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fratribus caelibatu oppressis

 

 

Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden einige Namen und Orte in den Gesprächsprotokollen verändert.

 

 

ISBN 978-3-492-99219-0

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Godong/Plainpicture; Paula Daniëlse/Getty Images

Datenkonvertierung: Tobias Wantzen, Bremen

 

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»Im Bedarfsfall muss nicht das Priestertum dem Zölibat, sondern der Zölibat dem Priestertum geopfert werden.«

Maximos IV. Saigh, Patriarch von Antiochien, Jerusalem und dem ganzen Osten und Alexandria der melkitischen griechisch-katholischen Kirche in einer Eingabe auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

 

Sexualität

Nur geküsst haben sie sich nicht

Zölibat in Bibel und frühem Christentum

Der Zölibat in der Geschichte der Kirche

Siebzehn Jahre Heimlichkeit

Zölibat, Spiritualität und Berufung

Zölibat und Ordensgelübde

Nackt vor dem Freund und nackt vor Gott

Die viri probati

Die Kirche ist aus mir ausgetreten

Zölibat und Homosexualität

Manchmal bricht das völlig abrupt aus

Zölibat und sexueller Missbrauch

Vom Altar zum Arbeitsamt

Der Zölibat und die unierten Kirchen

Zukunft ungewiss

Zölibat und Priestermangel

Meine Vision des Amtes in der Kirche in unserer zukünftigen Gesellschaft

 

Ausgewählte Literaturhinweise

Vorwort

»Schon wieder eine Veröffentlichung zum leidigen Thema Zölibat!« So oder ähnlich lauten die ersten Sätze von zwei der neueren Bücher, die im Literaturhinweis am Ende dieses Buches angeführt werden. Auch ich hatte meine Zweifel, als sich im Gespräch mit Verlegerin und Co-Autor das Thema herauskristallisierte. »Ist das Thema nicht ausgelutscht?«, fragte ich mich. Dann kamen wir aber zu dem Schluss: Die Zeit ist reif, auch wenn der Zölibat eigentlich noch nie zeitgemäß war, sondern schon immer eine Illusion, eine Lebenslüge – und für alle Beteiligten ein riesiges Problem. Was natürlich auch zu der Zeit galt, als ich Mönch in Andechs war. Und genau aus diesem Grund zögerte ich, dieses Buch zu schreiben. Weil ich weiß, wie wunderbar diese Schlagzeilen funktionieren würden: »Ex-Prior packt aus: So trieben sie es im Kloster Andechs.«

Allen an solchen Geschichten Interessierten sei schon an dieser Stelle gesagt: Ich will und ich werde in diesem Buch keine Bettgeschichten auspacken. Keine, die ich erlebt habe, und keine, von denen ich weiß. Ich sehe keinen Grund dafür, mich, Mitbrüder in den Orden oder Priester im Dienst von Diözesen zu outen, gleich ob hetero- oder homosexuell. Keiner der Fälle, die mein Co-Autor in diesem Buch exemplarisch beschreibt, stammt aus meinem Bekanntenkreis. Natürlich kenne auch ich viele Priester, die nicht zölibatär leben, die miteinander das Bett teilen, die Freundinnen oder Freunde haben, kurze Affären und jahrzehntelange Beziehungen. Auch solche, von denen ich weiß oder ahne, dass sie anonymen Sex haben, in Bordellen oder schwulen Darkrooms. In der Summe sind es mehr als die, von denen ich annehme, dass sie den Zölibat halten, wenigstens so gut es geht.

Das alles hat aber nichts mit Sodom und Gomorrha zu tun und ist kein Anlass für Headlines in der Zeitung. Es ist schlicht die menschliche Normalität, die jeder Katholik, der ein bisschen genauer hinsieht, auch kennt beziehungsweise kennen sollte.

Es ist aber auf der anderen Seite die große Lüge der katholischen Kirche, dass sie diese Normalität nicht anerkennt, sondern stattdessen ein Ideal zur Norm macht, dem kaum ein Mensch entsprechen kann. Und dass sie dann zu allem, was daraus folgt, die Augen verschließt und schweigt. Die drei berühmten Affen (nichts sehen, nichts hören, nichts sagen) symbolisieren diese katholische Scheinheiligkeit, und sie repräsentieren nicht nur die Kirchenoberen, sondern auch die große Not der einfachen Priester und der engagierten Gläubigen. Weil niemand offen darüber spricht, schon gar nicht in der Ausbildung, leiden darunter am meisten die, die sich auf das Priestertum oder gar das Mönchtum einlassen und dann ganz persönlich, hautnah sozusagen, aufschrammen mit ihrer persönlichen Sexualität. Gerd Henghuber zeigt in seinen Reportagen, dass viele Kleriker vielleicht zu jung, sicher aber zu naiv in ihre Berufung gehen. Das Thema Sexualität wird erst später virulent. So wie bei mir.

Als ich mit neunzehn Jahren gleich nach dem Abitur ins Münchner Priesterseminar eintrat, war ich felsenfest davon überzeugt, dass der Zölibat sinnvoll ist und dass ich ihn, wenn schon nicht leicht, so doch aufrichtig einhalten könnte. Zwei Jahre später wurde ich Benediktiner in der Abtei St. Bonifaz in München mit dem angeschlossenen Wirtschaftsgut Kloster Andechs. Benedikt kennt in seiner Ordensregel aus dem 6. Jahrhundert die Gelübde der Beständigkeit, des Gehorsams und des klösterlichen Lebenswandels. Letzteres umfasst die persönliche Besitzlosigkeit und die sexuelle Enthaltsamkeit. Auch das konnte ich mit Enthusiasmus und frohem Herzen bei meiner Profess versprechen. Als Novize und junger Mönch machte ich mir keinerlei Gedanken darüber, welche sexuellen Bedürfnisse ich habe und wie ich damit als Ordensmann umgehen soll. Tatsächlich lenken die Ausbildung, die Tätigkeit, die Verantwortung auch erst einmal stark davon ab.

Im Lauf der dreißig Jahre meiner Ordenszugehörigkeit bin ich freilich realistischer geworden, was mich persönlich betrifft – ebenso wie viele andere Ordensleute und Priester, die ich im Lauf der Zeit kennengelernt habe. Erst als ich schon längst Mönch war, begann auch ich, mich nach Nähe, nach Geborgenheit, nach Zärtlichkeit zu sehnen und sie auch zu suchen, so wie es fast alle tun, die das Gelübde der Ehelosigkeit gegeben haben: im Geheimen, mit Gewissensskrupeln, auch mit Angst vor der Entdeckung und den Konsequenzen, die das Kirchenrecht vorsieht. Mein Ordensaustritt war zwar nicht primär vom Problem der Enthaltsamkeit bestimmt, aber auch das spielte eine Rolle.

Warum also dann doch dieses Buch? Weil ich zum einen weiß, wie sehr Priester und Ordensleute unter dem Zölibat zu leiden haben. Ja, auch Mönche von Andechs haben ihre Sexualität. So wie Mönche in allen Klöstern und ein Großteil aller Priester. Zum anderen ist es für mich offensichtlich, dass das Gebot der Ehelosigkeit ein wesentlicher Grund dafür ist, dass es um die Kirche heute so kritisch steht. Unter dem schlimmen Priestermangel haben die Katholiken in den Gemeinden zu leiden, denn ohne Priester ist katholisches Leben bedroht. Gerade diese Sorge wurde mir von vielen aufrichtigen Menschen immer wieder ans Herz gelegt.

Tatsächlich geht es beim Problem des Zölibats um viel mehr als das unerfüllte Sexualleben von Priestern. Es betrifft im Grunde die Existenz der katholischen Kirche, zumindest in den westlichen Ländern. Hier ist heute der Priestermangel so spürbar wie noch nie zuvor – vielleicht die unmittelbare Zeit nach der Säkularisation von 1803 ausgenommen. Damals lag die katholische Kirche in den deutschen Landen danieder, und es dauerte Jahrzehnte, bis sie sich vom Kahlschlag der staatlichen Enteignung und Zerschlagung ihrer Organisation erholen sollte. Es gibt aber einen eklatanten Unterschied. Heute haben wir einen religionsneutralen, wenn nicht sogar freundlich gesinnten Staat. Der Mangel ist nicht von außen erzwungen, sondern kommt aus dem Inneren der Kirche.

Die Säkularisation von 1803 war vor allem eine Frage des Eigentums und der weltlichen Herrschaft. Das Glaubensleben der Gesamtbevölkerung blieb davon weithin unberührt. Die Säkularisation von heute hingegen bedeutet einen exponentiellen Rückgang der kirchengebundenen Gläubigkeit. Und er wird noch beschleunigt durch den zahlenmäßigen Schwund der Priesterschaft. Sicher, das Zweite Vatikanische Konzil hat erklärt, dass Kirche das ganze Volk Gottes umfasst, also aus allen Gläubigen, den sogenannten Laien und der Priesterschaft besteht. Nicht nur die Diakone, auch die Priester und Bischöfe müssen ihr Amt als Dienst an diesem Gottesvolk verstehen. Und nicht nur die Amtsträger, sondern alle haben Sorge zu tragen für die Weitergabe des Glaubens. Aber das Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche als Grundsakrament, das sich in sakramentalen Strukturen entfaltet, ist auf dem Weiheamt aufgebaut und darauf angewiesen. Zur Feier der Eucharistie, dem Quell und Höhepunkt des gemeindlichen Lebens, und anderer Sakramente wird der Gemeindeleiter durch die Weihe des Bischofs beauftragt. Auch zum Dienst der Verkündigung und des Kümmerns um die Bedürftigen ist er bestellt.

Daher muss es Sorge der ganzen Kirche sein, dass für jede Gemeinde wenigstens ein Priester zur Verfügung steht. In anderen Regionen des Erdkreises mag es anders sein – auf der Nordhalbkugel jedenfalls nimmt die Zahl der Priester und Priester-Anwärter mit einem enormen Tempo ab. War früher die ganze Gemeinde auf den Priester, den Pfarrer und den Kaplan fixiert, so fällt heute eine kirchliche Bezugsperson in der Fläche oft aus. Ich war selbst in meiner Zeit als Benediktiner fünf Jahre lang Kaplan in der Münchner Innenstadtpfarrei St. Bonifaz und vier Jahre lang Pfarrer in dem Dorf Machtlfing, Teil der Gemeinde Andechs. Dort habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, nicht nur beim Gottesdienst, sondern auch im Pfarr- bzw. Gemeindeleben präsent zu sein. Oder, wie es das Schlussdokument des Konzils fast poetisch ausgedrückt hat: »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.«

Das Rezept für eine gelingende Seelsorge besteht in der Teilhabe am Leben der Menschen, an deren Seite man gestellt ist. Das kann nicht gelingen, wenn die Distanz zwischen Pfarrer und Gemeinde durch den Zusammenschluss zu Pfarrverbänden immer größer wird, sodass ein Priester allein für große Gebiete zuständig ist. Es wird immer wieder geschildert, wie Pfarrer von einem Sonntagsgottesdienst zum anderen hetzen. Manche behalten sogar das Messgewand an, wenn sie zum Auto hasten, um in der nächsten Kirche nicht zu viel Zeit in der Sakristei zu verlieren. Das ist eine Perversion dessen, was das Konzil sich unter einem guten, liturgisch sauber zelebrierten Gottesdienst vorgestellt hat. Im Anschluss bleibt oft keine Zeit mehr für den wichtigen zwischenmenschlichen Kontakt, der früher beispielsweise beim Frühschoppen in der Wirtschaft gepflegt werden konnte. Mein Abt Odilo Lechner hat das einmal so beschrieben: In der Kirche hat der Pfarrer den Frauen gepredigt und im Wirtshaus den Männern.

Heute verwaltet die Kirche immer schlechter den für alle spürbaren Mangel. Einen Mangel nicht an Finanzen, nicht an Organisationsstrukturen, aber an Begeisterung und an »Bodenpersonal«. Mit Letzterem meine ich ausdrücklich nicht die Verwaltungs- und Leitungsebene. Wir haben Priestermangel, Bischofsmangel wird es wohl nicht geben. Natürlich ist der Zölibat nicht der einzige Grund für den derzeitigen Priestermangel. Aber er ist der am leichtesten zu beseitigende! Trotzdem scheint es der Kirche unendlich schwerzufallen, diese obsolet gewordene Tradition aufzugeben, obwohl auch die konservativsten Theologen zugeben müssen, dass die Ehelosigkeit weder von der Bibel noch von der Tradition her notwendigerweise zum Priestertum gehört.

Was man meist vergisst, ist die Tatsache, dass zu früheren Zeiten, oft noch bis in das 20. Jahrhundert hinein, die Eheschließung und Gründung einer Familie nicht allen Menschen möglich war. Nur wer über auseichendes Einkommen verfügte, konnte Frau und Kinder ernähren. Und das war viel dünner gesät als heute. Geschwister blieben als ledige Knechte und Mägde auf dem Hof des Erben, Gesellen konnten oft erst heiraten, wenn sie eine verwitwete Meistersgattin fanden. Ein zölibatärer Priester war in der alten Gesellschaft ein angesehener Unverheirateter unter anderen und damit viel »normaler«, als er es heute ist, wo die meisten Menschen die Möglichkeit haben zu heiraten.

Ein Grund für den Priestermangel dürfte in unseren Breiten auch der Rückgang der Kinderzahl pro Familie sein. Noch bis in die unmittelbare Nachkriegszeit hinein waren für katholische Familien, zumal in ländlichen Gebieten, fünf bis zehn Kinder keine Seltenheit. Schon aus Gründen der Ehre, aber auch der Versorgung war es oft üblich, dass eines der Kinder ins Kloster ging oder Priester wurde. Seitdem auch Katholiken Familienplanung praktizieren und die Kindersterblichkeit ganz massiv zurückging, hat sich auch bei ihnen die Familienformel 2 + 2 (Eltern und höchstens zwei Kinder) durchgesetzt.

Damit einher ging das Phänomen, das ich oben schon mit der Säkularisierung unserer Gesellschaft gezeichnet habe. Die kirchliche Bindung verdunstet von Generation zu Generation. Waren die Großeltern noch fest verwurzelt im Glauben und der Praxis des Gottesdienstbesuchs, so gingen die Eltern nur noch zu den hohen Feiertagen oder bei Kasualien wie Hochzeit, Taufe und Beerdigung in die Kirche. Die Generation der Kinder – zumindest in ihrer zahlenmäßigen Mehrheit – empfindet überhaupt keine Bindung an die Pfarrei oder gar die Institution Kirche mehr. Ihnen fällt es dann auch nicht mehr schwer, mit dem ersten selbst verdienten Lohn den Entschluss zu fassen, aus der Kirche auszutreten, um Kirchensteuer zu sparen. Das muss gar keine Gegnerschaft zu Glauben und Kirche ausdrücken, selbst dazu fehlt oft das Interesse. Es ist einfach Gleichgültigkeit. Die Kindeskinder werden dann nicht mal mehr getauft. Natürlich gibt es nach wie vor katholische Milieus, aus denen sich der Priester- und Ordensnachwuchs weiterhin rekrutiert, aber es sind eben deutlich weniger als früher, und sie bilden nicht mehr, wie noch zu meiner Studienzeit, einen breiten Querschnitt der Gesellschaft ab. Kirche wird dadurch nicht nur kleiner, sondern leider auch enger.

Auch das wird innerkirchlich viel zu wenig thematisiert. Engagierte Christen nehmen die jungen, mehrheitlich konservativen Priester, die heute aus den Seminaren kommen, entweder unwidersprochen hin – oder sie bleiben weg. Es gibt wenig Widerstand gegen einen innerkirchlichen Mainstream, der im Grund nicht mit der westlichen Welt kompatibel ist. Man schluckt und tut so, als sei nichts. Auch das ist eine Form von katholischer Inkonsequenz, ja Scheinheiligkeit, die wir, mein Co-Autor und ich, nicht verstehen: Wieso gibt es in dieser Kirche, die doch so sehr um Wahrheit und Wahrhaftigkeit bemüht ist, stillschweigend eine eigene Welt in der anderen? Wieso werden Missstände nicht, wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen, angeprangert, diskutiert, reformiert? Wieso erschrickt man immer aufs Neue, wenn sie offenbar werden, zuckt dann mit den Schultern – und schweigt?

Unser Buch heißt Bei aller Liebe. Wir haben uns für diesen Titel entschieden, weil er mehrere Deutungen enthält. »Bei aller Liebe« weist zunächst auf die Liebe zwischen zwei Menschen hin, die öffentlich zu leben bisher römisch-katholischen Priestern nicht möglich ist. Dies liegt nicht nur am Zölibatsgesetz, sondern auch grundsätzlich an einer Moralauffassung der Kirche, die noch keine dem modernen Leben angemessene Einstellung zur Sexualität gefunden hat. Es geht nicht um »Anything goes« oder eine Praxis des »Laisser-faire«, es geht um eine Hilfe und Orientierung in diesem wichtigen Bereich der menschlichen Existenz, die nicht weltfremd und doch am Hauptgebot des Christentums orientiert ist: dem Liebesgebot.

»Bei aller Liebe« drückt aber auch meine Einstellung und die meines Co-Autors Gerd Henghuber gegenüber der Kirche aus. Bei aller Liebe, das sagt man als Einschränkung gegenüber einer Person, Sache oder Institution, der man grundsätzlich gewogen und zugewandt ist, aber in einigen Punkten Vorbehalte hat. Als ich aus dem Kloster austrat, war meine Liebe zur Kirche auf den Prüfstand gekommen. Doch nach einiger Zeit habe ich gemerkt, dass sie nach wie vor meine Heimat ist. Ich werde sie nicht los und sie wird mich nicht los. Ein Freund hat das mir gegenüber einmal so ausgedrückt: »Du liebst deine Mutter Kirche, aber sie hält dich auf Distanz.« Diese Liebe ist der Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Ich möchte meiner Kirche dabei helfen, die Zeichen der Zeit zu verstehen. Jetzt ist der Kairos, der geeignete Augenblick, gekommen, sich von der unglückseligen Zölibatsverpflichtung zu trennen. Sonst steht die Kirche wieder einmal, um ein Bild eines meiner Professoren zu verwenden, am Bahnsteig der Geschichte und sieht den Schlusslichtern des abfahrenden Zuges nach. »Vox temporis – vox Dei« war der Wahlspruch des früheren Erzbischofs von München und Freising, Kardinal Michael Faulhaber: »Die Stimme der Zeit ist die Stimme Gottes.« Wenn wir das ernst nehmen, ist der Priestermangel ein Hinweis darauf, dass wir etwas grundsätzlich ändern müssen. Wir müssen den Pflichtzölibat abschaffen.

Ich weiß, ich tue mich heute leichter als andere. Ich bin seit Langem, wie ein Redakteur schrieb, ein Gratwanderer zwischen Kirche und Welt. Seit meinem Austritt aus dem Benediktiner-Orden habe ich einen eigenartigen kirchenrechtlichen Status: Ich bin von meinen Mönchsgelübden dispensiert, das heißt befreit, aber nicht vom Priesteramt suspendiert oder gar laisiert. Ich gehöre keinem kirchlichen Verband, keinem Bistum und keiner Ordensgemeinschaft an. Ich erhalte kein Geld von der Kirche, sondern verdiene meinen Lebensunterhalt selbst. In meinem päpstlichen Entlassungsdekret steht ausdrücklich, dass ich mit Erlaubnis des jeweiligen Bischofs meine Weihe ausüben darf. Das bedeutet, dass auch ich selbst nach wie vor zum Zölibat verpflichtet bin, obwohl ich von meiner Kirche auf Distanz gehalten werde. Zumindest empfinde ich das so, denn trotz mehrmaliger Angebote meinerseits zu einem nebenberuflichen priesterlichen Dienst sieht die Kirche für mich keine geeignete Aufgabe – oder will sie nicht sehen. Meine Einstellung zum Thema Sexualmoral in der katholischen Kirche lege ich im entsprechenden Kapitel dieses Buches dar. Sie mag nicht jedem Vertreter der reinen kirchlichen Lehre schmecken, aber ich glaube, sie könnte die Kirche aus der Sackgasse herausführen, in die sie sich manövriert hat. Auch das ist ein Punkt des aggiornamento, des »Heutigwerdens«, wie es Papst Johannes XXIII. als Programm der Kirche seiner – und damit auch unserer – Zeit aufgegeben hat.

Heute befasse ich mich beruflich vor allem mit Werteorientierung in Wirtschaft und Gesellschaft. Ich suche Antworten auf die immer wieder gestellte Frage: Wie führe ich ein Unternehmen, eine Organisation erfolgreich durch den ständigen Wandel, den die Gesellschaft, die Welt, der Markt, die Menschen erleben? Ich bin davon überzeugt, dass es die persönlichen und institutionellen Werte sind, die den langfristigen und dauerhaften Erfolg herbeiführen. Unternehmen müssen oft einen langwierigen Prozess in Gang setzen, um sich ihrer Werte bewusst zu werden. Und einen noch schwierigeren, um diese Werte auch in allen Hierarchiestufen und Bereichen zum Leben zu bringen. Die Kirche als Organisation hätte es da eigentlich leichter: Ihre Werte liegen offen da. Wenn ich die Bergpredigt richtig verstehe, fasst Jesus seine Ethik, sein Wertesystem in einem einzigen Gebot zusammen: dem Hauptgebot der Liebe – mit Gottesbezug. Und die Goldene Regel tut dasselbe für Agnostiker. Papst Franziskus konkretisiert sie in seiner Art mit dem Begriff der Barmherzigkeit. Zusammen mit seiner Maxime »Die Wirklichkeit kommt vor der Idee« könnte das auch ein Hinweis für die Zukunft des Zölibats sein. Die Wirklichkeit besteht darin, dass der Zölibat in den meisten Regionen dieser Welt ein Hindernis für die Zukunft der Kirche darstellt. Mag seine Idee zu anderen Zeiten und in anderen Räumen noch so überzeugend (gewesen) sein: Dort, wo er nicht mehr verstanden wird, behindert er die überzeugte und überzeugende Weitergabe und Feier des Glaubens und die Praxis der Nächstenliebe, die immer ein USP, ein Alleinstellungsmerkmal des Christlichen sein sollte.

Dieses Buch besteht aus zwei Teilen: einem knappen theologischen und einem praktischen Teil. Letzterer wird gebildet durch eine Anzahl von Berichten persönlich durch den Zölibat Betroffener. Absicht ist dabei nicht, eine »chronique scandaleuse« von Zölibatsbrechern aufzulisten, sondern die Realität zu zeigen – und das mehr oder weniger große Leid, das mit dem Zölibat entsteht: für die Priester, ihre Freundinnen und Freunde, und natürlich auch für die Gemeinden. Es sollen dadurch auch nicht all die ins Hintertreffen geraten, die sich in Geschichte und Gegenwart aufrichtig bemüht haben, den Zölibat im Sinn der Kirche zu leben. Wenn sie dabei die Liebe und das Erbarmen Gottes zu den Menschen im Sinn Jesu vermitteln konnten, verneige ich mich vor ihnen mit Respekt.

Die Widmung auf dem Vorsatz des Buches »fratribus caelibatu oppressis« (den vom Zölibat bedrängten Brüdern) verstehe ich in dreifacher Hinsicht: Ich widme dieses Buch den vielen Priestern, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten wegen des Zölibatsgesetzes ihren Dienst verlassen haben, um mit ihrer Frau oder ihrem Partner zusammenleben zu können. Viele von ihnen könnten mit einem Federstrich der kirchlichen Obrigkeit wieder reaktiviert werden und wunderbare Seelsorger sein, wie sie es viele Jahre waren.

Ich widme dieses Buch auch den Priestern, die recht und schlecht versuchen, ihre reife Sexualität und ihr Priesterleben in Einklang zu bringen. Manche von ihnen tun dies mit einem ständig schlechten Gewissen, viele mit der Angst, denunziert und dann gemaßregelt zu werden. Ich meine hier ausdrücklich nicht die Missbrauchstäter, deren Treiben die Kirche in jüngster Zeit ganz gehörig gebeutelt hat.

Und ich widme dieses Buch auch denen, die gerne Priester würden, aber durch das Zölibatsgesetz davon abgehalten werden. Auch mit ihnen gehen der Kirche sehr viele Talente verloren.

Danken möchte ich an dieser Stelle vielen Menschen, denen ich in meiner Klosterzeit begegnen durfte und die mir ganz unvoreingenommen ihre Ansichten zum Zölibat mitgeteilt haben. Auch dadurch wurde meine anfangs sehr enge Sicht auf das Thema weiter und dadurch menschlicher. Danke auch meinem Mitautor Gerd Henghuber. Es ist das dritte Mal, dass wir zusammen ein Buch verfassen. Er ist Journalist und engagierter Katholik, Pfarrgemeinderat in einer großen Münchner Pfarrei. Von ihm stammen die Erlebnisberichte Betroffener, die sehr eindrücklich zeigen, zu welch zum Teil bedrückenden, zum Teil abstrusen Lebensrealitäten der Zölibat Menschen zwingt, die ihm unterworfen sind: die Priester sowie ihre Partnerinnen und Partner. Last but not least danke ich meiner Verlegerin Felicitas von Lovenberg und meiner Lektorin Anja Hänsel. Beide haben das Projekt initiiert und engagiert begleitet.

München, Pfingsten 2018

Anselm Bilgri