Christian Torkler

Der Platz an der Sonne

Klett-Cotta

Impressum

Sämtliche Bibelstellen im Text wurden aus der folgenden Ausgabe zitiert: Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers, Standardausgabe mit Apokryphen der Deutschen Bibelgesellschaft, Stuttgart 2006.

Das Zitat auf S. 228 stammt aus: Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie Erster Teil, Stuttgart 2012.

Das Zitat von Ernest Hemingway auf S. 564 wurde vom Autor übersetzt und beruht auf folgendem Original: Hemingway, Ernest: The Snows of Kilimanjaro. In: Hemingway, Ernest: The Snows of Kilimanjaro and Other Stories, New York 1961.

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Klett-Cotta

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Alle Rechte vorbehalten

Cover: © FAVORITBUERO, München unter Verwendung einer Illustration von © DK Arts, malecula, Lightix / Shutterstock.com

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96290-1

E-Book: ISBN 978-3-608-11107-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Meinen Eltern

Vorab

Ich kann das Meer nicht sehen von hier aus, aber ich kann es riechen. Auf den Hügeln ringsum rauschen die Palmen und letzte Woche hab ich auf dem Dach gegenüber sogar Affen gesehen. Richtige Affen! Wenn das Gitter vorm Fenster nicht wäre, könnte man glatt glauben, ich hab’s geschafft.

Womöglich schaff ich’s auch noch, vielleicht hab ich ja Glück. Wäre nicht das erste Mal. Ich hab schon ein paarmal gedacht, jetzt ist Feierabend. Doch irgendwie ging’s immer weiter und ich bin noch da. Das mit dem Glück kann man nicht wissen. In der Heiligen Schrift heißt es Glaube, Hoffnung, Liebe, aber die Liebe ist die größte unter ihnen, und ich will nicht sagen, dass die Bibel in dieser Sache falschliegt. Ich finde nur, Hoffnung ist das Wichtigste. Wenn man die erst verliert, kann man sich auch gleich einsargen lassen.

Kann doch sein, eines Tages hab ich da unten mein eigenes Haus. Etwas außerhalb, mit großem Garten und einer fetten Karre in der Garage. Von der Terrasse aus hat man einen schönen Blick auf den See und die Berge. Dort sitze ich dann in meinem Schaukelstuhl, um mich rum meine Enkel und denen lese ich vor, was ich alles erlebt habe, um es so weit zu bringen.

Aber nicht deshalb schreib ich das hier und so was hatte Pfarrer Mowo auch nicht im Sinn, als er vorgestern in mein Zimmer kam. Er hat sich hingesetzt und kein Wort gesagt. Eine ganze Weile. Schließlich hat er seine Tasche aufgemacht, die Hefte und drei Stifte rausgeholt und alles vor sich auf’n Tisch gelegt.

— Schreiben Sie es auf, hat er gesagt und mir die Sachen rübergeschoben, alles, was Sie erlebt haben. Tun Sie das nicht für mich oder jemand anderen, sondern nur für sich.

Er hat seine Tasche zugemacht und unter’n Tisch gestellt.

— Das ändert ja nun auch nichts mehr, hab ich gesagt.

— Doch, das ändert etwas. Schreiben Sie auf, was Sie erlebt haben, und es wird Ihnen helfen, Ihren Frieden zu machen. Mit sich selbst und mit der Welt.

Ich hab aus’m Fenster geguckt und gedacht, ich weiß nicht, ob ich das kann. Oder ob ich das überhaupt will. Nach all dem, was passiert ist. Aber ich kann auch nicht den ganzen Tag fernsehen, ich kann nicht ständig was lesen und erst recht kann ich nicht mit den Idioten da unten rumsitzen. Die hocken jeden Tag zusammen, stundenlang, und hecken ihre Idiotenpläne aus. Kein Wunder, dass die hier niemand haben will. Am schlimmsten sind die Österreicher. Die sind noch schlimmer als die Russen und die sind schon nicht zu ertragen.

Jeder von denen kennt irgendwen, der wen kennt, und mit dem machen sie das nächste große Ding. Keinen Handschlag tun, aber die dicke Kohle kriegen und Weiber abschleppen. So ungefähr. Alles Schwachsinn und ich kann’s nicht mehr hören. Was ich will, ist ehrliche Arbeit und dafür mein Geld kriegen. Was ist falsch daran? Mir muss keiner was schenken. Lasst mich nur machen und ich komm schon klar!

Aber wenn ich hier nur rumsitze und warte, dreh ich noch durch. Deshalb schreib ich das alles auf. Um was zu tun. Um überhaupt irgendwas zu tun.

Teil I

1

Geboren wurde ich am 1. Juni 1978 in Berlin, Hauptstadt der Neuen Preußischen Republik. Opa Lampbrecht kannte die Stadt noch von früher und immer wenn er davon erzählte, kriegte er feuchte Augen. Also, ein feuchtes Auge, um genau zu sein, denn das andere hatte er schon im Mai 55 verloren, in einem Lazarett bei Oranienburg.

— Mein Berlin, hat er oft gesagt, mein Spree-Athen in Trümmern.

Wenn Opa Lampbrecht nicht im Laden war, saß er in seinem Zimmer im Schaukelstuhl, immer in derselben Strickjacke und mit der schwarzen Augenklappe quer über’m Gesicht. Er wippte hin und her, hat über Gott und die Welt geredet und wir hingen an seinen Lippen.

Die schlimmste Zeit in Berlin ist der Winter. Es ist kalt und der Himmel ist trübe, die Häuser sind grau und falls Schnee liegt, dauert es nicht lange, bis er verdreckt ist vom Kohlenruß. Wenn der Schnee taut, steht das schmierige Wasser in den Schlaglöchern.

Im März kommt das erste Gras und dazwischen sprießen die Frühblüher, gelb, weiß und lila. Der April, na ja. Aber danach wird es schön. Die Luft ist mild und abends kann man lange draußen sitzen, im Park oder an der Spree. An einem solchen Abend wurde ich geboren.

Der 1. Juni war ein Donnerstag. Mein Muttchen hockte gerade vorm Herd, um Feuer fürs Mittagessen zu machen, da hab ich mich zum ersten Mal gerührt.

— Jetzt geht’s los!, hat sie gesagt und ist vor Schreck hintenübergefallen.

Zum Glück war ihre Cousine Liane zufällig da. Die hat ihr hochgeholfen und sie ins Schlafzimmer gebracht. Sie hat dafür gesorgt, dass Muttchen bequem liegt, und ist dann rüber in die Lychener 20, um Frau Knuppke zu holen. Die hatte schon der halben Nachbarschaft auf die Welt geholfen.

Weil ich das erste Kind war, hatte mein Muttchen überlegt, ins Krankenhaus zu gehen. Doch am Ende ist sie lieber zu Hause und bei der Knuppke geblieben, nicht zuletzt wegen Frau Schönemann von nebenan.

Die ist zur Entbindung in die Charité gegangen und dort sollte eigentlich alles umsonst sein. In Wirklichkeit musste ihr Mann für jede Kleinigkeit löhnen. Sie hat in einem Raum mit dreißig Frauen gelegen und als ihr Kind frühmorgens kam, war keine Schwester da und erst recht kein Arzt. Die anderen Frauen haben ihr geholfen und das war eine schwere Geburt.

— Nein, hat mein Muttchen gesagt, mir erst das Fell über die Ohren ziehen lassen und dann noch alles alleine machen, dafür kann ich auch zu Hause bleiben.

Als die Knuppke da war, ist Liane zu der Baustelle gegangen, auf der mein Vater gerade gearbeitet hat. Mein Vater war Maurer, und zwar ein sehr guter. Wenn er sich zusammengerissen hat, war er sogar Polier. Doch in der Regel konnte er seine Klappe nicht halten.

Als Liane auf die Baustelle kam, stand mein Vater oben auf’m Gerüst und hat einen Zementsack hochgezogen.

— Ernst, hat sie gesagt und zu ihm raufgeguckt, dein Kind kommt!

— Oh Gott!, hat mein Vater gesagt und das Seil losgelassen.

Der Sack krachte neben Liane auf den Boden, sie stand in einer Zementwolke und musste husten wie ’n Kettenraucher. Die Kollegen haben gelacht. Über Liane und über meinen Vater, denn sonst hatte er’s nicht so mit Gott.

Mein Vater ist runter vom Gerüst und losgerannt. Allerdings nicht nach Hause, sondern in den Schusterjungen. Das ist eine Kneipe bei uns an der Ecke. Er hat sich ins Hinterzimmer allein an einen Tisch gesetzt und einen Schnaps getrunken. Und ein Bier. Und immer so weiter.

Mein Muttchen hat unterdessen die Nachbarschaft zusammengebrüllt, aber ich hab mir Zeit gelassen. Erst kurz vor Mitternacht war es schließlich so weit, dann war Muttchen ruhig und ich hab gebrüllt.

— Gesund und munter, der Junge, hat die Knuppke gesagt, und die fünf Gramm extra sind genau da, wo sie hingehören.

— Und ein anständiger Brocken ist das, hat Liane gesagt, der braucht keine Milch, der kriegt gleich ’ne Bockwurst.

Die beiden haben gelacht und mein Muttchen hat gelächelt. Sie hat mich an ihre Brust gelegt, es wurde still im Zimmer und alle haben sich gefreut.

— Ich geh jetzt mal Ernst holen, hat Liane nach einer Weile gesagt, so ganz unbeteiligt ist der ja auch nicht.

Mein Vater saß noch im Schusterjungen und hatte schon drei Achten im Turm. Liane setzte sich neben ihn und schob das Schnapsglas weg.

— Ernst, du hast einen Sohn.

Mein Vater war schlagartig nüchtern. Er ist langsam aufgestanden und so blieb er stehen. Mit einem Mal ist er losgerannt und hat noch nicht mal bezahlt. Die Straße lang, rein ins Haus, über’n Hinterhof, die drei Treppen hoch und schon stand er am Bett, in den dreckigen Klamotten von der Baustelle und ganz außer Atem.

— Ich hab einen Sohn, hat er gesagt, einen Sohn!

— Ja, hat die Knuppke gesagt, und gut hingekriegt.

Sie hat gelacht und mein Vater hat gegrinst wie ein Honigkuchenpferd. Halten durfte er mich an diesem Abend noch nicht, denn mein Muttchen und Frau Knuppke hatten Angst, er lässt mich fallen. Bei der Fahne, die er hatte.

Zehn Tage später wurde ich in der Gethsemane-Kirche getauft. Das ist unsere Kirche, vorn an der Stargarder. Nicht schön, aber selten. Der Turm ist noch eingermaßen original, aber das Kirchenschiff hatte bei den schweren Bombenangriffen 52 einen Volltreffer abgekriegt.

Doch unsere Gemeinde hat es wiederaufgebaut. Das war in den sechziger Jahren, gleich nach dem Krieg. Die Leute wussten nicht, was sie essen, wo sie wohnen oder womit sie heizen sollten, und dennoch haben sie das gemacht. Die Mauern haben sie mit dem ausgebessert, was sie so finden konnten, die Fenster waren Flickwerk und zum Schluss wurde ein Dach zusammengeschustert. Da hat’s durchgeregnet, bis wir Ende der Siebziger ein neues Wellblechdach gekriegt haben. Das hat unsere Partnergemeinde aus Nairobi spendiert und von da an war es zwar trocken, doch wenn der Regen aufs Dach prasselte, war von der Predigt kein Wort mehr zu verstehen. Man kann eben nicht alles haben.

— Diese Kirche ist wie wir, hat Pfarrer Balke gesagt, alles andere als vollkommen. Aber ihr könnt stolz auf sie sein, denn es war euer Glaube, der sie wiederaufgebaut hat. Diese Kirche ist vor Gott tausendmal mehr wert als die schönste Kathedrale von fremder Leute Geld.

In dieser Kirche wurde ich am Sonntag, dem 11. Juni 1978, getauft. Ich war nicht der Einzige, der an diesem Sonntag in die Gemeinde aufgenommen wurde, aber nur bei mir wurde getuschelt und das lag an meinem Namen.

Die Kirche war voll wie immer und Pfarrer Balke taufte ein Kind nach dem anderen. Die Kinder hießen Michael, Gerhard oder Max. Schließlich kam ich an die Reihe. Mein Muttchen hat mich im Arm gehalten, in dem weißen Taufkleid, das schon drei Weltkriege überlebt hatte, wenn auch nicht ohne Blessuren.

— Wie soll das Kind heißen?, hat Pfarrer Balke gesagt.

— Das Kind …, hat mein Muttchen gesagt und einmal tief durchgeatmet, es heißt Josua.

Mit einem Mal war es still in der Kirche und dann ging das Geflüster los. Josua? Was soll das denn? Kann die ihm keinen normalen Namen geben? Das war ja wieder klar … die mit ihrem … das hätte ich euch gleich sagen können, denn–

— Das reicht!

Vor Pfarrer Balke hatten alle Respekt und wenn er laut wurde, war er wie ein alter Käpt’n, der bei hoher See übers Deck brüllte.

— Schluss damit! Wir sind hier nicht im Zirkus. Wir sind im Hause des Herrn!

Er winkte mein Muttchen zu sich und sie hielt mich über die Taufschale.

— Josua Brenner, ich taufe dich im Namen des Vaters … und des Sohnes … und des Heiligen Geistes … Amen.

Wenn’s nach meinem Vater gegangen wäre, hätte ich Hans heißen sollen, nach seinem Vater. Doch schließlich hat Muttchen sich durchgesetzt und er musste sich da reinfinden.

Anderthalb Jahre später wurde meine Schwester Maria geboren, am 13. Februar 1980. Sie kam so schwach auf die Welt, dass meine Eltern Angst hatten, sie schafft es nicht. Außerdem gab’s keine Kohlen und wenn wir mal Brennholz hatten, wurde die Bude trotzdem nicht warm. Nicht bei dem Winter und nicht bei dem Ofen. Zwei Tage nach ihrer Geburt kam Pfarrer Balke zu uns nach Hause, um die Nottaufe zu machen.

Aber sie hat es geschafft. Klein und zierlich ist sie geblieben, doch das ist nur äußerlich. Sie lässt sich die Butter nicht vom Brot nehmen und Klaus, ihr Mann, hat nicht viel zu melden. Seit Jahren schon wohnt sie in Eberswalde und schmeißt da für einen Bonzen den Haushalt. Klaus hat auf’m Bau gearbeitet, Laster entladen oder sonst was gemacht.

Am 24. Juli 1981 wurde mein kleiner Bruder geboren. Mein Muttchen hatte wieder so ihre Pläne mit dem Namen, aber diesmal hatte mein Vater die Nase voll.

— Gottverdammichnochmal, hat er gesagt und mit der Faust auf’n Tisch gehauen. Der Junge wird nicht Moses oder Ahab oder sonst wie heißen, der kriegt einen ganz normalen Namen. Der heißt Hans, und fertig! Wie mein Vater.

Hans ist groß, gut in Form und hat Schlag bei den Frauen. Das hat er auch reichlich genutzt – bis er Gisela kennenlernte. Er hat ihr nachts Blumen vor die Tür gelegt, hat für sie gekocht und mit den Weibergeschichten war Schluss. Anderthalb Jahre später haben sie geheiratet, im Mai 2006. Als die beiden vor der Kirche standen, er im schwarzen Anzug und sie im weißen Brautkleid mit einem Blumenkranz im Haar, hat mein Muttchen vor Glück geweint.

Gisela arbeitet auf einem der großen Märkte in Moabit und hat da schon alles Mögliche verkauft. Gemüse, alte Radios, saure Gurken oder Oberhemden. Hans fährt einen der Klapperbusse durch die Stadt und das ist kein schlechtes Geschäft. Alle paar Jahre gibt es zwar große Pläne, die alte S-Bahn wiederaufzubauen, aber daran glaubt kein Mensch.

Kurz bevor ich los bin, hieß es in allen Zeitungen, dass die Afrikanische Union das zusammen mit dem Verkehrsminister angehen will, innerhalb der nächsten fünf Jahre. Dazu gab’s ein Bild, wie der Minister den Bongos die Hände schüttelt. Die sind extra aus Kinshasa angereist und alle haben gelächelt. Sah zwar schön aus, aber auch daraus wird nichts werden.

Die alten Bahnhöfe sind entweder zerkloppt oder da ist jetzt was anderes drin. Die meisten Gleise haben sie im Krieg eingeschmolzen und was von den Brücken an Stahl noch übrig ist, das rostet vor sich hin. Das alles wieder herzurichten würde Unsummen kosten. Aber die Bongos haben ja Kohle ohne Ende, daran liegt es nicht. Das Problem sind der Minister und sein Rattenschwanz. Die werden zwei oder sogar drei Bahnhöfe wiederaufbauen, ein paar Gleise verlegen und dann ist das Geld auf einmal alle, verschollen. Die Bongos legen vielleicht noch was drauf, bis sie merken, dass sie verarscht werden, und das war’s dann. Bis zum nächsten Mal.

Das Einzige, was sich ändern wird, ist der Verkehr, denn der wird mit jedem Jahr schlimmer. Immer mehr Leute kommen nach Berlin und alle müssen ständig irgendwohin, so ist das eben in der Stadt. Hans kann sich freuen, denn die meisten sind dabei auf die ollen Busse angewiesen.

Als ich klein war, gab es nur wenige Autos und die gehörten entweder der Partei oder dem Militär. Die Straßen waren so leer, dass wir da spielen konnten. Unser eigentliches Revier allerdings war ein großer, viereckiger Platz mitten im Viertel, der Helmi.

— Nennt ihn doch nicht so, hat Opa Lampbrecht gesagt. Es heißt Helmholtzplatz, so viel Zeit muss sein!

Wir standen vor ihm und konnten uns das Grinsen nicht verkneifen.

— Ihr dummen Bengels! Helmholtz, das war noch jemand, der hatte Format. Nicht wie diese Schießbudenfiguren, die heute das Sagen haben. Und das war früher so ein schöner Platz, mit Bäumen und Bänken, ein richtiger kleiner Park war das, umgeben von schmucken Häusern.

Die Bäume waren schon vor Ewigkeiten verheizt worden und seitdem standen auf dem Helmi nur ein paar müde Büsche. Die Häuser ringsum waren grau und angeschlagen oder ganz kaputt. Schön war da nichts, doch in unseren Augen war dieser Platz das Paradies.

Dort bin ich aufgewachsen. Der Helmi war für mich Königreich, Piratenhöhle, Schlachtfeld und später Bolzplatz. Da hab ich zum ersten Mal ’ne Wette gewonnen und das erste Mal eine aufs Maul gekriegt. Auf diesem Platz hab ich zum ersten Mal ein Mädchen geküsst und bin beim Schachern übers Ohr gehauen worden. Aber das hab ich dem Arsch heimgezahlt.

Angefangen hat meine Karriere dort im Buddelkasten. In dem ollen Sand hab ich meine ältesten und besten Freunde kennengelernt. Jochen Roller, den meisten nur als Roller bekannt, und Richard Lampbrecht, genannt Lampe. Er ist der Enkel von Opa Lampbrecht und der klügste Mensch, den ich kenne. Und Roller? Wenn er nicht schon tot ist, wird er es bald sein.

Mit ein paar anderen sind wir durch die Ruinen geklettert, um Schätze zu suchen. Nach unseren Beutezügen wurde auf dem Helmi getauscht. Einmal hat einer der Jungs so ’n Ding aus Metall entdeckt. Das war groß wie eine Kartoffel, außen geriffelt und schwer. Unten war ein kurzer Stiel dran. Sein Fund ging von Hand zu Hand.

— Her damit!

Ein Mann nimmt Lampe das Ding aus der Hand, dreht sich um und geht damit quer über den Platz. Wir alle hinterher, mit etwas Abstand. Auf der anderen Seite stehen zwei Ruinen nebeneinander, schon mit Gras überwuchert.

— Verdammte Scheiße!, sagt er, zieht was aus dem Stiel und wirft das Ding in die Trümmer, so weit er kann.

Das war ein BUMMS! Wir waren begeistert und hatten Stoff für die nächsten Wochen. Der Junge, der das Ding gefunden hatte, wurde bewundert und beneidet.

Als wir abends zum Essen am Tisch saßen, hab ich die Geschichte erzählt. Ich war noch nicht fertig, da hat mein Vater schon über’n Tisch gelangt und mir eine runtergehauen.

— Verdammte Bengels! Ihr wisst ja nicht, was …

— Der Herr bewahrt die Seinen, hat mein Muttchen gesagt und mit Tränen in den Augen leise ein Vaterunser gebetet.

An meinem fünften Geburtstag haben meine Eltern mich zum König vom Helmi gemacht. Früh am Morgen hat mein Vater mich gerufen.

— Junge, mir ist da ’ne Mark unters Bett gerollt, kannst du mir die mal vorholen? Du weißt ja, mein Rücken.

Ich hab nichts geahnt, bin unters Bett gekrochen und dort lag er! Ein nagelneuer, roter Roller! Als ich wieder oben war, standen meine Eltern vor mir und haben gelacht. Da war die Welt noch in Ordnung.

So ein Roller war nicht billig und ich hab keine Ahnung, wie mein Vater das gemacht hat. Alle haben mich beneidet und ich hab nichts ohne meinen Roller gemacht, bei jedem Wetter.

Bis er eines Tages weg war. Das war im Frühling drauf, ich wollte vom Helmi nach Hause, hab ihn kurz aus den Augen gelassen und im nächsten Moment war er nicht mehr da. Geklaut! Ich hab tagelang geheult und nichts konnte mich trösten. Ich bin mir sicher, mein Vater hätte mir einen neuen Roller besorgt, aber dazu ist er nicht mehr gekommen.

Am 12. Mai 1984 kommt mein Vater wie gewohnt von der Arbeit, setzt sich in die Küche, und ich bring ihm ein Bier, sein Feierabendbier. Er nimmt den Wohnungsschlüssel, PLOPP und das Bier ist auf. Mein Muttchen steht am Herd und kümmert sich ums Essen. Maria und Hans spielen zusammen in der Ecke.

— Erst mal den Staub runterspülen, sagt er und nimmt einen ordentlichen Schluck, und den ganzen anderen Scheiß.

— Red doch nicht so, nicht vor den Kindern.

— Heute kamen wieder zwei von diesen Arschgeigen. Aber von denen lass ich mir das Maul nicht verbieten!

— Ach Ernst …, sagt mein Muttchen und schüttelt den Kopf.

Er nimmt einen zweiten Schluck und damit ist die Flasche fast alle.

— Ich muss gleich noch mal los, sagt er und wischt sich den Mund ab.

— Um halb sieben gibt’s aber Essen.

— So lange dauert das nicht.

Er hat sein Bier ausgetrunken, ist aufgestanden und hat meinem Muttchen einen Kuss in den Nacken gegeben. Er hat seine Jacke angezogen, ist zur Tür rausgegangen und nie mehr wiedergekommen.

Der hat bestimmt ’ne andere, haben die Leute getuschelt. Hätte ich auch bei der Alten. Sogar in der Kirche konnten manche ihr Lästermaul nicht halten. Guck dir die Frau doch an, der Lack ist ab … die mit ihrem Fimmel und dazu die drei Blagen … wenn da was Junges auf der Matte steht … mich wundert das nicht …

Sicher, mein Vater war kein Kind von Traurigkeit. Doch er hätte uns nicht verlassen, niemals hätte er das gemacht! Die Wahrheit ist, dass sie ihn mitgenommen haben. So einfach ist das. Das war Mitte der Achtziger, da sind noch ganz andere Sachen passiert und es kam oft vor, dass Leute verschwunden sind.

Mein Vater hat nichts von der Partei, von der Regierung und der ganzen Bande gehalten und daraus kein Geheimnis gemacht. Vielleicht war sein Maß an diesem Tag voll oder die brauchten noch einen für die Statistik. Jedenfalls haben sie ihn sich gegriffen und entweder gleich erschossen, oder er ist in einem der Lager verrottet.

Für uns war von diesem Tag an alles anders. Mein Muttchen war allein und musste sehen, wie sie uns durchbrachte. Ich war der Älteste und musste mit anpacken. An diesem 12. Mai 1984 ist Ernst Brenner gegangen und der Ernst des Lebens ist gekommen, aber lustig war das nicht. Ich war noch keine sechs Jahre alt und meine Kindheit war schon vorbei.

2

Ohne Vater konnten wir uns die Wohnung nicht mehr leisten, aber zum Glück war gerade im Vorderhaus was frei geworden. In der neuen Wohnung war der Flur so winzig, dass man sich nicht umdrehen konnte, ohne anzustoßen. Links war ein schmales Zimmer mit einem Fenster zum Hof. Dort wurde gekocht und gewaschen. Rechts ging’s in ein Zimmer mit zwei Fenstern zur Straße, da haben wir geschlafen und auch sonst alles gemacht.

In der alten Wohnung hatten wir einen Wasserhahn und ein eigenes Klo. Wenn es uns jetzt überkam, mussten wir runter auf den Hof. An der Brandmauer vom Nebenhaus stand ein langer Schuppen aus Holz, da waren sechs Plumpsklos drin. Jeder war für sich, doch allein war man nie. Du sitzt auf dem Holzbrett, guckst hoch zu dem Herz in der Tür und dein Arsch hängt über der Grube. Links plätschert es und rechts plumpst was in die Jauche. So lernt man manche Nachbarn besser kennen, als einem lieb ist.

Am schlimmsten war dabei der Gestank, selbst den Fliegen wurde schwindlig davon. Nur der olle Krüger aus’m Dritten hatte damit kein Problem. Der hatte im Sommer 57 in der Nähe von Königsberg einen Granatsplitter in den Hinterkopf gekriegt und hat damit ewig im Lazarett gelegen. So weit hatten sie ihn wieder zusammengeflickt, nur riechen konnte er nichts mehr. Er saß stundenlang auf’m Scheißhaus und hat Zeitung gelesen.

— Da hab ich meine Ruhe, hat er gesagt, und meine Alte geht mir nicht auf’n Zeiger.

Fürs Wasser gab’s einen Hahn im Hof. Wenn der zugefroren oder leer war, hieß es, Ohren auf! Sobald ich gehört hab, dass es irgendwo tropfte oder jemand eine Leitung ansägte, hab ich mir meine Geschwister und die Kanister geschnappt und los ging’s. So was sprach sich schnell herum und die Kunst war es, schneller zu sein als das Gerücht.

Wenn wir in der ersten Zeit die Familie nicht gehabt hätten, wäre es ganz übel gewesen. Viele haben uns unter die Arme gegriffen, besonders Onkel Werner. Mein Vater stammte aus Anklam und seine Familie lebte noch da oben. Sein älterer Bruder hatte einen kleinen Laden, aber keine eigene Familie und deshalb stand er ganz gut da. Als Kinder waren die beiden Brüder wie Pech und Schwefel gewesen, doch das hatte sich geändert.

— Ein Kleinbürger bist du geworden, hatte mein Vater gesagt, als sie sich das letzte Mal gesehen haben, ein verdammter Biedermann! Denkst immer nur an deinen Scheißladen! Bloß nicht anecken, bloß nicht … könnte ja gefährlich werden. Mit solchen Leuten wie dir … ihr seid die eigentliche Plage!

— Was soll ich deiner Meinung nach denn machen? Soll ich da hingehen und … was dann? Und wer soll sich dann um die Eltern kümmern? Die Schwestern tun schon, was sie können, aber was meinst du, wo das Geld herkommt? Genau aus diesem Scheißladen! Du hast dich ja fein verdrückt.

— Jetzt streitet euch doch nicht, hat mein Muttchen gesagt, ihr seid doch Brüder.

— Einen Feigling als Bruder!

Das hat Onkel Werner tief getroffen. Doch als mein Vater weg war, ist er zur Stelle gewesen und hat geholfen, wo er konnte. Er ist niemals darauf rumgeritten, dass er vielleicht ein Kleinbürger ist, aber dafür am Leben und wohin das mit meinem Vater geführt hat. Das hab ich ihm hoch angerechnet. Er hat seinen Bruder vermisst und darunter gelitten, dass sie im Streit auseinandergegangen waren.

Doch trotz aller Hilfe, am Ende stand mein Muttchen allein da und musste zusehen, wie wir über die Runden kamen. Im Laufe der Jahre hat sie gewaschen und genäht, geputzt und hundert andere Sachen gemacht, solange die nur ein bisschen Geld einbrachten. Von morgens bis abends hat sie geschuftet. Bis sie nicht mehr konnte und selbst dann noch.

Zum Glück hatte sie die Idee mit dem Essen und die alten Kollegen von meinem Vater haben ihr geholfen. Von Montag bis Samstag hat sie jeden Tag einen großen Topf Suppe gekocht und die auf den Baustellen verkauft. Und ich hab ihr geholfen.

Kurz vor Mittag war die Suppe fertig und wir haben die Schubkarre beladen. Die war verrostet und verbeult und das Rad schlackerte hin und her. Bevor wir den Hausflur verlassen haben, hat mein Muttchen die Karre abgesetzt und sich zu mir runtergebeugt.

— Wenn wir da jetzt rausgehen, müssen wir vorsichtig sein. Sehr vorsichtig und leise. Denn dann sind wir im Land des schwarzen Zauberers und der will uns unseren Schatz wegnehmen. Aber ich hab Glück, denn ich hab den besten Kundschafter der Welt. Der schleicht durchs Land, ohne dass der Zauberer das merkt, und findet den besten Weg für mich und den Schatz.

Also bin ich vorneweg gestiefelt und hab auf jedes Loch geachtet. Mein Muttchen ist mir hinterhergekurvt und zur Belohnung hab ich immer den ersten Becher Suppe gekriegt, stolz wie Bolle.

Mal sind wir durch Indianerland geschlichen, mal waren die finsteren Hunnen scharf auf die Suppe. Ich hab sie alle überlistet und für mich war das ein Abenteuer. Für mein Muttchen war das eine elende Schinderei, aber das merkt man als Kind nicht.

Im Winter wurde auf den Baustellen nicht gearbeitet und ich hab keine Ahnung, wie wir das überstanden haben. Ich weiß nur noch, dass Muttchen immer müde und fertig war.

Von unseren vier Stühlen mussten wir drei verkaufen und der letzte hat im Januar dran glauben müssen.

— Kinder, hat sie gesagt, draußen ist es so scheußlich und kalt, da schickt man keinen Hund vor die Tür. Aber wir machen uns das heute schön gemütlich, dieses eine Mal wenigstens. Den Stuhl hier kauft sowieso keiner, den könnt ihr kaputt machen. Aber vorsichtig!

Wir haben an dem Stuhl gezerrt und gezogen und auf dem Holz rumgekloppt, bis wir das Ding kleingekriegt hatten. Schon von der Anstrengung war uns warm.

— Jetzt in den Ofen damit, aber langsam.

Stück für Stück haben wir erst die Beine und danach alles andere ins Feuer geworfen. Das Holz war kienig und knackte. Draußen schlug der Schnee an die Scheiben, aber drinnen wurde es mollig warm. Mein Muttchen saß auf dem Bett und sah uns zu. Diese Stühle hatten ihren Eltern gehört, sie hatten drei Kriege und viele schlechte Zeiten überstanden. Den ersten Winter ohne meinen Vater überlebten sie nicht.

Mit dem Frühling ging die Arbeit auf den Baustellen wieder los. Das Geschäft mit der Suppe nahm Fahrt auf und ich hatte meinen Teil beizutragen.

— Josua, hat mein Muttchen gesagt und meine Hände genommen, ich weiß, das ist nicht immer leicht für dich. Aber du bist jetzt der Mann im Haus und damit hast du gewisse Pflichten. Ohne dich schaffe ich das nicht.

Ich kam mir sehr bedeutend vor. Immerhin war ich der beste Kundschafter der Welt und dazu der Mann im Haus. Ich war jemand, daran gab es keinen Zweifel. Bis zum 2. September 1985, denn das sollte mein erster Schultag sein.

— Ich will aber nicht in die Schule gehen!, hab ich gesagt und hatte Tränen in den Augen. Ich will lieber Kundschafter bleiben, das ist viel besser!

— Kundschafter sein ist gut und schön, sagt mein Muttchen und nickt, aber überleg doch mal. Als Kundschafter beschützt man den Schatz nur, den Schatz anderer Leute. Ist es nicht viel besser, einen eigenen Schatz zu besitzen?

— Meinen eigenen Schatz?

— Ja, genau.

— Und den krieg ich in der Schule?

— Na ja, sagt sie und lächelt, nicht sofort. Aber sagen wir mal so, wenn du nicht in die Schule gehst, wirst du ihn niemals kriegen.

— Hm.

— Sieh es mal so. Wenn du erst deinen eigenen Schatz hast, hast du auch deine eigenen Kundschafter und dann müssen die tun, was du ihnen sagst.

Der letzte Punkt hat mich überzeugt und von da an wollte ich unbedingt zur Schule gehen. Was mich zur nächsten Sorge brachte, und das war die Schultüte. Mein Vater hätte sich darum gekümmert, aber jetzt? Von dem bisschen, was wir hatten, mussten schon Fibel, Hefte und Stifte gekauft werden, und das war noch nicht mal der größte Posten.

Mitte August sind wir nach Kreuzberg gefahren, dort war an der Spree ein großer Markt. An langen Seilen hingen Hunderte von Schuluniformen, auf Drahtbügeln und nach Farben geordnet. Wir mussten zu den blauen, die waren für die Volksschule.

Muttchen hat gesucht und ich hatte zu tun, sie in dem Gedränge nicht zu verlieren. Nach einer Ewigkeit hat sie das Richtige gefunden und ich musste anprobieren. Die Uniform war gebraucht und zu groß.

— Sitzt doch wie angegossen, hat die Frau neben uns gesagt und gelacht, wie so ’n oller Kartoffelsack.

Ich hab angefangen zu heulen.

— Ich … ich will nicht mehr zur Schule. Ich will–

— Die dumme Kuh, was weiß die denn? So bleibt das ja nicht. Das mach ich dir alles noch passend und wenn du wächst, können wir das schön wieder rauslassen. Stück für Stück. Du wirst schon sehen. Wenn ich fertig bin, sitzt die eins a.

Ich hab die Tränen weggewischt und meine Sachen wieder angezogen. Muttchen hat noch ein weißes Hemd ausgesucht und danach ging das Gefeilsche los. Am Ende hat sie zwar alles für einen guten Preis gekriegt, aber meine Schultüte konnte ich damit vergessen, das war klar.

Die Einschulung war an einem Montag und um neun sollten wir in der Schule sein. Als meine Geschwister mich das erste Mal in voller Montur sahen, wurden sie blass vor Neid, doch auch das konnte mich nicht trösten. Wir wollten gerade los, da klopft es an der Tür.

— Josua, sagt mein Muttchen, geh du mal.

Ich trotte zur Tür, mach auf und draußen steht Onkel Werner. Schräg vorm Bauch hält er eine riesige Schultüte und grinst.

3

Der Unterricht begann am nächsten Morgen um halb acht. Roller hat mich abgeholt, und das an jedem Schultag für die nächsten sechs Jahre. Wenn er unten war, hat er kurz gepfiffen. Keiner konnte pfeifen wie Roller.

— Ist ja auch ’ne Pfeife, hat sein Vater gesagt, kommt ganz nach seiner Mutter. Die war auch so eine …

Rollers Mutter ist mit einem anderen durchgebrannt, da war er vier. Seitdem war sein Vater mit ihm allein und musste sehen, wie er damit klarkam. Wir haben überlegt, mein Muttchen mit ihm zu verkuppeln, und ich hab Onkel Werner gefragt, was er davon hält.

— Junge, ich versteh dich, hat er gesagt, aber daraus wird nichts. Guck dir das doch an. Wenn deine Mutter mal ein bisschen Zeit für sich hat, dann geht sie in die Kirche. Aber Georg Roller, wo geht der hin?

— In die Kneipe.

— Genau. Um seinen Kummer zu ertränken. Und in die Kirche geht der Mann nur, wenn es beim Abendmahl auch Wein gibt, verstehst du?

Trotzdem hat mein Muttchen sich um Roller gekümmert. Sie hatte ihn gern und wenn sie mir was zu essen mitgab, hat sie oft für Roller was dazugelegt. Eine gekochte Kartoffel oder ein Stück Brot.

— Der hat ja gar nichts auf den Rippen, hat sie gesagt, der Junge sieht aus wie ein Garderobenständer.

Zu zweit haben wir Lampe abgeholt. Der wohnte Pappelallee 19, im ersten Stock, in einer großen Wohnung mit Balkon. Wenn wir nach dem Unterricht noch bei Lampe waren, haben wir da oben oft gestanden und runtergespuckt. Bis seine Mutter uns erwischte und dann gab’s Ärger.

Die Schule war ein roter Backsteinbau. Die hatte im Krieg einiges abgekriegt, aber keinen Volltreffer. Ende der Sechziger wurde sie wieder zusammengeflickt, mehr schlecht als recht. Das Quergebäude lag an der Straße, die beiden Seitenflügel gingen nach hinten weg und dazwischen befand sich der Schulhof. Mitten auf dem Schulhof stand der Fahnenmast.

Die Schule hatte zwei Eingänge. Der linke wurde nie benutzt und über dem rechten stand in großen weißen Buchstaben 27. Berliner Volksschule und darunter Otto von Bismarck. Das wurde jedes Jahr zum Schulanfang aufgefrischt.

An meinem ersten Schultag hatte ich keine Ahnung, wer dieser Bismarck war. Ich kannte nur Bismarckheringe, von denen hat der olle Krüger immer geschwärmt. Wie die aussahen oder schmeckten, wusste ich auch nicht, mir war allerdings klar, dass sie unsere Schule nicht nach einem Fisch benannt hatten.

Unser Direktor hingegen kannte den Mann genau. Zumindest hatte er viele Sprüche von ihm auf Lager. Wenn wir rauf in die Aula mussten oder in den Schulhof zum Appell, war das Wichtigste die Rede vom Direktor. Die hat sich hingezogen und ständig kam er mit diesen Sprüchen.

— Unsere Schule trägt einen großen Namen und diesem Namen müssen wir uns würdig erweisen, jeden Tag! Das ist unsere verdammte Pflicht und jeder hat seine Pflicht zu tun. Denn wie schon der große Bismarck sagte: Wir sind nicht auf der Welt, um zu genießen und glücklich zu sein, sondern um unsere Schuldigkeit zu tun. Unsere verdammte Schuldigkeit! Ist das klar?

— Jawohl, Herr Direktor!

Wer nicht mitgebrüllt hat, kriegte gleich was hinter die Ohren. Einen Spruch seines Helden brachte er bei jeder Gelegenheit.

— Für die Jugend habe ich nur drei Worte als Ratschlag.

Er guckte bedeutungsvoll in die Runde. Als ob wir nicht gewusst hätten, was als Nächstes kam.

— Arbeite, arbeite, arbeite!

Bei jedem Wort schlug er mit der flachen Hand auf sein Pult und nickte mit dem Kopf. Ich schätze mal, der Herr Direktor hielt sich selbst für eine Art Bismarck.

In Wirklichkeit war er nur ein aufgeblasener, alter Mann, der nach oben gebuckelt und nach unten getreten hat. Und er hat die Mädchen angegrapscht, wenn er dachte, das sieht keiner. Manchmal musste eine hoch in sein Zimmer, sich auf seinen Schoß setzen, und er hat so Sachen gemacht. Maria war zwei Klassen unter mir, die hat mir das erzählt. Sie kam drum herum, aber ihre beste Freundin musste da zweimal durch.

Außerdem war er ein Säufer und darüber weiß ich Bescheid, weil ich auch einmal in seinem Zimmer war, und zwar zu einer Aussprache. Wer in diesen Genuss kam, musste mit dem Schlimmsten rechnen, denn nicht selten endete so was damit, dass der Übeltäter rausgeschmissen wurde. Das hieß, er kam auf eine Sonderschule und von dort in den Knast war es ein kurzer Weg.

Dabei hatte ich nichts gemacht. Also, ich hatte es nicht mit Absicht gemacht, aber wen interessiert das schon?

Jedes Jahr am 22. September wurde der Tag der Nationalen Einheit begangen. Bis der vor ein paar Jahren abgeschafft wurde, war das unser Nationalfeiertag und bei dieser Gelegenheit wurde nicht gespart. Vormittags wurde Unter den Linden die große Militärparade veranstaltet, am Nachmittag fand im Olympiastadion die Zentrale Kundgebung statt und abends gab es ein Feuerwerk.

Im Olympiastadion haben sich die Parteifritzen gefeiert und feiern lassen. Alles, was Rang und Namen hatte, saß an diesem Tag auf der Tribüne. Es wurden Reden gehalten, Lieder gesungen und Fahnen geschwenkt. Damit der Laden voll war, wurden ganze Schulen zur Anwesenheit verdonnert und wer nicht kam, kriegte richtig Ärger. Ich musste nur ein Mal hin, in der fünften Klasse, und das hat mir gereicht.

Am nächsten Tag gab es den ganzen Quatsch noch mal in der Schule. Kurz vor neun mussten alle im Schulhof Aufstellung nehmen, und zwar in einem großen Viereck. An drei Seiten standen die Schüler, vorn die Kleinen und hinten die Großen. Der Priebke rannte hin und her und brüllte rum.

— Ihr Jammerlappen, jetzt mal ein bisschen Disziplin! Was seid ihr bloß für Memmen! Könnt ihr keine Reihe bilden? Ihr, nach vorne, und die anderen zurück! Nein, nicht ihr, die anderen! Was gibt’s denn da zu grinsen, dir werd ich gleich … seid ihr taub? Eine Schande seid ihr!

Der Priebke war lange beim Militär gewesen und nach seiner Dienstzeit haben sie ihn zum Lehrer für Wehrertüchtigung und Sport gemacht. Im Nebenberuf war er Arschloch und er hatte oft schon morgens so eine Schnapsfahne, dass einem schwindlig wurde.

An der vierten Seite, links und rechts vom Fahnenmast, standen die Lehrer, der Direktor und die Ehrengäste – Veteranen mit ein bisschen Lametta und kleine Lichter von der Partei. Schlag neun trat der Direktor vor und wartete, bis Ruhe eingekehrt war.

— Verehrte Parteigenossen, geschätzte Kollegen, liebe Schüler. Wir schreiben das Jahr 1963. Nach langer und schmerzlicher Überlegung hat Generaloberst Wilhelm Neubert, der geliebte und gütige Vater unserer Republik, sich entschlossen, das Schicksal unseres Vaterlandes in die eigenen Hände zu nehmen. Er hatte keine Wahl. Schmarotzer, Egoisten und Feinde des Volkes bedrohten das Wohl aller und die Zukunft unseres Landes. Nach einem feigen Angriff musste er handeln, und am 22. September 1963 war die Nationale Einheit unseres Landes endlich hergestellt. Für uns alle begann eine …

In Wirklichkeit war es umgekehrt, aber darüber durfte lange nicht gesprochen werden. Erst in den letzten Jahren hat sich das geändert und einiges ist ans Licht gekommen.

Nach dem großen Frieden von 61 war unser geliebtes Vaterland keine Republik, sondern eine Föderation und General Neubert war nur einer von drei Oberaffen. Er hatte zwar das größte Stück vom Kuchen abgekriegt, doch das reichte ihm nicht. Deshalb hat er sich im September 63 den ganzen Kuchen geschnappt.

Zuerst hat er mit dem Kameraden gemeinsame Sache gemacht, der 61 am wenigsten abgekriegt hatte und sich seitdem zu kurz gekommen fühlte. Das hat Neubert ausgenutzt. Die zwei haben beschlossen, den Dritten im Bunde kaltzumachen und seine Gebiete unter sich aufzuteilen.

In der Nacht vom 13. auf den 14. September rollten Panzer durch die Stadt und Kommandoeinheiten haben die Radio-Station, den Flughafen und alle wichtigen Brücken gesichert. Die Villa des Ahnungslosen wurde umstellt und Neuberts Leute haben sich nicht mal die Mühe gemacht reinzugehen. Mit drei Panzern haben sie die Bude zusammengeschossen und wer rauskam, wurde abgeknallt. Die restlichen Anhänger sind übergelaufen oder mussten dran glauben. Nach weniger als einer Woche war alles erledigt und es wurde gefeiert.

Als die neuen Freunde schön besoffen waren, hat Neubert seine Jungs noch mal losgeschickt. Die haben einen nach dem anderen kaltgemacht und wenn es stimmt, hat Neubert ihren Chef persönlich umgelegt. Der war bei einer Nutte am Tauentzien, und zwar mittenmang. Neubert ist rein und hat nur gegrinst, bevor er erst ihn und danach die Nutte erschossen hat. Die Leichen wurden in den Landwehrkanal geschmissen und der Vater der Republik war geboren. Sein Vaterglück währte allerdings nicht lange.

— Als Generaloberst Wilhelm Neubert am 25. Juli 1966 starb, hat der Direktor gesagt und so geguckt, als wär’s gestern gewesen, kam dieser Schlag für uns alle plötzlich und unerwartet …

Besonders für Neubert selbst, denn er hat wohl kaum damit gerechnet, am Frühstückstisch vom Chef der eigenen Leibwache erschossen zu werden.

Damit war Oberst August Kroll am Ruder und der hatte alles gut vorbereitet. Bevor jemand was ahnte, waren seine Leute schon losgezogen und haben alle erledigt, die ihm gefährlich werden konnten. Und wieder schwammen Leichen im Landwehrkanal. Nach ein paar Tagen war die Sache gelaufen und Kroll verhängte drei Tage Staatstrauer für den Vater der Republik.

Danach hat er Schritt für Schritt alles umgemodelt. Das Rückgrat von Neubert war der Deutsch-Nationale Kampfbund, der stammte noch aus Kriegszeiten. Kroll hat daraus die NDPAP gemacht, die National-Demokratische Preußische Arbeiterpartei. Wer dagegen war, wurde abserviert.

Die NDPAP war die einzige Partei und jeder, der was zu sagen hatte, war Parteigenosse. Kroll war Vorsitzender, Kopf der Regierung und Chef der Armee. Sein bester Kumpel, Ernst Rottmann, wurde der Chef vom NSD. Das steht für Nationaler Sicherheitsdienst und wenn die einen in die Finger kriegen, dann gute Nacht! Ihr Hauptquartier haben die in Tempelhof, ein riesiges Areal ist das, hinter hohen Mauern, gekrönt von Stacheldraht. Dort befindet sich auch das Zentrale Untersuchungsgefängnis, genannt das Rote Elend.

— Weißt du eigentlich, hat der olle Krüger mal gesagt, was das höchste Gebäude in Berlin ist?

Ich hab ein paar aufgezählt.

— Alles falsch, hat er gesagt und den Kopf geschüttelt, am höchsten ist das Rote Elend.

— Aber das hat doch nur vier oder fünf Stockwerke?

— Das stimmt schon. Aber wenn du erst mal drin bist, kannst du vom Keller aus bis nach Masuren gucken.

Im Keller waren die Folterzellen und in Masuren die Straflager, das war kein Geheimnis.

Als Kroll Ende 68 den Ausnahmezustand aufhob, hielt er alle Fäden fest in der Hand. Zum 1. Januar 1970 trat eine Verfassung in Kraft, die sah auf dem Papier gut aus, doch in Wahrheit war das alles ein Witz. Kroll nannte sich von da an Kanzler und es wurde sowohl eine Nationalhymne als auch ein Nationalfeiertag eingeführt. Beides hat mich zwanzig Jahre später ins Zimmer des Direktors gebracht.

4

Nachdem der Direktor fertig war mit seiner Rede, nahm der Chor Aufstellung und zehn Schüler traten vor. Jeder von ihnen bekam eine brennende Fackel. Während die Fackelträger sich im Kreis aufstellten, schritten der lange Lehnert und ich zum Fahnenmast. Die Fackelträger nahmen Haltung an und wir ebenfalls. Nach einer Gedenkminute fing der Chor mit der Nationalhymne an und alle mussten mitsingen.

Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?

Die Fahne schwebt mir weiß und schwarz voran.

Das mit dem schwarz war unser Einsatz. Wir haben das Seil gegriffen und angefangen zu ziehen.

Nie werd ich bang verzagen,

wie jene will ich’s wagen.

An der Stelle hätten wir merken müssen, dass das Ziehen immer schwerer wurde. Haben wir aber nicht.

Sei’s trüber Tag, sei’s heit’rer Sonnenschein,

ich bin ein Preuße, will ein Preuße …

Es war still und alle starrten den Fahnenmast an. Erst als der Direktor mir eine runtergehauen hat, hab ich aufgehört zu ziehen und hoch zur Spitze der Stange geguckt. Wir hatten die Fahne schon halb durch die Zahnräder gedreht und was noch übrig war, hing runter wie ein alter Lappen.

— Ihr …

Der Direktor atmet schwer und holt noch mal aus.

— Ihr …

Er lässt die Hand sinken und guckt uns an. Die blanke Wut hämmert von innen gegen seine Augen.

— In mein Zimmer. Alle beide! Sofort!

Das Zimmer des Direktors lag im dritten Stock, am Ende des Flurs. Neben der dunklen Tür stand eine Bank. Wir haben uns auf die Kante gesetzt.