texte, denen wir in diesem Buch noch begegnen werden (etwa von Rousseau, Hegel oder Marx). Bevor wir uns in die Untiefen dieser verästelten Untersuchungen stürzen, sollten wir mit einem Vorverständnis ausgestattet sein, was unter Entfremdung im philosophischen Sinne eigentlich zu verstehen ist.

Ein heuristisches Modell von Entfremdung

Für die Analyse von Entfremdungserfahrungen sind zwei Dinge vorausgesetzt. Erst beide Dimensionen zusammen machen die spezifisch moderne Erfahrung aus, welche die Entfremdungstheorie erfassen und in der Regel auch verändern möchte. Die erste Dimension ist verallgemeinerbar und stellt die anthropologische Grundlage dar, die man auch in anderen Kulturen oder zu anderen Zeiten finden kann; die zweite Dimension ist historisch spezifisch und kennzeichnet vor allem die moderne Welt, die damit kritisiert werden soll. Die erste Dimension bildet die »Anthropologie des Ausdrucks«; die zweite, spezifischere Dimension ist eine auf sie bezogene Theorie der modernen Gesellschaft. Eine Dimension allein kann nur schwer erklären, was an einer Entfremdung problematisch sein soll – Beispiele für solche Verharmlosungen von Entfremdung können von beiden Dimensionen ausgehen, wenn die jeweils andere fehlt.3 Sehen wir uns das genauer an.

Die Anthropologie des Ausdrucks lässt sich am besten über die Lokalisierung des »Aus« (in Ausdruck) erläutern.4 Wenn etwas sich ausdrückt, dann kommt etwas nach außen, was vorher »innen« war – wenn auch in einer anderen Form. Diese Semantik von innen und außen ist für die Entfremdungstheorie zentral – Marx spricht von »Entäußerung« und davon, wie uns etwas »äußerlich« wird (MEW 40, 514), und David Riesman (1956) beschreibt ein Jahrhundert später den »außengeleiteten Charakter«. Offensichtlich wird das »Außer-sich«-Sein problematisiert, aber dies nicht allein, weil es ein Außen ist. Denn das Von-innen-nach-außen-Treten ist noch keine Entfremdung. Im Normalfall gibt es wieder eine Aneignung, eine Rück-Verinnerlichung. Kommt beides auf die rechte Weise zusammen, kann man von einer gelingenden Entwicklung sprechen, denn das Subjekt, das sich auf diese Weise geäußert und seine Äußerung dann wieder angeeignet hat, ist nicht mehr dasselbe wie vorher. Es entwickelt und »bildet« sich im fortlaufenden Prozess des Sich-Äußerns und der Aneignung von Äußerungen (zu Humboldt siehe Kap. 3). Zur Verdeutlichung eignen sich einfache Beispiele wie ein Gefühl, ein Gedicht und ein Geschenk.

Wenn jemand etwas empfindet, kann er diese Empfindung zum Ausdruck bringen: etwa durch einen Gesichtsausdruck (sagen wir: ein Lächeln) oder eine sprachliche Äußerung (etwa: »Ich bin so froh«). Dieses Entäußerte ist nicht beziehungslos zu der Person, die es geäußert hat, sondern diese kann sich ihr Entäußertes wieder aneignen. So lässt sich sagen, dass ich mein eigenes Gefühl durch diese Äußerung allererst als solches erkenne (meine noch unspezifische Empfindung durch die Äußerung forme und als ein bestimmtes Gefühl einordnen kann). Vielleicht »spiegelt« mir auch jemand anders meine Fröhlichkeit zurück. Die zurückgespiegelte und damit geteilte Freude ist eine gute Weise, sich die Wieder-Aneignung der eigenen, zum Ausdruck gebrachten Freude vorzustellen.

Ähnliches vollzieht sich, wenn ich für jemanden ein Gedicht schreibe: Hier ist noch deutlicher zu erkennen, dass dieses zum Ausdruck Gebrachte zwar »außen« ist (es ist nicht mehr »in« meinem Kopf oder Herzen, sondern es steht auf einem vor mir liegenden Papier), aber dennoch etwas von mir aufbewahrt oder repräsentiert. Es ist mir insofern nicht wirklich »äußerlich«: Es ist mir nicht gleichgültig. Wie ist in diesem Fall eine Wieder-Aneignung zu denken? Beispielsweise kann ich dieses Gedicht nach Jahren wieder in die Hand bekommen. Das würde mir erlauben, mich in Beziehung zu einer Phase meines Lebens zu setzen, die mir in dieser Intensität sonst nicht mehr präsent wäre. Sie wird so wieder Teil meines »inneren« Lebens, und genau das ist ein wichtiges Motiv des Schreibens über sich selbst.

Eine Reaktion auf mein Gedicht kann ich aber auch von derjenigen Person bekommen, für die das Gedicht gedacht war. Wenn diese Person sich darüber freut und das wieder zum Ausdruck bringt, wäre das eine gelingende Interaktion, aus der ich erneut etwas »zurückbekomme«. Es muss nicht immer so harmonisch sein – vielleicht gibt man mir auch zu verstehen, dass ich nicht gut dichten kann und in Zukunft besser auf Pralinen zurückgreifen sollte. Was ich zurückbekomme, ist nicht identisch mit dem, was ich vorher ausgedrückt habe, ebenso wenig wie das Ausgedrückte mit dem identisch ist, was ich zuvor empfunden habe. Dennoch lässt sich dieser Prozess im Modell eines Kreislaufs fassen, in welchem Subjekte etwas außer sich setzen und es sich in veränderter Form wieder aneignen.5 Im Durchlaufen dieses Kreislaufs verhalten sich die Subjekte zu sich selbst (vermittelt über sinnhafte Objekte und über andere Menschen) und entwickeln sich weiter – altmodischer gesagt: Man »bildet« oder »vervollkommnet« sich.

Um die Verbindung der Entfremdungserfahrung zur politischen Ökonomie zu sehen, die schon bei Rousseau angelegt ist und in der Folge immer wichtiger wird, sehen wir schließlich auf das letzte Beispiel, das Geschenk. Sagen wir, ich schenke jemandem einen Abend, bei dem ich für sie und ein paar Gäste etwas koche. Durch meine Tätigkeit entsteht eine Geselligkeit, in der ich in doppelter Weise »enthalten« bin: Einmal zeigen sich meine spezifischen Fähigkeiten (ob ich ein guter Koch bin), daneben kommt meine Zuneigung zu dieser Person zum Vorschein (sie tritt auf lesbare und schmeckbare Weise nach außen). Ich muss diese Zeit opfern und ich muss den Geschmack dieser Person treffen, was eine gewisse Aufmerksamkeit für diese Person zum Ausdruck bringt. Hier ist klar, was Wiederaneignung meint – es ist zunächst das gemeinsame Essen. Wenn ich nicht dabei sein dürfte, wäre das ›befremdlich‹. Ich bekomme dabei jedoch nicht nur meine Nudeln zurück, indem ich sie esse. Auch der gemeinsame Abend, die bleibende Bindung zu den anderen sowie eine mögliche Rückeinladung sind als Rückflüsse meiner Äußerung zu mir zu begreifen. Durch meine Entäußerung wird etwas in der Welt gestiftet, und zugleich ändert sich etwas für mich.

Das Gesagte macht zweierlei deutlich: Erstens ist an dieser Weise, menschliche Praxis als eine des Ausdrucks zu denken, noch nichts Problematisches. Es ist nicht nur unvermeidbar, dass man sich auf diese Weise entäußert, es kann sogar angenehm sein – nicht nur vom Rückfluss der Ergebnisse her betrachtet, sondern schon die schöpferische Tätigkeit selbst kann Freude bereiten (das Wort Ekstase, wörtlich Herausstand, steckt darin, das »Ausgelassen«-, »Außer-Rand-und -Band«- oder Im-»Flow«-Sein). Zweitens ist das keine spezifisch moderne Erscheinung. Vielmehr lassen sich Kulturen generell so begreifen: die »Götter Griechenlands« etwa, um mit Schiller zu reden, lassen sich als Affektkatalog verstehen, in dem die Klaviatur menschlichen Empfindens (ein Gott des Zorns, eine Göttin der Liebe usw.) ausgebreitet »vor« den Menschen lag. Die Wieder-Aneignung dieser menschlichen Selbstreflexion durch die religiöse Praxis hat den Menschen daher eine Beziehung zu sich selbst ermöglicht, selbst wenn das unerkannt geschah (ein Gedanke Feuerbachs, siehe Kap. 5). Noch die marxistische Philosophin Agnes Heller entwickelt daraus ein Wertaxiom: »Der höchste Wert besteht darin, dass die Individuen sich den gattungsmäßigen Reichtum aneignen können.« (Heller 1972, 9) Gattungsmäßiger Reichtum meint die Objektivierung und zugleich die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten. Sinnhaft aneignen kann man sich also nicht nur eigene Entäußerungen, sondern auch die von anderen (darauf beruht die Idee der Bildung).

Wenn diese Entäußerung selbst noch nicht das Problem ist, wann und wodurch setzt dann eigentlich Entfremdung ein? Entfremdung setzt ein, wenn die Beziehung zu diesem selbst Gesetzten nicht mehr intakt ist; wenn das, was eigentlich Bestandteil des identitären oder kulturellen Kreislaufs ist, nicht mehr als Teil des Eigenen erkennbar ist und folglich nicht mehr in dieser Weise materiell oder sinnhaft angeeignet werden kann. »Entfremdung ist die Verkennung und Stillstellung dieser Aneignungsbewegung«, ein »gestörtes Aneignungsverhältnis« (Jaeggi 2005, 19, 183, siehe Kap. 9).6 Dann erst wird der Zwischenzustand des Außer-sich-Seins zu einem Dauerzustand. Das Äußere bleibt außen und wird so zu etwas Fremdem. Dieses Außen kann durchaus wachsen und großartige Qualitäten erreichen – das Problem ist weniger die Qualität des Entäußerten, sondern dessen mangelnde Aneignung. In den Worten Georg Simmels betrifft diese Kritik die »subjektive« Kultur, nicht die »objektive« als solche (Kap. 7; auch Kap. 2).

Als Ursache für diese Störung, dieses Stehenbleiben im Fremdzustand lassen sich verschiedene Faktoren denken: Sie kann durch eine Gewalteinwirkung Dritter, durch mangelndes Verstehen auf Seiten der Einzelnen oder durch Sachzwänge bewirkt werden.7 Wichtig zu sehen ist zunächst, dass das Fremdwerden mit einer versäumten Wiederaneignung von etwas selbst Gemachtem zu tun hat – es handelt sich um einen gestörten Rückfluss. Eine solche Diagnose der Entfremdung der Menschen von sich und ihrer Umwelt gehörte vor wenigen Jahrzehnten zu den meistdiskutierten Themen sowohl in der Sozialphilosophie wie in der breiteren Öffentlichkeit. Dass es ein »Unbehagen« (Sigmund Freud), ein Sich-nicht-beheimatet-Fühlen in der anonymen und technisierten Welt der Spätmoderne gab, darüber schienen sich verschiedenste intellektuelle Strömungen und viele Kulturproduzenten einig zu sein.

Wirft man einen Blick in die Filmwelt, so trifft man bis heute häufig auf solche Empfindungsräume in visualisierter Form: Menschen finden heraus, dass sie in Wirklichkeit jemand oder etwas anderes sind, als sie dachten, dass sie ›eigentlich‹ Klone, Roboter oder Computerprogramme sind oder dass das, was sie bisher als Realität erlebt haben, ihnen von einer großen Maschine (etwa der »Matrix« oder der CIA) bloß vorgegaukelt wurde.8 Ihre Existenz vor dieser Entdeckung wird zum Schein, mit dem man sich nur noch schwer identifizieren kann, während die reale Existenz in Spannung zur Welt gerät. In scheinbar weniger kulturkritischen Varianten finden die ›Helden‹ (in der Regel Verliererfiguren und hässliche Entlein) plötzlich heraus, dass sie ›eigentlich‹ Superhelden oder Götter sind. Doch auch dadurch wird die bislang gelebte Realität zu einer fremden, in der die Helden gezwungen werden, bloße Rollen zu spielen. Eine Entfremdungstendenz drückt sich hier untergründig darin aus, dass eine abgekoppelte Idealisierung des modernen Lebens, wie sie auch in den second realities der digitalen Welt vorkommt, eine Entfremdung gegenüber dem realen Leben der Menschen nicht nur nicht überwindet, sondern diese vielmehr noch verstärken kann.

Gründe für die Inflation der Entfremdungsdiagnosen

Wie erwähnt gab es bis etwa 1980 zur Entfremdung eine fast unüberschaubare Forschungstätigkeit in den Feldern der Psychologie, der Literaturwissenschaft, der Philosophie und vor allem der Soziologie. Die Sammelbände zum Thema aus den 1970er Jahren füllen ganze Regalmeter. Bereits 1959 bemerkte der amerikanische Soziologe Melvin Seeman: »Das Problem der Entfremdung zieht sich als immer wiederkehrendes Thema durch alle klassischen Werke der Soziologie.« Es beherrsche noch immer »die zeitgenössische Literatur« (Seeman 1959, 360f.). Manche befürchtete deshalb schon in den 1970er Jahren, der Begriff Entfremdung müsse mittlerweile für alles Mögliche, vielleicht gar für Beliebiges herhalten (Bronfenbrenner 1973). Das mag ein Grund dafür sein, dass es zwischenzeitlich etwas ruhiger um sie war. Doch wie wir sahen, treten Beispiele für menschliche Selbstentfremdung neuerdings wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein. So gibt es eine Zunahme an Depressionen und Burnout-Phänomenen (siehe Kap. 9), ja auch an Suiziden, die wohl in Zusammenhang mit neuen Formen von Arbeit und Erziehung stehen (besonders drastisch in Japan oder China). Zudem gibt es durch die weltweite Finanzkrise eine »Entfremdung« der Menschen von ihren Eliten und Institutionen sowie eine unverändert starke Vernutzung und Verschmutzung natürlicher Ressourcen (man denke nur an die immer größer werdenden Autos), obwohl doch ein allgemeines Bewusstsein von der Umwelt- und Klimakrise zu bestehen scheint. Es ist also an der Zeit, sich dieses Begriffes philosophisch von Neuem zu versichern. Dabei müssen wir uns zunächst darüber klar werden, warum er einst so inflationär verwendet wurde. Aus alten Fehlern sollte man gelernt haben, wenn das Spiel von Neuem beginnt (Yuill 2011). Überlegen wir daher, wie es zu dieser Inflation kommen konnte.

Wer von Entfremdung spricht, der will sagen, dass Menschen etwas »fremd« geworden ist, was es vorher nicht war. Wie kann eine solche Diagnose universal werden? Kann alles Eigene als fremd erscheinen? Für ein solches Allgemeinwerden kann es vier Gründe geben: Es kann erstens ein spezielles gesellschaftliches Phänomen meinen, welches universal geworden ist. In dieser Hinsicht sprach Adorno von einem »universalen Verblendungszusammenhang von Verdinglichung« (Adorno GS 7, 252) oder einer »totalen gesellschaftlichen Verblendung« (Adorno GS 4, 235, siehe Kap. 8). Wenn der Kapitalismus eine allgegenwärtige Entfremdung bewirkt, wie in der marxistischen Theorielinie angenommen wird (Kap. 6), dann könnte das etwa daran liegen, dass die kapitalistische »Landnahme« sich mittlerweile bruchlos auf jeden gesellschaftlichen Teilbereich erstreckt (Gesundheit, Renten, Verkehr, Erziehung, Bildung, Kultur usw.). Das ist eine starke These. Sie hinkt schon insofern, als man von einer völligen Entfremdung gar nicht wissen könnte – denn wüsste man von ihr, wäre sie nicht allumgreifend. Gleichwohl sprechen einige Autoren von einer »totalitären Herrschaft« des neuen Kapitalismus (Rosa 2012, 284; Pauen/Welzer 2015; siehe Kap. 10).

Zweitens könnte der Begriff Entfremdung etwas auf den Punkt bringen, was deshalb universal ist, weil es in der Natur des Menschen liegt. Es wäre damit zugleich unaufhebbar, weshalb diese Position zugleich als Kritik der ersten zu verstehen ist. Ein Phänomen, das aus der ersten Sicht als historisch und damit als überwindbar erscheint, wird hier als natürlich ausgegeben (siehe Kap. 7). Es ist aus dieser Perspektive kein Wunder, dass Entfremdung überall vorkommt, ja möglicherweise ist sie aus diesem Grund nicht einmal kritisierbar. Der Pädagoge Jürgen Hüllen etwa argumentiert: »Stets bleibt der existierende Mensch hinter seiner Idee vom wahren Menschen zurück; der Begriff des Menschen impliziert eine anthropologische Differenz.« (1982, 9) Hüllen findet Entfremdung daher schon bei Plato oder in der Bibel, womit sie ihren historischen und gesellschaftstheoretischen Index verliert. Eine verwandte Position werden wir bei Hegel kennenlernen, für den Entfremdung einen notwendigen kognitiven Prozess auf dem Weg zur Selbsterkenntnis darstellt (Kap. 4).

Drittens könnte man, in kritischer Reaktion auf die erste und zweite Lesart, darauf hinweisen, dass das Wort Entfremdung einen zu großen Bedeutungsumfang habe, um etwas Spezielles zu erfassen. Wenn es nur darum geht, dass etwas fremd werden kann, dann kann letztlich alles allem fremd werden und umgekehrt, daraus allein lässt sich noch keine Theorie machen. Für eine solche Verhältnisbestimmung benötige ich nur zwei Pole und kann dann den Abstand des einen Pols zum anderen als Entfremdung beschreiben. Gibt es in einer Philosophie etwa nur Welt und Gott, so kann ich entweder in-der-Welt und damit Gott entfremdet sein oder in-Gott-sein und damit der Welt entfremdet (in diesem Sinne schon Meister Eckhart, Nicolaus 1995, 19f.). Ähnliches lässt sich für Sinnlichkeit und Verstand, Subjekt und Objekt und jeden denkbaren philosophischen Dualismus durchspielen. Wenn man es profaner mag, kann man sich auch eine Person vorstellen, die zwischen zwei Liebhabern hin und hergerissen ist. Das Problem dieser allzu breiten Lesart ist folgendes: Es gibt in diesem Bild keinen Punkt der Nicht-Entfremdung mehr – außer jenem kurzen Moment der Indifferenz zwischen beiden Polen. Von einem solchen »glücklichen Augenblick« ist etwa bei Diderot die Rede (Thomä 2013, 192). Doch wenn solch kurze Momente der Unentschiedenheit und des Übergangs das Einzige wären, was sich als nicht-entfremdet denken lässt, dann verlöre die Entfremdungstheorie den Halt in einem starken Gegenbegriff von Entfremdung. Ein so breit angelegtes Wort würde alles Mögliche umfassen: Es kann den Verkauf eines Gegenstandes (auch »Veräußerung« genannt) ebenso meinen wie eine Sünde, ein postnatales Problem zwischen Mutter und Kind oder einen der eigenen Gemeinschaft durch abweichendes Verhalten fremd gewordenen »Outlaw«.

Aufgrund dieser Breite kann man die einstige Omnipräsenz des Wortes in einer vierten Lesart auch diskursanalytisch deuten. Es gab weltpolitische Gründe dafür, dass die Diskussion über Entfremdung mit einer Bedeutung aufgeladen wurde, die philosophische Themen sonst fast nie haben. Das heißt nicht, dass der beschriebene Gegenstand »universal« war, sondern dass es aus historischen Gründen besonders nahelag, sich philosophisch über dieses Thema zu verbreiten. Warum war das so? Zwar war in der Philosophie schon im 18. Jahrhundert von Entfremdung die Rede (wenn auch das Substantiv noch nicht gebildet wurde), doch zu einem großen Thema wurde sie erst bei Karl Marx – oder besser gesagt: mit der postumen Publikation seiner Pariser Manuskripte von 1844, in denen er seine Entfremdungstheorie entwickelt, im Jahre 1932 (Quante 2009, 334f.). Zu dieser Zeit war der Kommunismus, der sich auf Marx bezog, bereits eine Weltmacht geworden, hatte allerdings in Gestalt von Stalin auch schon seine repressive und gewaltsame Seite gezeigt. Das war für viele progressive Intellektuelle, die Sympathien für das Denken von Marx hatten, der Anlass, sich von dieser Politik abzuwenden (das Eigene war fremd geworden) und sich diesem Teil seiner Theorie zuzuwenden. Die heimatlosen Intellektuellen waren auf der Suche nach Orientierung – die Entfremdungstheorie bot sie.

Doch auch im Marxismus war die Entfremdungsthematik umstritten: Meinte das eine Lager, dass sich der spätere Marx von seinen anthropologischen Anfängen (und damit von der Entfremdungsthematik) verabschiedet habe, wie etwa Louis Althusser in einflussreichen Arbeiten behauptete, so waren andere wie der ›Freudo-Marxist‹ Erich Fromm oder der ›Weber-Marxist‹ Georg Lukács der Auffassung, dass noch das polit-ökonomische Denken des späteren Marx von den früheren Ansätzen motiviert gewesen sei. Doch hatte diese theoretische Vielfalt eine leicht nachzuvollziehende Logik: Am Thema der Entfremdung hatten die großen weltanschaulichen Gegensätze jener Zeit einen wunderbaren Stellvertreter. So konnte man entweder den Systemgegensatz – Kommunismus gegen Bürgertum – philosophisch abbilden und die bürgerliche Welt im Namen der Entfremdung kritisieren, wie das Georg Lukács und die Frankfurter Schule taten; oder man konnte gegen den Kommunismus ins Feld führen, dass Entfremdung entweder unaufhebbar sei, weil sie in der Natur des Menschen gründe, oder dass sie zwar spezifisch modern sei, sich aber nicht auf die Ökonomie beschränke (wie man Marx missverstand), sondern auch im Bereich von Politik und Verwaltung zu finden sei. Bereits Max Weber (1918) hatte ausgeführt, dass das, was Marx an der kapitalistischen Wirtschaft kritisierte (die »Trennung des Arbeiters vom Arbeitsmittel«), sich in der Moderne in allen möglichen »Anstalten« finde (Weber nennt hier die Universität und das Heer). Möglicherweise hatte der bürgerliche Staat darauf eine bessere Lösung gefunden als der kommunistische!

Dieses Thema ließ sich zu Hegel zurückverlängern: Entweder zeigte man mit der Abhängigkeit Marxens von Hegel auf, dass Marx im Grunde auch ein bürgerlicher Denker war (und der Sozialismus auf einem Irrtum beruhte); oder man versuchte mithilfe der schon bei Hegel angelegten Kapitalismuskritik nachzuweisen, dass dieser im Grunde ein Vorläufer des Sozialismus gewesen sei (dazu bereits Henning 2005: 336ff.). So kommt es, dass nicht nur marxistische Denker – ob nun systemtreue oder »westmarxistische« Dissidenten – über Entfremdung schrieben, sondern auch gestandene konservative Denker wie etwa Ernst Nolte (1952), Günter Rohrmoser (1961), René König oder Arnold Gehlen (1963).

Schließlich konnten sich auch die heimatlosen Linken mit dieser Idee auf Marx berufen, wenn sie den Realsozialismus kritisieren wollten – Entfremdung erlaubte eine innersozialistische Kritik, die sich in den 1930er und 1940er Jahren bei Herbert Marcuse ebenso findet wie noch in den 1970er Jahren in der osteuropäischen Praxisphilosophie; und sie erlaubte es den sich als radikaler verstehenden Ultra-Marxisten wiederum, sich von dieser weichen, als zu »humanistisch« empfundenen Kritik abzugrenzen, wie es paradigmatisch Louis Althusser tat, was als radikale Überbietungsgeste über den Marxismus, etwa noch bis Michel Foucault, hinauswirkte. Wer sich mit der Diskussion um Entfremdung befasst, hat es also stets mit einem guten Stück Zeitgeschichte zu tun.

Mit dem Fall der Mauer – und der vorangehenden Ermüdung diesseits des eisernen Vorhangs – kam dem Thema der Entfremdung der welthistorische Resonanzboden abhanden. Mit der langen Krise des Marxismus ist es auch um die Entfremdungstheorie stiller geworden.9 Durch die postmoderne Essentialismuskritik der 1980er Jahre sind sogar mögliche Gegenbegriffe einer Entfremdung philosophisch fragwürdig geworden (etwa Authentizität, Autonomie und Selbstverwirklichung). Wer heute die Aufmerksamkeit der peers erregen möchte, schreibt lieber über spekulativen Materialismus, Postkolonialismus oder Intersektionalität. Doch damit ist noch nichts über den Gegenstand selbst gesagt. Ob es Erfahrungen von Entfremdung noch gibt oder nicht, ist nicht davon abhängig, ob es gerade en vogue ist, darüber zu sprechen. Diese Frage kann nur empirisch beantwortet werden.10 Aber innerhalb dieser Empirie gibt es ein Problem, das gelöst werden muss.

Ein Problem: Muss man wissen, dass man entfremdet ist, um entfremdet zu sein?

Kann man eigentlich auch dann von Entfremdungserfahrungen reden, wenn die Personen, die solche Erfahrungen machen, diese selbst nicht als Entfremdung beschreiben? Diese uralte Streitfrage hat mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen der Sache und dem Reden über diese Sache zu tun: Ist das Vorliegen von Entfremdungserfahrungen davon abhängig, dass es einen Diskurs über Entfremdung gibt? Und was würde es für diese Erfahrungen bedeuten, wenn es theoretisch nicht mehr »chic« wäre, sie als Entfremdung zu deuten? Sind sie objektiv noch immer als Entfremdung zu dechiffrieren oder wäre dies bloß ein besserwisserischer Paternalismus, vor dem neuere »kritische Theorien«, die niemandem wehtun wollen, auf der Hut sind?

Das ist eine vertrackte Frage, denn beide Antwortmöglichkeiten bringen Probleme mit sich: Altmarxisten könnten sagen, dass ein Wissen von der Entfremdung nicht nötig ist, um als entfremdet zu zählen (vgl. MEW 2, 37). Geht man mit Adorno davon aus, dass der »Verblendungszusammenhang« universal ist, dann kann man gar nicht wissen, dass man entfremdet ist – denn wüsste man es, wäre man nur zum Teil entfremdet. Es macht aus dieser Sicht keinen Sinn, eine Entfremdungsdiagnose daran zu koppeln, dass die Betroffenen wissen, dass sie entfremdet sind, denn damit würde man einen Großteil der Phänomene, um die es geht, aus dem Blick verlieren. Um es überspitzt zu sagen: Auf diese Weise »entfremdet« werden in dieser Tradition (etwa bei Fromm 1941) solche Menschen genannt, die sich ihre Freiheit für ein Linsengericht haben abkaufen lassen. Sie lesen die falschen Zeitungen, hören die falsche Musik (den von der »Kulturindustrie« für sie vorgefertigten gedankenlosen »Schund«, Adorno GS 3, 141), sie wählen daher womöglich die falschen Politiker und affirmieren insgesamt die katastrophalen gesellschaftlichen Verhältnisse. Und zwar tun sie das, obwohl sie mit alldem eigentlich unglücklich sind. Doch weil sie die Lage nicht verstehen (ihnen fehlt die »Einsicht in die Gestaltbarkeit«, Jaeggi 2013, 445), finden diese Menschen nur vorreflexive Wege, ihre Frustration abzubauen: Sie werden »autoritäre Persönlichkeiten«, üben sich in Gewalt oder müssen zur Flasche greifen. Wird es gar zu arg, suchen sie sich einen Sündenbock, auf den sie ihren Zorn ableiten; dann werden sie Nationalisten und Chauvinisten. Müsste man angesichts einer solchen Diagnose darauf warten, dass diese Menschen »erwachen« (wie Walter Benjamin es nannte) und die ihnen gestellte Diagnose teilen, könnte man all das nicht mehr kritisieren. Denn dass sie es nicht tun (dass zum Beispiel so viele deutsche Arbeiter zur Weimarer Zeit national wählten), das drückt ja gerade ihre Entfremdung aus.

Aus dieser Sicht muss man »Entfremdung« also aus einer Beobachterperspektive feststellen, man muss einen »Bruch mit den … Selbstdeutungen der Akteure« vollziehen (Celikates 2009, 137). So repräsentierte das Proletariat für den jungen Marx den »völligen Verlust des Menschen«: Es sei eine Klasse, die »einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt«, weil »das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird« (MEW 1, 390). Universelles Leiden und völliger Verlust des Menschen – das könnte heißen, dass die Betroffenen von außen befreit werden müssten, wie es die leninistische Partei neuen Typs dann praktizierte, indem sie den Proletariern das Klassenbewusstsein nur »zugerechnet« hat (Lukács 1923, 73, siehe Kap. 8). Eine solch herabblickende Sicht auf die Arbeit hat philosophisch eine lange Tradition. Weil Arbeit die Menschen kulturell degradiere, waren die Arbeitenden schon bei Aristoteles aus der Bürgerschaft ausgeschlossen, und David Hume urteilte noch im 18. Jahrhundert: »poverty and hard labour debase the minds of the common people, and render them unfit for any science and ingenious profession« (Hume 1742: I.XXI.3; siehe Adam Smith in Kap. 6).

Aus dieser Beobachterperspektive wird ein – wenn auch wohlmeinendes – Urteil über Menschen gefällt, ohne dass sie ein Mitspracherecht haben. Ein früher Kritiker pointierte das so: »Many assertions of ›alienation‹ are simply and accurately described as contentions that members of some ›problem‹ groups are at odds with the spokesman’s value orientation« (Lee 1972, 123; Zima 2014, 3). Das wäre paternalistisch. Nun lassen sich manche Formen von Paternalismus rechtfertigen (etwa in der Erziehung oder Medizin). Zu kritisieren ist Paternalismus vor allem dann, wenn er sich nicht rechtfertigen lässt – zum Beispiel weil er auf einer metaphysischen Grundlage beruht, die nicht alle teilen. Aussagen über die »wahre Natur« der Menschen sind, so sagen Kritiker, solch metaphysische Ansprüche, denn in Wirklichkeit hätten wir keinen epistemischen Zugang zu solchen Dimensionen (Jaeggi 2005, 43ff.).

Die jüngere kritische Theorie schließt daraus, man dürfe die Menschen nicht länger mit inhaltlichen Diagnosen konfrontieren, die sie vielleicht nicht unterschreiben würden. Der abstrakteren »Kritik neuen Typs« (Jaeggi 2013, 278) geht es nur noch darum, Lebensformen zu etablieren, unter denen die Menschen eine solche Kritik selbst artikulieren können. Aber wird damit nicht impliziert, dass Menschen, die das nicht tun, »unvernünftig« leben? Es könnte nämlich Folgendes unterstellen: ›Die Menschen müssen es zwar selber tun, aber wir müssen sie erst einmal dazu bringen, es tun zu können.‹ Wäre das nicht ebenso bevormundend wie die leninistische Parteitheorie, deren Fallstricken man entkommen möchte (und von der der »neue Typ« kommt)? Damit wird das Problem auf eine höhere Abstraktionsebene verschoben, ohne es zu lösen: An die Stelle einer inhaltlich-empirischen Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen wird nur noch (quasi-transzendental) auf notwendige Lebensstil-Bedingungen jeder möglichen Kritik verwiesen, und man überlässt den Rest den Betroffenen selbst.

Wenn man Entfremdung nur dort erblickt, wo die Menschen wissen, dass sie entfremdet sind, ist die Diagnose einer Entfremdung nicht länger paternalistisch, denn sie lässt sich auch von innen erkennen und kritisieren. Dafür spricht schon das Wort: Ent-fremdung heißt ja, dass einem selbst etwas fremd wird. Doch fremd werden kann mir etwas nur, wenn es nicht immer fremd war, sondern ich »das andere« noch kenne (Anders 1956, 128). Wer aber weiß, wie es anders geht, kann auch erkennen, dass im gegenwärtigen Zeitalter etwas nicht in Ordnung ist. So ging auch der Marxismus vor Lenin von der »Selbsttätigkeit« (MEW 4, 490) der Unterdrückten aus (»es kann die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter sein«). Das klingt weniger fremdbestimmt, hat jedoch einen anderen Haken: In dieser Fassung verliert die Theorie ihren aufschließenden Charakter – und damit ihren Sinn. Wenn man diese Theorie nur artikulieren kann, wenn die anderen ohnehin schon wissen, dass es so ist, braucht man sie nicht mehr. Was theoretischen Paternalismus vermeiden will, schlägt am Ende auf die Theorie selbst zurück. Die zu erwartende Reaktion aus der ersten Richtung wäre zudem, dass man so all die Entfremdungsphänomene aus dem Blick verliert, bei denen nicht immer schon auf eine totale Selbsttransparenz der Menschen gerechnet werden kann.

Damit stehen wir vor der unerfreulichen Wahl zwischen zwei wenig attraktiven Möglichkeiten: entweder für andere reden und paternalistisch sein oder auf das Wissen der anderen vertrauen, damit den Gegenstandsbereich einengen und sich als Theorie erübrigen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass auch Gayatri Spivak sich in ihrem berühmten Aufsatz Can the Subaltern Speak? in diesem Zwiespalt gefangen sieht: Einerseits war es die Absicht der Postcolonial Studies, nicht einfach eine westliche Theoriesprache auf nicht-westliche Kontexte aufzupressen, sondern die anderen Verhältnisse in ihrer Andersheit zu markieren. Manche westliche Adepten folgerten daraus, sie dürften nicht länger für diese anderen sprechen (was die eigenen Theorien, etwa der Entfremdung, erübrigte), sondern sie müssten diese selbst sprechen lassen. Genau dagegen wendet sich Spivak: Subalternen ohne Weiteres zuzumuten, politisch und intellektuell für sich selbst zu sorgen, überspringe gerade deren tatsächliche Situation von Unterdrückung, Ausbeutung und Ausgrenzung. Der Effekt der poststrukturalistisch inspirierten Selbstaufgabe des kritischen Vokabulars auf Seiten westlicher Intellektueller sei ein unangebracht naiver Blick auf verwickelte globale Situationen. Sie bewirke eine Entsolidarisierung ausgerechnet im Namen des Postkolonialismus.11

Es bietet sich daher an, Entfremdung auf eine dritte Weise zu verstehen, die beide Extreme vermeidet. Man benötigt kein klares Bewusstsein davon, entfremdet zu sein, um »entfremdet« genannt werden zu können. Doch man kann nicht alles und jeden entfremdet nennen, auch wenn die Betroffenen das nicht einsehen. Die mittlere Position besagt, dass die Betroffenen zumindest Betroffene sein, also unter etwas leiden müssen, damit die Diagnose triftig wird. Auch Marx ging von einem Leiden aus, wenn er schrieb, dass der entfremdete Arbeiter »sich in seiner Arbeit … nicht wohl, sondern unglücklich fühlt« (MEW 40, 514; s.o. das »universelle Leiden«). In einer Situation des diffusen Unbehagens tritt die Entfremdungstheorie als Deutungsvorschlag auf, welcher das Leiden möglicherweise theoretisch erklären und den Widerwillen dagegen praktisch kanalisieren kann.12 Zwar ist nicht jede Art von Leid als Kandidat für eine Entfremdung zu verstehen, sondern nur diejenigen Varianten, die sinnvollerweise mit gesellschaftlichen Faktoren in Verbindung gebracht werden können.13 Aber ohne ein tatsächliches Leiden fehlt der Anhaltspunkt für diese Theorie. Luc Boltanski und Eve Chiapello haben das elegant ausgedrückt (mehr zu ihnen in Kap. 9):

»Die Versprachlichung der Kritik setzt eine leidvolle, als beklagenswert empfundene Erfahrung voraus […] Ohne diese erste, im Grunde sentimentale Gefühlsregung kann das Schwungrad der Kritik nicht in Gang kommen. Allerdings ist es ein weiter Weg vom Anblick des Leids bis zur artikulierten Kritik. Der Kritiker benötigt dazu eine theoretische Grundlage und eine argumentative Rhetorik. Nur so kann er sich zu Wort melden und das individuelle Leid in allgemeinwohlorientierte Begrifflichkeiten fassen.« (Boltanski/Chiapello 1999, 79)

Mit diesem Verweis auf sozial induziertes Leid als Anhaltspunkt ist der Vorwurf des Paternalismus